Kümmern und Kämpfen - Anne Waak - E-Book

Kümmern und Kämpfen E-Book

Anne Waak

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Beschreibung

Frauen verdienen in Deutschland monatlich über 1.200 Euro weniger als Männer und bekommen nur knapp halb so viel Rente. Mit der Hausarbeit hingegen verbringen sie auch ohne Kinder ein Drittel mehr Zeit als ihre Partner, während Männer höheren Raten an Sucht- und psychischen Erkrankungen sowie einer geringeren Lebenserwartung entgegensehen. Alle drei Tage stirbt eine Frau durch männliche Gewalt. Von Gendergerechtigkeit kann also trotz aller Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte keine Rede sein. Wie auch, scheint doch schon die Welt der Kinder in zwei Teile zu zerfallen: rosa und blau, lieb und wild, fürsorglich und kompetitiv. Diese Zweiteilung zementiert herrschende Ungerechtigkeiten und beraubt die Frauen und Männer von morgen ganz konkreter Gestaltungsmöglichkeiten für das eigene Leben. Die Kulturjournalistin Anne Waak analysiert, wie zu Hause, im Kindergarten oder in der Schule toxische Männlichkeits- und Weiblichkeitskulturen (re-)produziert werden, und formuliert ein lebensnahes und undogmatisches Plädoyer an alle Sorgetragenden: Nur wenn wir unsere Kinder zu Feminst*innen erziehen, werden wir Gender Pay Gap, männliche Selbstzerstörung, Gewalt an Frauen überwinden, werden wir unsere Gesellschaft von den hohen Kosten des Patriarchats befreien können.

»Die eigenen Kinder werden einem mal dankbar sein, dass man Bücher wie dieses gelesen hat.« Spiegel Online

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Buch

Frauen verdienen in Deutschland monatlich fast 1200 Euro weniger als Männer und bekommen nur knapp halb so viel Rente. Mit der Hausarbeit hingegen verbringen sie auch ohne Kinder ein Drittel mehr Zeit als ihre Partner, während Männer höheren Raten an Sucht- und psychischen Erkrankungen sowie einer geringeren Lebenserwartung entgegensehen. Alle drei Tage stirbt eine Frau durch männliche Gewalt. Von Gendergerechtigkeit kann also trotz aller Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte keine Rede sein. Wie auch, scheint doch schon die Welt der Kinder in zwei Teile zu zerfallen: rosa und blau, lieb und wild, fürsorglich und kompetitiv. Diese Zweiteilung zementiert herrschende Ungerechtigkeiten und beraubt die Frauen und Männer von morgen ganz konkreter Gestaltungsmöglichkeiten für das eigene Leben. Die Kulturjournalistin Anne Waak analysiert, wie zu Hause, im Kindergarten oder in der Schule toxische Männlichkeits- und Weiblichkeitskulturen (re-)produziert werden, und formuliert ein lebensnahes und undogmatisches Plädoyer an alle Sorgetragenden: Nur wenn wir unsere Kinder zu Feminst*innen erziehen, werden wir Gender Pay Gap, männliche Selbstzerstörung, Gewalt an Frauen überwinden, werden wir unsere Gesellschaft von den hohen Kosten des Patriarchats befreien können.

Autorin

Anne Waak, geboren 1982 in Dresden, arbeitet als Journalistin und Autorin für verschiedene Zeitungen, Magazine und Kulturinstitutionen. Sie hat eine Reihe von Büchern zu gesellschaftlichen Themen veröffentlicht, zuletzt Wir nennen es Familie. Neue Ideen für ein Leben mit Kindern. Sie lebt mit ihrer engsten Freundin und deren Sohn in Berlin.

ANNE WAAK

KÜMMERN UND KÄMPFEN

Warum Geschlechtergerechtigkeit in Erziehung und Familie uns alle freier macht

Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund der schlechten Quellenlage bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.

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Copyright © 2023: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Uno Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Redaktion: Antje Steinhäuser

Satz: Mediengestaltung Vornehm GmbH, München

ISBN 978-364-130127-9V002

www.goldmann-verlag.de

Für A. J. H.

INHALT

VORWORT

GESCHLECHT

GEFÜHLE

ARBEIT

KÖRPER

SEX

MEDIEN

GEWALT

FREIHEIT

LITERATUR

WEITER(VOR)LESEN

DANKSAGUNG

ZITATEIMBUCH

ANMERKUNGEN

VORWORT

Wer die menschliche Gesellschaft will, muss die geschlechtergetrennte überwinden.

Björn Süfke, »Männer. Erfindet. Euch. Neu.«

Die Idee zu diesem Buch ist so alt wie #MeToo. Im Jahr 2017 wurden die sexuellen Übergriffe des Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein auf eine Reihe von Frauen(1) bekannt, was eine ganze Bewegung ins Rollen brachte, im Zuge derer Betroffene weltweit das Ausmaß sexualisierter Gewalt gegen sie sichtbar machten. Im selben Jahr bekamen sechs Paare in meinem näheren Umfeld Kinder. Darunter war auch meine engste Freundin und Mitbewohnerin Ava, die kurze Zeit später unsere WG um ein Baby namens August erweiterte – mein Patensohn und Co-Kind.

Eines von Augusts ersten Kleidungsstücken war eine rosafarbene Mütze, die nicht wenige Menschen auf der Straße und auf Spielplätzen dazu veranlasste, die Niedlichkeit des vermeintlichen kleinen Mädchens zu kommentieren. So oder so ähnlich geht es vielen Eltern, die gedankenlos oder wagemutig genug sind, ihr Kind mit nicht-genderkonformer Kleidung oder Spielzeug auszustatten.

Schon die Welt von Neugeborenen scheint in diese zwei Teile zu zerfallen: rosa und blau, und damit: lieb und wild, fürsorglich und kompetitiv, passiv und dominant. Diese Zweiteilung zementiert herrschende Ungerechtigkeiten und beraubt Mädchen, Jungen und alle anderen der Gestaltungsmöglichkeiten für ihr eigenes Leben. Wachsen diese Kinder auf, verdienen sie als Frauen in Deutschland monatlich im Schnitt 1.192 Euro weniger als diejenigen, aus denen Männer werden (außer sie arbeiten als Models oder Sexarbeiterinnen, die einzigen Berufe, in denen Frauen mehr verdienen als Männer und nicht zufällig auch solche, in denen sie auf ihre Körperlichkeit reduziert werden), und bekommen nur knapp halb so viel Rente. Mit der Hausarbeit dagegen verbringen in gegengeschlechtlichen Beziehungen lebende Frauen auch ohne Kinder ein Drittel mehr Zeit als ihre Partner, während Männer höheren Raten an Sucht- und psychischen Erkrankungen sowie einer geringeren Lebenserwartung entgegensehen. Alle drei Tage stirbt in Deutschland eine Frau durch männliche Gewalt. Jeder dritte Mann und jede fünfte Frau hat ein geschlossenes sexistisches1 bzw. antifeministisches Weltbild, stimmt also Aussagen zu wie »Für eine Frau sollte es wichtiger sein, ihrem Mann bei der Karriere zu helfen, als selbst Karriere zu machen« oder »Frauen übertreiben ihre Schilderungen über sexualisierte Gewalt häufig, um Vorteile aus der Situation zu schlagen«.2 Laut des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen erreicht Deutschland nur 68,7 von 100 möglichen Punkten. Von Gendergerechtigkeit kann also trotz aller Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte keine Rede sein. Der Fortschritt scheint in der Hinsicht mit der Geschwindigkeit der tektonischen Plattenverschiebung vor sich zu gehen: Millimeter um Millimeter.

Und so wird kleinen Mädchen heute vielerorts vermittelt, dass sie alles tun, sein und werden können, was sie nur wollen, außer unansehnlich und wütend – denn Hübsch- und Freundlich-Sein ist für Angehörige ihres Genders nach wie vor nicht verhandelbar. In Wahrheit dürfen oder sollen sich Mädchen genau wie Frauen mittlerweile an männlich konnotierten Verhaltensweisen wie Entschlossenheit und Durchsetzungsstärke orientieren. Von Jungen und Männern hingegen wird nicht annähernd im gleichen Maß erwartet, sich ein traditionell als weiblich geltendes Verhalten zu eigen zu machen. Oft wird es ihnen sogar verwehrt. Darin zeigt sich die anhaltend starke Ausprägung männlicher Vorherrschaft – was als gut und erstrebenswert gilt und was eher nicht. Viele als Jungen sozialisierte Kinder wachsen noch immer mit einem Bild von Männlichkeit auf, das vor allem dadurch definiert wird, was ihnen verboten ist: Sie dürfen keine Gefühle und keine Schwäche zeigen, keinen Schmerz spüren, nicht weinen, nicht nachgeben, nicht einlenken, nicht scheitern, vor allem kein »Mädchen« und auch nicht schwul oder bisexuell sein. Verletzen sie diese ungeschriebenen Regeln, drohen ihnen Demütigung, Gewalt und Ausschluss – es droht ihnen der Verlust ihrer Identität.

Während Jungen auf diese Weise schon in der frühen Kindheit auf Linie gebracht werden, wird Mädchen häufig erst in der Pubertät bewusst, dass das Frau-Sein »etwas ganz Besonderes ist«, um mal ein geflügeltes Wort aus unserem WG-Haushalt zu gebrauchen. Auf einmal spielt es eine Rolle, welche Kleider sie tragen, welche Gegenden sie nach Einbruch der Dunkelheit betreten und ob sie die feine Grenze zwischen einem »guten« Mädchen und einer »Schlampe« kennen. Spätestens mit der Geburt eines Kindes merken Frauen oft, dass sich die Welt, die ihnen eben noch weit offen zu stehen schien, verengt. Das Versprechen, sie könnten alles haben, erweist sich als glatte Lüge.

Es geht also zunächst darum, Kindern um ihrer selbst willen das Aufwachsen in Freiheit zu ermöglichen – ihnen dabei zu helfen, die Menschen zu werden, die sie sind und sein wollen. Ich wollte herausfinden, was ich dafür tun kann, das Kind, mit dem ich seit fast fünf Jahren den Alltag teile, vor der patriarchalen Gewalt zu schützen, die es auch selbst bedroht. Ich wollte ergründen, wie ich dabei helfen kann, dass dieses Kind zu einem liebevollen, neugierigen, zugewandten, gerechten Erwachsenen heranwächst, der sensibel ist für die Belange derjenigen, die weniger privilegiert sind als er, und der auf niemanden herabschauen muss, um sich seiner selbst zu versichern – einem Erwachsenen, der der Überzeugung anhängt, dass Frauen ihm gleichwertige Menschen sind. Ich wollte herausfinden, was ich diesem Kind vermitteln wollen und wie ich mir seine Welt wünschen würde, wäre es nicht zufällig ein Junge geworden.

Mindestens einmal in der Woche denke ich an einen Satz, mit dem die Wiener Scheidungsanwältin Helene Klaar einmal auf die Frage antwortete, wie es komme, dass sie und ihr Mann im Gegensatz zu vielen anderen noch verheiratet seien: »Wir sind der Meinung, dass an allem wirklich Schlechten der Kapitalismus schuld ist. Daher lassen wir uns nicht gegeneinander hetzen.«3 Das ist, wie ich finde, ein grundlegender und potenziell rettender Gedanke: An den meisten Dingen, die das Leben schwer machen, sind weniger die Individuen schuld als vielmehr die Strukturen, in denen sie sich bewegen. Auch für die Überzeugung, Augusts rosa Mütze könne nur bedeuten, dass er ein Mädchen sei, ist letztendlich der Kapitalismus verantwortlich. Er hat einen äußerst auskömmlichen Weg gefunden, allen, die sich mit der Absicht tragen, Kinder einzukleiden oder mit Spielzeug zu beschenken, von jeder Sorte mindestens zwei Ausführungen zu verkaufen und diese beiden Optionen so zwingend erscheinen zu lassen wie ein Naturgesetz: Es gibt eines für sie und eines für ihn, und beide dürfen keinesfalls vertauscht werden.

Nun ist der Kapitalismus zutiefst mit dem Patriarchat verwoben – also der Gesellschaftsordnung, an deren Spitze einige wenige mächtige weiße Männer stehen, unter denen sich weniger mächtige Männer, Frauen und alle anderen einordnen. Der patriarchale Kapitalismus ist die Ursache dafür, dass also zum Beispiel die Arbeit auf der Welt in wertvolle Erwerbs- und als wertlos erachtete Sorgearbeit aufgeteilt ist, und dass von Männern lange Zeit erwartet wurde, dass sie gegen Bezahlung auf dem Feld, in der Fabrik oder im Büro schuften, während Frauen sich um Küche und Kinder zu kümmern hatten, und sich daran so ganz grundlegend bis heute nicht viel geändert hat. Mit dieser Zweiteilung, in deren Zentrum die bürgerliche Kleinfamilie steht, entstanden auch die bis heute geltenden Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder.

Während eine »gute« Frau von ihrer für die Sorge um Kinder und Kranke unabdingbaren und als Liebe deklarierten Selbstlosigkeit und Emotionalität bestimmt wird – von einer oppressiven Ideologie der Weiblichkeit, die Frauen auf ihre Rolle als Gebende reduziert – , gilt als »richtiger« Mann nur, wer im Gegensatz dazu über emotionale Selbstgenügsamkeit, zur Schau gestellte Härte und eine dazu passende körperliche Erscheinung verfügt, mit einer gewissen, auch sexuellen (und dabei stets heterosexuellen) Aggression sowie mit dem Willen durchs Leben geht, andere zu kontrollieren. Dieses Set an Verhaltensweisen und Attributen, die heute oft unter dem Schlagwort toxische Männlichkeit gefasst werden, schädigt die Jungen und Männer, die noch immer unter diesem Diktat aufwachsen, genau wie alle anderen Menschen. Dieses zerstörerische Verhalten kostet allein in Deutschland jedes Jahr 63 Milliarden Euro an öffentlichen Geldern, ganz zu schweigen von dem Leid, das männliche Gewalt, Kriminalität, Abhängigkeit und Suizide bedeuten. Es ist erwiesen, dass eine Gesellschaft umso häufiger von Gewalt beherrscht wird, je hierarchischer sie organisiert ist und je rigider ihre Geschlechterrollen verfasst sind.4

Die Frage, welche Erwartungen wir an Kinder stellen, ist also kein politischer Nebenschauplatz, sie betrifft alle und alles um uns herum. Der Kinderarzt Herbert Renz-Polster hat gezeigt, wie die Erziehung eines Menschen seine politische Gesinnung prägt.5 Nur Kinder, die in Freiheit aufwachsen – und dazu gehört auch die Freiheit von der Zurichtung auf ein genderrollenkonformes Leben – , werden diese nicht gegen Autoritarismus und Diktatur eintauschen wollen, genauso wenig wie gegen ein Leben unter Rechtspopulist*innen oder Islamist*innen, denen gemein ist, dass sie Männlichkeit und Stärke beschwören und Frauen als nicht viel mehr als Gebärmaschinen für künftige Bürger*innen(2) betrachten. Hier geht es also um alles.

Es geht darum, die Welt in einem besseren Zustand zu hinterlassen, als wir sie selbst vorgefunden haben, und es gibt keinen besseren Weg, als das gemeinsam mit den Kindern von heute zu tun – den Menschen von morgen. Es geht um die Frage, wie wir uns das Zusammenleben in Zukunft vorstellen.

Das Ergebnis ist dieses Buch.

(1) Hinweis zur Sprache: Ich spreche von Mädchen, Jungen, Frauen und Männern (wie auch viele Studien auf dieser geschlechterspezifischen Zweiteilung basieren), und meine damit jeweils alle, die sich als solche verstehen oder als solche wahrgenommen werden, also mehr als die Angehörigen des jeweiligen biologischen Geschlechts. Denn Geschlecht ist nicht binär, sondern ein Spektrum, Gender ist sozial konstruiert, und Sprache schafft Realität, formt Gesellschaften und kann Ungerechtigkeiten reproduzieren. Der besseren Verständlichkeit und Lesbarkeit wegen verzichte ich aber auf die Schreibung mit Sternchen und bediene mich einer vereinfachenden, geschlechterbinären Sprache.

(2) Zum Thema Gendern: Es versteht sich bei dem Thema dieses Buches fast von selbst, dass es sich nicht auf das generische Maskulinum verlässt. Über die Frage, ob die männliche Form in der deutschen Sprache immer auch weibliche und non-binäre Personen mitmeint (erwiesen ist: tut sie nicht) und wie die Art, wie wir sprechen, unsere Art zu denken und damit die Wirklichkeit prägt, haben andere viel Schlaues geschrieben, das ich hier nicht wiederholen muss. Ich bin überzeugt davon, dass wir in zehn oder 20 Jahren genauso belustigt bis befremdet auf die Diskussion ums Gendern zurückblicken werden, wie auf die in den 1970er-Jahren erbittert geführte Debatte darüber, ob eine Anschnallpflicht im Auto die individuelle Freiheit bedrohe und welche »Gurtschäden« zu erwarten seien. Nachricht von Ava, 24.12.2021:

GESCHLECHT

Während die Natur Vielfalt liebt, hasst die Gesellschaft sieinder Regel.

Milton Diamond, »Transsexuality, Intersexuality and Ethics«

Wie können wir wissen, wer wir wirklich sind, wenn unser ganzes Leben ab dem Moment schon für uns vorherbestimmt ist, in dem wir bei der Geburt als weiblich oder männlich identifiziert werden?

Florence Given, »Frauen schulden dir gar nichts«

Und, was wird es?

Im Winter 2017 trat meine engste Freundin und langjährige Mitbewohnerin Ava aus der Praxis ihrer Gynäkologin und schrieb mir eine SMS, in der stand: »Es ist ein Penis!«. Sie war, das wusste ich, ein wenig angegruselt von der Vorstellung, dass da allem Anschein nach ein männliches Geschlechtsorgan im Inneren ihres Körpers heranwuchs. Ich fand diesen ebenso faszinierenden wie leise unheimlichen Gedanken nachvollziehbar, aber vor allem denke ich bis heute oft daran, wie genau Ava ihre Nachricht formuliert hatte. Sie schrieb nicht: »Es ist ein Junge«, sondern: Das Kind hat einen Penis. Das müssen nicht, das können aber sehr wohl zwei verschiedene Dinge sein. Bekanntlich identifiziert sich nicht jede Person, die mit einem Penis respektive mit einer Vulva und Vagina auf die Welt gekommen ist, später als Junge oder Mann beziehungsweise Mädchen oder Frau. Es kann auch sein, dass es weder das eine noch das andere für sich reklamiert oder beides. Nur ignorieren viele Menschen diese Tatsache.

Im September 2020 brach im kalifornischen San Bernardino County ein Waldbrand aus, der 23 Tage lang wütete, 9300 Hektar Land verwüstete, 20 Gebäude zerstörte und einen Feuerwehrmann das Leben kostete.6 Wie sich herausstellte, war das Feuer durch eine Rauchbombe ausgelöst worden, mit der ein Paar im Kreise von Freund*innen und Familie das Geschlecht seines ungeborenen Kindes social-media-wirksam verkünden wollte – ob mit rosafarbenem oder hellblauem Rauch, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Es war nicht das erste und sicherlich nicht das letzte Mal, dass dieser neuartige Brauch namens »gender reveal ceremony« Leben gefährdete. Ein Jahr zuvor war im US-Bundesstaat Texas ein Flugzeug abgestürzt, das mehr als 1500 Liter rosafarbenes Wasser abwerfen sollte;7 kurz vorher starb eine Frau in Iowa durch einen Granatsplitter, als bei einer Geschlechtsenthüllungsparty für ihr ungeborenes Enkelkind ein selbst gebasteltes Feuerwerk explodierte.8

Es steht zu vermuten, dass so gut wie alle, die in den sechs Jahrzehnten seit der Erfindung der Ultraschalldiagnostik ein Kind erwartet haben, Dutzende Male dieselbe Frage gestellt bekamen: »Was wird es denn?« Warum nur interessieren sich Menschen, manchmal sogar wildfremde, so brennend für die Genitalien eines ungeborenen Kindes?

Zum Beispiel weil sie Opfer ihrer eigenen Vorurteile werden. Etwa dem, dass sich Mädchen die niedlicheren Kleider anziehen lassen und Jungen die besseren Fußballer*innen sind. Oder dem, dass sich nur zu einem Kind des gleichen Geschlechts eine besonders enge Beziehung aufbauen lässt. In den USA wurde seit 1941 elf Mal die Präferenz werdender Eltern in Bezug auf das Geschlecht ihres ersten Kindes abgefragt. Während Frauen durchgehend keine starke Vorliebe zeigten, bevorzugten Männer mit durchschnittlich 25 Prozentpunkten mehr einen Jungen. Konkret: Im Jahr 2018 wünschten sich 43 Prozent der Befragten einen Sohn und nur 24 Prozent ein Mädchen.9 Laut einer deutschen Studie wünschen sich Männer beim ersten Kind eher einen Sohn und Frauen ein Mädchen.10Gender-Disappointment wird die oft vielleicht nur unbewusst enttäuschte Hoffnung in dem Moment genannt, in dem Eltern das mutmaßliche biologische Geschlecht ihres Kindes erfahren. Je nachdem, in welchem Teil der Welt sich dieses Szenario abspielt, reichen die Folgen von Schuld- und Schamgefühlen über Bindungsprobleme der Eltern zu ihrem von dem Wunschgeschlecht abweichenden Kind bis zur Abtreibung weiblicher Föten. In Ländern, in denen ein Sohn etwa als positiver Faktor für die ökonomische Sicherheit der Familie angesehen wird und eine Tochter bedeutet, dass bei deren Verheiratung eine Brautgabe fällig wird, kommen deutlich mehr Jungen auf die Welt als Mädchen. Laut der UNO fehlten im Jahr 2020 aufgrund vorgeburtlicher oder späterer Kindestötung weltweit 140 Millionen Frauen. 140 Millionen Menschen, die aufgrund des auf der Welt herrschenden Sexismus und institutionalisierter Misogynie schlicht nicht geboren wurden.11

Zusätzlich dazu, dass sich mit dem Geschlecht Hoffnungen und Wünsche verbinden, legen wir wenig überraschend so viel Wert auf die Intimorgane eines ungeborenen Babys, weil wir es an so gut wie jeder Ecke mit der Einteilung der Welt in zwei Geschlechter zu tun bekommen – in Mann oder Frau, Herr oder Dame, Junge oder Mädchen. In Schuhläden, Modegeschäften und den Abteilungen von Kaufhäusern, in den Umkleiden von Schwimmbädern, auf öffentlichen und Schultoiletten, im Sport und bei Preisverleihungen an Schauspieler*innen, in der Anrede von E-Mails und Briefen, in Online-Formularen und solchen auf Ämtern, in Umfragen und Studien.

Sogar die biologische Forschung spricht davon, dass Geschlecht eben nicht binär ist, sondern ein Spektrum, und dass die körperlichen Merkmale, die zwar für die menschliche Fortpflanzung eine Rolle spielen, nicht inhärent »männlich« oder »weiblich« sind. Die meisten Menschen jedoch leben noch mit der tief verankerten Vorstellung von den zwei eng definierten, streng voneinander getrennten und einander gegensätzlichen Geschlechtern, die sich eindeutig am Körper ablesen lassen.

»Geschlecht ist fast überall präsent, aber fast nirgendwo relevant«,12 so der*die Autor*in Ravna Marin Siever und meint damit zum Beispiel: Wenn die Erzieher*innen in der Kita die Kinder dazu auffordern, sich in Jungen und Mädchen aufzuteilen, geht es eigentlich nicht ums Geschlecht, sondern darum, zwei Gruppen zu bilden. Wenn ich in einem Spielzeuggeschäft nach einem Geschenk suche und gefragt werde »Für einen Jungen oder ein Mädchen?«, ist wahrscheinlich eigentlich gemeint: Suchst du eine Puppe oder ein Auto, etwas Liebliches in Rosa und Lila oder etwas Technisches oder Martialisches in Blau oder Stahlgrau? Und schon kommen Klischees und Rollenzuschreibungen ins Spiel, vorgefertigte Ideen, wie ein Kind aufgrund seines Geschlechts zu sein und womit es zu spielen hat. Dabei wäre es ebenso naheliegend, Kinder statt anhand ihres Geschlechts danach zu gruppieren, ob sie lieber Pizza oder Nudeln essen. Und statt nach dem Geschlecht des zu beschenkenden Kindes zu fragen, sich nach seinen Interessen und Vorlieben in Sachen Spielzeug zu erkundigen.

Stattdessen wird in diesen und unzähligen anderen Fällen das Geschlecht aufgerufen und damit immer und immer wieder eine Vorstellung verstärkt: Es gibt mit Mädchen und Jungen, Männern und Frauen genau zwei Geschlechter auf der Welt, die sich fundamental voneinander unterscheiden und in der Heterosexualität zusammenfinden. Es ist diese »Zwei-Geschlechter-eine-Sexualität«-Ordnung, die die allermeisten werdenden Eltern wie selbstverständlich davon ausgehen lässt, ihr Kind komme erstens entweder als cis Mädchen oder als cis Junge auf die Welt, identifiziere sich also mit dem ihm bei Geburt zugeschriebenen biologischen Geschlecht, und sei zweitens heterosexuell.

»Die Gender-Binarität ist wie ein Gast auf einer Party, der auftaucht, bevor du überhaupt dazu gekommen bist, den Tisch zu decken«,13 so der*die Performer*in Alok Vaid-Menon. Der Moment, in dem einem Kind ein Geschlecht zugewiesen wird, ist der, in dem sich entscheidet, wie ihm von da an begegnet wird. Etwa in der Frage, in welcher Stimmlage mit einem ungeborenen Kind gesprochen wird,14 als wie gravierend seine Schmerzensschreie eingeschätzt werden15 oder ob seine Reaktion auf einen überraschend aus einer Kiste springenden Kasper als verärgert oder verängstigt interpretiert wird.16 Es ist oft der Moment, in dem sich entscheidet, ob in Unterhaltungen mit ihm über einen Gegenstand ein Zahlenbezug hergestellt oder ob stattdessen auf seine Gestalt hingewiesen wird; ob es also zum Beispiel heißt: »Schau mal, da sitzen fünf Pfauen auf dem Rasen« oder »Schau mal, wie schön die Pfauen da auf dem Rasen aussehen«.17 Es ist häufig der Moment, in dem sich entscheidet, ob einem Kind bequeme kurze Hosen angezogen werden, in denen es sich frei bewegen kann, oder Hotpants, die möglichst viel Haut zeigen.18 Es entscheidet sich, wie oft ein Kind in der Schule aufgerufen wird, wenn es sich meldet – und wie häufig es korrigiert wird.19 Ob aus einem Kind ein Mensch wird, von dem Zeit seines Lebens Aufmerksamkeit, Zuneigung, Bewunderung, Nachsicht, Geborgenheit, Hege, Pflege, Mitgefühl und Trost erwartet wird, oder aber einer, der mit der Überzeugung aufwächst, all das stehe ihm zu. Es ist auch der Moment, in dem sich entscheidet, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Kind mal drogenabhängig, einer rechten Gewalttat verdächtigt oder inhaftiert wird.20 All das hängt an der Frage, welches biologische Geschlecht dieses Kind hat.

Geschlecht und Gender

Im Deutschen wird häufig zwischen dem biologischen und dem sozialen Geschlecht bzw. dem Gender unterschieden, also den Rollen, Erwartungen und Werten, die an das biologische Geschlecht geknüpft sind.

In Bezug auf eine geschlechtsoffene oder -sensible Erziehung lässt sich unterscheiden, wovon die Rede ist, wenn es um Geschlecht geht: das bei der Geburt zugewiesene und das zugeschriebene Geschlecht oder das tatsächliche Geschlecht, so wie es erlebt (oder gelebt) wird. Das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht ist dabei das, das einem Kind von medizinischem Personal meist anhand seiner Genitalien »verschrieben« und das dann in der Geburtsurkunde und beim Standesamt angegeben wird. Das zugeschriebene Geschlecht einer Person ist das, von dem andere annehmen, dass ein Kind es hat – und das wie gesagt beeinflusst, wie es betrachtet und behandelt wird. Das tatsächliche Geschlecht oder die Geschlechtsidentität hingegen ist das Geschlecht, wie es von der betroffenen Person selbst erlebt und erfahren wird. Bei cis Menschen fallen alle drei Ebenen ineinander, bei trans(3) Personen vor der Transition unterscheiden sich meist das zugewiesene bzw. zugeschriebene und das tatsächliche Geschlecht voneinander.

Die Geschlechtsidentität, also das Selbstbild, das eine Person in Bezug auf ihr Geschlecht hat, entwickelt sich allmählich bis zu einem Alter von etwa sieben Jahren. Schon ab etwa drei Jahren merken Kinder, ob das ihnen zugeschriebene Geschlecht sich für sie richtig anfühlt. Sie beginnen, Selbstzuschreibungen zu machen und entsprechende Erklärungen abzugeben – wie August und einer seiner engsten Freunde, die einmal durch unsere Wohnung rannten und riefen: »Wir sind Jungen!«.

Da Kinder durch genaueste Beobachtung und Nachahmung lernen, aber noch nicht wissen können, dass ihre Identität nicht von anderen und deren Wahrnehmung bestimmt wird, verwandeln sie sich im Alter von ungefähr vier Jahren häufig zu den strengsten Wächter*innen rollenkonformen Verhaltens. Sie passen dann etwa genau auf, dass nur Mädchen rosafarbene Kleidung tragen und nur Jungen mit Autos spielen, und neigen dazu, alles, was sie an Wissen über ihr vermeintliches oder tatsächliches Geschlecht internalisiert haben, zur Aufführung zu bringen. Hier setzt geschlechtersensible und -offene Erziehung an, indem sie versucht, eben nicht bei jenen Stereotypen stehenzubleiben und sie weiter zu bestätigen, sondern die Geschlechts-Binarität aufzubrechen und nicht nur Jungen wie Mädchen dabei zu helfen, sich frei zu entwickeln, sondern es auch all jenen Kindern leichter zu machen, die sich außerhalb der Zwei-Geschlechter-eine-Sexualität-Ordnung bewegen.

Inter

Vielen Menschen ist nicht klar, dass es Körper mit Genitalien gibt, die sich nicht eindeutig in das Muster Vulva mit inneren und äußeren Labien und Klitoris sowie Vagina mit Uterus oder Penis mit Hodensack und (meist) zwei Hoden einordnen lassen. Zum Beispiel, weil die Vulva keine inneren Labien hat, oder weil eine Vagina vorhanden ist, aber kein Uterus. Weil die betreffende Person sowohl einen Penis als auch eine Vagina hat. Oder weil der Klitoriskopf größer als 0,7 cm oder der Penis kleiner als 2,5 cm ist, sie also von den geltenden Normgrößen abweichen und daher nicht mit diesen Worten bezeichnet werden.

Schätzungen zufolge kommt in Deutschland mindestens eines von etwa 4.500 Kindern mit solchen uneindeutigen Genitalien zur Welt.21 Demnach waren das allein im Jahr 2021 hierzulande etwa 176 intergeschlechtliche Kinder – nicht mitgezählt diejenigen Menschen, bei denen sich die geschlechtliche Mehrdeutigkeit erst später im Leben zeigt, etwa in der Pubertät. Andere Schätzungen gehen davon aus, dass der Anteil intergeschlechtlicher Menschen 0,02 bis 1,7 Prozent der Gesamtbevölkerung beträgt. In Deutschland wären das zwischen 16.800 und 1,4 Millionen Personen.

Aber das biologische Geschlecht wird neben den Genitalien in all ihren Varianten auch von hormonellen, genetisch-chromosomalen und gonadalen (also die Beschaffenheit von Eierstöcken und Hoden betreffenden) Merkmalen bestimmt, kann also auch abseits der bloßen Sichtbarkeit mehrdeutig sein. Die immer wieder gern vorgebrachte Behauptung, es gäbe nur zwei Geschlechter, eines mit Penis und eines mit Vulva und Vagina, zeugt also vor allem von der Eindimensionalität, mit der Körper häufig gedacht werden. So kann etwa ein Kind statt mit den Chromosomenpaaren XX oder XY mit XXX-, XXY- oder XYY-Chromosomen auf die Welt kommen oder mit XY-Chromosomen, aber ohne Penis oder mit XX-Chromosomen und einem Penis. All diese Varianten werden mit dem Begriff Intergeschlechtlichkeit gefasst – das I im Akronym LGBTQIA+.

Während das Preußische Allgemeine Landrecht inter Personen noch im Jahr 1794 einen eigenen juristischen Status zuwies und es ihnen ab dem 18. Lebensjahr freistellte, zu welchem Geschlecht sie sich zurechnen lassen wollten,22 ist Intergeschlechtlichkeit heute auch deswegen so unterbelichtet, weil Mediziner*innen Neugeborene seit den 1950er-Jahren nach einer Genitalbeschau ein Geschlecht zuwiesen – also zum Beispiel entschieden, dass ein Penis klein genug war, um ein Klitoriskopf zu sein, das betreffende Kind also zu einem Mädchen erklärten. Oft ließen auch die Eltern die vorgenommene soziale Geschlechtszuweisung durch (häufig medizinisch unnötige und oft schwere psychische Beeinträchtigungen nach sich ziehende) Operationen bekräftigten. Ausgehend von der »Optimal Gender Policy« des Sexualwissenschaftlers John Money galt es als ausgemacht, dass jede Person ein Kerngeschlecht besitze, welches sich in den ersten 18 Lebensmonaten entwickle. Bis dahin könnten die Eltern, so die lange herrschende Lehrmeinung, das Neugeborene in Richtung einer Geschlechtskategorie erziehen, das Kind selbst aber über die Vorgänge im Unklaren lassen.23

Erst seit 2021 ist es in Deutschland verboten, Neugeborene mit dem Ziel zu operieren, ihre körperliche Gestalt einem von vorgeblich zwei existierenden Geschlechtern anzupassen.24 Das belgische Supermodel Hanne Odiele machte 2017 seine Intergeschlechtlichkeit öffentlich. Odiele, die mit XY-Chromosomen sowie mit im Körperinneren liegenden Hoden geboren wurde, sagt, dass sie nicht an ihrer Intergeschlechtlichkeit leide, sehr wohl aber an den Operationen, die sie teilweise ohne ihr Einverständnis über sich hatte ergehen lassen müssen. Ihre Eltern ließen ihre Hoden entfernen, als Odiele zehn Jahre alt war; volljährig geworden, ließ sie sich in einer weiteren Operation eine Vagina konstruieren.25 Heute setzt Odiele sich für die körperliche Selbstbestimmung von inter Menschen ein.

Erhalten Eltern nach der Geburt ihres Nachwuchses die »Diagnose« von dessen Intergeschlechtlichkeit – wobei es sich dabei nicht um eine Krankheit oder Störung handelt – , kann das ein Schock sein und die frühe Eltern-Kind-Beziehung nachhaltig stören. Schwangere und ihre Partner*innen jedoch, die sich gedanklich auf die Möglichkeit einstellen, ein Kind zu bekommen, das sich nicht eindeutig einer der beiden Geschlechtskategorien zuordnen lässt, sind weniger überrascht, schockiert und verunsichert, wenn es mehrdeutige Geschlechtsmerkmale aufweist. Gelänge es, die Intergeschlechtlichkeit des Kindes zwar zu benennen, aber nicht zu dramatisieren oder gar zu tabuisieren, könne diese für die Eltern in der ersten Zeit des Lebens ihres Kindes in den Hintergrund treten, empfehlen die Autorin Ursula Rosen und die Sexualwissenschaftlerin Katinka Schweizer. Man(4) könne von einer Besonderheit oder Variante der Geschlechtsentwicklung sprechen und darüber, dass das Kind Geschlechtsmerkmale von Jungen und Mädchen aufweist, »und man daher keine eindeutige Zuordnung vornehmen möchte, um dem Kind alle Optionen für die eigene Zukunft offen zu lassen«.26 Einer Befragung unter erwachsenen inter Menschen zufolge identifiziert sich ein Viertel weder als männlich noch weiblich, lebt also nicht-binär. Die anderen neigen im Lauf ihres Aufwachsens einem Gender zu – nur welchem, ist weder zum Zeitpunkt der Ultraschalluntersuchung noch der Geburt vorherzusagen.

Trans

Als im März 2022 in der »Sendung mit der Maus« die trans Frau Katja porträtiert wurde, beschwerten sich einige Eltern, ihre Kinder würden von der Darstellung einer Frau, die früher als Mann lebte, verwirrt. Dabei stellt sich die Frage, warum ausgerechnet ausgewiesene Formwandler*innen (wie zum Beispiel August, der sich immer mal wieder tagelang als Katze auf Händen und Knien durch unsere Wohnung bewegt und sich wünscht, mit »Miezi« angesprochen zu werden) nicht verstehen sollten, wenn jemand, der vermeintlich ein Mann war, jetzt als Frau adressiert werden möchte und sich als solche kleidet. In anderen Ausgaben der »Sendung mit der Maus« wird erklärt, wie eine Filteranlage auf Island CO2 aus der Luft holt oder wie Geothermie funktioniert. Inwiefern ist die Lebensrealität von schätzungsweise einer halben Million Menschen in Deutschland27 irritierender oder schwieriger zu verstehen als technische Anlagen zur Energiegewinnung? Dass es sich bei der Aufregung um die Sendung mit der trans Frau nicht um eine Frage des Kinderschutzes oder der »Elternrechte«, sondern um eine zu politischen Zwecken gefährlich aufgebauschte Debatte handelte, zeigte die neo-konservative bzw. rechte Reaktion auf die Ausstrahlung.

Dort hieß es, eine kleine Anzahl von »trans Ideologen« hätte den öffentlich-rechtlichen Rundfunk unterwandert, um Kinder mit dem Glauben an die »Vielgeschlechtlichkeit« und »Gender-Ideologie« zu schädigen und zu sexualisieren.28 Ganz davon abgesehen, dass es zu den gängigen und aus dem »Dritten Reich« bekannten Mechanismen gehört, Verschwörungsmythen in Umlauf zu bringen, nach denen eine »kleine Anzahl« von Menschen doch so viel Macht besitzt, dass sie Politik und Medien unterwandert, stammt der Vorwurf, Kinder würden »sexualisiert«, häufig genau von den gleichen Menschen, die zweijährigen Mädchen im Schwimmbad Bikinis anziehen, als hätten diese irgendwelche sekundären Geschlechtsmerkmale, die es zu verstecken gälte. Das sind oft mutmaßlich dieselben Menschen, die Mädchen ein paar Jahre später dann verbieten wollen, im Schulunterricht knapp geschnittene Kleidung zu tragen, um männliches Lehrpersonal nicht »von seinen Aufgaben abzulenken«.

Das Argument, trans Menschen würden Kinder »indoktrinieren« oder »sexualisieren«, erinnert nicht von ungefähr an die »Argumente«, die früher gegen Homosexuelle ins Feld geführt wurden. Damals wurden schwule Männer häufig der Pädophilie beschuldigt, um sie und ihre gesellschaftlichen Anliegen zu diskreditieren. Heute, da in unseren Breiten die Rechte Homosexueller so weit durchgesetzt sind, dass sich damit keine Politik mehr betreiben lässt, konzentriert sich die politische Rechte oft unter Mithilfe sogenannter TERFs (trans exclusionary radical feminists, also angeblicher Feminist*innen, die trans Personen ihr Existenzrecht absprechen) auf trans Menschen – oft mit dem Argument, Kinder vor ihnen schützen zu müssen. (Der Widerspruch, dass sie als vorgebliche Feminist*innen gegen ein System kämpfen, das Mädchen und Frauen unterdrückt, gleichzeitig aber darauf beharren, dass bestimmte Körper sich in gewisser Weise zu präsentieren haben, bleibt von TERFs genauso unbemerkt wie der Umstand, dass Frauen wie trans Personen gegen dieselben patriarchalen Kräfte kämpfen.) Dabei ist es exakt andersherum: Indem die Mehrheitsgesellschaft trans Personen mit Vorurteilen, Diskriminierung und Hass begegnet, stellt sie eine Gefahr für diese Menschen dar.. Einer Umfrage der American Academy of Pediatrics zufolge hat mehr als die Hälfte der befragten männlichen und 29,9 Prozent der weiblichen trans* Jugendlichen schon einmal einen Selbstmordversuch unternommen. Bei den nicht-binären Jugendlichen gaben 41,8 Prozent der Befragten an, irgendwann in ihrem Leben einen Selbstmordversuch unternommen zu haben.29

Für das Jahr 2020 meldete das Bundesinnenministerium deutschlandweit 782 trans- und homophob motivierte Straftaten, für das Folgejahr wurden insgesamt rund 1.050 hassmotivierte Straftaten gegen LGBTIQ+ festgestellt.30 »Eine so geartete Gewalt«, schreibt Judith Butler, »entsteht aus dem tiefsitzenden Wunsch, die binäre Geschlechterordnung als natürlich und notwendig beizubehalten, aus ihr eine Struktur zu machen, der sich, sei sie nun natürlich oder kulturell oder beides, kein Mensch widersetzen und dabei menschlich bleiben kann.«31 Der Drang, die herrschende Geschlechterordnung gewaltsam durchzusetzen, wird in diesem Klima schon Kindern vermittelt. Im September 2022 wurde in Bremen eine trans Frau in einer Straßenbahn beleidigt und geschlagen – die Tatverdächtigen waren vier zwölf- bis 13-Jährige.32

Neben der körperlichen Gewalt sind trans Menschen auch juristischen Diskriminierungen ausgesetzt. Bis 2008 mussten sich verheiratete trans Personen in Deutschland scheiden und bis 2011 sterilisieren lassen und einer geschlechtsangleichenden Operation unterziehen, um ihren Personenstand ändern zu können. Aktuell sind dazu noch mindestens zwei psychiatrische Gutachten nötig, die bestätigen, dass die betroffene Person mindestens seit drei Jahren in der Überzeugung lebt, trans zu sein. Zusätzlich muss die Personenstandsänderung in einem teuren Verfahren vor Gericht anerkannt werden. Erst 2018 erklärte die Weltgesundheitsorganisation, dass es sich bei Transidentität nicht um eine psychische Störung handele. Derzeit wird in Deutschland daran gearbeitet, das seit 1980 herrschende »Transsexuellengesetz« zu reformieren, sodass Menschen ab 14 Jahren ihren Namen und Personenstand beim Standesamt ändern lassen können – etwas, das neben dem Tragen von einer zum eigenen Gender passenden Frisur, Pronomen und ebensolcher Kleidung als soziale Transition bezeichnet wird. Für die medizinische Transition, also die Einnahme von Geschlechtshormonen und eine operative Geschlechtsangleichung, sehen fachliche Leitlinien derzeit ein Mindestalter von 18 Jahren vor. Unabhängig davon können sich Kinder und Jugendliche in etwa zwischen dem zehnten und zwölften Lebensjahr mit Unterstützung ihrer Eltern entscheiden, Hormonblocker einzunehmen. So lassen sich der Pubertätsbeginn und die damit verbundenen unumkehrbaren körperlichen (wie den Stimmbruch und das Brustwachstum) sowie psychischen und sozialen Veränderungen hinauszögern, um Zeit für die Entscheidung zu gewinnen, in welchem Gender die betreffende Person leben möchte.

Die geplanten Änderungen des diskriminierenden Transsexuellengesetzes in ein Selbstbestimmungsgesetz nutzen trans feindliche Stimmen indes für eine moralische Panikmache. »Im medialen Diskurs werden trans Kinder oft entweder als Unschuldige dargestellt, die aus den Fängen einer bösartigen Ideologie befreit werden müssen, oder als zu fürchtende Gefahr«, so die britische Autorin und Aktivistin Shon Faye.33