Wir nennen es Familie - Anne Waak - E-Book

Wir nennen es Familie E-Book

Anne Waak

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Beschreibung

Traditionelle Kleinfamilie, Patchwork, Regenbogen oder generationenübergreifende Kollektive – wie wollen wir leben? Was macht Familie heute aus? Angeregt von eigenen Erfahrungen ist die Journalistin und Autorin Anne Waak aufgebrochen zu einer Reise quer durchs Land und weiter, bis nach China und Westafrika. Waak erzählt von Familienentwürfen, die so bunt sind wie unsere gesamte pluralistische Gesellschaft, und sie analysiert die wirtschaftlichen, rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen, in die heutige Familienmodelle eingebettet sind. Denn ist die Familie tatsächlich die "Keimzelle der Gesellschaft", so steckt in jedem Lebensentwurf auch eine politische Erklärung. In Paarbeziehungen, alleinerziehend, als Bluts- oder Wahlverwandte, mit kinderlosen Freunden oder über die Generationen hinweg – es gibt viele Wege, sich als Familie zu begreifen und gemeinsam Kinder großzuziehen. Anne Waak macht Mut, sich zu den eigenen Bedürfnissen zu bekennen, Verantwortung zu übernehmen und zu teilen. Und als Familie neue Freiheiten zu wagen.

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Anne Waak

Wir nennen es Familie

Neue Ideen für ein Leben mit Kindern

»Eine Ära kann dann als beendet gelten, wenn sich ihre grundlegenden Erzählungen erschöpft haben.«

ARTHURMILLER

»Mein Interesse gilt der Zukunft, weil ich dort den Rest meines Lebens verbringen werde.«

CHARLES F. KETTERING

Inhalt

Familie anders denkenWarum Freiheit im Kopf beginnt

Vererbte IdealeWoran die Familie heute leidet

Plötzlich PapaWenn Wasser dicker ist als Blut

PatchworkEin Netz, das alle stützt

Frauenrollen und VaterbilderWas Elternschaft mit sich bringt

Die Papas und die MamasJe mehr Eltern, desto besser

Vom Glück der Single-MütterWarum weniger Eltern manchmal mehr sind

Haben und SeinVom Leben in sozialer Ungleichheit

Ein neuer GenerationenvertragDie helfenden Hände der Großeltern

Das Nanny-DilemmaEine kleine Geschichte der Kinderbetreuung

Blick über den TellerrandWie Familie anderswo gelebt wird

Das unabhängige GeschlechtDie Familien der kinderlosen Frauen

Im Rudel auf dem LandDie Großfamilie für Liebhaberinnen

Kinder wollen, Eltern machenDie Zukunft der Fortpflanzung

Wir nennen es Familie

Familie anders denken

Warum Freiheit im Kopf beginnt

Für eine gerade noch als jung geltende Frau Mitte, Ende dreißig mit beruflichen Ambitionen und hochfliegenden Plänen ist es heute nicht eben einfach, sich aus vollem Herzen für die Gründung einer Familie zu entscheiden. Da ist zum Beispiel die Trennungs- und Scheidungsstatistik, die einem keinen rechten Mut macht. Wer gründet schon gern eine Familie mit der Aussicht, sie nach einem, drei oder zehn Jahren wieder aufzulösen? Meine Freundinnen und Freunde1, egal ob alleinerziehend, als Patchwork- oder sogenannte intakte Familie lebend, kämpfen permanent um Zeit oder Geld, meist um beides. Alle kämpfen um Anerkennung – besonders, aber nicht nur die Frauen. Was die bezahlte Arbeit angeht, brachte eine hochschwangere Freundin das Dilemma kürzlich ebenso gut wie trocken auf den Punkt, als sie auf die Frage, was es denn werde, antwortete: »Ein Karriereknick für mich, drei Teilzeitjobs oder Altersarmut.« Denn für Mütter stehen bekanntlich nur die Labels Hausfrau, Teilzeit-Versorgerin oder Rabenmutter zur Wahl.

Egal, wofür sie sich entscheiden, (implizite) Vorwürfe und das permanent schlechte Gewissen gibt es ungefragt mit dazu, da hilft auch der feministischste Partner nicht viel. Eine Trennung wegen verloren gegangener Liebe oder anderer unüberbrückbarer Differenzen der Eltern bedeutet zwar meist nicht das Ende der Welt, oft aber den sozialen und finanziellen Abstieg – meist für beide Ex-Partner. Zur empfundenen Schmach über das Scheitern der Beziehung kommt die Sorge, die gemeinsamen Kinder im Zuge der Trennung bis an ihr Lebensende zu traumatisieren. Im grellen Licht der Realität betrachtet, wirken alle Optionen gleichermaßen ausweglos, beängstigend und trist, sodass ich stellvertretend für den Rest der Menschheit froh bin, dass sich überhaupt noch irgendwer darauf einlässt, eine Familie zu gründen. Dann wiederum herrscht ja zum Glück das Prinzip Hoffnung.

Zugleich droht den Kinderlosen vom Ende des Lebens her gesehen die Einsamkeit und die Reue über die verpasste Chance, einen kleinen Menschen auf eine bis dahin unbekannte Art zu lieben, das, was man gelernt hat und woran man glaubt, weiterzugeben und auf diese Weise vielleicht etwas in der Welt zu hinterlassen. Kinder werden von denen, die es wissen müssen, als eine Art Weltverstärker beschrieben, die höhere Höhen und tiefere Tiefen mit sich bringen. Für jemanden wie mich, die in allen Lebenslagen an Intensität interessiert ist, klingt das wie eine Verheißung.

Nun gibt es in der Frage »Ein Kind oder kein Kind?« keine Kompromisse, kein Mittelding und kein Rückgaberecht, sollte man feststellen, dass man seine Kinder zwar sehr liebt, das Leben, das sie mit sich bringen, aber leider hasst.

Bei Frauen kommt noch die Zeitkomponente hinzu: Während sich ein Mann theoretisch noch mit siebzig oder achtzig für leiblichen Nachwuchs entscheiden kann, ist für Frauen der Zug irgendwann schlichtweg abgefahren – auch wenn diese Grenze mit Hilfe der Reproduktionsmedizin beständig nach hinten verschoben wird.

Was also tun? Ist die Kleinfamilie aus zwei Erwachsenen und ein bis drei im selben Haushalt lebenden leiblichen Kindern2 der einzige Weg? Wie soll das überhaupt gehen: ein Job, der Erfüllung und Anerkennung verschafft, eine Beziehung, die über Jahre und Jahrzehnte hinweg sowohl Leidenschaft als auch Geborgenheit bietet, und »als Krönung der Liebe« Kinder, die mit ihrem gemächlichen Rhythmus sowohl der immer unerbittlicher werdenden Taktung der Arbeitswelt als auch mit ihrem Bedürfnis nach Zuwendung einer Paarbeziehung entgegenstehen? Muss man sich für einen oder zwei Träume entscheiden: die große Liebe oder die erfolgreiche Karriere oder Kinder? Hieß es nicht eben noch, wir könnten alles haben?

Lebten im Jahr 1999 hierzulande noch 9,3Millionen Familien, also Eltern-Kind-Gemeinschaften im gemeinsamen Haushalt, waren es 2019 schon 1,1Millionen weniger.3 Es scheint, als hätte die nuclear family, wie sie im Englischen heißt, ihre beste Zeit tatsächlich im nuklearen Zeitalter gehabt. Stirbt die Familie wirklich aus und existiert bald nur noch als anheimelnde Metapher in der Sprache der Werbung und der Wirtschaft oder als Sehnsuchtsbild im Mainstreamfilm? Immerhin lautet selbst der Claim einer klebrigen Süßigkeit der Storck-Markenfamilie: »Familie ist alles – und alles kann Familie sein«.

Babys kommen jedenfalls nach wie vor auf die Welt, davon zeugen die freudetrunkenen Mails, Postkarten und Status-Updates mit den Aufnahmen der frisch Geschlüpften. Trifft man deren Mütter und Väter dann Monate und Jahre später wieder, sind sie nicht selten hohläugig, abgekämpft und frisch getrennt. Das Familienleben, heißt es dann, habe sich irgendwie ganz anders gestaltet als erträumt. Was zur Frage führt, was das für Träume waren.

Als Heranwachsende schrieb ich regelmäßig kleine Flaschenpostnachrichten an mein zukünftiges Ich. Auf Papierschnipsel kritzelte ich Fragen, die meine Zukunft betrafen: In was für einer Wohnung werde ich mal leben? Wie viele Kinder werde ich haben? Mit wem? Die Zettelchen legte ich in einen Umschlag und vergaß sie bis zum nächsten Umzug in der Schrankschublade. Wenn ich sie heute lese, freue ich mich über diese junge, arglose, neugierige Version meiner selbst, weiß aber auch, dass sie seitdem ein paar Updates mitgemacht hat.

Ob Menschen nun eine Familie gründen oder sich, so wie ich bislang, dagegen entscheiden: Wie können wir wissen, welchen unbewussten Mustern wir da jeweils folgen und woher diese stammen? Sind wirklich wir es – ich meine vor allem Frauen und Männer in ihren Zwanzigern, Dreißigern und Vierzigern –, die sich Kinder wünschen, oder sitzen wir ein Stück weit einer Ideologie auf, die uns zwar alle möglichen sexuellen Praktiken und Beziehungskonstellationen akzeptieren lässt, die aber nach wie vor nur eine Vorstellung von einem gelungenen Familienleben kennt: das durch romantische Liebe verbundene Paar mit Kind(ern). Woher sollen wir wissen, ob wir nicht nur gelernte, mehr oder weniger erfolgreiche, häufig von außen an uns herangetragene Erwartungen, Vorstellungen und damit Lebensmodelle reproduzieren?

Mein Zögern und Zaudern in diesen Fragen bedeutet nicht, dass ich nicht mit Kindern zusammenleben will. Es bestand für mich lange überhaupt kein Zweifel daran, dass ich mal welche haben würde. Nur wie, das hatte ich mir nie so genau überlegt, war aber sicher, das würde sich schon fügen. Die traditionelle Konstellation kam mir allerdings schon immer etwas zu klaustrophobisch und stickig vor. So erschien mir die Vorstellung von einem Haus mit einem Mann und zwei Kindern darin nie besonders erstrebenswert. Auch das Konzept der Ehe leuchtet mir bis heute nicht so recht ein, und ich finde es grundfalsch, dass der Staat sie anderen Lebensformen gegenüber vorzieht und subventioniert. Den einzigen Ring, den ich je zu tragen plane, bekam ich zu meinem zwölften Geburtstag von meiner Mutter überreicht: ein billiges Ding aus Rotgold, das unter den Frauen unserer Familie weitervererbt wird. Er war einmal der Verlobungsring meiner Ururgroßmutter Anna, deren Ehe letztendlich nicht zustande kam. Meine Oma, die Einzige, die sich zu der Angelegenheit noch befragen lässt, kann sich beim besten Willen nicht an den Namen des Mannes erinnern, von dem der Ring stammt. Wenn er symbolisch für etwas steht, dann eher für die Idee der Selbstbestimmung als dafür, dass mit der richtigen Person das ewige Glück auf einen warte.

Allerdings stand ich auch noch nie vor der konkreten Entscheidung, ob ich wirklich ein Kind bekommen möchte. Es kam schlicht nie dazu. Und so begann ich mich, kurz vor meinem 30.Geburtstag, immer häufiger zu fragen, was genau eigentlich eine Familie ist, was sie sein kann und welche Alternativen es zum herkömmlichen Modell Kleinfamilie geben könnte.

Diese Fragen führten mich zurück in meine eigene Kindheit. Meine Mutter war 22 und steckte mitten im Psychologiestudium, mein ebenso junger Vater etablierte sich gerade als Künstler, als sie mich Anfang der 1980er-Jahre in der DDR zur Welt brachten. Weil meine Eltern zwar zusammenlebten, aber nicht verheiratet waren, galt meine Mutter offiziell als alleinerziehend. Das Geld, das sie als Unterstützung vom Staat erhielt, war zusammen mit dem, was mein Vater mit seinem Nebenjob verdiente, eine ziemlich gute Lebensgrundlage. Unsere erst winzige und nach einem Wanddurchbruch geräumige Wohnung kostete 50 Ostmark Miete. Viel zu konsumieren gab es nicht. In den Urlaub fuhren wir mit dem Zug an die Ostsee. Unsere Welt war kleiner und um ein Vielfaches einfacher als die, in der wir heute leben.

Meine Altersgenossen – die zukünftigen sozialistischen Arbeiter – wurden mit ein paar Monaten standardmäßig für bis zu zehn Stunden am Tag in Kinderkrippen gegeben, damit ihre werktätigen Mütter dem Sozialismus dienen konnten. Meine Mutter hielt die staatliche Krippe mit ihren Wickel- und Töpfchenroutinen für zu rigide und mich für zu klein, um mich dort hinzugeben. Während sie ihr Studium abschloss, verbrachte ich die Hälfte meiner Tage in einem Laufstall im anheimelnd nach Ölfarbe riechenden Atelier meines Vaters. Als meine Mutter dann in ihrem ersten Job arbeitete, baute mein Vater einen Handkarren mit einer kleinen Bank und warmen Decke zur Kinderkutsche um und zog meinen jüngeren Bruder und mich jeden Morgen durch unser Wohnviertel zum freundlichsten Kindergarten, den es dort gab. Als sich unsere Eltern dann nach 20 respektive 25Jahren Beziehung trennten4, entschieden sie, dass es im Trennungsjahr das Beste für uns Teenager wäre, wir würden in der Familienwohnung bleiben, während sie, die Erwachsenen, im Wochentakt abwechselnd bei uns und in ihren Solo-Wochen woanders wohnten. Ende der Neunziger war das neu und erklärungsbedürftig (und bei den günstigen Mieten in Dresden waren drei Wohnungen finanzierbar), heute bevorzugen Familienpsychologinnen dieses sogenannte Nest- vor dem Wechsel- oder Doppelresidenzmodell, das so heißt, weil die Kinder ein- bis mehrmals wöchentlich zwischen den Haushalten ihrer Eltern hin- und herpendeln.

Die Familiensituation, in der ich aufgewachsen bin, hat mir also die vermeintliche, so aber auch nur in einem Teil Deutschlands herrschende, Normalität aus arbeitendem Vater, Hausfrau-und-Mutter und Kind noch nie besonders zwingend oder selbstverständlich erscheinen lassen.

Was ich dann im Wachsen und Erwachsenwerden lernte, nämlich die Perspektive zu wechseln und die Dinge von einem anderen Standpunkt aus zu betrachten, entlarvte schließlich nicht wenige vermeintliche Sicherheiten oder scheinbar unumstößliche Naturgesetze als Ideologien. Entscheidend war die Entdeckung, dass es sich lohnen kann, in scheinbar fest zementierten Situationen nach Freiräumen und Schlupfwinkeln zu suchen – dass Freiheit im Kopf beginnt und ich, vielleicht, weil ich die ersten sieben Jahre meines Lebens eingemauert in einer Diktatur verbracht habe, relativ viel davon brauche, um das Gefühl zu haben, das für mich richtige Leben zu führen. All das führte schließlich zu diesem Buch. In ihm möchte ich untersuchen, was genau der Kleinfamilie heute solche Probleme bereitet, und aufzeigen, welche Formen des familiären Zusammenlebens es lange vor dem 21. Jahrhundert gab, wie sich die Situation in anderen Teilen der Welt darstellt und welche neuen Modelle derzeit entwickelt und schon gelebt werden. Es geht mir darum, Familie anders zu denken.

Denn obwohl die Kleinfamilie nach wie vor viele Menschen glücklich macht und für sie zur großen Erzählung des eigenen Lebens gehört, ist sie für viele andere nicht die geeignete Form. Sei es, weil diese Leute nicht heterosexuell sind oder sie aus anderen Gründen nicht auf »natürlichem« Weg Kinder bekommen können, weil sie keinen oder mehr als einen Partner oder eine Partnerin haben (möchten) – oder weil sie zwar als Eltern, aber nicht als Paar zusammenleben.

Dabei geht es bei der Frage, wie wir leben wollen, um weit mehr als individuelle Glücksvorstellungen. Die Entscheidungen, mit wem wir zusammenleben, ob wir heiraten, Kinder bekommen oder auch nicht, sind nicht allein maßgeblich für unser privates Leben. Denn ist die Familie tatsächlich die »Keimzelle der Gesellschaft«, steckt in jedem Lebensentwurf auch eine politische Erklärung.

Im Zusammensein mit unseren Eltern, Geschwistern, Liebhaberinnen, Ehegatten und Freundinnen entwickeln wir unsere Vorstellungen von Freiheit, Zusammenhalt und Solidarität. Unsere erste und eindrücklichste Erfahrung mit sozialen Gruppen und Autoritäten ist die Familie. Die Art und Weise, wie wir aufwachsen, bestimmt unser Weltbild, unsere Identität und einen Großteil unseres Lebens. Wie wir erzogen wurden, wie wir Partnerschaft verstehen, ob wir Strenge oder Fürsorglichkeit bevorzugen, Belohnung oder Bestrafung, spiegelt sich darin, wie wir über Politik denken, und schließlich darin, ob wir dazu neigen, einander zu bekämpfen oder miteinander zu kooperieren. Weil in anderen Familien andere Kinder – und also Bürger – heranwachsen, geht es um nicht weniger als die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen.

Wenn das Modell »Vater, Mutter und ein bis drei Kinder« nicht mehr als ein ab Werk voreingestellter Modus der menschlichen Existenz begriffen wird – als der er, wie ich zeigen werde, historisch ohnehin nur einen Augenblick lang währte –, wird auf einmal vieles denkbar und einiges möglich. Davon handelt dieses Buch. Es versteht sich nicht als Ratgeber und präsentiert keine allgemeingültigen Lösungen. Es möchte nicht propagieren, dass man nur das richtige Familienmodell für sich finden muss, damit sich das langfristige Glück einstellt. Im Gegenteil, gute Beziehungen wollen erarbeitet werden, immer. Und auch politisch liegt noch viel Arbeit vor uns. Dieses Buch ist auch kein Schiedsgericht über die Formen des Zusammenlebens, die die Menschen aus meinen Beispielgeschichten für sich gefunden haben. Aber es möchte zeigen, dass die Kleinfamiliennorm weder naturgegeben ist, noch ein Schicksal sein muss. Es ist jedoch sicher kein Zufall, dass diese Vorreiterinnen und Vorreiter für neue Formen des Zusammenlebens über ein entsprechendes Maß an finanzieller Absicherung und Bildung verfügen, das es ihnen erst ermöglicht, an der Kleinfamiliennorm zu rütteln.

Um herauszufinden, wie eine bessere Zukunft für das Leben mit Kindern aussehen könnte, braucht es den Blick zurück in die abendländische Kulturgeschichte der Familie und auch in andere Weltgegenden, wo Familie ganz anders gelebt wird. Denn ich bin davon überzeugt, dass vielen von uns schon geholfen wäre, wenn wir die Ideale, die wir von Familie, Verwandtschaft und einem gelungenen Zusammenleben mit uns herumtragen, hinterfragen würden.

Zum Beispiel: Ist die Mutterliebe mit dem Stillen als einer ihrer Ausdrücke ein Instinkt, also etwas Angeborenes und Unveränderliches? Die jahrtausendealte Institution der Amme weist auf etwas anderes hin. Versteht es sich von selbst, dass Kinder am besten bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen? Die Angehörigen einer westafrikanischen Ethnie würden dem widersprechen. Ist es selbstverständlich, dass Eltern und ihre Kinder jede freie Minute miteinander verbringen? Die Bewohner von Kollektivsiedlungen im Nahen Osten dachten durchaus nicht so. Und wie gestalten sich familiäre Beziehungen, wenn eine Gesellschaft noch nie Wert auf die Ehe gelegt hat und stattdessen die romantische Liebe vom Kinderkriegen trennt, wie es im chinesischen Bergland seit Jahrhunderten praktiziert wird? Der Blick zurück und über die Grenzen der eigenen Kultur hinaus kann relativieren, befreien und ermutigen, Familie neu zu denken. Oder in den Worten der Kinderrechtsaktivistin Marian Wright Edelman: »You can only be what you can see.«

WTF? – Wie es wurde, was es ist

Im Rückblick ist es immer schwer zu sagen, wann genau etwas begonnen hat oder endete. Retrospektiv betrachtet, erscheint die Gegenwart manchmal wie zwangsläufig, wo sie sich doch aus vielen einzelnen Entscheidungen, Umständen und Zufällen zusammensetzt.

Ich war gerade auf einer Dienstreise, als ich im Hitzesommer 2018 eine Mail von meiner engsten Freundin erhielt. Ava war zehn Monate zuvor Mutter geworden und mit dem Vater ihres Kindes in eine Wohnung ganz in der Nähe zusammengezogen. Ich hatte schon beim Lesen der Betreffzeile (»News«) ein komisches Gefühl. Als ich die Mail öffnete, war mir, als sackte mir all mein Blut aus dem Kopf in die Füße. Ava schrieb: »Annelein, nur damit du nicht aus den sprichwörtlichen Schuhen kippst, wenn du zurückkommst: Ich wohne jetzt wieder bei dir, Baby August ist den Großteil der Nächte auch da. Ich bin immerhin nicht mehr nur verzweifelt, sondern schon sauer. Wahrscheinlich hilft es, dass ich seit Wochen Johanniskraut gegen meine Stilldepression nehme.«

Ich rief laut »What the fuck?!« und schrieb genau das zurück, gefolgt von der Versicherung, dass sie mich als ihren persönlichen Kriseninterventionsdienst jederzeit anrufen könne.

Ein paar Tage später kehrte ich, immer noch leicht unter Schock, in die Wohnung zurück, die seit vielen Jahren unsere Studentinnen- und Post-Studiums-WG war. Ava hatte ihr Zimmer als Rückzugsraum behalten, für die Zeit, in der das Baby unabhängiger von ihr werden und sie mal eine Nacht durchschlafen wollen würde. Ich war hier in den vergangenen Monaten häufig allein gewesen und äußerst zufrieden über so viel neue Ruhe und Raum.

Ava und das Baby waren nicht da. Dafür stand die Küche voller Breigläser, auf der Spüle lag ein Potpourri an Saugern, Schnullern und Nuckelflaschen – überhaupt war alles voller neuem Zeug. Meine kleine Sammlung von obskuren, in Secondhandläden zusammengekauften fragilen Stricktieren lag angenagt und mit Babyspucke benetzt auf dem Boden. Der wiederum klebte an den Schuhsohlen.

In meinem Arbeitszimmer, das eigentlich unser gemeinsames Wohn-, Ess- und Gästezimmer war, setzte ich mich an den Tisch, an dem jetzt auch ein aus einem Sessel, einem Gürtel und einem Kissen improvisierter Babyhochstuhl stand, und begann, meinen leisen Unmut über die überraschend gekaperte Wohnung und die zu erwartenden kurzen Nächte in Arbeit zu kanalisieren. Ich versuchte zu entscheiden, welchen Teil des Berges an abzutippenden Interviews, zu formulierenden Texten, unbeantworteten Mails und zu stellenden sowie zu bezahlenden Rechnungen ich zuerst abtragen sollte. Als Ava nach Hause kam, die Tür öffnete, das Arbeitszimmer betrat, das weinende Baby in den Hochstuhl neben mich setzte und ihm seinen Brei fütterte, verließ ich wortlos den Raum, um nicht selbst loszuweinen.

Ava ihrerseits, das war offensichtlich, war verwirrt und überwältigt von der Erschütterung der Trennung. Sie hatte seit Monaten das erste Mal wieder Abende, an denen kein Kind an ihr klebte, sie schlief manchmal sogar wieder durch, flüchtete sich in die Arbeit und fühlte sich ansonsten recht alleingelassen.

Nur war uns beiden dies in dem Moment alles nicht klar. Während ich mir überfordert und überfahren vorkam, fühlte sie sich wie ein Eindringling in ihrer eigenen Wohnung. Sie versuchte, sich und das Baby nahezu unsichtbar zu machen. Sie räumte und rannte hinter dem krabbelnden August her, verhinderte, dass er meine herumliegenden Textmarker aß und die Bücher im Regal zerpflückte. Und das inmitten einer schweren Lebenskrise.

Trennungen von Paaren mit Kind sind schon eher die Regel als eine Ausnahme. In meinem direkten Umfeld5 existieren sämtliche Trennungsvarianten: das Paar, das zehn Jahre lang zusammen gewesen war und implodierte, bevor das gemeinsame Wunschkind seinen ersten Geburtstag feierte. Das Paar, das ein paar Monate sehr stürmisch zusammen gewesen war und dann ungeplant schwanger wurde. Er versicherte ihr, sie in ihrer wie auch immer gearteten Entscheidung zu unterstützen, und trennte sich dann, noch bevor das Kind gehen konnte. Das Paar, das früher als alle anderen schwanger geworden war. Das Kind ging schon zur Schule, als seine Mutter eines Abends bei Ava und mir am Esstisch saß und erzählte, sie verspüre eine solche Lust, etwas kaputt zu machen. Wenig später verließ sie den Vater ihres Kindes für einen anderen Mann, der ebenfalls schon ein Kind hatte.

Nicht selten ist es das zweite Kind, welches das Gefüge vollends aus dem mühsam gezimmerten Rahmen kippen lässt. Da ist die Bekannte, die sich Jahre nach der Trennung vom Vater ihrer zwei Kinder am Ende ihrer Kräfte wähnt. Die ständigen Kämpfe um die geteilte Verantwortung, die Sorge um das Wohlergehen ihrer Söhne und der drohende Verlust ihrer Wohnung im Zusammenspiel mit ihrer geliebten, aber sehr fordernden Arbeit haben sie an den Rand eines Burn-outs gebracht. Und dann sind da noch die beiden, die sich seit Jahren vor Gericht bis aufs Blut um die gemeinsamen Kinder streiten und dabei die teuersten Familienanwälte der Stadt noch ein bisschen reicher machen. Ich war also vorbereitet gewesen und hatte sicher keine Illusionen, aber vielleicht doch die Hoffnung, dass es in meinem unmittelbaren Nahbereich hätte anders laufen könnte.

Das tat es aber nicht. Ich war ein echter Fan, wenn nicht ein Cheerleader von Ava und ihrem Freund gewesen und sicher, dass sie das alles gut hinkriegen würden. Sie hatten sich gemeinsam für das Baby entschieden, waren zusammengezogen, hatten die Geburt und die ersten Monate durchgestanden – und waren jetzt Geschichte.

Sofort war da wieder diese Skepsis, die ich in den vergangenen Jahren der ganzen Kindersache gegenüber entwickelt hatte. Das kam so: In der Zeit um meinen 30. Geburtstag herum verließ ich meinen damaligen Freund, den ich sehr liebte, der jedoch keine Kinder wollte. Das hatte ich gewusst, als wir zusammengekommen waren. Und mir war auch klar, dass ich ihn in dieser Frage weder umstimmen wollte noch konnte. Nur war mir das mit 25Jahren egal gewesen. Ich hatte mich in ihn verliebt und nicht in die Idee, mit ihm eine Familie zu gründen.

Irgendwann aber änderte sich das. Ich dachte immer öfter darüber nach, wie ich Kinder haben könnte, ohne mich von ihm trennen zu müssen, aber es blieb lange Zeit beim Nachdenken. Dann las ich irgendwo, dass das Durchschnittsalter von Frauen, die sich in sogenannten Kinderwunschkliniken wegen Unfruchtbarkeit behandeln lassen, bei 32Jahren liege. Auf einmal war da das Gefühl, dass mir die Zeit davonrannte. Kurz darauf erzählte ich einer Bekannten von meinem Dilemma. Sie war zehn Jahre zuvor in einer ähnlichen Situation gewesen und nun, trotz ihres Kinderwunsches, nach wie vor mit ihrem kinderwunschlosen Freund zusammen. Aber ihre Entscheidung gegen ein eigenes Kind bereute sie bitter. Ihre Warnung, »Du musst deinen Freund verlassen!«, fiel auf fruchtbaren, weil schon monatelang von mir selbst bearbeiteten Boden. Also verließ ich meinen Freund, was mich auf Jahre in den entsetzlichsten Liebeskummer und eine ausgewachsene Sinnkrise stürzte. Ich war zu einer Frau geworden, die ich nie sein wollte: eine, die eine große Liebe für eine Idee aufgegeben hatte. Eine Idee, von der ich bald nicht mehr wusste, ob sie überhaupt meine gewesen war oder nicht doch nur etwas, was ich glaubte, tun zu müssen. Weil es scheinbar zu meiner Vorstellung von mir selbst dazugehörte, irgendwann Kinder zu haben.

So war ich also einige Jahre durch die Welt gegangen. Ich hatte Kinder – ganz grundsätzlich und alle, beziehungsweise den Umstand, dass sie eine solche Macht ausübten – für mein Unglück verantwortlich gemacht. Dabei war mir schon klar, dass ich diese Entscheidungen selbst und für mich getroffen hatte und nicht irgendein hinterlistiger Säugling. Der Effekt war der gleiche: Die Sache mit den Kindern und mir war vorbei. Ich wollte lieber nichts mehr mit ihnen zu tun haben, geschweige denn selbst welche in die Welt setzen. Denn Kinder, der Beweis war ja nun erbracht, wirken sich katastrophal auf Liebesbeziehungen aus, dazu müssen sie noch nicht einmal geboren worden sein.

Nun war es also wieder passiert, und hier ging es immerhin um meine beste Freundin. Ava und ich kannten uns seit 15Jahren, zehn davon hatten wir als Zweier-WG in dieser kompakten Dreizimmerwohnung gelebt, mal mehr, mal weniger eng – je nachdem, wo wir gerade studierten, woran wir arbeiteten und mit wem wir sonst noch Zeit verbrachten. Als wir uns auf die Wohnung bewarben, hatte der so progressive wie gewiefte Mitarbeiter der Hausverwaltung angeregt, dass wir statt als WG als lesbisches Paar auftreten sollten, das erhöhe unsere Chancen. Er sollte recht behalten. Wir waren eingezogen und hatten – halb zur Tarnung, halb als Witz – über unserer Türklingel ein gemeinsames Foto in einem kitschigen goldenen Bilderrahmen in Herzform angebracht. Wir fingen an, gegenüber anderen von uns beiden als Paar zu sprechen, von einer Ehe, die allerdings weder auf einem Standesamt geschlossen noch jemals »vollzogen« wurde. Jedes Jahr im Dezember verschickten wir ein aktuelles Foto von uns beiden in vorweihnachtlicher Eintracht mit Festtagswünschen an unsere Familien, Freundinnen und Bekannten. Irgendwann ließen wir uns sogar die gleiche Tätowierung stechen. Wir tragen je einen stecknadelkopfgroßen dunklen Punkt am linken Handgelenk, irgendetwas zwischen Freundschaftstattoo und Ehering. Dabei mögen wir beide weder Tätowierungen noch die Institution Ehe besonders. Aber selbst ein halb ironisches Zeichen der Verbundenheit ist immer noch mindestens halb ernst gemeint.

So wurde die Sache mit der Lesben-WG im Laufe der Zeit vom Running Gag zu so etwas wie der Gründungserzählung unserer Freundschaft. Über die Jahre hatten wir uns Tausende E-Mails und Nachrichten aus wechselnden Städten überall auf der Welt geschrieben, von ihrem Zimmer in meins und eben seit einem Jahr von Avas Familienwohnung in die, die zwischenzeitlich zu meiner Single-Wohnung geworden war. Ava war der Mensch, mit dem ich die überwiegende Zeit meines bisherigen Erwachsenenlebens verbracht hatte – deutlich mehr als mit jedem Mann. Diese Trennung ging auch mich etwas an.

Und die Frage, die sich auf einmal noch drängender stellte als bei den vielen Trennungen von Paaren mit Kindern zuvor: Ist es unsere Schuld, dass unsere Beziehungen und damit immer öfter unsere Familien auseinanderbrechen? Geben wir zu früh auf, sind wir beziehungsunfähig – handelt es sich also um ein Problem, das unsere angeblich so leichtherzige und wenig leidensfähige Generation mehr betrifft als andere zuvor? Ist das Internet schuld? Ist das alles überhaupt ein Problem, oder handelt es sich, da es so viele Menschen betrifft, um etwas anderes? Zum Beispiel ganz einfach um eine neue Normalität?

Je länger ich darüber nachdenke, desto wahrscheinlicher scheint es sich mit der Kleinfamilie so zu verhalten wie mit dem Trinkbrunnen in unserem Viertel, der auf halbem Weg zwischen Einkaufszentrum und U-Bahn-Station steht und an dem ich jeden Tag vorbeigehe. Im Sommer (und wenn nicht gerade eine Pandemie um sich greift) wird er von Passanten zum Wassertrinken genutzt. Im Winter aber, wenn kein Wasser sprudelt, halten ihn die meisten für einen Aschenbecher und drücken ihre Kippen in ihm aus. Ein zutiefst trauriger Anblick. Ist das nun die Schuld der Menschen, sind sie zu dumm oder fehlerhaft, um den Brunnen seiner Bestimmung nach richtig zu benutzen, oder ist eher das Design des Brunnens dafür verantwortlich, dass sie ihn missverstehen? Sollte nicht der Brunnen in seiner Gestaltung den Leuten helfen, sich zurechtzufinden?

Übertragen auf die Familie, frage ich mich: Sind wir, und nur wir allein, für das (wenn man es denn so nennen will) Scheitern unserer Beziehungen verantwortlich, oder spielt die Art und Weise, wie die Welt da draußen beschaffen ist, auch eine Rolle? Es ist erstaunlich, wie viele individuell-psychologische Ursachen wir für unser vermeintliches Versagen finden können, während wir die möglichen kulturellen, soziologischen und politischen Gründe meist ausblenden – und somit kein Stück weiterkommen.

Zunächst einmal muss, wer »wir« sagt, genauer werden: Ich meine damit vor allem die Bewohner einer westeuropäischen Mittelstandsgegenwart im ungefähren Alter zwischen 25 und 45Jahren. Hier gilt ein Baby häufig als die Vollendung des romantischen Glücks, während gleichzeitig viele Beziehungen leiden und zerbrechen, sobald Kinder ins Spiel kommen. Was passiert heute überhaupt mit Paaren, wenn sie zur Familie werden? Es stellt sich die Frage, was diese Männer und Frauen anders machen als diejenigen, die vor 20, 50 oder 100Jahren Kinder bekamen. Was stimmt nicht mehr mit der Familie?

Vererbte Ideale

Woran die Familie heute leidet

Die Antwort auf die Frage, warum Familien es so schwer haben, hat direkt damit zu tun, was wir heute meist unter einer Familie verstehen: ein Paar und seine ein bis drei leiblichen Kinder, die klassische Kleinfamilie.

Viele gehen davon aus, dass diese Konstellation eine Art naturgegebene Konstante des Menschseins darstellt. Nichts könnte weniger der Wahrheit entsprechen. Die Idee, dass unsere Vorfahren in der Familienkonstellation von Fred Feuerstein, Wilma und Pebbles ums Feuer herum saßen, ist reine Fiktion.

Über rund 200000Jahre hinweg, also 95Prozent ihrer gesamten Zeit auf der Erde, lebten die Menschen in nomadisch umherziehenden Verbänden verschiedener Generationen und Verwandtschaftsgrade zusammen. Lange ging man davon aus, dass es sich dabei vor allem um enge Angehörige handelte. Eine neue Studie an 32 modernen Jäger-und-Sammler-Gesellschaften mit im Durchschnitt 28Mitgliedern zeigt jedoch, dass nur ein kleiner Teil dieser Menschen, die sich auf diese Weise Nahrung und Kinderbetreuung teilten, eng miteinander verwandt war. Nur zehn Prozent der Mitglieder waren Eltern, deren Kinder und wiederum deren Onkel und Tanten. Bei den restlichen 90 Prozent handelte es sich um entfernte oder gar nicht mit ihnen Verwandte. Diese im Tierreich nicht vorkommende Eigenart des Menschen, in engen Verbänden mit Nicht-Verwandten zusammenzuleben, ermöglicht es, dass neue Ideen einfacher von außen in eine Gruppe eingeführt werden können. Die untersuchenden Forscher machen diesen Umstand für die beispiellose kulturelle Evolution des Menschen verantwortlich.6

Dabei war es, anders als es das Klischee besagt, durchaus nicht so, dass allein die Männer die Nahrung erlegten, während die Frauen und Mütter in den Höhlen hocken blieben. Auch sie schwärmten aus, und während sich andere aus dem Verband um die zurückgelassenen Kinder kümmerten, erlegten diese Frauen Beutetiere wie Schlangen und Jungvögel, um deren Fleisch schließlich in der Gemeinschaft zu teilen – andernfalls wäre es einfach vergammelt. »Wildbeuter«, so die Psychologen Christopher Ryan und Cacilda Jethá, »teilen untereinander Fleisch, stillen die Säuglinge der anderen, haben wenig oder gar keine Privatsphäre, und ihr Überleben hängt stark von den Mitgliedern der Gruppe ab.« So sehr sich unsere soziale Welt um Vorstellungen von Privateigentum und individueller Verantwortlichkeit drehe, so sehr gehe es Jäger-und-Sammler-Gesellschaften um das Wohlergehen und die Identität der Gruppe, tiefe wechselseitige Beziehungen und gegenseitige Abhängigkeit.7

Erst vor 12000 bis 10000Jahren ereignete sich im heutigen Nahen Osten die sogenannte Neolithische Revolution, im Zuge derer der Mensch sesshaft wurde und fortan Ackerbau und Viehzucht betrieb – der Beginn des Privateigentums. Auf einmal war es entscheidend, zu wissen, wo das eigene Feld anfing und wo es endete, welches das eigene Vieh war, welche Kinder leiblich waren und welche der Nachbar gezeugt hatte – und mit welcher Frau.

Vom Mittelalter bis in die Moderne war die bäuerliche Familie die am weitesten verbreitete Form des Zusammenlebens. Je mehr Kinder geboren wurden und je mehr von ihnen das Kleinkindalter überlebten, desto mehr Hilfe konnten sie spätestens ab einem Alter von vier Jahren auf den Feldern leisten. Dazu kamen unverheiratete oder verwitwete Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, Mägde und Burschen. Die Familie war eine wirtschaftliche Einheit, die Tiere hielt, einen Großteil der benötigten Lebensmittel und Kleidung selbst produzierte; eine Einheit, in der die Kinder lernten und die Alten versorgt wurden. Die bäuerliche Großfamilie war außerdem in der Lage, unvorhergesehene Vorfälle, wie die Geburt eines ungeplanten Kindes oder den Tod eines Elternteils, aufzufangen. Und Tode kamen häufig vor, eher um das 30. oder 40.Lebensjahr herum als um das 80. Jede Geburt, jede Krankheit, jeder rostige Nagel, in den man trat, konnte einen das Leben kosten. Noch im 18. Jahrhundert war ein Drittel aller Familien von Zweit- und Drittehen geprägt. Folgerichtig gab es für das, was wir heute Kleinfamilie nennen, bis zur Französischen Revolution gar keinen Begriff. Das, was er hätte bezeichnen können, existierte nicht.8

Der Wandel setzte mit der Industrialisierung im 18. und beginnenden 19.Jahrhundert ein. Besonders junge Männer und Frauen verließen ihre Familienverbände und strebten mehr als je zuvor in die Städte, um dort zu arbeiten. Das bedeutete eine Befreiung aus dem festen Gefüge der mehrgenerationalen Großfamilie, ihrer Enge und starken sozialen Kontrolle. Aus der Abnahme landwirtschaftlicher Lebens- und Arbeitsweisen und dem Anstieg von Berufen in Industrie und Wirtschaft entwickelte sich die bürgerliche Rollenverteilung zwischen Frau und Mann – die Trennung der Sphären Heim und Welt, Familienarbeit und Erwerbsarbeit, drinnen und draußen. Kurz: die Kleinfamilie, wie wir sie kennen. Bis dahin hatte der Vater ganz selbstverständlich eine aktive, empathische Rolle in der Kindererziehung. Wie die Untersuchungen der Ethnografin Heidi Rosenbaum zeigen, war das in Arbeiterfamilien sogar bis Anfang des 20. Jahrhunderts der Fall.9

»Der Niedergang der zusammenlebenden Mehrgenerationen-Familie spiegelt sich aufs Genaueste im Niedergang der Arbeit auf den Bauernhöfen«, so der US-amerikanische Journalist David Brooks in seinem Artikel »The Nuclear Family Was a Mistake«.10

Brooks grenzt den Zeitraum, in dem die heute nur etwa 100 Jahre alte Kleinfamilie funktionierte, auf den Zeitraum zwischen 1950 und 1965 ein. Mann und Frau heirateten, bekamen ein paar Kinder, der Vater brachte ausreichend Geld mit nach Hause, während die Mutter vor allem Heim und Kinder hütete. »Für uns ist das heute die Norm, obwohl die meisten Menschen in den Zehntausenden Jahren vor 1950 so nicht lebten und auch die meisten Menschen in den 55 Jahren seit 1965 so nicht gelebt haben«, schreibt Brooks.11 Unser Idealbild der Familie beruht also auf einer Situation, wie sie für einen menschheitsgeschichtlich winzigen Augenblick gültig war – einem absoluten historischen Ausnahmefall. Damit ist auch klar: Die Bedingungen, unter denen die unterdessen zur Norm gewordene Kleinfamilie relativ stabil existieren konnte, werden sich nicht wieder einstellen.

Denn seit den 1970er-Jahren stagnieren die Löhne überall in der industrialisierten Welt, insbesondere einfacher qualifizierte Jobs haben massiv an Wert verloren und ermöglichen kaum mehr eine berufliche Karriere. Ein Gehalt reicht fast nirgendwo noch aus, um eine Familie zu ernähren, manchmal sind auch zwei nicht genug. Die bindende Kraft von Institutionen wie der Kirche ist mit dem Bedeutungsverlust derselben geschwunden. Die absolut notwendige Emanzipation der Frau wurde ermöglicht und befeuert durch die Erfindung der Anti-Baby-Pille und in geringerem Maß auch durch die modernen Reproduktionstechnologien.

Dazu kommt, dass die Berufsausbildung heute sehr viel länger dauert als früher und junge Menschen das Kinderkriegen daher häufig so lange verschieben, bis sie gar nicht mehr so jung sind. Da die Fertilität von Frauen aber besonders in ihren Dreißigern massiv abnimmt, ist es oft das Jahrzehnt zwischen dem 30. und 40.Lebensjahr, in dem alles gleichzeitig passieren muss: Karriere, Kinder, Küche (die mit der Kochinsel und dem Induktionsherd). Daher heißt dieser recht kurze biografische Abschnitt unter Soziologinnen auch die »Rush-Hour des Lebens«. Kommt noch ein viertes »K« dazu – die Krankenpflege oder die Pflege alter Angehöriger –, findet sich eine ganze Generation (von meist Frauen) eingeklemmt zwischen der Sorge für das eigene Leben und der für andere. In einer 2015 vom Institut für Demoskopie Allensbach durchgeführten repräsentativen Studie geben 82 Prozent der Frauen in Deutschland zwischen 40 und 59 Jahren an, das Gefühl der totalen Überforderung zu kennen. »95 Prozent unterstützen ihre Eltern oder Schwiegereltern. 88 Prozent sind als Ansprechpartner immer für die Kinder da. 66 Prozent erledigen die Familienarbeit mehr oder weniger allein. 85 Prozent leiten ein prima funktionierendes ›Hotel Mama‹ mit Koch-, Wasch- und Putzservice. 25 Prozent betreuen schon Enkel. In all diesen Punkten übertreffen Frauen die gleichaltrigen Männer bei weitem.«12 Die neue Möglichkeit – oder Pflicht – für Eltern, einem Beruf nachzugehen, hat, gepaart mit der erhöhten Mobilität in einer globalisierten (Arbeits-)Welt, frappierende Auswirkungen auf das familiäre Zusammenleben. Mütter und zunehmend auch Väter sind heute einer Mehr- und Überbelastung ausgesetzt, die weder die Verwandtschaft noch die Gemeinschaft oder die Gesellschaft auffangen kann.

»Einen solchen massiven Umbruch der familiären Strukturen hat es wohl noch nie gegeben«, konstatiert der Kinderarzt und Autor Remo H. Largo. »Es erstaunt daher nicht, dass sich nicht nur die Eltern im Alltag damit schwertun, sondern auch die Gesellschaft.«13

Dazu kommt, dass nur den wenigsten werdenden Eltern klar ist, auf welche Weise das erste Kind ihr jeweiliges Selbstverständnis, ihr bisheriges Leben und damit auch ihre Beziehung verändern kann. Vor der Geburt oder Adoption war vieles spielerisch, leicht und selbstverständlich, hinterher ist es kaum noch etwas. »In Wahrheit lässt sich das Ausmaß der Veränderung, wenn aus Mann und Frau Vater und Mutter werden, nicht in Worte fassen«, formuliert es die britische Schriftstellerin Rachel Cusk.14

Das hat, wie so gut wie alles auf der Welt, auch mit Sex zu tun. Wie der Soziologe Richard Sennett und der Philosoph Michel Foucault in ihrer gemeinsamen Vorlesung »Sexuality and Solitude«15 herausarbeiten, entwickelte sich in vom Christentum geprägten Ländern mit Beginn des 17. Jahrhunderts eine bestimmte Vorstellung von Kernfamilie, von Monogamie und Treue zwischen Ehegatten sowie von gewissen Nöten im Hinblick auf sexuelle Akte. Diese Sexualmoral mit ihrer Verbindung von Sexualität, Subjektivität und Verpflichtung zur Wahrheit prägt uns bis heute. Sexualität wurde ein Barometer zur Vermessung des menschlichen Charakters und der Seismograph des Selbst: Wer also keinen Sex hat, ist eigentlich kein Mensch.

Mit dem ersten Kind ist der Alltag der Partner jedoch auf einmal geprägt von kräfteraubenden Routinen und engen Absprachen. »Man kennt sich bis dahin nicht unter solchen extremen Stressbedingungen«, so schildert es mein Freund Gabriel, der sich die Verantwortung für die Erziehung seiner beiden Kinder mit seiner Freundin teilt. »Es geht auf einmal nur noch um das nackte Überleben – das des Babys und das eigene. Man befindet sich zwar in der gleichen Wohnung, verbringt aber keine Zeit mehr miteinander.« Denn auch das starke Aufeinanderbezogensein zweier Menschen endet in dem Moment, in dem ein Kind in ihr Leben tritt und verlangt, dass sich ihm jemand rund um die Uhr widmet. Meist ist das die Frau, die das Kind geboren hat. Das überfordert und schneidet sie, einen bis dahin in der Welt stehenden Erwachsenen, von der Restwelt ab. »Ich hatte das Gefühl, unsichtbar geworden zu sein. Wie gestrichen. Arbeitslos und behindert«, so bringt Antonia Baum das Grundgefühl in der ersten Zeit ihrer eigenen Mutterschaft auf den Punkt: »Ich übertrat die Grenze nicht mehr, hinter der das Geld und die Freiheit lagen.«

Das Geld und die Freiheit kommen auch in einem anderen Punkt ganz neu zum Tragen: Die klinische Psychologin Darcy Lockman hat versucht, der Frage auf den Grund zu gehen, warum in dem Moment, in dem Heteros das erste Kind bekommen, aus einem sich bis dahin als progressiv verstehenden Paar häufig eines wird, das sich in die 50er-Jahre zurückkatapultiert findet und bei dem allein die Frau den sogenannten Mental Load trägt, also die Last der Verantwortung für die vielen kleinen anfallenden, oft miteinander zusammenhängenden Details des Familienlebens. Nur zum Beispiel: »War nicht kommende Woche dieser Kindergeburtstag? Wo ist die Einladung, auf der die genaue Zeit steht? Wer von uns beiden geht da hin? Wie kommt man dahin? Haben wir ein Geschenk? An dem Tag soll es regnen, passen die Gummistiefel noch? Wo bekomme ich jetzt so schnell neue Gummistiefel her? Wann überhaupt? Bei der Gelegenheit könnten wir gleich neue Sandalen für das Kind kaufen, welche Größe wird es wohl im Sommer haben?«, und so weiter. Lockmans schlichtes Fazit lautet: Es liegt am Widerstand der Männer, sich ebenfalls um diese Dinge zu kümmern. Sei es, weil sie sie nicht bemerken, weil sie sie vergessen, weil sie das Wissen um sie zwar als wünschenswert, aber nicht als wichtig genug erachten oder weil sie die Verantwortung dafür der Persönlichkeit ihrer jeweiligen Partnerin zuschreiben, dass ihr etwa Sauberkeit einfach wichtiger sei als ihnen.16 Der Soziologe Ulrich Beck hat das Phänomen schon 1986 mit der Wendung »verbale Aufgeschlossenheit bei weitgehender Verhaltensstarre«17 auf den Punkt gebracht.

Eine amerikanische Vereinigung namens »MenCare« hat errechnet, dass es gemessen am Tempo, mit dem die Gleichberechtigung der Geschlechter derzeit voranschreitet, noch 75 Jahre dauert, bis Männer die Hälfte der so unbezahlten wie undankbaren Versorgungsarbeit im Haushalt erledigen.18 Mir kommt das sehr optimistisch vor. Der jüngste »Gender Report« des World Economic Forum zeigt, dass es noch 257 Jahre dauern wird, bis der ökonomische Gender Gap zwischen Männern und Frauen geschlossen sein wird, bis Frauen also über genauso viel Geld verfügen werden wie Männer. 257Jahre.19

Soviel in den vergangenen Jahrzehnten auch erreicht wurde: Vor allem von Frauen, zunehmend aber auch von Männern wird heute erwartet (teilweise auch von ihnen selbst), dass sie arbeiten, als hätten sie keine Kinder, und sich um ihre Kinder kümmern, als würden sie keiner Erwerbsarbeit nachgehen.

Nicht einmal die Hälfte aller Länder auf der Welt verfügt über eine gesetzliche und bezahlte Elternzeit – die meist nur ein paar Tage oder Wochen beträgt und meist vor allem von der Mutter in Anspruch genommen wird. Und selbst wenn: Möchte ein Vater in Deutschland beispielsweise mehr als ein paar Wochen Elternzeit nehmen (64 Prozent von ihnen wollen nicht einmal das), sind Arbeitgeber nach wie vor oft nicht bereit, seine Arbeitskraft zu ersetzen. Ein gesetzlicher Vaterschutz analog zum Mutterschutz nach der Geburt existiert nicht. Der eintägige Sonderurlaub, der immerhin in Teilen des öffentlichen Dienstes für Väter bei der Geburt eines eigenen Kindes galt, wurde Ende 2001 abgeschafft. Auch später, wenn die Kinder in Kita und Schule gehen, zeigen sich Arbeitgeber selten flexibel genug, Vätern genau wie Müttern zu ermöglichen, ihren Bedürfnissen und Pflichten als gleichberechtigte Eltern über die zehn Tage hinaus nachzukommen, die ihnen für die Betreuung eines kranken Kindes zustehen.

Auf der unbezahlten Versorgungsarbeit, die zum ganz überwiegenden Teil Frauen übernehmen, basieren weltweit ganze Ökonomien. Je mehr unbezahlte Arbeit Frauen leisten, desto besser können alle anderen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Wirtschaft dienen – also dem Kapitalismus. »Es braucht schon die Last der Tradition und ein Gestrüpp aus privaten und politischen Erwartungen, um eine simple Wahrheit zu verdecken: Die unbezahlte Arbeit der Frauen ist eine Quersubventionierung der Privatwirtschaft«, so die Redakteurin der ZEIT, Elisabeth Raether.20 Kurz: Hinter jedem Mann auf dem Feld, am Fließband, in der Werkstatt und am Schreibtisch steht eine unbezahlte Frau.

Die Hilfsorganisation Oxfam hat ausgerechnet, dass Frauen (und Mädchen) jedes Jahr Haus-, Pflege- und Fürsorgearbeit im Wert von zehn Billionen Dollar leisten.21 Ohne finanzielle Gegenleistung, versteht sich. Diese Zahl ist so gewaltig, dass man sie für ihre volle Wirkung kurz so stehen lassen muss: zehn Billionen. Nicht Millionen, nicht Milliarden: Billionen. Das ist 43-mal so viel, wie Apple erwirtschaftet, einer der wertvollsten Konzerne der Welt.

Warum leisten Frauen diese Arbeit? Im besten Fall aus Liebe, häufig aber schlicht, weil sie keine andere Wahl haben. Was bekommen sie dafür? Im besten Fall Liebe und in arbeitsteiliger Übereinkunft die Hälfte des Partnergehalts und eine gebührende Altersvorsorge. Wenn sie Pech haben, ernten sie Geringschätzung, Missachtung und Gewalt. Wenn sie ganz schlecht dran sind, erwartet sie der Tod.

Im Jahr 2018 konnten 606Millionen Frauen im arbeitsfähigen Alter aufgrund ihrer unbezahlten Care-Arbeit keiner bezahlten Arbeit nachgehen.22 Für die Autorin Mareice Kaiser existiert die viel beschworene sogenannte Work-Life-Balance nicht, sie schlägt stattdessen den Begriff »Care-Work-Leisure-Struggle« vor, also ein Leben als ständige Zerreißprobe zwischen Fürsorge- und Erwerbsarbeit sowie Freizeit – oder dem, was dann noch davon übrig ist. Von Intimbeziehungen spricht Kaiser vorsichtshalber gleich gar nicht.23

Dieses Buch ist teilweise während der Covid-19-Pandemie entstanden, die die Welt im Jahr 2020 über Monate hinweg vollkommen im Griff hatte. Wie es Krisenzeiten so an sich haben, zeigte sich auch hier auf einmal besonders deutlich, was schiefläuft. Schnell wurde klar, wie systemrelevant die Arbeit ist, die in den Krankenhäusern, Arztpraxen, Supermärkten, Kitas und Altenheimen zu 75 Prozent von Frauen verrichtet wird. Diese in der Regel schlecht bezahlten Arbeitnehmerinnen waren es, die plötzlich unverzichtbar geworden waren und die trotz der Ansteckungsgefahr mit dem Virus den Laden am Laufen hielten – während ihre Kinder gleichzeitig zu Hause betreut werden mussten. Laut einer Studie der Universität Mannheim von Anfang April über die Verteilung der häuslichen Kinderbetreuung in der ersten Woche der Kita- und Schulschließungen waren etwa in der Hälfte der Fälle die Frauen allein zuständig, nur 24Prozent der Paare teilten sich diese Arbeitslast, oder der Mann übernahm sie vollständig. Im Rest der Fälle war eine andere im Haushalt lebende Person für die Kinderbetreuung zuständig, oder die Kinder blieben sich selbst überlassen.24 Dabei hatten vor Ausbruch des Virus 13Prozent der befragten Männer und 10,6Prozent der Frauen im Homeoffice gearbeitet – also in etwa gleich viele. Aber Frauen wird von ihren Arbeitgebern in 22Prozent der Fälle und damit doppelt so häufig wie Männern nicht gestattet, von zu Hause zu arbeiten.

Aber auch in der Wissenschaft hatten vor allem Frauen das Nachsehen. Während die Zahl der bei Fachzeitschriften eingereichten Studien von Forschern in der Pandemie anstieg, fehlte vielen Akademikerinnen im Homeoffice mit gleichzeitiger Kinderbetreuung die Zeit, zu publizieren – und damit die Chance auf berufliche Sichtbarkeit und langfristigen Erfolg.

Als Mitte April über die Verlängerung der zu diesem Zeitpunkt bereits über vier Wochen bestehenden Kontaktsperren diskutiert wurde und die dafür eingesetzte Expertenkommission empfahl, Schul- und Kita-Schließungen noch weitere fünf Monate beizubehalten, rund 8,8 Millionen Kinder in 4 Millionen Familien also weiterhin zu Hause betreut werden sollten, konnte man sich fragen, warum »das familiäre Wohl und das Wohlergehen der Frauen eigentlich gar nicht adressiert« wurde, wie es die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin, Jutta Allmendinger, tat.25 Die Antwort war simpel: Die Kommission war mit 24 Männern und lediglich zwei Frauen mit einem Durchschnittsalter von 60 Jahren besetzt und stand damit auch symbolisch für das Missverhältnis zwischen denen, die entscheiden, und denen, die diese Entscheidungen betreffen. Die Bedeutung der Fürsorgearbeit war einmal mehr übersehen worden. Während die für »das System« offenbar relevante Bundesliga ihren Betrieb wieder aufnahm, blieb die unbezahlte Arbeit, die in der Pandemie auf neue Dimensionen anwuchs, weiterhin das private Problem der Familien – und somit meist der Frauen. Fürsorge gehört zu der Rolle, die ihnen als Angehörige ihres Geschlechts zugeschrieben wird.

In den Beziehungen helfen private Diskussionen und ausdauernde Verteilungskämpfe über die beschriebenen Ungerechtigkeiten nur bedingt weiter, nicht selten verstärken sie die Spannungen – im Zweifel, ohne dass sich irgendetwas an der Situation ändert. Die eine fühlt sich allein gelassen, der andere gegängelt. Das Ganze erhält eine ungute Eigendynamik, in der sich beide ungerecht beurteilt und zu kurz gekommen fühlen. Die Zufriedenheit beider Partner sinkt.

Zunehmend prekär werdende Arbeitsverhältnisse, explodierende Mieten und sonstige steigende Lebenshaltungskosten tragen zusammen mit der engen Taktung des Privatlebens nicht eben zur Entspannung der Situation bei. Und so wandeln sich die Paare mit der Geburt ihrer Kinder zu »selbstreproduzierenden Familieneinheiten«, wie die britische Feministin Laurie Penny sie nennt, »jede isoliert in ihrem jeweiligen Kampf«.26

Sind alle Kämpfe geschlagen, kommt oft zum Tragen, was die Paartherapeutin Esther Perel die »moderne Ideologie der Liebe«27 nennt: dass eine Familie, die vor allem auf der romantischen Beziehung zweier Menschen basiert, in dem Moment zerfällt, in dem diese Liebe schwindet. Nicht dass sich Partner zu anderen Zeiten nicht geliebt hätten. Aber dieses Gefühl galt einst als zu unsicher, um als hinreichende Basis eines gemeinsamen Lebens zu dienen.

Die alten Griechen gingen in der Antike eine Ehe ein, um einen geordneten Haushalt sicherzustellen, die Liebe hingegen galt ihnen als kurzweilige und verstörende Erfahrung. Wenn der altrömische Mann heiratete, sicherte er sich als pater familias die Mitgift und die sexuelle, rechtliche und ökonomische Verfügungsgewalt über seine Ehefrau, Kinder und Sklaven. Noch im modernen Hebräisch lautet das Wort für Ehemann ba’al, es stammt aus dem Altertum und bedeutet »Besitzer«. Der Besitzer der Frau hatte das Recht, diese – genau wie das zum Haushalt gehörige Vieh – zu töten. Das »Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten« von 1794 besagte: »Der Hauptzweck der Ehe ist die Erzeugung und Erziehung von Kindern.« Erst unter dem Einfluss der Romantik wurde die bürgerliche Ehe mit großen Gefühlen aufgeladen. Aber noch im Jahr 1900 trat im Deutschen Kaiserreich mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch ein Familiengesetz in Kraft, das dem Mann juristisch die Herrschaft über die Frau zusprach.28

Heute ist die Grundlage einer Ehe scheinbar ausschließlich die Liebe – eine Entwicklung, die auch durch das ab den 1870er-Jahren in den meisten Industrieländern eingeführte Scheidungsrecht befeuert wurde. Aber die Liebe kommt eben schnell unter die Räder. »Eines der größten Probleme im Zusammenleben von Männern und Frauen ist die Verbindung von gemeinsamen Kindern und gelebter Häuslichkeit«, so die israelische Soziologin Eva Illouz. »Der Hauptgrund dafür ist, dass unser häusliches Leben in Routinen organisiert ist: das Aufstehen um eine bestimmte Uhrzeit, das Einnehmen von Mahlzeiten, die Haushaltspflichten. Nur so kann Alltag funktionieren. Für die romantische Liebe hingegen sind eine gewisse Distanz und damit die Chance zur Idealisierung des anderen sehr viel besser als alltägliche Nähe.«29

Hinzu kommt nicht zuletzt, dass die Menschen heute sehr viel älter werden als zu anderen Zeiten. Die Mechanismen der Bindung zwischen zwei Erwachsenen, die sich in der Evolution entwickelt haben, eignen sich zum Großziehen von Kindern, nicht aber unbedingt dafür, 30, 40 oder 50 Jahre zusammenzubleiben. Historiker weisen darauf hin, dass die geringen Scheidungsraten bis in die 1960er-Jahre hinein ganz einfach auch viel damit zu tun hatten, dass die Menschen in anderen Zeiten früher starben, etwa bei der Geburt eines Kindes. Eine Tatsache, die die Autorin Laura Kipnis etwas bissiger formuliert, wenn sie schreibt, dass die steigenden Scheidungsraten nur ein moderner Behelf seien, um zu erzielen, was früher weitaus gründlicher durch die geringe Lebenserwartung erreicht wurde.30

Für die Beantwortung der Frage, warum es die Kleinfamilie in der Gegenwart so schwer hat, hilft es auch, sich die Kulturgeschichte der Mutterliebe und der Kindheit zu vergegenwärtigen.

Die Philosophin Élisabeth Badinter hat schon 1980 in ihrer aufsehenerregenden Untersuchung dargelegt, dass es sich bei der Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, anders als oft behauptet wird, nicht um einen Instinkt, sondern um ein in der Moderne entstandenes menschliches Gefühl handelt, das als solches kulturellen Veränderungen unterliegt.31 »Als Mutter von kleinen Töchtern kann ich versichern, dass es nichts Instinktives ist«, so die Evolutionsanthropologin Anna Machin. »Ich werde nie die steile Lernkurve nach der Geburt meiner ersten Tochter vergessen, als es eine so unüberwindliche Aufgabe schien, für ein Neugeborenes zu sorgen, dass ich es nicht einmal schaffte, mir die Zähne zu putzen oder die Spülmaschine auszuräumen.«32 Oder wie die Anthropologin Sara Blaffer Hrdy es formuliert: »Wenn Frauen ihre Babys instinktiv lieben, warum haben dann so viele von ihnen über Kulturen und Zeiten hinweg direkt oder indirekt zum Tod ihrer Kinder beigetragen?«33

Badinter stellt fest, »daß in einer Zeit, die vor der Mitte des 18.Jahrhunderts liegt, die Liebe als ein familialer und sozialer Wert nicht vorkommt«.34 Was nicht heiße, dass es sie nicht gegeben habe, sie spielte nur bei Weitem nicht die Rolle, die sie heute einnimmt. Statt von Zärtlichkeit und Intimität waren die Beziehungen von Gehorsam und Furcht vor der Autorität des Vaters geprägt, dem unhinterfragten Oberhaupt der Familie. Das Kind wurde von den Eltern häufig weniger als Freude denn als Last empfunden. Im Bürgertum und in der Aristokratie wurde es deshalb direkt nach der Geburt zu einer Amme gegeben, die es stillte. Kam es nach durchschnittlich vier Jahren zurück ins Elternhaus, wurde es, je nach Geschlecht, von einem Hauslehrer oder einer Gouvernante unterrichtet, bevor es schließlich mit acht bis zehn Jahren ins Internat, Kloster oder Pensionat gegeben wurde. Laut Badinter verbrachten diese Kinder damals insgesamt höchstens fünf oder sechs Jahre mit ihren Eltern.

Erst als man allmählich begriff, dass vernachlässigte oder sogar tote Kinder nicht zu Untertanen heranwachsen, die es für einen funktionierenden Staat braucht, in dem Wohlstand erarbeitet werden soll, setzte ein Mentalitätswandel ein. Das Kind erhielt nun einen wirtschaftlichen und militärischen Wert. »Daher«, so Badinter, »wird jetzt jeder Verlust an Menschen als entgangener Gewinn für den Staat betrachtet.«35 Die Aufklärung propagierte zudem die Idee der Gleichheit – was das Verhältnis der Ehepartner untereinander nivellierte und der Frau mehr häusliche Macht zusprach – und verbreitete die Idee des individuellen Glücks, was wiederum die Liebe in den Fokus rückte – auch die zwischen Eltern und Kind. Das war die Geburtsstunde der von der Gesellschaft zurückgezogen lebenden Kernfamilie. Von da an ist auch die Mutterschaft nicht länger eine lästige Pflicht, sondern avanciert zu einer erfüllenden Tätigkeit. In den bürgerlichen Schichten wurde die Ehefrau zu einer Person, die nicht mehr arbeiten musste. Der fähige Mann verdiente nun den Lebensunterhalt allein. Die moderne Familie formiert sich um diese zu Opfer und Hingabe bereite Mutter herum, während der Vater von dieser Intimität ausgeschlossen bleibt. Die verklärte Mutter-Kind-Beziehung ist es, die manchen Menschen heute dazu dient, alle möglichen Krankheiten und Defekte von Asthma bis Magersucht auf die wahlweise überbehütende oder lieblose, das Kind unterdrückende oder mit ihm konkurrierende Mutter zurückzuführen.

Noch am Ende des 19.Jahrhunderts gingen Frauen – abgesehen von denen der Arbeiterschicht, denen keine andere Wahl blieb – keiner Erwerbstätigkeit nach. Das sollte sich ändern, erst für die unverheirateten, denn auch für die verheirateten Frauen. Die Industrialisierung hatte eine massive Nachfrage nach Arbeitskräften geschaffen, und Kinder waren, wie ihre Eltern auch: genau das. Sie schufteten in Minen, Fabriken und auf den Feldern des kommerzialisierten Ackerbaus. »Im späten 19.