Kundalini - Die Erweckung der Lebenskraft - Lothar-Rüdiger Lütge - E-Book

Kundalini - Die Erweckung der Lebenskraft E-Book

Lothar-Rüdiger Lütge

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Beschreibung

Die theoretischen Grundlagen zur Erweckung der im Menschen ruhenden Schöpfungsenergie sind auch im Abendland seit langem bekannt. Nicht bekannt sind die praktischen Techniken, mit denen eine Mobilisierung der Kräfte erreicht werden kann. Der indische Lehrer Yogi Bhajan ist bis heute der einzige Meister des Kundalini-Yoga geblieben, der die praktischen Aspekte dieser Disziplin in der westlichen Welt öffentlich unterrichtet. Dieses Buch greift die uns bekannten, theoretischen Grundlagen auf und verbindet sie mit den praktischen Lehren Yogi Bhajans zu einem umfassenden System, das intellektuell verstanden und durch illustrierte Übungen und Meditationen in die Tat umgesetzt werden kann. Das Buch versteht sich als eine praktische Arbeitsanleitung zur Anwendung des Lehrinhalts im täglichen Leben. Es soll dazu anregen, das System des Kundalini-Yoga sowohl als eine Methode der unmittelbaren, praktischen Lebenshilfe als auch im Sinne einer religiösen Praxis zur Selbsttransformation zu begreifen.

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Lothar-Rüdiger Lütge

Kundalini –

Die Erweckung der Lebenskraft

Theorie und Praxis

des Kundalini-Yoga

Books on Demand

Ich danke meiner lieben Freundin Petra Angelika Peick, die mir wesentliche Erkenntnisse über die Verschiedenheit des indischen und des abendländischen Weges zur Selbstfindung ermöglicht hat.

Ich danke ferner meinen lieben Freunden Stefan Neumann und Olav Müller-Liebenau, ohne deren Anteilnahme und konstruktive Anregungen es mir kaum möglich gewesen wäre, die vielfältigen Schwierigkeiten bei der Beschaffung des praktischen Lehrmaterials und dessen umfangreicher Aufbereitung zu bewältigen.

Nicht zuletzt danke ich Sonja Elisabeth Noy für ihren unermüdlichen Einsatz und ihr großes persönliches Engagement bei der Fertigung der Zeichnungen.

Letztlich habe ich der 3-H Organisation Deutschland e.V. zu danken, die mir das Material zu den praktischen Yoga-Übungen zur Veröffentlichung überlassen hat.

Ich widme dieses Buch allen Menschen, die guten Willens sind und die sich aufgemacht haben, ihren persönlichen Weg zu Gott zu finden. Mit ihnen hoffe ich auf den Beginn eines neuen Zeitalters, in dem Frieden, Liebe und Licht an erster Stelle stehen.

»There is no freedom for free and

no liberation without labour!«

Yogi Bhajan

Freiheit gibt es nicht umsonst und

Befreiung kostet Arbeit!

Inhalt

 

Erwachen! Eine Einführung

Religion und Philosophie in Indien

Jainismus, Sankhya und Yoga

Veden, Upanischaden, Bhagavad Gita und Vedanta

Zusammenfassung und Gegenüberstellung

Der Weg des Yoga

Die Yoga-Sutren des Patanjali

Bhakti-Yoga, der Weg der Hingabe

Karma-Yoga, der Weg des selbstlosen Handelns

Jnana-Yoga, der Weg der Erkenntnis

Raja-Yoga, der »königliche« Weg

Hatha-Yoga

Laya-Yoga

Kundalini-Yoga

Die Grundlagen

Die Körper des Menschen

Die Chakras

Die Nadis

Die Kundalini-Shakti

Prana und Apana

Die Wirkungsweise des Kundalini-Yoga

Die Techniken des Kundalini-Yoga

Asana

Mudra

Mantra

Zusammenfassung

Yogi Bhajan

Einführung in die Praxis

Zum Beginn: Die Anrufung der göttlichen Energie im eigenen Selbst

Die Konzentration des Bewußtseins

Die Atemtechniken

Der lange, tiefe Atem

Der Feueratem

Der bewegungskoordinierte Atem

Die Verbindung des Atems mit einem Mantra

Die Grundhaltungen

Die einfache Haltung

Der Fersensitz

Die Rückenlage

Die Mudras

Das Gyan-Mudra

Der Venus-Griff

Die Gebetshaltung

Der Bären-Griff

Die Körperschleusen

Die Nackenschleuse

Die Zwerchfellschleuse

Die Wurzelschleuse

Maha Bandh – Die Große Schleuse

Die Ausführung der Übungen

Der Abschluß einer Übung

Der Abschluß eines Krias

Die Grundübungen

Die Streckposition

Die Kobraposition

Die Bogenposition

Die Froschposition

Die Krähenposition

Die Maha-Mudra-Haltung

Die Zölibatshaltung

Die Bogenschützenposition

Praktische Übungsreihen und Meditationen

Verzeichnis der Sets, geordnet nach ihrer physischen und psychischen Wirkungsweise

Bibliographie

Erwachen!

Eine Einführung

Im fernen Indien, auf den grünen, sonnenbeschienenen Hängen des Himalaya, lebte einst ein junger Tiger, der zwischen einer Herde von Bergziegen aufwuchs. Seine Mutter war bei der Geburt gestorben. Während ihrer Trächtigkeit war sie viele Tage auf Raub ausgegangen, ohne eine Beute zu finden, bis sie endlich zu jener Herde herumstreifender Wildziegen gelangte. Inzwischen war die Tigerin heißhungrig geworden, und das mag die Heftigkeit ihres Sprunges erklären; jedenfalls trieb die Gewalt des Ansprunges ihr die Frucht aus dem Leib, und vor Hunger und Entkräftung starb sie alsbald.

Das Neugeborene, das neben der toten Mutter leise wimmerte, wurde von den Ziegen, die nach dem Schrecken wieder auf die Weide zurückkehrten, mit mütterlicher Liebe aufgenommen, und sie zogen es mit ihrer Milch gemeinsam mit den Zicklein auf. Es wurde unter den Ziegen groß und lohnte ihnen ihre Mühe, denn der kleine Tiger lernte die Ziegensprache, paßte seine Stimme ihrem sanften Meckern an und zeigte ebensoviel Anhänglichkeit wie die anderen Jungen der Herde. Anfangs fiel es ihm schwer, die dünnen Grashalme mit seinen spitzen Zähnen zu rupfen, aber irgendwie gelang es ihm schließlich. Die Pflanzenkost hielt ihn sehr mager und verlieh seinem Temperament eine beachtliche Sanftmut.

Als der junge Tiger das Vernunftalter erreicht hatte, wurde die Herde eines Nachts wieder angefallen; ein starker, alter Tiger brach unter sie ein, und wiederum stoben alle auseinander. Nur das Tigerjunge blieb furchtlos stehen und starrte das schreckliche Dschungelwesen verblüfft an. Auch der große Tiger wunderte sich über den Kleinen, der erst verdutzt dastand, schließlich verlegen einen Grashalm rupfte und meckernd daran kaute, während der alte Tiger ihn noch immer anstarrte.

Plötzlich fragte der mächtige Eindringling: »Was tust du hier unter den Ziegen? Was kaust du da?«

Das sonderbare, kleine Wesen meckerte. Der Alte wurde nun wirklich furchterregend. Er brüllte: »Was soll dieser alberne Laut?« Und ehe der andere antworten konnte, packte er ihn beim Kragen und schüttelte ihn tüchtig, wie um ihn wieder zur Besinnung zu bringen.

Dann schleppte der Dschungeltiger das erschrockene Junge zu einem nahen Teich, stellte es an den Rand und ließ es in den monderhellten Spiegel blicken: »Schau dein Bild im Wasser an – bist du nicht ganz wie ich? Du hast genau wie ich das Vollmondgesicht eines Tigers. Warum bildest du dir ein, eine Ziege zu sein? Warum meckerst du? Warum frißt du Grashalme?«

Der Kleine vermochte nicht zu antworten, starrte aber weiter die beiden Spiegelbilder an und verglich sie. Dann fühlte er sich unbehaglich, trat von einer Tatze auf die andere und gab wieder einen bekümmerten, zittrigen Schrei von sich.

Der grimmige Alte packte ihn erneut und trug ihn bis zu seiner Höhle. Dort legte er ihm ein Stück blutiges, rohes Fleisch vor, das von seiner letzten Mahlzeit übriggeblieben war.

Das Tigerjunge schüttelte sich vor Ekel, aber der Dschungeltiger kümmerte sich nicht weiter um das schwache Protestmeckern, sondern befahl schroff: »Nimm das! Friß! Schluck es hinunter!«

Das Junge sträubte sich, aber der Alte zwang ihm das Fleisch zwischen die Zähne und wachte darüber, daß es die Nahrung kaute und hinabschlang. Mit kläglichem Meckern würgte es die ersten Bissen der ungewohnten, zähen Kost hinunter, aber bald fand es Geschmack am Blut und fraß den Rest mit einer Lust, die seinen Leib wie ein Wunder durchdrang.

Es leckte sich die Lefzen, erhob sich und riß das Maul zu einem riesigen Gähnen auf, so als erwache es aus tiefem Schlaf – einem Schlaf, der es jahrelang in seinem Bann gehalten hatte. Es streckte sich, machte einen Buckel, hob die Tatzen und zeigte die Krallen. Sein Schweif peitschte den Boden, und plötzlich brach aus seiner Kehle ein furchtbares, triumphierendes Tigerbrüllen.

Währenddessen hatte es der grimmige Lehrer prüfend und mit zunehmender Befriedigung beobachtet. Die Verwandlung war tatsächlich geglückt. Als das Brüllen verstummt war, fragte er mürrisch: »Weißt du jetzt, wer du wirklich bist?! Komm mit mir in den Dschungel, du sollst lernen, der Tiger zu werden, der du schon immer warst.«

Yoga will uns lehren, »Tiger« zu werden! Wir sollen unser wahres Wesen erkennen und verwirklichen. Das Erwachen zu unserer eigentlichen, wirklichen Identität, das ist das Ziel des yogischen Weges.

Die Philosophie des Yoga beschreibt unsere wahre Identität als göttlich! Atman, unser wahres Selbst und der Wesenskern unserer Persönlichkeit, wird gesehen als ein Aspekt Gottes, als ein in sich abgeschlossener Teil des allumfassenden, ursächlichen Seins. Dieses kosmische Sein, das die Grundlage und den Ursprung unseres Universums bildet, heißt Brahman.

Die Wesensidentität von Atman, dem Kern unseres individuellen Selbsts, und Brahman, der göttlichen Instanz hinter den Manifestationen des Universums, ist die zentrale Aussage in der Philosophie des Yoga.

»Gott und ich – ich und Gott sind Eins«, so lautet eines der im Kundalini-Yoga verwendeten Mantras, und diese Identität von Gott und Mensch zu erkennen und zu erleben, das ist nicht nur das Ziel im Yoga, es ist das Ziel der indischen Philosophie und Religion schlechthin.

Als abendländische Menschen tun wir uns oft recht schwer, diesen grundlegenden Gedanken, der allen yogischen Systemen als Ansatz und Ausgangspunkt dient, zu verstehen und zu akzeptieren. Unabhängig davon, ob wir uns als gläubige Christen bezeichnen oder ob wir es nicht tun, sind wir dennoch, als Angehörige einer durch das Christentum in hohem Maß beeinflußten und geprägten Kultur, mit einem vom indischen Denken vollkommen verschiedenen Gottesbegriff ausgestattet worden.

Das Christentum beschreibt den Menschen als ein von Gott geschaffenes und von ihm getrenntes, selbständiges Wesen. Gott und Mensch stehen sich als Polaritäten gegenüber. Wir sind hier und Gott ist dort, und als Menschen sind wir von der Gnade Gottes abhängig und den Gesetzen Gottes verpflichtet.

Im Gegensatz zu dieser christlichen Auffassung empfindet sich der von der indischen Kultur geprägte Mensch in seinem Wesen als göttlich. Er betrachtet sich als eine Manifestation Gottes und sieht in seinem Inneren den unwandelbaren, unberührbaren, jenseits aller Individualität und menschlichen Bedingtheit stehenden, göttlichen Kern, der sein wahres und eigentliches Selbst bildet. Dieser göttliche Kern im Menschen, Atman genannt, ist nicht von Gott, Brahman, getrennt – sondern mit ihm identisch!

Gott und ich – ich und Gott sind Eins.

Aus dieser für uns Europäer recht ungewohnten Auffassung ergeben sich vielfache Konsequenzen in der Bewertung der menschlichen Struktur und ler individuellen Persönlichkeit. Darüber hinaus entsteht ein vollkommen neues Verhältnis zu Gott.

Wenn wir beginnen, uns als einen Teil Gottes zu begreifen, dann verlieren unsere persönlichen Eigenschaften und Eigenarten an absolutem Gewicht. Nicht unser individuelles Sein oder unsere Persönlichkeit, die sich zusammensetzt aus den unterschiedlichsten Vorlieben und Neigungen, Wünschen und Bedürfnissen, Fähigkeiten und Unzulänglichkeiten, macht unser wahres Wesen aus, sondern Gott.

Gott jedoch ist ohne Eigenschaften, Gott ist Alles und doch ist er von allem unberührt. Er steht über den Dingen der manifestierten Welt, jenseits aller Bedingtheit, unerreichbar für den im Relativen operierenden Verstand und daher unbegreifbar und unbeschreibbar.

Wenn wir uns in unserem wahren Wesen mit Gott identifizieren, dann schließt das die gleichzeitige Identifikation mit unserer persönlichen Individualität aus. Wir können nicht wirklich menschlich begrenzt und unvollkommen, aber gleichzeitig göttlich sein.

Tatsächlich betrachtet die indische Philosophie unsere Persönlichkeit als eine Maske oder einen farbenfrohen, vielgestaltigen Schleier, hinter dem der wirkliche Mensch, Atman, sich verbirgt. Es gilt, den Schleier zu zerreißen und Atman zu befreien.

Wie das Tigerjunge, das bei den Bergziegen aufwuchs, müssen wir unsere wirkliche Identität erkennen. Die Täuschung, die uns dazu veranlaßt, uns mit unserem Körper, unserem Denken, unseren Gefühlen und Empfindungen zu identifizieren, muß überwunden werden. Nur diese Täuschung ist es, die zwischen uns und unserem göttlichen Wesen steht.

Unser wahres Selbst, Atman, ist unberührt von unserem Denken und Fühlen. Atman ist der »stille Beobachter« in uns, er ist die Instanz des Bewußtseins, die Gewißheit unserer Existenz. Wenn wir Atman befreien, indem wir die Selbsttäuschung über unsere wahre Identität überwinden, dann überwinden wir gleichzeitig auch unsere Trennung von Gott.

Wir verschmelzen mit dem universalen Sein und erkennen uns als einen untrennbaren Teil des homogenen Weltganzen, das von Brahman durchdrungen und aus ihm hervorgegangen ist.

Yoga ist ein Weg, der es uns ermöglicht, unsere wirkliche Identität zu erkennen und uns ein für alle Male von der Illusion der menschlichen Begrenztheit zu befreien. Da es sich um einen Weg handelt, müssen wir ihn Gehen – oder wir müssen auf ihn verzichten.

Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht

Dieses Buch soll ein »Wegweiser« sein. Es soll helfen und anleiten, den yogischen Pfad zu verstehen und zu benutzen. Zu diesem Zweck ist eine Gliederung in zwei Teile vorgenommen worden:

Der erste, theoretische Teil des Buches beschäftigt sich mit dem vom westlichen Denken sehr unterschiedlichen weltanschaulichen und religiösen Ansatz der indischen Kulturen und mit den auf dieser geistigen Grundlage entstandenen yogischen Systemen. In einer kurzen Abhandlung werden die unterschiedlichen Denk- und Glaubensrichtungen vorgestellt und miteinander verglichen. Besondere Berücksichtigung finden hierbei die durchgängigen Gemeinsamkeiten; es wird das Ziel verfolgt, eine einheitliche Struktur erkennen zu lassen.

Im Anschluß an diese vorbereitenden Betrachtungen, die uns den notwendigen Eindruck von der geistigen Grundlage des Yoga vermitteln, erfolgt die Darstellung der yogischen Systeme im einzelnen.

Nach einer angemessenen Würdigung der bekannten Yoga-Praktiken werden die besonderen Grundlagen, die Wirkungsweise und die Techniken des Kundalini-Yoga ausführlich besprochen.

Der Schluß des theoretischen Teils ist dem indischen Lehrer und spirituellen Meister Yogi Bhajan gewidmet. Er brachte die in der westlichen Welt weitgehend unbekannten Techniken des Kundalini-Yoga nach Nordamerika und von dort nach Europa. Neben einer kurzen Darstellung seines Lebens und des persönlichen Werdegangs soll Yogi Bhajan selbst zu Wort kommen, um uns einen unmittelbaren Eindruck von der geistigen Quelle des Yoga zu geben.

Im zweiten, ausschließlich praktischen Teil, gibt das Buch eine ausführliche und grundlegende Einführung in die Technik des Kundalini-Yoga. Beginnend mit einfachen Atemübungen sowie Hand- und Körperhaltungen werden die einzelnen Bestandteile vorgestellt und dann zu einfachen Übungsreihen zusammengefaßt.

Hierauf aufbauend folgen Übungen zur Wiederherstellung der körperlichen Beweglichkeit und sogenannte Reinigungssets, mit deren Hilfe eine deutliche Verbesserung der allgemeinen körperlichen und geistigen Verfassung zu erreichen ist.

Den Abschluß bilden anspruchsvolle Übungsreihen, die es dem Praktizierenden ermöglichen, sein Bewußtsein zu klären und neue, erweiterte Dimensionen seiner Selbst gewahr zu werden.

Es bleibt zu ergänzen, daß das System des Kundalini-Yoga in besonderer Weise für eine grundlegende Einführung in die Yoga-Praxis geeignet ist, da es alle yogischen Elemente in ihrer ehemals vorhandenen Verbundenheit enthält. Darüber hinaus entsprechen die im allgemeinen sehr dynamischen und teilweise lebhaften Übungen ganz besonders dem westlichen Geist unserer Zeit. Sie vermitteln dem ernsthaft Praktizierenden bereits nach kurzer Zeit spürbare Ergebnisse.

Die Kundalini-Energie – die Lebenskraft im einzelnen und gleichzeitig die kosmische Kraft des Werdens und Vergehens –, die durch Kundalini-Yoga direkt angesprochen wird, entfaltet ihr unerschöpfliches Potential nur dem, der sich ihr durch praktisches Handeln aktiv zuwendet. Das bloße Verständnis und die theoretische Beschäftigung mit den yogischen Grundsätzen erfüllen diese Voraussetzung nicht! Der Weg des Yoga muß beschritten werden, und die yogischen Prinzipien müssen im täglichen Leben angewendet werden; nur dann führt diese Lehre an das gewünschte Ziel:

Das Erwachen zum wahren Selbst,

das Erleben des göttlichen Kerns im Menschen und

das Verwirklichen des gesamten menschlichen Potentials.

Somit versteht sich dieses Buch in erster Linie als eine praktische Arbeitsanleitung zur Verwirklichung des Yoga im täglichen Leben. Die theoretischen Abhandlungen sind so knapp wie möglich und so ausführlich wie nötig gehalten worden, wie es zur Vermittlung der notwendigen Grundlagen erforderlich war. Kundalini-Yoga beginnt aber erst dann, wenn wir das Buch zur Seite legen und das Gelesene in unserem Leben anwenden.

Allen Lesern wird ein ausreichendes Maß an »persönlicher Kraft« gewünscht, um Worte in Taten umzusetzen!

Jede neue Ausgrabung, jede versunkene Kultur, die der Spaten des Altertumsforschers im Wüstensand Ägyptens und in den Urwäldern Indiens zutage fördert, führt uns vor Augen, daß die Anfänge des Menschen als gesittetem, denkendem und schaffendem Kulturwesen weiter zurückreichen, als man noch vor kurzem glaubte.

Namhafte Vorgeschichtsforscher sind zu der Annahme gelangt, es habe vor der uns bisher vor Augen liegenden Kulturentwicklung schon Hochkulturen gegeben, deren Menschen auf eine besondere, uns kaum faßliche Weise, nämlich im Wege unmittelbarer Einfühlung und Gewißheit, tiefgehende Kunde von Aufbau und Zusammenhang des Alls gehabt haben. Es sei daran erinnert, wie sehr es der Lehre vieler Religionen entspricht, daß die Menschheit nicht etwa in fortschreitendem Aufstieg, sondern in ständigem Abstieg und Abfall begriffen sei, von Gott und von einem fernen, paradiesischen oder goldenen Zeitalter.

Der Glaube an einen Fortschritt, der im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts lebte, ist stark erschüttert und im Grunde auch nicht beweisbarer als das Gegenteil – wenn man Fortschritt und Entwicklung nicht im äußerlichen Sinne als ein Fortschreiten der Technik und zunehmender Beherrschung der Außenwelt versteht, sondern unter Entwicklung etwas Inneres, nämlich die zunehmende Ausprägung lebendiger Form und wachsenden Reichtum an Schöpferkraft und inneren Möglichkeiten versteht.

Hans Joachim Störing

Religion und Philosophie in Indien

Die Anfänge des religiösen und philosophischen Denkens in Indien liegen im Dunkel der Vergangenheit. Alte, uns vorliegende Schriften gehen zurück bis etwa eintausendfünfhundert Jahre vor unsere Zeitrechnung. Sie gehören zu den ältesten schriftlichen Dokumenten der Menschheit. Es darf jedoch als sicher angenommen werden, daß bereits sehr lange vor diesem Zeitpunkt umfangreiche Denk- und Glaubenssysteme bestanden haben.

So bezieht sich der heute noch lebendige Jainismus auf eine kontinuierliche Kette von vierundzwanzig Erlöserpersönlichkeiten, die weit in die vorgeschichtliche Zeit zurückreichen. Inhaltlich mit dem Jainismus verwandt, und fraglos auf einer gemeinsamen, historisch nicht zu fixierenden Überlieferung beruhend, sind die Systeme Sankhya und Yoga.

Jainismus, Sankhya und Yoga bilden eine auch heute noch gültige Grundlage des indischen Denkens. Sie sind zu unterscheiden vom philosophischreligiösen System der Veden, das von den arischen Eroberern mitgebracht wurde, die das Land ab dem 16. Jahrhundert vor Christus in mehreren Etappen besiedelten.

Der im heutigen Indien kaum noch vertretene Buddhismus entstand in historisch jüngerer Zeit infolge des Lehrens und Wirkens Gautama Buddhas. Buddha lebte um 550 vor Christus. Seine Lehren knüpfen an die älteren indischen Denksysteme an und stellen eine Neubelebung und Weiterführung dieser Philosophien dar.

Das System der Veden, das zunächst auf die arischen Eindringlinge beschränkt blieb, trat im Laufe der Jahrhunderte in einen regen Austausch mit den ansässigen Philosophien und wurde weitgehend von ihnen beeinflußt. Auf diese Weise entstanden die Lehren der Upanischaden und des Vedante, in denen die anfänglichen Gegensätze zu den altüberkommenen Philosophien abgebaut und nahezu vollständig aufgehoben wurden.

Die nachfolgende grafische Darstellung gibt die unterschiedlichen religiösen Systeme im Überblick und in ihrer zeitlichen Abfolge wieder.

Während in der westlichen Welt im allgemeinen zwischen Religion und Philosophie unterschieden wird, ist eine solche Differenzierung in Indien seit jeher unbekannt. Dort waren alle philosophischen Systeme immer auch religiös, oder umgekehrt. Dies mag einer der Gründe dafür sein, daß dem philosophischen Denken des Landes die wissenschaftliche Anerkennung oder auch nur die Gleichwertigkeit neben der »klassischen Philosophie« des Abendlandes bis heute weitgehend versagt geblieben ist.

Ein weiterer und vielleicht der gewichtigere Grund liegt in der durchgängig vorhandenen Praxisbezogenheit des indischen Denkens. Anders als die europäische Philosophie, deren Hauptanliegen seit jeher das rein intellektuelle Interpretieren von Welt und Wirklichkeit gewesen ist, bieten die philosophisch-religiösen Systeme Indiens einen praktischen Weg zum Umgang mit der Wirklichkeit.

Die religiösen Lehren des Landes sind angewandte Philosophien. Sie verlieren sich, im Gegensatz zum westlichen Denken, kaum in metaphysischen Spekulationen, sondern geben dem ernsthaft Interessierten immer auch die Möglichkeit der persönlichen Nachprüfbarkeit.

Die »Wahrheit«, die die indischen Religionen verkünden, soll nicht geglaubt werden, sie kann – und sie muß! – persönlich erfahren werden. Dieser fundamentale Unterschied im religiösen Selbstverständnis führt zu einem für uns Europäer vollkommen unbekannten und fremden Umgang mit den Inhalten der religiösen Lehren.

Die philosophisch-religiösen Systeme Indiens im Überblick

Alltägliches Leben und Religion sind dort nicht getrennte Dinge, sondern sie bilden eine Einheit. Leben ist praktizierte Religion. Religion ohne die immerwährende praktische Anwendung und Umsetzung ihrer Inhalte ist wertlos, da sie dem Nur-Gläubigen ihre höchsten »Wahrheiten« nicht enthüllen kann.

Hier liegt die Ursache sowohl für die bis heute unverminderte Lebendigkeit des religiösen Lebens in Indien als auch für die Dynamik und die unmittelbare Frische, die sich die unterschiedlichen Systeme bis heute bewahren konnten.

Religiöse Lehrer waren immer auch Praktizierende dessen, was sie lehrten. Ihre Aussagen beruhten auf persönlichem Wissen und eigenen, individuellen Erfahrungen, nicht aber auf einem dogmatischen Lehrgebäude nicht nachprüfbarer »Wahrheiten«. Die religiöse Praxis belehrt niemanden, sondern leitet jedermann an, eigene Erfahrungen zu sammeln und eigenes Wissen zu erwerben.

Vor diesem Hintergrund ist es kaum möglich, die indischen Religionen als Glaubenssysteme im uns bekannten Sinne zu bezeichnen. Vielmehr handelt es sich um praktische Lebens- und Handlungsanweisungen, um die Wahrheit über uns und die Welt, in der wir leben, selbst herauszufinden.

Im Rahmen dieser grundlegenden Einführung in die Systeme des indischen Denkens erscheint es legitim, die ursprünglichen Schulen in der Behandlung zusammenzufassen und die sehr wohl vorhandenen Unterschiede größtenteils zu vernachlässigen. Auf eine Erörterung der buddhistischen Lehre soll vollständig verzichtet werden, da sie für das tiefere Verständnis des Yoga ohne unmittelbare Bedeutung ist.

Jainismus, Sankhya und Yoga

Jainismus, Sankhya und Yoga sind atheistische oder besser transtheistische religiöse Systeme mit einem rein dualistischen Ansatz. Sie unterscheiden zwischen dem Bereich der Materie und einem Prinzip des Lebens, das der Materie gegenübergestellt ist.

Aus der Verbindung zwischen diesem Lebensprinzip und der toten Materie entsteht unsere Welt mit den aus ihr hervorgehenden Beschränkungen und Abhängigkeiten des einzelnen Individuums. Das Ziel dieser Lehren ist es, die Verbindung zwischen Leben und Materie aufzuheben, um so die uneingeschränkte Freiheit des Lebensprinzips zurückzugewinnen.

Zur begrifflichen Darstellung und um die vielfältigen Vorgänge zwischen Leben und Materie zu veranschaulichen, wird das Lebensprinzip als eine unendliche Anzahl vollkommen identischer Lebensteilchen oder Monaden verstanden. Der materialistische Jainismus interpretiert diese Lebensmonaden als Kristalle, während Sankhya und Yoga in ihnen geistige Einheiten sehen. Diese geistigen Entitäten oder Kristalle machen das wahre Wesen des Lebens aus, sie sind der eigentliche Kern eines jeden Individuums, das wahre Selbst eines jeden Menschen.

Von besonderer Bedeutung für das tiefere Verständnis dieser Philosophien ist die Tatsache, daß sie von einer vollkommenen Identität aller Lebensmonaden ausgehen, die im indischen Jiva, Purusha oder Atman genannt werden.

Der wahre und eigentliche Kern des Lebens ist die Monade, ist Atman; Atman ist eigenschaftslos und unbeschreibbar. Atman ist immer gleich und keinen Veränderungen unterworfen. Er steht vollkommen abseits und außerhalb aller Lebensprozesse und jeglicher Individualität. Auf der Ebene des Atman, also im eigentlichen Kern, gibt es keinen Unterschied zwischen Pflanze, Tier und Mensch; es gibt auch keinen Unterschied der Menschen untereinander.

Die Art und die Individualität des Lebens sind lediglich Hüllen oder Schleier, die sich um den unberührbaren Kern gelegt haben oder ihn verfärben. Verantwortlich für diesen Verschleierungsprozeß ist das Zusammenspiel von Leben und Materie.

Jainismus, Sankhya und Yoga sehen in der Materie ein totes Element, das durch die bloße Anwesenheit der Lebensmonaden zur Aktivität angeregt wird. In dem Maß, in dem das Leben der Materie seine Aufmerksamkeit entgegenbringt, beginnt diese sich zu gestalten und Atman zu verhüllen.

In der Philosophie des Jainismus ist dies ein regelrecht mechanistischer Vorgang, in dem feinste elementare Partikel in die Monade eindringen und sie verfärben, während Sankhya und Yoga, gemäß ihrer Auffassung von der rein geistigen Struktur der Lebensmonade, den Prozeß als ein psychologisches Phänomen interpretieren. Ausgelöst durch das nach außen gerichtete Bewußtsein Atmans bildet sich eine ihn umgebende Hülle von feinstofflicher Natur, eine Art Seelensubstanz und Denkvermögen, die die äußeren, materiellen Reize aufnimmt und verarbeitet.

Dieses sogenannte »Innere Organ« ist das Zentrum und der Sitz all unserer Gedanken und Emotionen; in ihm entwickelt sich unsere Persönlichkeit und unsere Individualität. Doch diese Sphäre des Denkens und Fühlens ist nicht identisch mit Atman selbst, sie berührt ihn nicht einmal wirklich. Sie ist nicht mehr als eine farbenfrohe Hülle oder eine Maske, hinter der sich der wahre Kern des Lebens verbirgt.

Die Problematik des Menschen besteht darin, daß er sich nun mit dieser Seelenebene und mit seinem Verstand, gegebenenfalls sogar mit seinem materiellen Körper, identifiziert.

Atman jedoch ist weder Denken noch Fühlen, geschweige denn der materielle Körper. Atman ist vollständig frei und ungebunden, strahlend aus sich selbst heraus und ohne jeden Anteil an unseren Gedanken und Empfindungen. Verstand und Gefühl, das «Innere Organ«, umschließen ihn lediglich, ähnlich einer undurchdringlichen Blase, in deren Inneren er sich befindet. Das Erkennen dieses wahrhaft schizophrenen Zustands ist so lange unmöglich, wie die ununterbrochene Tätigkeit und Eigendynamik der intellektuellen und emotionalen Prozesse andauert, die Seelen- und Denksubstanz sich also in Bewegung befindet.

Die indische Philosophie, die sehr gerne mit Bildern und Gleichnissen arbeitet, vergleicht den Zustand des »Inneren Organs« mit einem vom Sturm und Regen aufgepeitschten See. Von den Ufern gleiten Schmutz und Steine ins Wasser und tun ein übriges, um die Oberfläche schäumend in Bewegung zu halten. Auf dem Grund des Sees befindet sich Atman, unser wahres Selbst, doch es ist uns unmöglich, ihn in seinem Glanz und seiner ruhigen Unberührtheit zu erblicken, solange das Wasser trüb und die Oberfläche von Gischt und Wellen aufgewühlt ist.

Wenn wir unser wahres Selbst erkennen wollen, dann müssen wir dafür sorgen, daß Regen und Sturm sich legen, daß die Wellen verschwinden und die Trübung sich senkt. Erst durch die spiegelglatte Oberfläche des dann kristallklaren Wassers können wir auf den Grund des Sees, auf unser wahres Wesen blicken.

In diesem Gleichnis steht der See für das »Innere Organ«, für die Denk-und Empfindungssubstanz, mit der wir uns identifizieren. Sie wird ohne Unterlaß von den Ereignissen und Eindrücken der uns umgebenden Welt, hier dargestellt als Regen, Sturm, Steine und Schmutz, in Bewegung gehalten und getrübt, so daß wir nicht auf den Grund des Wassers sehen können. Wir wissen in aller Regel nicht einmal, daß sich in unserem Inneren ein kristallener Kern befindet, daß unser eigentliches, wahres Sein Atman ist, jener stille, unberührte, erhabene Beobachter, der durch seine bloße Anwesenheit und Bewußtheit das illusionäre Spiel der individuellen Persönlichkeit erst ermöglicht hat.

Das »Nicht-Wissen« um die wahren Zusammenhänge und um unser wirkliches Sein betrachtet die Philosophie des Sankhya und Yoga als die erste und schwerwiegendste der insgesamt »Fünf Behinderungen«, die uns von der Erkenntnis der Wahrheit und damit der persönlichen Befreiung trennen. Die vier weiteren »Behinderungen« haben ihren Ursprung in diesem »Nicht-Wissen«, sie entstehen gesetzmäßig daraus.

Die Unkenntnis unserer wahren Identität führt zwangsläufig zu Identifikation mit dem »Inneren Organ«, dem persönlichen Denken und Fühlen; diese Identifikation ist die zweite »Behinderung«.

Die dritte und vierte »Behinderung« sind Symphatie und Antipathie, Liebe und Haß; auch sie ergeben sich zwangsläufig, wenn wir uns mit unseren Gedanken und unseren Emotionen identifizieren.

Als fünfte und letzte »Behinderung« wird der Lebenswille genannt, der Selbsterhaltungstrieb, der darauf abzielt, unsere individuelle Persönlichkeit durchzusetzen und zu behaupten. Dem Lebenswillen oder dem Selbsterhaltungstrieb kommt darüber hinaus eine besondere Bedeutung zu, denn er ist dafür verantwortlich, daß wir auch nach unserem physischen Tod mit all unseren individuellen Eigenschaften fortbestehen.

Gemäß der Philosophie des Sankhya und Yoga löst sich das »Innere Organ« nicht auf, solange wir uns mit ihm identifizieren; auch dann nicht, wenn der materielle Körper vergeht. Der Lebenswille trägt dafür Sorge, daß wir kurze Zeit nach unserem Tod in einem anderen Körper erneut wiedergeboren werden. So entsteht ein ewiger Kreislauf von Leben und Tod, in dem wir immer wieder, ähnlich einem Schauspieler auf der Bühne, neue, veränderte Rollen zu spielen haben. Mal leben wir als König, mal als Bettler, mal spielen wir unsere Rolle gut und mal gelingt es uns schlecht. Wir durchschreiten tausendfach diese und andere Welten, leben als Tier oder Mensch, in himmlischen Sphären oder abgründigen, höllischen Gefilden.

Unser jeweiliges Schicksal ist abhängig von unserem Karma, dem Resultat unserer guten oder schlechten Taten, die sich als spezifische Strukturen in unserer Seelen- und Denksubstanz, dem »Inneren Organ«, eingeprägt haben. Es gibt keinen Ausweg aus diesem ewigen Kreislauf der Wiedergeburten, so lange wir unser wahres Selbst nicht von der Umhüllung durch Persönlichkeit und Individualität befreit haben.

Selbst gute Taten und ein aufopferndes, hingebungsvolles Leben für den Nächsten können uns nicht retten. Sie schaffen allenfalls ein positives Karma, und wenn wir Glück haben, beschert uns das eine Periode des unbeschwerten, paradiesischen Lebens als göttliches Wesen in himmlischen Gefilden. Aber auch dies hat ein Ende und führt zwingend zu einem erneuten Eintreten in den ewig währenden Kreislauf der Wiedergeburten.

Jainismus, Sankhya und Yoga sind transtheistische Philosophien. Sie erkennen eine Ebene der Götter an, betrachten diese jedoch nur als eine bevorzugte Inkarnationsmöglichkeit für entsprechend reife Seelen, die sich dieses Verdienst in vorherigen Leben erworben haben. Nur die Struktur des »Inneren Organs« und das erworbene Karma trennt Götter und Menschen voneinander; einen anderen Unterschied gibt es nicht.

Der einzige Weg, dem Rad der ewigen Wiedergeburt ein für alle Male zu entrinnen, besteht in der Überwindung der Illusion, mit unserem Denken und Fühlen und mit unserer Persönlichkeit identisch zu sein.

Die undurchdringliche Blase, die das »Innere Organ« um unser eigentliches Sein, Atman, gelegt hat, muß vollständig zerrissen werden. Der aufgewühlte See unserer Gedanken und Emotionen muß geglättet werden, damit wir auf den Grund sehen können und unseren wirklichen, kristallklaren und unberührten Kern, unser wahres Selbst, erkennen.

Ein lebendes Wesen, das dieses Ziel verwirklicht hat, steht über den Göttern. Es allein ist wirklich frei und für ewig ungebunden, in einem Zustand des sich selbst genügenden, vollständig bewußten Daseins.

Jainismus, Sankhya und Yoga lehren einen dreifachen Weg, um dieses höchste Ziel, die Erkenntnis unseres wahren Wesens und die endgültige Befreiung, zu erreichen:

Die Askese zur Verminderung und letztlich zur vollständigen Unterbrechung der Beeinflussung durch die äußere Welt. Denk- und Gefühlssubstanz müssen zur Ruhe kommen, die Wellen und Trübungen im »Inneren Organ« müssen verschwinden.

Das Studieren der heiligen und heilbringenden Lehren und das Praktizieren der dort gelehrten Meditations- und Versenkungsübungen, damit wir unserem Selbst begegnen.

Die vollkommene Aufgabe der eigenen Persönlichkeit und der Individualität. Alles Wollen und Wünschen, alle Ziele, Neigungen, Vorlieben oder persönlichen Eigenarten müssen überwunden und fallengelassen werden. Eine totale Übereinstimmung mit dem, was war, was ist und was sein wird, ist gefordert. Die bedingungslose Unterwerfung unter das Leben löst die Reste des vorhandenen Karmas auf und verhindert die Ausprägung neuer Strukturen in der verhüllenden Substanz des »Inneren Organs«.

Wer ein Leben im Einklang mit diesen Prinzipien führt, erreicht einen Zustand, in dem die »Fünf Behinderungen«, also die gesamte menschliche Persönlichkeit mitsamt ihren unbewußten und animalischen Schichten, praktisch zu nichts werden.

Übrig bleibt der kristallklare Kern, Jiva, Purusha oder Atman, eigenschaftslos und auf ewig frei. Ein anonymes Diamantwesen, heiter, erhaben, allwissend und allein.

Übrig bleibt auch die Materie in ihrem nun abgesonderten, toten Zustand. Ohne die Anwesenheit und die Aufmerksamkeit der Lebensmonade verschwindet ihre Aktivität. Sie beendet ihr illusionäres Spiel, ähnlich einer Haremstänzerin, die ihren Tanz beendet, wenn der Sultan ihr seine Aufmerksamkeit entzieht.

Veden, Upanischaden, Bhagavad Gita und Vedanta

Im Gegensatz zu den vorarischen, urindischen Philosophien, deren systematischer und inhaltlicher Aufbau in all den Jahrtausenden, die wir heute überblicken, keine wesentlichen Veränderungen erfahren hat – sie bestanden bei ihrem Eintritt in die Geschichte bereits als fertig ausgebildete, mehr oder weniger statische Endprodukte –, haben wir es bei der von den Ariern mitgebrachten Religion mit einem sehr dynamischen System zu tun, das im Laufe der Zeit einem fortschreitenden Wandel unterworfen war.

Die alte arische Vedenreligion gleicht in vielerlei Hinsicht der altgriechischen Mythologie. Sie beschreibt ein Pantheon mit unterschiedlichen, guten und bösen Göttergestalten. Die Götter tragen menschliche Züge; sie sind mit übernatürlichen, kosmischen Kräften begabt, wirken unmittelbar auf die Welt und das irdische Geschehen ein, und man tut gut daran, sie durch manigfache Opfergaben wohlgesonnen zu stimmen.