Kultursensitive Psychotherapie - Ulrike von Lersner - E-Book

Kultursensitive Psychotherapie E-Book

Ulrike von Lersner

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Beschreibung

In Zeiten zunehmender Globalisierung spielt kulturelle Vielfalt auch in der Psychotherapie eine immer größere Rolle. Das Buch liefert eine Einführung in die Kultursensitive Psychotherapie. Es regt dazu an, sich kultureller Normen bewusst zu werden und über die eigene kulturelle Eingebundenheit zu reflektieren. Der Band macht deutlich, welchen Stellenwert der Faktor Kultur in der Behandlung haben kann und wie darauf konstruktiv, d. h. interkulturell kompetent, eingegangen werden kann. Anhand von Beispielen wird vermittelt, wie eine kultursensible Diagnostik und Psychotherapie durchgeführt und damit kulturellen Missverständnissen vorgebeugt werden kann. Zunächst werden die Themen Kultur, Migration und interkulturelle Kompetenz von Psychotherapeuten erörtert. Im Weiteren geht es um kulturspezifische Aspekte des Erlebens und Verhaltens von Menschen und um die Besonderheiten, die sich daraus in der Zusammenarbeit mit Patienten ergeben können. In kompakter Form wird aktuelles Wissen zu kulturspezifischen Besonderheiten psychischer Erkrankungen und den Umgang damit dargestellt. So hat der kulturelle Hintergrund beispielsweise einen Einfluss auf die Präsentation von Symptomen durch und auf die Heilungserwartungen von Klienten. Ebenso werden relevante diagnostische Verfahren, psychotherapeutische Möglichkeiten und Auswege aus möglichen Kulturfallen aufgezeigt.

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Ulrike von Lersner

Jan Ilhan Kizilhan

Kultursensitive Psychotherapie

Fortschritte der Psychotherapie

Band 64

Kultursensitive Psychotherapie

Dr. Ulrike von Lersner, Prof. Dr. Dr. Jan Ilhan Kizilhan

Herausgeber der Reihe:

Prof. Dr. Kurt Hahlweg, Prof. Dr. Martin Hautzinger, Prof. Dr. Jürgen Margraf, Prof. Dr. Winfried Rief

Begründer der Reihe:

Dietmar Schulte, Klaus Grawe, Kurt Hahlweg, Dieter Vaitl

Dr. Ulrike von Lersner, geb. 1978. 1998–2005 Studium der Psychologie in Berlin, Konstanz, Toronto, Mexiko-Stadt und Buenos Aires. 2008 Promotion. Seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Psychotherapie und Somatopsychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, 2014 Gastaufenthalt an der McGill University in Montreal. Seit 2010 Tätigkeit als Verhaltenstherapeutin in eigener Praxis. 2015 Gründung des Instituts für Transkulturelle Psychologie Berlin.

Prof. Dr. Dr Jan Ilhan Kizilhan, geb. 1966. 1988–1993 Studium der Psychologie und Soziologie in Bochum und bis 1995 in Washington, D.C. 1993–1995 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Psychologe im Human Right Law Project in Los Angeles. 1999 Promotion in Psychologie. 2014 Promotion in Orientalistik. Seit 1999 leitender Psychologe in der psychosomatischen Michael-Balint-Klinik in Königsfeld. Seit 2011 Studiengangsleiter für psychische Erkrankungen und Sucht an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg. März 2015 medizinisch-therapeutischer Leiter des Projektes „Sonderkontingent für schutzbedürftige Frauen und Kinder“ der Landesregierung Baden-Württemberg.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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www.hogrefe.de

Satz: Mediengestaltung Meike Cichos, Göttingen

Format: EPUB

1. Auflage 2017

© 2017 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2755-3; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2755-4)

ISBN 978-3-8017-2755-0

http://doi.org/10.1026/02755-000

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Anmerkung:

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Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

Inhaltsverzeichnis

1 Kultursensitive Psychotherapie

1.1 Leitgedanken von kultursensitiver Psychotherapie

1.1.1 Definition Kultur

1.1.2 Universalität versus Diversität

1.2 Entwicklungsgeschichte der Kultursensitiven Psychotherapie

1.3 Migration

1.3.1 Migrationstypologien

1.3.2 Psychologische Phasen der Migration und deren Folgen

1.4 Epidemiologie psychischer Erkrankungen unter Migranten

1.5 Psychosoziale Versorgung

2 Relevante Theorien und Modelle

2.1 Interkulturelle Kompetenz

Das Säulenmodell

2.2 Rolle von Status und Machtgefälle im transkulturellen Setting

2.3 Theorie der sozialen Identität

Kulturelle Identität als eine Form der sozialen Identität

2.4 Stereotype und Vorurteile im interkulturellen Therapiesetting

Diversity-Ansatz

2.5 Kulturspezifische Einflüsse auf therapierelevante Basisvariablen menschlichen Verhaltens

2.5.1 Konzeption des Selbst

2.5.2 Erklärungsmodelle psychischer Erkrankungen

2.5.3 Kultur in diagnostischen Klassifikationssystemen

2.5.4 Interkulturelle Kommunikation

2.5.5 Emotionsausdruck

3 Diagnostik und Indikation

3.1 Indikation für kultursensitives Vorgehen

3.2 Konkretes diagnostisches Vorgehen in der Praxis

3.3 Cultural Formulation Interview

3.4 Störungsspezifische Diagnostik im interkulturellen Kontext

3.4.1 Depression

3.4.2 Somatisierungsstörung

3.4.3 Schizophrenie

3.5 Intelligenzdiagnostik

3.6 Computergestützte Testdiagnostik

3.7 Mögliche verzerrende Einflüsse auf den diagnostischen Prozess

4 Behandlung

4.1 Kulturspezifische Besonderheiten, die in der Behandlung berücksichtigt werden sollten

4.1.1 Rolle des Familiensystems

4.1.2 Rolle von Erwartungen

4.1.3 Therapieziele und Motivation

4.1.4 Einsatz von Sprachmittlern

4.2 Kultursensitive Behandlung im Überblick

4.3 Ausgewählte Krankheitsbilder

4.3.1 Schizophrenie

4.3.2 Angststörungen

4.3.3 Posttraumatische Belastungsstörung

4.3.4 Depression

4.3.5 Somatoforme Störungen

4.4 Varianten der Methode: Spezifische Zielgruppen

4.4.1 Situation von Geflüchteten

4.4.2 Ältere Migrantinnen und Migranten

4.5 Schwierigkeiten bei der Durchführung

Umgang mit differierenden Wertesystemen

5 Effektivität und Prognose

6 Ausblick

7 Weiterführende Literatur

8 Literatur

9 Anhang

Karte

Kurzexploration in Anlehnung an das CFI-Interview des DSM-5

|1|1 Kultursensitive Psychotherapie

Fallbeispiel:

Die 44-jährige Patientin aus dem Iran berichtet, seit mehreren Jahren unter anhaltenden Rücken-, Nacken-, Schulter-, Arm- und Beinschmerzen zu leiden. Die Schmerzen würden auch manchmal zwischen den einzelnen Bereichen „wandern“. Die vorliegenden Schmerzen ergaben trotz zahlreicher Untersuchungen keinen organischen Befund. Eine Schmerzlinderung wurde bisher nicht erreicht. Sie berichtet im Weiteren über eine Antriebsstörung, Konzentrationsprobleme, Schlafstörungen und zunehmende soziale Isolierung. Sie sei verzweifelt und wisse nicht, wie sie aus diesem Zustand herauskomme. Sie lebe seit 20 Jahren mit ihrem Ehemann und zwei erwachsenen Kindern in Deutschland und habe bis vor 6 Jahren in einer Autofabrik in Süddeutschland gearbeitet. Aufgrund der zunehmenden Schmerzen und dem Gefühl, auf der Arbeit von Vorgesetzten und Kollegen ungerecht behandelt zu werden, habe sie aufgehört zu arbeiten. Sie habe eine gute Beziehung zu ihrem Ehemann und ihren Kindern. Sie vermisse aber ihre Heimat und habe das Gefühl, nie wirklich in Deutschland angekommen zu sein. Aufgrund früherer politischer Aktivitäten könne sie nicht in ihr Heimatland fahren und vermisse ihre Eltern und Geschwister, die noch dort lebten. Die erwachsenen Kinder würden demnächst ausziehen, was sie eigentlich nicht möchte, aber akzeptiere.

Die Patientin zeigt in der Behandlung einen deutlich erkennbaren Leidensdruck, weint immer wieder und zeigt sich der Symptomatik gegenüber sehr hilflos. Die migrationsbedingte Entwurzelung, die Distanz zur Herkunftsfamilie im Iran ohne Aussicht, sie dort besuchen zu können, Belastungen während ihres Arbeitslebens und der baldige Auszug der Kinder haben zur Entwicklung einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung und einer mittelgradigen depressiven Episode beigetragen.

In Zeiten zunehmender Globalisierung spielt kulturelle Vielfalt in der Psychotherapie eine nie dagewesene Rolle. Der kultursensitiven Psychotherapie haftet nicht selten die Idee des Exotischen an, es werden Vorstellungen von Fremd- und Andersartigkeit wachgerufen und die eigene Kultur dazu in Abgrenzung gebracht. Dies zeigen auch Umfragen unter Psychotherapeuten, wonach dieser Bereich der Psychotherapie häufig Faszination und Neugierde, gleichzeitig jedoch immer wieder auch Verunsicherung auslöst.

Den Grundprinzipien der Psychotherapie folgend, ist es auch das grundlegende Ziel der kultursensitiven Psychotherapie, den therapeutischen Prozess so auf die Bedürfnisse eines Individuums anzupassen, dass die |2|therapeutische Beziehung positiv gestaltet und damit Behandlungsverläufe optimiert und Therapieerfolge verbessert werden.

1.1 Leitgedanken von kultursensitiver Psychotherapie

1.1.1 Definition Kultur

Kultur ist ein komplexes Konstrukt. Jeder Mensch hat seine Kultur, sie stellt einen Teil der Identität dar, prägt das menschliche Zusammenleben und doch haben Menschen in der Regel keinen expliziten Zugang zu ihren eigenen kulturellen Normen, geschweige denn zu denen anderer.

In der Wissenschaft gibt es große Uneinigkeit zur Definition des Kulturbegriffs. Im folgenden Abschnitt soll ein kurzer historischer Überblick über die wichtigsten Definitionen gegeben und Schlüsse für die Anwendung in der Psychotherapie gezogen werden.

Der klassische Kulturbegriff: Homogenität und Abgrenzung

Ein historisch einflussreicher Vertreter des klassischen Kulturbegriffs ist Herder. Nach Herder ist Kultur gekennzeichnet durch soziale Homogenisierung, d. h. Kultur prägt einheitlich das Leben eines ganzen, in sich homogenen Volkes und wirkt kollektiv. Sie verläuft entlang von nationalen Grenzen. Im Zusammenhang mit Herders Ansatz wird auch vom „Kugelmodell“ gesprochen, da Kulturen als voneinander abgrenzbare und in sich homogene Kugeln beschrieben werden, die sich zum Selbsterhalt voneinander abstoßen. Kultur wird in diesem Zusammenhang als statisch verstanden. Im interkulturellen Kontakt würde dies bedeuten, dass Kultur quasi einen Wesenszug einer Person darstellt, den ein Angehöriger einer Kultur innehat und auf dessen Basis Verhalten vorhergesagt werden kann. Ein zeitgenössischer Vertreter dieses Kulturverständnisses ist Huntington (1996), der in seinem viel zitierten Buch „Kampf der Kulturen“ postuliert, dass aufgrund der zunehmenden Mobilität und Globalisierung in der Welt die Abgrenzungsbedürfnisse der Kulturen untereinander zunehmen würden. Ein Kampf der Kulturen ergebe sich daraus als logische Konsequenz.

In der klinischen Psychologie stellt dieser Ansatz die Basis dar für die Haltung, Therapien im interkulturellen Kontext könnten nicht wirklich erfolgreich verlaufen, wenn Therapeut und Patient nicht aus demselben Kulturkreis stammen.

Ein Versuch, Kulturen im Rahmen des klassischen Kulturbegriffs in ihrer Komplexität zu erfassen, sind die Kulturdimensionen von Hofstede (2001). Er identifizierte fünf Kulturdimensionen, auf denen sich das Verhalten und |3|Erleben von Menschen in unterschiedlichen Kulturen abbilden ließe. Diese sind:

Machtdistanz,

Individualismus vs. Kollektivismus,

Maskulinität vs. Femininität,

Unsicherheitsvermeidung sowie

lang- bzw. kurzfristige Orientierung einer Kultur.

Tabelle 1: Kollektivistische und individualistische Haltungen und Wertvorstellungen in Anlehnung an Hofstede (2001)

Kollektivistisch

Individualistisch

Die Menschen werden in Großfamilien oder andere Wir-Gruppen hineingeboren, die sie weiterhin schützen. Im Gegenzug erhalten sie Loyalität.

Jeder Mensch wächst heran, um ausschließlich für sich selbst und seine direkte (Kern-)Familie zu sorgen.

Die Identität ist im sozialen Netzwerk begründet, dem man angehört.

Die Identität ist im Individuum begründet.

Kinder lernen, in „Wir“-Begriffen zu denken.

Kinder lernen, in „Ich“-Begriffen zu denken.

Man sollte immer Harmonie bewahren und direkte Auseinandersetzungen vermeiden.

Seine Meinung zu äußern, ist Kennzeichen eines aufrichtigen Menschen.

Starker Kontext mit ungehindertem Informationsfluss.

Schwacher Kontext mit Informationsnetzen von geringer Dichte.

Übertretungen führen zu Beschämung und Gesichtsverlust bei sich selbst und der Gruppe.

Übertretungen führen zu Schuldgefühl und Verlust der Selbstachtung.

Ziel der Erziehung: Anpassung an vorgegebene Rahmenbedingungen (Kultur und Religion); eine Persönlichkeitsentwicklung ist nicht erwünscht bzw. nicht notwendig.

Ziel der Erziehung: Lernen als Entwicklung der Persönlichkeit.

Beziehung hat Vorrang vor Aufgabe.

Aufgabe hat Vorrang vor Beziehung.

Kollektive Interessen dominieren vor individuellen.

Individuelle Interessen dominieren vor kollektiven.

Das Privatleben wird von der Gruppe beherrscht.

Jeder hat ein Recht auf Privatsphäre.

Meinungen werden durch Gruppenzugehörigkeit vorbestimmt.

Man erwartet von jedem eine eigene Meinung.

Harmonie und Konsens in der Gesellschaft stellen höchste Ziele dar.

Selbstverwirklichung eines jeden Individuums stellt eines der höchsten Ziele dar.

|4|Zum Zeitpunkt seiner Entstehung war dieser Ansatz richtungsweisend und in einigen Fachgebieten finden Hofstedes Dimensionen bis heute Anwendung. Auch unserem Alltagsdenken entspricht dieses Denken in festen Kategorien, zumal es den Umgang mit unbekannten Situationen erleichtert. Für die kultursensitive Psychotherapie birgt er jedoch einige Probleme, welche auch in der wissenschaftlichen Debatte von Kritikern immer wieder diskutiert werden. So wird häufig angemerkt, Hofstede vermittle mit seinen Dimensionen den Eindruck, Kultur könne mittels solcher Skalen tatsächlich operationalisiert werden, was der Komplexität des Gegenstandes nicht gerecht werde. Individuelle Unterschiede innerhalb einer Nation würden nicht angemessen berücksichtigt und es werde eine größere Homogenität unter Angehörigen einer Kultur (eines Volkes, einer Nation) angenommen, als dies in der Realität der Fall sei. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Konsequenzen, die solche Dimensionen für die Angehörigen innerhalb einer Kultur haben. So erhöhe sich das Risiko für Ausgrenzung und Diskriminierung, wenn ein Individuum sich nicht entsprechend der kulturell definierten Normen verhalte (McSweeney, 2002).

Der moderne Kulturbegriff: Bedeutungsgewebe und Hybridität

Jüngere Überlegungen zu Kultur beziehen die aktuellen Gegebenheiten der globalisierten Welt mit ein und nehmen Abschied vom „Reinheitsdenken“ des klassischen Kulturbegriffs. Statt den Fokus auf Einschluss- und Abgrenzungskriterien für kulturelle Zugehörigkeit zu setzen, beschreiben sie vielmehr übergeordnete Eigenschaften von Kultur. Danach stellt Kultur „intersubjektive, vielschichtige Symbolsysteme dar, die die Wirklichkeit und Lebensprozesse von Gemeinschaften strukturieren. Sie werden im Sozialisationsprozess erlernt, später jedoch von den Angehörigen der Kultur habituell angewandt. Kultur wird hierbei vor allem als Prozess verstanden, bei dem es nicht nur um die Wiederholung von Traditionen geht, sondern um die Schaffung von Bedeutungsräumen. Damit sind Orte, Sprachen oder Erlebnisse gemeint, die Menschen gemeinsam haben. Solche Bedeutungsräume bildeten in der Summe ein „selbst gesponnenes Bedeutungsgewebe“ (Geertz, 1987), das die Kultur eines Menschen ausmache. Bedeutungsräume befänden sich in ständigem Wandel, könnten einander überlappen und im Ergebnis gibt es nach Geertz (1987) keine klar abgrenzbaren Kulturen mehr. Der Autor Homi Bhabha (2000) beschreibt das Ergebnis als einen „transkulturellen dritten Raum“. Gemeint ist in beiden Fällen eine neue Kultur, welche aus den Einflüssen unterschiedlichster kultureller Hintergründe durch die Überlappungen entsteht (van Keuk et al., 2011).

Diese Herangehensweise an Kultur lässt sich gut auf den psychotherapeutischen Kontext anwenden, weil sie die Lebenswirklichkeiten von Menschen in der heutigen Zeit abbildet und ihnen sowohl in ihrer Individualität als auch in ihrer Gruppenzugehörigkeit gerecht wird. Das bedeutet auch, um dies ausdrücklich zu formulieren, dass die regionale Herkunft |5|einer Person oder ihrer Eltern nur ein Aspekt von kultureller Zugehörigkeit ist. Andere Bedeutungsräume wie etwa der religiöse Hintergrund, das soziale Milieu oder ein städtischer oder ländlicher Lebensraum mit all seinen Besonderheiten sind ebenfalls relevante Aspekte kultureller Identität.

Geht man über die regionale Herkunft hinaus und schließt andere Bedeutungsräume mit ein, handelt es sich quasi in allen Therapiesituationen um transkulturelle Begegnungen. Das hat wichtige Implikationen für die Behandlungspraxis, denn man muss immer davon ausgehen, dass man bei Klienten nichts selbstverständlich voraussetzen kann. Selbst gesponnene Bedeutungsgewebe sind individuell und müssen verstanden werden.

Merke:

Aus den verschiedenen historischen Ansätzen haben sich unterschiedliche Begrifflichkeiten herausgebildet, die im Alltag teilweise synonym verwandt werden. Im Folgenden werden sie erläutert und voneinander abgegrenzt:

Monokulturell: Beschreibung für ein Individuum bzw. eine Körperschaft, welche ausschließlich einer Kultur angehört; liegt dem klassischen Kulturbegriff zugrunde.

Bikulturell: Beschreibung für ein Individuum bzw. eine Körperschaft, welche unter dem Einfluss von zwei Kulturen sozialisiert ist und sich beiden zugehörig fühlt.

Multikulturell: In einer Gesellschaft existieren mehrere Kulturen nebeneinander, welche jedoch wie im klassischen Ansatz in sich homogen und klar voneinander abgrenzbar sind. Das Ergebnis sind sogenannte Parallelgesellschaften innerhalb eines Landes.

Interkulturell: Basiert ebenfalls auf dem klassischen Ansatz voneinander abgrenzbarer, in sich homogener Kulturen, betont jedoch die Notwendigkeit des Dialogs, der Kommunikation untereinander.

Transkulturell: Legt den Kulturbegriff im Sinne von geteilten Bedeutungsräumen zugrunde. Dieser Begriff betrachtet Kulturen nicht als abgeschlossene Einheiten, sondern geht von stetigen Vermischungsprozessen aus. Im Vordergrund steht der hybride prozesshafte Charakter einer Kultur. „Trans“ steht für „jenseits“, „darüber hinaus“. Betrachtungsebene sind sowohl verschiedene Kulturen unterschiedlicher regionaler Zuordnung als auch unterschiedliche kulturelle Ebenen (Herkunft, Sprache, Religion, sexuelle Orientierung etc.).

|6|1.1.2 Universalität versus Diversität

In der kultursensitiven Psychotherapie stellt sich die Frage, inwiefern eine Gleichbehandlung aller Patienten auch eine gerechte Behandlung für alle bedeutet. Oder bedeutet eine Gleichbehandlung Gleichmacherei und kommt einer Diskriminierung gleich, da sie davon ausgeht, dass alle Menschen aller Kulturen die gleichen Bedürfnisse hätten?

Abbildung 1: Dimensionen menschlichen Erlebens und Verhaltens (nach Moro, De la Noë & Mouchenik, 2006)