Kunst des Lebens, Kunst des Sterbens - Yungdrung Wangden Kreuzer - E-Book

Kunst des Lebens, Kunst des Sterbens E-Book

Yungdrung Wangden Kreuzer

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Beschreibung

Der erste Teil von "Kunst des Lebens – Kunst des Sterbens" verdeutlicht, Kulturen und Religionen übergreifend, die allen Weisheitslehren gemeinsamen Grundlagen eines von Empathie getragenen heilsamen, ethischen und nachhaltigen Verhaltens und zeigt überzeugend die guten Gründe auf, warum wir auf das Gesetz der Resonanz und in die todlose Natur unseres Geistes vertrauen können. Der zweite Teil, »Leben und Sterben im Licht des erleuchteten Geistes von Weisheit und Mitgefühl«, führt in die transformativen Methoden der tibetisch-buddhistischen Geistesschulung ein. Durch die bewusste Ausrichtung des Geistes auf heilsame Inhalte und die Übung von nicht-konzeptueller Achtsamkeit und Kontemplation werden sich die Ursachen des Leidens – dualistisches Denken sowie Anhaftung und Aversion – von selbst befreien. Haben wir gelernt, frei von allen Konzepten in leerem und klarem Gewahrsein zu ruhen, so können wir noch in diesem Leben zum befreienden Erwachen der Buddhas kommen. Der dritte Teil ist ein Manual für die Kunst des guten Sterbens. Die stringent und klar dargestellten Übungen und Anweisungen zur Vorbereitung auf das Sterben und für die Begleitung im Sterbeprozess und im Postmortem basieren auf dem Erfahrungswissen und den altbewährten Instruktionen der tibetischen Thanatologie. Wer sie erinnert oder an sie erinnert wird, kann im Tod Luzidität, Erlösung und Erleuchtung erlangen. Ein vom Autor erstelltes Glossar von grundlegenden Begriffen der buddhistischen Lehre ist dem Band ergänzend beigegeben.

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Yungdrung Wangden Kreuzer

Kunst des Lebens Kunst des Sterbens

Wie wir den Traum von Ich und Welt mit Achtsamkeit, Mitempfinden und offenem Gewahrsein meistern und befreiende Luzidität erlangen können

Arbor Verlag

Freiburg im Breisgau

Impressum

© 2021 Arbor Verlag GmbH, Freiburg

Alle Rechte vorbehalten

E-Book 2021

Lektorat: Ralf Lay; Lektorat Glossar: Tina Draszczyk

Coverabbildung: © Yungdrung Wangden Kreuzer

Umschlaggestaltung und Satz: mediengenossen.de

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-346-4

Inhalt

Widmung

Erster Teil

Kunst des Lebens – Kunst des Sterbens

1Ars longa, vita brevis: Eine Einleitung in die Thematik des Buches

2Vanitas oder Der Traum des Sisyphos

3Der Vergänglichkeit aller Erscheinungen gewahr werden

4Wenn wir träumen, dass wir träumen, sind wir dem Erwachen nah

5 Der Traum des Denkens und Sprechens und das Vorbild der Meister

6 Das Leben und Sterben von einem, der die Weisheit liebt

7Erkenntnistheorie, selektive Wahrnehmung und Traumdeutung

8Thanatologie als die Lehre über Sterben und Tod und ihre möglichen Quellen

9Erlebnisberichte von Todesnähe und außerkörperlicher Erfahrung

10Warum wir der Unzerstörbarkeit unseres Gewahrseins gewiss sein können

11Die außerkörperlichen Erfahrungen heutiger Menschen und die Kunst der Entdopplung

12Einige in allen Kulturen wiederkehrende Grundmotive der Seelenreise

13Zufriedenheit ist der größte Schatz und Selbstvertrauen der beste Freund

14Die Schwächung des Egos in Krankheit und im Sterben als Chance für Metanoia, Katharsis und Selbsterkenntnis

Zweiter Teil

Leben und Sterben im Licht des erleuchteten Geistes von Weisheit und Mitgefühl

15Von der alles verwirklichenden Kraft des Wünschens und der Intention

16Wie in unserer Vergänglichkeit schon unsere Erlösung vollendet ist

17Die sechs Bardos oder Zwischenzustände nach der Lehre des Dzogchen und des Tibetischen Totenbuchs

18Wie wir rückblickend auf einen Tag und eine Nacht die sechs Bardo-Zustände verstehen können

19Über die Kontinuität unseres Geistes, der niemals geboren wurde, der in nichts verweilt und der niemals vergeht

20Wie wir die Unsterblichkeit unseres eigenen Gewahrseins unmittelbar erkennen und in allen Erfahrungen achtsam erinnern können

Dritter Teil

Drei Übungen für ein gutes Sterben und ein gutes ewiges Leben

21Der unzerstörbare Atem von Segen und Mitgefühl

22Der alles befreiende Atem des A

23Die Befreiung durch Erinnern und durch Hören im Sterben und im Postmortem

Literatur

Glossar

Abbildungsverzeichnis

Über den Autor

Widmung

Die Arbeit an diesem Buch war im Herbst 2019 beendet. Es sei dem langen Leben und segensreichen Wirken aller erleuchteten Meister und der baldigen Befreiung und Erleuchtung aller Wesen gewidmet.

Erster Teil

Kunst des Lebens – Kunst des Sterbens

1

Ars longa, vita brevis:Eine Einleitung in die Thematik des Buches

Wer ein gutes Leben führt, der stirbt auch gut.

Motto der Ars Moriendi

Leeres Gewahrsein hat keinen Anfang und kein Ende. Weil es nicht geboren wurde, stirbt es nicht.

Longchen Rabjam Gyalpo

Schlechtes wird von der Seele nie als solches gewählt, sondern als vermeintlich Gutes.

Proklos

Wie du selbst nicht behandelt werden willst, so behandle auch die anderen nicht.

Konfuzius

Die Freiheiten eines menschlichen Lebens gefunden zu haben und zu versäumen, mich im Heilsamen zu üben – könnte es eine größere Dummheit geben als diese?

Shantideva

Die Weisen haben ihre Handlungen, ihre Worte und ihre Gedanken gemeistert. In der Tat – sie sind vollkommene Meister ihrer selbst geworden.

Dhammapada

Es ist mir eine große Freude, nun diese Sammlung von Texten in Buchform vorlegen zu können, in denen Betrachtungen, Lehren und Methoden zur Kunst eines gelassenen und achtsamen Lebens und deren Fortsetzung im Sterben und über den Tod des Körpers hinaus in eine neue, wenn möglich erleuchtete und leidensfreie Form des Daseins und Erlebens im Zentrum stehen.

Die Kunst des Lebens und die Kunst des Sterbens sind, was den Okzident betrifft, von Platon zu Plotin, Cicero und Seneca und den christlichen Autoren von Gregor dem Großen bis hin zu Seuse, Anselm von Canterbury, Thomas von Kempen und Erasmus von Rotterdam noch ganz selbstverständlich nicht voneinander zu trennen. Der nach authentischer Weisheitserkenntnis strebende Mensch widmet sich der Philosophie, indem er sich täglich im Sterben, in der Loslösung von allem Unwesentlichen übt. Seneca sagte: »Leben muss man ein ganzes Leben lang lernen und … während des ganzen Lebens muss man sterben lernen.« Was die Meister des Orients betrifft, so ist ihnen seit frühester Zeit der Tod die Richtschnur zur klaren Unterscheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen, vom wandellosen Wesen des Geistes und seinen wandelbaren, vergänglichen Erfahrungen. Nur was bleibt, ist wirklich, und alles andere ist unwirklich. Das Bleibende im Wandel, die ewig gültigen Wahrheiten und Gesetze des Lebens zu erkennen und aufzuzeigen ist von jeher die Aufgabe und das Ziel der »ewigen Philosophie« im Osten und im Westen.

Der Glaube an ein Fortleben des Geistes nach dem Verfall und Tod des physischen Körpers war dem Menschen schon seit frühesten Zeiten zu eigen, wie wir aus vielen archäologischen Funden schließen können, und wird – wie wir sehen werden, mit gutem Grund – trotz des diskreditierenden Einflusses neuzeitlicher, reduktionistisch-materialistischer Anschauungen auch heute noch von der Mehrheit der Menschen geteilt.

Dieser Glaube oder diese Überzeugung beruht auf in Wahrheit recht allgemein menschlichen Erfahrungen, die in Todesnähe, am Sterbebett und in der Zeit nach dem Exitus auftreten, die wir in späteren Kapiteln genauer betrachten werden. Er entspricht einem inneren, intuitiven Wissen des Menschen um seine wahre, unzerstörbare Natur als geistiges Wesen, das seinem Wesen nach unabhängig vom Körper ist. Dieses tiefe Wissen lebt fort, auch wenn zurzeit oberbewusst erdachte, gesellschaftlich vorgegebene Paradigmen dem scheinbar widersprechen.

Dieses geistige Wesen, das jetzt in einem menschlichen Körper lebt, will voll und ganz erkannt werden. Es sucht die Natur seiner Erfahrungen zu verstehen und fragt ganz natürlich nach der Sinnhaftigkeit, nach dem Woher und Wohin seines Daseins. Es kann, über seine Wahrnehmungen reflektierend, den Zusammenhang von Ursache und Wirkung in der Natur und in seinem eigenen Handeln und Erleben erkennen.

Ein klares Erkennen, welche Handlungen für uns und unsere Umgebung zu glücklichen, heilsamen Erfahrungen führen und welche zu unheilsamen, leidvollen, wird »Lebensweisheit« genannt – insofern diese die Frucht der Erfahrung vieler Leben und vieler Generationen ist. Ethisches Verhalten ist intelligentes, vernünftiges und weises Verhalten. So könnten wir, in Abwandlung eines Worts von F. Schleiermacher sagen: Ethik ist die Wissenschaft eines vernünftigen und auf die Dauer heilsamen Handelns.

Die Frage, was eigentlich ein gutes, ein glückliches und sinnerfülltes Leben ist, steht damit am Anfang aller Philosophie, welche diesen Namen verdient, und sie steht bewusst oder noch unbewusst auch am Anfang der persönlichen Suche jedes Einzelnen nach Glück und Selbstverwirklichung.

Was die möglichen Antworten auf diese grundlegende Frage betrifft, so besteht seit Langem ein gesellschaftstragender, ein mitmenschlich-­empathischer Konsens – eine große, Kulturen und Religionen übergreifende Übereinstimmung der Herzen in Bezug auf das, was wahre »Menschlichkeit«, was korrektes Verhalten und was ein gelungenes und erfülltes Leben bedeutet, ein intuitives Gefühl für das Richtige, welches das Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft leitet und inspiriert. Dieses wirkt, zu unserem Glück, trotz vieler Widerstände, intellektueller Zweifel und zunehmender Orientierungslosigkeit bis heute weiter, und wir zehren davon.

Die Menschheit zehrt noch von den vor der heute global verbreiteten materialistischen »Wissenschaftsgläubigkeit« ihre Gesellschaften dominierenden Maximen der Weltreligionen, die, einfach zusammengefasst, übereinstimmend lehren: Wer ein gutes, also ein tugendhaftes Leben gemäß den Empfehlungen göttlicher Weisheit, geoffenbart in den heiligen Schriften der jeweiligen Tradition, führt und auf die heilsame Qualität seines Denkens und seiner Handlungen achtet, der wird die Prüfungen des Lebens in dieser Welt gut bestehen, an Weisheit und Verdiensten wachsen und folglich mit ruhiger Seele sterben. Wenn er sich vorab von der Anhaftung an irdische Dinge befreit hat, kann er mit freudiger Erwartung seiner Erlösung entgegensehen. In der geistigen Welt oder in seiner nächsten Existenz wird er die Früchte seiner achtsamen altruistischen und heilsamen Handlungen ernten, denn ein jeder erntet ganz natürlich das, was er einmal selbst gesät hat.

Die Überwindung des kleinen Selbst, Freiheit vom Ich und vom Körper und von ihren Leiden, welche erlangt wird durch die Zähmung des eigenen ungeordneten Denkens, Wünschens, Sprechens und Handelns und ein Tätigsein, welches der Gemeinschaft dient, waren lange und unbestritten das Ideal einer gelungenen Individuation in West und Ost, vorgestellt in der Gestalt der großen, verwirklichten Meister wie Jesus und Buddha und der großen Heiligen der verschiedenen Religionen, an deren Vorbild man sich selbst zu messen hatte und deren gelassene Haltung, Selbstlosigkeit, Geduld im Leiden, Gewaltlosigkeit und einfühlsam-verstehendes, liebevolles Tun und Lassen als beispielhaft für das eigene Leben und Sterben gelten konnten.

Wer sich darin übt, sich zu lassen, immer da, wo er an sich und an bestimmten Erfahrungen und Umständen festhält, der wird, trotz aller Schwierigkeiten und Leiden, ein entspanntes, sinnvolles und glückliches Leben haben. Wenn wir lernen, mit klar erkennender Achtsamkeit im Augenblick zu leben, erwerben wir damit die Fähigkeit im eigenen Geist, unheilsame und heilsame Impulse zu unterscheiden, wenn sie erscheinen, und wir entdecken unsere prinzipielle Freiheit, diesen zu folgen oder nicht. Daraus erwächst eine gleichmütige und gelassene Haltung, die an nichts festhält und deshalb frei von einschränkenden Konzepten über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bleibt. Wenn wir unsere Fähigkeit zu Mitempfinden, Mitfreude und Wohlwollen kultivieren, weiten und entspannen sich unser Herz und Geist, und wir können die eingebildete Enge, Angst und Isolation unseres kleinen Ichs vergessen und transzendieren.

Die Basis kontemplativer Geistesschulung

Die Einübung einer gleichmütigen Achtsamkeit oder wachen Präsenz und Nüchternheit ist das Grundelement oder die Basis aller Systeme kontemplativer Geistesschulung. Sie ist unerlässlich, um Fehler im System zu erkennen, um unseren Geist von allem zwanghaften, dualistischen Denken und von den entsprechenden Störgefühlen zu reinigen, welche beide die Folge von Nichtgewahrsein und die Hauptursachen für Unzufriedenheit und alle anderen leidvollen Erfahrungen sind. Befreit von den zwei Schleiern, dem des konzeptuellen Denkens und dem der instinktiven Emotionalität, die beide Leiden schaffen, werden wir schließlich das höchste Glück vollkommener Erleuchtung erlangen. Das ist der Weg, der in unserem Geist angelegt ist – der Weg zurück zum bleibenden, unverlierbaren Glück, unserem ursprünglich erleuchteten Zustand, aus dem nichtluziden, selbstverblendeten ­Erfahren unseres Geistes im Prozess gedanklicher Zerstreuung und Projektion wieder zurück zum luziden Zustand der Einheit und des völligen Friedens mit uns selbst.

Sicher war es zu allen Zeiten auch möglich, einfach nur dahinzuleben. Aber das können auch die Tiere, und sie können es auf den ersten Blick hin besser als wir. Jede Katze, und das überall auf der Welt, versteht es erst einmal besser als wir, entspannt und aufmerksam im Augenblick zu leben – ohne eine Vorstellung von Vergangenheit und Zukunft.

Aber zum Menschsein gehört ein Streben nach Erkenntnis von Sinn und Zusammenhang, und so ist es erst einmal »Manas« oder die Fähigkeit unseres »Denkbewusstseins«, die uns als »Manusha« (in Sanskrit), das heißt als »Mensch«, von den Tieren unterscheidet. Und diese Fähigkeit, die es uns ermöglicht, zu unterscheiden, zu vergleichen und uns zu erinnern, lässt uns auch vieles kompliziert erscheinen, was eigentlich sehr einfach ist.

Die unterscheidende Intelligenz des Menschen ist noch weit entfernt von der wahren Vernunft des göttlichen »Nous« (griechisch nous [Geist]), aber sie ist die Grundvoraussetzung für eine mögliche Zusammenschau aller Handlungen und Erlebnisse und für ein Begreifen ihres Zusammenhangs von Ursache und Wirkung.

Gleichzeitig ist diese Fähigkeit Ursache des menschlichen Leidens an sich selbst und durch sich selbst. Im Gegensatz zu den Tieren sind unsere Leiden überwiegend selbst erdacht; und solange sein Denken nicht von Weisheit und Liebe gelenkt ist, erzeugt und erfindet der »Homo sapiens«, oder wohl besser »Homo Faber«, vielerlei Leiden für sich selbst und für seine Mitmenschen und Mitgeschöpfe.

Die menschliche Geschichte gibt beredtes Zeugnis für seine kurzsichtige Genialität und sein am Ende immer auch ihm selbst schadendes Handeln.

Da menschliches Bewusstsein autoreflexiv und von Erinnerung gestützt ist, können wir den Zusammenhang zwischen unserem Denken, Sprechen und Handeln und seinen Wirkungen auf uns selbst und auf unsere Umgebung und Umwelt verstehen. Aber in unserer Brust wirken sowohl die Kräfte, die uns zu höherem Erkennen inspirieren wollen, wie auch die herabziehenden Kräfte eines Lieber-nicht-wissen-Wollens und einer Bequemlichkeit, die es vorzieht, alles als zufällig und zusammenhanglos zu sehen. Und so wollen wir uns oft in einer Pseudoannahme des Status quo, in einer Annehmlichkeit und in einer Pseudospontaneität, die den instinktiven Impulsen einer von den Toxinen des Geistes inspirierten Dynamik folgt, einer wirklichen Selbsterkenntnis gar nicht öffnen.

Wenn wir es aber verstehen, diese Fähigkeit des Erkennens von Zusammenhängen weiterzuentwickeln, so können wir zu einem wirklich umfassenden Verständnis des Lebens, können zu Lebensweisheit und damit zu einem vernünftigen und heilsamen Gebrauch all unserer Kräfte und Begabungen kommen. So ist es also für eine vernünftige Gestaltung unseres Lebens und unserer Lebensführung von entscheidender Bedeutung, zu einer Klarheit darüber zu kommen, welche Werte für uns wichtig sind und wie wir leben wollen, ja, was ein glückliches, ein in jeder Hinsicht optimales und sinnvolles Dasein eigentlich ist.

Suchen wir nach einer allgemein verlässlichen Basis der Verständigung und des Verstehens – nach etwas, das Mensch und Tier, trotz aller Verschiedenheiten und individueller Variationen gemeinsam ist –, so finden wir, dass alle Wesen zweifellos das Glück oder zumindest das für sie Angenehme suchen und dass sie das Leiden oder für sie Schmerzliche fliehen. Sie alle wollen keine unangenehmen Erfahrungen, genauso wie wir selbst; und doch ist alles Leben von subtilen oder groben, von plötzlichen oder von chronischen Leidenszuständen durchdrungen, die von Zuständen leichter Unruhe und Gereiztheit, eines Unbehagens kombiniert mit Angst oder Verlangen oder einer unerklärlichen Unzufriedenheit bis hin zu schweren psychischen und physischen Krankheiten und Leidenserfahrungen reichen.

Natürlich sind hier alle neurotischen Gefühle und Stimmungen wie Stolz, Ehrgeiz, Eifersucht, Verlangen, Neid und Ärger, welche täglich im Geistesstrom eines Menschen auftauchen können, inkludiert. Sie alle sind zwar normal, aber sie alle sind auch leidvoll, und sie erzeugen neues Leid, sofern wir unter ihrem Einfluss stehen und von ihnen motiviert handeln.

Wenn wir uns mit offenem Herzen umschauen und die Lebensumstände unserer Mitmenschen und der Tiere genau betrachten, so sehen wir, wie sie sich selbst und den anderen Wesen immer wieder Leiden bereiten, weil sie es scheinbar nicht besser wissen und einfach instinktiv ihren Prägungen und Bedürfnissen entsprechend handeln. Den Tieren mangelt es an der nötigen Intelligenz, um die Ursachen des Leids und jene des Glücks klarer zu verstehen. Sie passen sich lediglich besser an die Umstände an und verbessern die Strategien ihres Selbsterhalts und Überlebens. Aber auch die meisten Menschen suchen die Ursachen ihres Missbehagens im Außen und sehen meist nicht, was und wie sie selbst durch ihr eigenes Denken und Handeln dazu beitragen.

Nun ist es einfach zu verstehen, dass es, wenn wir ein entspanntes und sorgenfreies Leben führen wollen, sicherlich gut und förderlich ist, uns in Geduld zu üben und zu lernen, uns zu entspannen und uns keine Sorgen, also keine überflüssigen und ängstlichen Gedanken zu machen.

Die relativ neue Disziplin der Glücksforschung kam zu dem Ergebnis, dass es nicht materielle Güter und Besitz, sondern innere und äußere Gesundheit und harmonische und verlässliche menschliche Beziehungen sind, die von den meisten Menschen als ihr größtes Glück empfunden werden, wenn ihre materielle Situation ausreichend gesichert ist. So liegt es folglich auf der Hand, dass es, wenn wir glücklich sein wollen, das Beste ist, unsere Empathiefähigkeit und unser Mitgefühl und Wohlwollen zu kultivieren, ja dass unser Glück und unser Verständnis weiter wachsen werden, wenn wir lernen, »in der Liebe zu bleiben«, und eine grundsätzlich wohlwollende Einstellung gegenüber unseren Mitmenschen und allen fühlenden Wesen kultivieren.

Dieses allumfassende, unparteiische Wohlwollen drückt sich aus in dem Saatgedanken »Mögen alle Wesen glücklich sein«. Wenn wir diesen besten aller Wünsche in unserem Geistesstrom immer wieder hervorbringen, verändern sich unsere Sichtweise und unser Erleben sehr rasch zum Positiven, und jedes Mal, wenn wir ihn denken, werden die »Wurzeln des Guten« in uns verstärkt, und unsere Fähigkeit, unser kleines Ich mit seinen Ängsten und Wünschen zu transzendieren, wächst.

Es ist auch sehr sinnvoll und wertvoll, wenn wir die Ursachen des Leids immer klarer erkennen, denn nur wer die wirkliche Ursache einer Krankheit erkannt hat, kann sie auch beseitigen. In ihrer Erkenntnis liegt der Weg zur Aufhebung allen Leids in uns selbst und im Universum, denn nur wenn wir unsere Täuschung klar erkennen, können wir uns von ihr befreien und in der Folge auch anderen helfen, frei zu werden.

Nun wird dieses befreiende Erkennen der eigenen Täuschungen und Abhängigkeiten von unserer heutigen Umwelt und Gesellschaft leider nicht gerade unterstützt und gefördert. Vor allem seit der Erfindung der Massenmedien, beginnend mit Radio und TV bis hin zum Internet, werden den Menschen überwiegend ganz andere, von den großen Vorbildern für wahre Selbsterkenntnis und erleuchtete Humanität wie Jesus, Buddha oder auch Konfuzius abweichende Leitbilder, Anschauungen und Leitmotive auf breiter Basis vermittelt. Wenn Information und Unterhaltung an die Stelle von humanistischer Bildung treten, wird es für die vielen zwangsläufig immer unverständlicher, worin ein gutes, ein vernünftiges und sinnvolles Leben und Handeln und ein ethisches Verhalten überhaupt bestehen.

Wenn aber, generell gesprochen, der besondere Sinn und Wert des Menschseins und die Richtung und Möglichkeit seines geistigen Wachstums und einer gelungenen Selbstentwicklung dem einzelnen Menschen nicht richtungsweisend und prägend in seiner Familie und Gesellschaft vorgestellt und vorgelebt werden und wenn diese nicht mehr das Leitbild für die mögliche Höhe einer Kultur und ihrer Bildung sind, sondern eine unter vielen möglichen Anschauungen und Meinungen, so verbreitet sich ein Gefühl der Orientierungslosigkeit, der Sinnlosigkeit und Beliebigkeit, und ein inneres und äußeres Chaos sind die Folge.

Die profitorientierte Werbung leitet das stets zerstreute und nach einem Inhalt und Sinn suchende Denken und Begehren in allen Medien auf Wunschobjekte, Leitbilder und Selbstbilder um, die Abhängigkeit erzeugen und für deren Erlangung, Pflege und Erhaltung ständig gearbeitet werden muss. Wenn sie nicht erlangt, erworben und aufrechterhalten werden können, entstehen daraus Komplexe, Frustration, Unzufriedenheit, Neid und andere Störgefühle. Die Folge ist vielfach eine fortschreitende »Verschmutzung« der Innenwelt, die mit der Verschmutzung und Vergiftung der Umwelt einhergeht, die gleichsam ihr für alle sichtbarer Ausdruck ist.

Nun ist es für die meisten immer schwer gewesen, dem Haupttrend des kollektiven Denkens ihrer jeweiligen Gesellschaft nicht zu folgen; und leider ist es heute fast unmöglich geworden, sich dem Einfluss der ununterbrochenen Werbung, Prägung und Konditionierung durch die Massenmedien zu entziehen. Ja, eine ständige Erreichbarkeit und ein ständiges Online- und Angeschlossensein an die Medien wird in der »Informationsgesellschaft« nun sogar als unabdingbar dargestellt und gefordert.

Ein Strom konfuser und vielfältig divergierender Informationen und Meinungen formiert heute den Menschen, ob er es will oder nicht; und eine flutartige Menge von Informationen ist für alle sichtbar dabei, eine wirkliche Bildung des Menschen im klassischen Sinn zu überwachsen. Diese scheint durch eine auf technischem, pharmakologischem, psychologischem und neurologischem Wissen basierende Programmierung und Gleichschaltung ersetzt zu werden. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sind nun die technischen Möglichkeiten vorhanden, dass dies auf der ganzen Welt geschieht.

Es ist eigentlich ein recht wüster und verwirrender Traum, der dem Menschen nun auf allen Kanälen zur Unterhaltung und als »In-Formation« angeboten wird. Und es ist, glaube ich, wichtig, die Art dieser »Formation« und die Probleme, die daraus für jeden Einzelnen und für die ganze Welt entstehen, mitfühlend verstehen zu können. Vor allem, wenn man täglich mit Menschen zu tun hat und bestrebt ist, ihnen in dieser Zeit, da die Toxine des Geistes stark anwachsen, therapeutisch zu helfen.

Die falschen Versprechungen, ein glückliches Leben durch den Konsum bestimmter Waren und Situationen zu erlangen, führen in die Irre, denn sie binden den Menschen und halten ihn von der Erkenntnis des eigentlichen Sinns seines Lebens ab. Immer neue Wunschobjekte werden ihm vor Augen gestellt und erzeugen neue Wünsche und in der Folge Unzufriedenheit. Durch zu intensiven Medienkonsum können falsche Ängste und Feindbilder entstehen, die zu einer diffusen Nervosität und Unsicherheit führen.

Natürlich war es auch in früheren Zeiten nicht einfach, zu Selbsterkenntnis, einem sicheren moralischen Urteil und geistiger Unabhängigkeit zu kommen und aus dem Traum des eigenen Denkens, Wünschens und Befürchtens zu erwachen. Die eigentlichen Ursachen des persönlichen und des kollektiven Leids und Unbehagens – sie liegen im Geist eines jeden von uns, und sie sind immer die gleichen: Unvernunft, Ignoranz, Egoismus, geistige Unruhe, Existenzangst, Anhaften und Aversion, doch heute erscheint es durch die enge Anbindung des persönlichen Denkens an die Medien und Kommunikationsmittel noch um vieles schwieriger, sich von der Zwanghaftigkeit und Zerstreutheit eines ständigen Konzeptualisierens und Begehrens frei zu machen.

Weil aber unser Geist seiner Natur nach eigentlich frei ist und all seine Wahrnehmungen und Gedankenkonstrukte ebenso natürlich vergänglich sind, ist es in jedem Augenblick theoretisch möglich, aus dem nur scheinbar wirklichen Traum des jeweiligen Zeitgeists und aus dem ihn begleitenden Denken zu erwachen und plötzlich luzide zu werden. Wenn wir im Traumzustand glauben, gleich in einen Abgrund zu stürzen, geschieht häufig, durch die Todesangst ausgelöst, ein Erwachen zu momentaner Luzidität (vom spätlateinischen luciditas für »Helle, Klarheit«), und wir erkennen, dass wir gerade träumen. Auch steht unser Denken völlig still, wenn wir durch etwas plötzlich geschockt sind oder wenn wir im Tiefschlaf, in einem Zustand tiefer und seliger Entspannung, alle Träume und Gedanken von Ich und Welt völlig vergessen.

Luzidität und Freiheit von Gedanken sind uns als Erlebnisformen demnach möglich, aber unser ganz normales, menschliches Problem besteht darin, dass wir momentan entweder wach sind und angespannt vielen Gedanken folgen, oder wir beginnen zu entspannen, finden etwas geistige Ruhe und werden dabei aber schläfrig und verlieren das Bewusstsein. Wir pendeln gewissermaßen zwischen den beiden Extremen Bewusstsein und Unbewusstheit, und in beiden mangelt es uns an Luzidität. Wegen dieses Mangels ist Bewusstsein üblicherweise spannungsgeladen und wirkliche Entspannung eigentlich nur durch den Verlust des Bewusstseins möglich.

Die hohe, erlösende Kunst der Dzogchen-Meditation besteht darin, völlig gewahr und völlig entspannt zu sein. Die möglichst beständig aufrechterhaltene Luzidität wird dann mit der Zeit alle Bewusstseinsschichten durchdringen. Wie das erreicht werden kann, wird in den späteren, auf die kontemplative Praxis der Geistesschulung bezogenen Teilen dieses Buches en détail erklärt werden. Es mag an dieser Stelle genügen zu sagen, dass es möglich ist, in der Kontemplation einen Grad der Entspannung zu erreichen wie im Tiefschlaf und trotzdem völlig gewahr zu sein. Hier liegt der Grund, warum in der visionären Praxis des Dzogchen das eigene innere Licht so stark hervortreten kann wie sonst nur im Schlaf und im Tod, und das in einem Zustand völliger Wachheit und rezeptiver Offenheit aller Sinne.

Der authentische Zustand leeren Gewahrseins ist frei vom Denkbewusstsein und frei von der dumpfen, fühllosen Trance der Unbewusstheit. Wenn wir die Fähigkeit entwickeln, im Wachzustand völlig entspannt und ohne alle Konzepte zu sein, werden wir am Ende des Sterbeprozesses frei von Bewusstsein mit dem klaren Licht reinen Gewahrseins verschmelzen können und Buddhaschaft erreichen. Je länger wir bereits jetzt in diesem »natürlichen Zustand des Geistes«, frei von Gedanken, bleiben können, umso größer ist die Chance dieser endgültig befreienden Verwirklichung im Tod. Wir werden über diesen Zusammenhang in den späteren Kapiteln noch oft und ausführlich sprechen.

Gelassenheit, Mitgefühl und Luzidität

Und damit kehren wir zurück zu dem, was ein gutes Leben eigentlich ausmacht und ermöglicht: die Kultivierung von Gelassenheit, Mitgefühl und Luzidität.

Das Achten auf persönliche Psychohygiene und die Anwendung von Meditation und Entspannungsübungen zur Stressreduktion sind zu einer lebensnotwendigen Gegenmaßnahme geworden, um dem sich aufbauenden inneren und äußeren Druck überhaupt standhalten zu können. Meditation kann im gedanklichen Chaos Ordnung schaffen, kann psychisches und physisches Leid lindern und heilen, und sie kann als Teil einer umfassenden Geistesschulung, wenn sie kontinuierlich und systematisch geübt wird, schließlich sogar die eigentlichen Ursachen unseres Leids, die tief in unserem Unterbewusstsein liegen und uns konditionieren, beseitigen und damit auch den Zustand eines bleibenden, von äußeren Umständen unabhängigen Glücks verwirklichen.

Wie gesagt: Kein fühlendes Wesen will leiden. Alle Wesen suchen das Glück oder das für sie Angenehme, aber leider meist auf Wegen, die sie von Objekten abhängig machen und Sucht erzeugen und damit notwendigerweise zu neuen Leiden führen und den Zustand des Mangels, der Unfreiheit und geistigen Unruhe damit fortsetzen. So heißt es auch bei Seneca: »Wenn du glücklich sein willst, vermehre nicht deine Besitztümer, sondern verringere deine Wünsche.« Durch die Übung der Meditation erfährt der Geist häufiger Zustände von entspannter Ruhe, von wunschlosem Glücklichsein und eine nichturteilende, verständnisvolle Klarheit, die authentische Selbsterkenntnis ermöglicht. Durch die Einübung einer gelassenen, an nichts haftenden Wachheit und ruhigen Achtsamkeit gegenüber den eigenen Gedanken wird man dieser erst wirklich gewahr, durch Gewahrsein wird man frei von ihnen, und irgendwann steht es uns wirklich frei, ihnen zu folgen oder nicht. Diese Übung des ständigen Loslassens kann schließlich zu einer stabilen, verlässlichen »Gelassenheit« führen, die frei ist vom Denken, frei vom Ich und seinen Wünschen und Ängsten, und sie bringt uns mit dem Leben in Einklang, bedeutet sie doch eigentlich nichts anderes, als ein Leben in Übereinstimmung mit der vergänglichen Natur aller Dinge zu führen.

Luzidität im Sinne des Buddha bedeutet, unser eigenes Denken und all unsere Erfahrungen als von der Natur eines Traums zu erkennen und zu meistern. Gelingt es uns, beides, Gelassenheit und Luzidität, zu kultivieren, so können wir die Ursachen des Leids in uns – also Unwissenheit und Unachtsamkeit, Anhaften und Aversion – beseitigen, und die Ursachen des Glücks heute und in der Zukunft werden dadurch vermehrt. Alle Erscheinungen können uns dann zum Freund und Lehrer und zum willkommenen Anlass eines immer neuen und frischen Erkennens des Wesentlichen werden.

Durch die Betrachtung des Vergänglichen erkennen wir das Unvergängliche. Wenn wir den Tod oder die Auflösung der Formen nicht mehr als Ende des Erlebens, sondern als seine Transformation verstehen, so schwindet alle Angst vor Veränderung, und es wird möglich, jeden Augenblick unseres Lebens und Sterbens mit Achtsamkeit und Wertschätzung zu genießen.

Im frühen Buddhismus des »Theravada« besteht die Hauptübung des Meditierenden darin, Körper, Atmung und Geist, ohne zu urteilen, direkt zu beobachten und so der Vergänglichkeit aller Phänomene gewahr zu werden. Durch diese unmittelbare Beobachtung kann man zur zweifelsfreien persönlichen Erkenntnis kommen, dass weder der »Wahr-Nehmende« noch das »Wahr-Genommene« eine bleibende, selbstständige Existenz besitzen.

Alles Lebendige fließt als ein Strom fortwährender Wandlungen, und keiner dieser Augenblicke ist genau so wiederholbar. Vom Feinsten bis zum Gröbsten können wir ein ständiges Werden und »Entwerden« in uns selbst und unserer Umgebung beobachten, und tatsächlich ist Vergänglichkeit das einzig bleibende und gemeinsame, direkt beobachtbare Charakteristikum all unserer sonst so verschiedenen Erfahrungen. Nichts ist so beständig wie der Wandel. Weil alles an uns, in uns und um uns herum vergänglich ist, sind wir im Grunde von Anfang an erlöst – aber wir wollen die Vergänglichkeit und damit unser Erlöstsein nicht wahrhaben. Wir wollen nicht vergänglich sein.

Ein Buddha aber ist völlig vergänglich, fließend und selbstlos. Er ist frei vom Größenwahn und frei vom Minderwertigkeitskomplex des Ich-Bewusstseins, denn er verweilt in nichts.

»So wie Eis nur Wasser ist, sind die Menschen in ihrem wahren Wesen Buddha«, lehrte Hakuin in seinem Gesang des Zen.

Nun ist ein ständiges Erfassen, Begreifen und Einordnen die natürliche Funktion unseres Denkbewusstseins, doch das Denken oder der Verstand kann seiner Art nach die ungreifbare Wirklichkeit nicht erfassen, sondern nur seine eigenen Konzepte, Abstraktionen und Deutungen des Erlebten festhalten, obwohl alle unsere Bewusstseinszustände und alle Erscheinungen vergänglich sind und unser Erleben genau besehen ein ständiges Sterben und Geborenwerden ist – denn was auch immer erscheint, es verschwindet quasi im selben Augenblick wieder, nur um neuer Erscheinung Raum zu geben.

Wir erfahren ein kontinuierliches Schwingen zwischen Form und Formlosigkeit, und doch erscheinen Leben und Sterben unserem dichotomischen Denken als unversöhnliche Gegensätze; und an dem einen haftend, fürchten wir das andere. An dem einen festhaltend, entgeht uns das andere. »Sein oder Nichtsein?«, fragt unser Bewusstsein, denn die übergegensätzliche Einheit von Wahrnehmung und Leerheit kann es nicht erfassen. Seine Funktion ist es, die Dinge auseinanderzuhalten und einzuordnen. Das Bewusstsein lebt in seiner eigenen virtuellen Welt von Namen und Vorstellungen und hält an seinen reduktionistischen und einseitigen Überzeugungen und Begriffen als empirische Wirklichkeit fest.

Hier liegt also eine grundlegende Verwechslung vor, die weitreichende negative Folgen hat, denn wenn die Prämisse falsch ist, sind auch die daraus gezogenen Schlüsse falsch. Daraus ergibt sich eine Kette von Fehlwahrnehmungen. Das denkende Bewusstsein lebt in einem Traum von Fassbarkeit und Pseudowissen, der zwar mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt, aber sprachlich und gedanklich von der Mehrheit der Menschen immer wieder formuliert und als gemeinsames Erleben geteilt wird. Die Glaubenssätze oder geistig-seelischen Konstrukte einer Person sind deshalb auch immer kontextuell in der Verbindung mit seiner Familie und Gesellschaft zu untersuchen, um ihre Textur zu verstehen und sie, falls nötig, lösen zu können.

Je mehr wir an Formen und am Körper haften und uns mit diesen identifizieren, umso mehr fliehen und verabscheuen wir deren Auflösung, als ob es unsere eigene wäre. Dasselbe gilt auch für das Selbstbild und für alles, was unser Bewusstsein als Bleibendes fixiert und »verbegrifflicht«.

Unsere Anhaftungen trüben unseren Blick und verhindern die unmittelbare Schau des Gegebenen, und deshalb definierte Sokrates, genauso wie christliche, buddhistische, hinduistische und taoistische Meister, das philosophische Leben, das Leben eines Menschen, der die Wahrheit liebt und ihr gemäß leben möchte als ein ständiges Sterben, ein ständiges Loslassen, das ihn schließlich von aller Bindung und Beschränkung des Körpers und des Geistes befreien wird, wenn er in einem Vergessen alles Geschaffenen sich selbst schließlich ganz der göttliche Weisheit überlässt.

Sokrates antwortete der unfassbaren Natur der Wirklichkeit entsprechend, indem er sagte: »Ich weiß, dass ich nichts weiß.«

Es ist erfreulich und ein gutes Zeichen, dass seit einiger Zeit überall auf der Welt und vor allem in den nun seit Langem von einer positivistischen und materialistischen Sichtweise in Philosophie und Wissenschaft geprägten westlichen Gesellschaften parallel zu den beschriebenen Entwicklungen aber auch eine Fülle von Büchern über Tod, Sterbebegleitung und verwandte Themen erschienen sind und erscheinen. Ein starkes ­Interesse an Spiritualität und authentischer Selbsterkenntnis ist im Menschheitsbewusstsein entstanden und findet seine Antwort in einer Fülle von Publikationen, die die Weisheitslehren der verschiedensten Traditionen zugänglich machen. Die Bandbreite reicht hier von esoterischen Privatoffenbarungen und Lebensratgebern für »Glückssucher« bis hin zu klassischen Texten der Weisheitsliteratur der Welt und höchsten Belehrungen und Schriften bis heute ungebrochener Übertragungslinien vom Meister auf den Schüler, wie wir sie vor allem im tibetischen Buddhismus finden. Dieser hat mit seiner großen Wertschätzung der schriftlichen und mündlichen Überlieferung die weltweit umfangreichste Literatur über buddhistische Psychologie, ihre Therapien und Meditationstechniken und über Thanatologie (das Wissen vom Sterben und vom Tod) bewahrt und hervorgebracht. Die darin gelehrten Anweisungen werden auch heute noch weitergegeben und präzise in der persönlichen Geistes­schulung und in der Sterbebegleitung angewendet.

Selbst seit über vier Jahrzehnten in der Nachfolge von tibetischen Meistern des Mahamudra und des Dzogchen stehend, bin ich voll Dankbarkeit für die unschätzbaren Lehren, die ich von ihnen erhalten habe. Dasselbe gilt natürlich auch für meine Lehrer im Zen-Buddhismus und im Theravada. (In den Literaturhinweisen im Anhang dieses Buches findet sich eine Auswahl von Büchern, die ich zu einem weiteren Studium empfehlen kann.)

Wenn ich in den Kapiteln dieses Buches über Leben und Sterben, über Bindung und Erlösung, über Zeitgeist und Erleuchtungsgeist, über Irrtum und Wahrheit, über Körper, Psyche und Geist, über Luzidität und Unbewusstheit, über heilsame und unheilsame Manifestationen des Denkens, über Leid erzeugendes und von Leiden befreiendes Handeln spreche, so tue ich das im Gewahrsein der buddhistischen Lehre, dass alles Erkennen, Denken und Benennen der Traum des Geistes ist.

Insofern es Traum ist, ist all unser Erleben auch symbolisch, weil das Denken und Sinnen des Geistes sich als Wort, Gestalt und Situation darin zum Ausdruck bringt und sich, ganz seiner Artung und Qualität entsprechend, dabei verortet und versinnbildlicht. So ist ein jeder Seinsbereich, wie zum Beispiel die Menschenwelt, die karmische Vision der dort lebenden Wesen und wird durch ihr kollektives Denken, ihre Emotionen und Wünsche verändert und geformt. Ein jeder Geist erträumt sich seine Welt und ist, falls er mit Verstand begabt ist, mit der Deutung des Erlebten beschäftigt. Nun ist die Deutung mit dem Erlebten natürlich nicht identisch, prägt aber als Annahme, als Vorurteil und mentales Konstrukt wiederum das weitere Erleben.

Es fällt leicht und ist normal, sich auf die eigenen Deutungen zu fixieren und ihren relativen Charakter zu vergessen. Weil aber der erkennende Geist von seinen eigenen Gedanken und Beschreibungen nicht erfasst werden kann, ist es äußerst sinnvoll, zwischen dem Geist an sich als absoluter Wirklichkeit (Natura naturans) und seinen Erfahrungen und Formulierungen als relative Wirklichkeit (Natura naturata) klar zu unterscheiden. Diese provisorische gedankliche Unterscheidung entspricht natürlich nicht der nondualen Wirklichkeit, sie dient im Buddhismus nur dazu, das Spiel der Wahrnehmung erkenntnistheoretisch zu verstehen.

Worte sind Träger des Sinns und haben lediglich eine hinweisende Funktion, denn nichts von dem, was gesagt werden kann – sei es eine Dummheit, eine mathematische Formel, eine Ideologie, Theologie oder Philosophie –, besitzt eine eigene Wirklichkeit unabhängig vom Geist, der es formuliert und wahrnimmt. Selbst die Buddha-Lehre, die mit immer denselben und immer verschiedenen, der Situation der Hörer angepassten Worten darauf hinweist, dass wir gerade träumen, ist insofern ein Traum im Traum.

Wenn wir träumen, erfahren wir die vielfältigsten Erscheinungen und halten sie für wirklich, doch wenn wir erwachen, verfliegt der Traum, und wir erkennen, dass alles nur in unserem eigenen Geist geschah. Und genauso ist es, so lehrte der Buddha, mit jeder Erfahrung im Universum: Sie erscheint, ist erlebbar, und doch ist sie nichts anderes als der eigene Geist, der sich auf diese Art in sich selbst spiegelt und erfährt. Dies deutlich und ohne Unterbrechung zu erkennen ist Erleuchtung oder völlige Luzidität.

Wenn wir einen Albtraum haben und im Traum leiden, so hat dies zwar seine Gründe in unserem Unterbewusstsein, aber trotzdem werden wir von diesem leidvollen Erfahren in dem Augenblick frei sein, wenn wir erwachen oder wenn wir luzide werden und erkennen, dass es nur ein Traum war.

Das Leid in unserem Traum des Lebens, durch Unwissenheit um die wahre Natur der eigenen Erfahrungen begründet, besteht leider weiter, solange diese Unbewusstheit nicht durch das Erlangen einer vollen, alle Schichten durchdringenden Luzidität oder Erleuchtung abgelöst worden ist.

Der Ausdruck »Luzidität« wurde im Bereich der Medizin und Psychologie bisher einerseits für die Klarheit des normalen Bewusstseins, also für die geistige Präsenz, Wachheit, Ansprechbarkeit und Orientierungsfähigkeit einer Person, verwendet und andererseits für den besonderen Zustand einer gesteigerten geistigen Klarheit im Traumerleben, in dem man sich bewusst ist, dass man träumt. »Luzidität« ist also ein Begriff für Geistesgegenwart und Präsenz, welche, wie die Intelligenz oder das »Helle-Sein« des Geistes einer Person, durchaus geringere und höhere Grade ihrer Entwicklung kennt und in den uns erlebbaren Bewusstseinszuständen entweder kontinuierlich präsent ist, sporadisch erlebt wird oder völlig fehlt wie im Tiefschlaf. In all diesen Erlebnisformen und auch im Sterben und im Nachtodzustand ist Vollbewusstheit oder besser völlige Luzidität erreichbar.

Die leuchtende, erkennende Klarheit des Geistes ist Basis sowohl für das Erkennen einfachster Zusammenhänge und koordinierter Wahrnehmung wie auch für das intuitive Verstehen der wahren Natur von Selbst und Welt und für übersinnliche Erfahrungen wie Telepathie und Präkognition (Vorauswissen).

Wie am Beispiel des möglichen Erlangens von Luzidität im Traum ersichtlich wird, kann und soll unsere geistige Klarheit weiterentwickelt werden und nach und nach alle Schichten bewusster und unbewusster Erfahrung durchdringen. Wir nutzen, wie oft zu hören ist, bisher nur einen kleinen Teil unseres Gehirns – und leider nutzen wir auch nur einen kleinen Teil unseres Herzens, unserer Empathiefähigkeit. Nur ein kleiner Teil des unbegrenzten Potenzials unseres Geistes und seiner Erkenntnismöglichkeiten, ein kleiner Teil der Weisheit und der Liebe, die in uns ist, konnte sich bis jetzt offenbaren.

»Lass den Buddha heraus, der in dir steckt«, so sagt man im Zen. Wer seine geistige Klarheit, die in ihm angelegte Fähigkeit zu einer gesteigerten Luzidität und Achtsamkeit entwickelt, kann das Dunkel der Unbewusstheit durchdringen und sich von der Beschränkung durch eingefahrene Denkstrukturen und subliminale Gewohnheitsmuster, von Konditionierungen und imaginierten Zwängen befreien, indem er durch direkte, nichturteilende Beobachtung deren vergängliches und damit unwirkliches Wesen erkennt. Die konstruktivistische Psychologie geht, in diesem Punkt im Einklang mit der 2400 Jahre alten Bewusstseinslehre des Buddhismus, davon aus, dass wir als Menschen eigentlich nie von absoluter oder auch objektiver Wahrheit denken oder sprechen können, sondern nur von der Art unseres Erkennens, von unserer Art, das Gegebene zu erfahren.

Dass die Dinge nicht von selbst erscheinen, sondern ihre Erscheinung erst vom erkennenden Subjekt mit seinen Anschauungsformen Zeit und Raum produziert wird, sagte auch Kant, aber er versteht diesen Satz anders als der Buddha und folgert anderes daraus. Er ist ein Philosoph der Aufklärung. Er hatte zwar den fiktiven Charakter menschlicher Begriffsbildung und sinnlicher Anschauung erkannt, verstand es aber dann in dem Sinn, dass die äußere Welt davon unabhängig existiere. Ähnlich wie Descartes verfestigte er damit denkerisch ein Subjekt und ein Objekt in der Wahrnehmung, trennte sie voneinander und lieferte so die Prämissen für das sogenannte wissenschaftlich-positivistische Denken, in dem in der Folge die fixe Idee einer klinisch sauberen ­entmenschlichten ­»Empirie« – nämlich die Idee, man könne das Wesen der Natur erkennen, wenn man möglichst so tue, als gäbe es keinen Erkennenden – größte Bedeutung gewann. Die übliche Definition der wissenschaftlichen »Empirie« ist eine Erkenntnis, die nicht von einer Theorie oder Begriffen beeinflusst ist, sondern auf Fakten beruht, die aus der Erfahrung gewonnen werden.

Nun gibt es natürlich keine Erfahrung ohne ein erfahrendes Bewusstsein; und auch alle Messergebnisse sind nichts ohne jemanden, der sie deutet, aber man kaprizierte sich auf die Vorstellung einer unabhängig vom Betrachter existierenden »objektiven« Wirklichkeit.

Ging das vorher geltende theologische Denken von einem göttlichen Wesen und Geist als Schöpfer aller Dinge aus, so wurden im Paradigmenwechsel der Aufklärung zunehmend »Gott«, das Geistige, Transzendente, Unwägbare und dann auch das Seelische als nur subjektiv und erdacht diskreditiert, und die äußere Welt und ihre Verhältnisse wurden als allein wirklich und das Subjekt prägend gesehen. Man fiel also von einem Extrem in das andere. Vom naiven Glauben, dass ein unabhängig existierender, persönlicher Gott uns geschaffen hat und folglich für alles verantwortlich ist, verfiel man in den ebenso naiven Glauben, dass Bewusstsein aus Materie entstanden ist und eine unabhängig existierende Welt uns hervorgebracht hat und bestimmt. Vielen schien die zweite Hypothese sinnfälliger, war sie doch für eine grob sinnliche Wahrnehmung eher nachvollziehbar.

Begrenzte Vorstellungen über die Natur der Wirklichkeit

Im Dzogchen, dessen Theorie oder Anschauung per definitionem das leere Gewahrsein selbst ist, werden einseitige philosophische Positionen wie Theismus, Dualismus, Eternalismus, Positivismus, Materialismus oder Nihilismus »begrenzte Vorstellungen über die Natur der Wirklichkeit« genannt. Den heute dominierenden, ursprünglich von ­Philosophen erdachten und formulierten Sichtweisen des Materialismus, Positivismus und Nihilismus sind das Vergessen des Aspekts des erkennenden Gewahrseins und das Sichverlieren an den Aspekt der Erfahrungen oder Anschauungen gemeinsam, insofern sie das von ihnen Erdachte für wirklich halten und daran festhalten. Auch die Idee des Primats der Materie ist nur eine Idee. Das Wesen dessen, der über Gott und die Welt nachdenkt, wurde dabei, wie vorher schon in der christlichen Theologie, zumeist übersehen. Nun entspricht jeder Anschauung und jedem Glauben ein adäquates Verhalten, und dieses bewirkt die daraus folgenden Früchte oder Resultate. Es gab und gibt Sichtweisen wie der Glaube an Karma (die ausgleichende göttliche Gerechtigkeit), die ein heilsames, verantwortliches Verhalten fördern; und es gibt solche, die zum Gegenteil tendieren. Dem naiven reduktionistischen Glauben zufolge existiert nur Messbares und Berührbares; er sagt, dass alles Leben nur aus Materie entstanden ist und dass der Mensch und alle Lebewesen mit ihrem Körper identisch sind. Aus ihm folgt, dass es nur ein Leben gibt und keine Seele, die den Tod des Körpers überlebt und die Früchte ihrer Handlungen ernten könnte.

Sind Beweise für die Richtigkeit dieser Auffassung auch nie erbracht worden, so sind doch ihre unheilsamen Folgen überdeutlich: Die gefühllosen Grausamkeiten, Massenmorde, Kindstötungen und rücksichtslosen Zerstörungen der Natur im 20. Jahrhundert sind von einem in der Menschheitsgeschichte bis heute ungekannten Ausmaß. An ihren Früchten können wir den Geist oder Ungeist hinter einer bestimmten Ideologie erkennen und unterscheiden. Auch das ist Empirie. Wollen wir eine bessere Welt, so müssen wir als Erstes unheilsame, Leiden erzeugende Arten des Denkens als Fehler erkennen, sie durch heilsame Gedanken ersetzen und darauf verzichten, die Urheber solch fataler Denkrichtungen nachträglich noch zu feiern.

Im Lankavatara-Sutra, einer buddhistischen Lehrschrift aus dem 3. Jahrhundert, heißt es, Mahamati, der Bodhisattva-Mahasattva, habe sich an den Buddha mit den Worten gewandt: »Du hast von den irrtümlichen Sichtweisen der Philosophen gesprochen; bitte erläutere uns diese und wie wir sie als solche erkennen können.«

Der Buddha sprach daraufhin, der Irrtum in den Lehren dieser Philosophen liege darin, dass sie nicht erkennen, dass die objektive Welt aus dem Geist entsteht. Sie verstünden auch nicht, dass alle Bewusstseinszustände aus dem Geist entstehen. Ausgehend von der Annahme, dass diese Manifestationen des Geistes wirklich sind, führen sie damit fort, diese zu unterscheiden. Sie kategorisierten sie in dualistische Begriffe wie dieses und jenes, Sein und Nichtsein, und sie ignorierten dabei die Tatsache, dass es nur eine einzige, alles umfassende Essenz gibt. Seine (Buddhas) Lehre hingegen basiere auf der Erkenntnis, dass die objektive Welt wie eine Vision – eine Manifestation des eigenen Geistes – sei, und sie lehre, wie Unwissenheit, Begehren und Aversion beseitigt werden können und wie Ursache und Wirkung und alles Leid, das aus dem dualistischen Denken erwächst, ein Ende finden.

Alle Konzepte, Bedeutungen, Namen und Merkmale sind relativ – sind Abstraktionen. Sie entstehen abhängig von dem, der sie formuliert, und drücken den Stand seiner Erkenntnis oder Nichterkenntnis aus. Werden sie in der Philosophie benutzt, um das Wesen der Wirklichkeit aufzuzeigen, so kann sowohl ihre Formulierung wie auch das Verstehen des Sinngehalts notwendigerweisenur der mehr oder weniger großen Auffassungsfähigkeit und Intelligenz, der individuellen Konditionierung und dem Charakter, dem Wissenshintergrund und der Bewusstseinsstufe sowie der persönlichen Auswahl der philosophierenden oder studierenden Person entsprechen.

Hieraus ergibt sich, dass die genaueste und umfassendste Darstellung der Wahrheit oder Wirklichkeit nur vonseiten eines Wesens gegeben werden kann, das sich von den Schleiern des konzeptuellen Denkens und der Störgefühle bereits gereinigt hat, also von dem, was wir »einen Buddha« oder ein »völlig erwachtes Wesen« nennen. Die Buddhas haben die Ursachen des Leidens der Menschen und aller fühlenden Wesen und den Weg zu deren Beseitigung und zu dauerhaftem Glück klar erkannt und aufgezeigt, doch die meisten Menschen ziehen es vor, weiterzuträumen und sich ihr eigenes Weltbild auszudenken, wobei sie zumeist die gerade dominierenden Vorstellungen ihrer Gesellschaft spiegeln. Damit bleiben sie leider im dualistischen Denken befangen und üben sich nicht darin, dieses zu überschreiten. Doch ohne die Fähigkeit, das Denken zu überschreiten, kann man seine Funktionsweise und seine Wunder nicht verstehen. Man bleibt im Käfig der eigenen Begriffe gefangen.

Was hier gemeint ist, kommt zum Ausdruck in dem enigmatischen Satz eines Zen-Meisters des 9. Jahrhunderts: »Wenn du verstehst, dass der Geist nicht Geist ist, verstehst du den Geist und seine Werke.«

Das heißt, wenn wir die absolute, leere und klare Natur des Geistes in der Kontemplation, in der »Unio mystica«, »erfahren« haben, verstehen wir intuitiv auch die Wunder seiner Erscheinung. Wir verstehen dann die Lehre im Herzsutra: »Erscheinung ist Leerheit, und Leerheit ist Erscheinung.«

Wenn wir den Begriff der »Luzidität« im Kontext einer konstruktivistischen Psychologie und Verhaltenstherapie verwenden, so steht er hier für einen Zustand gesteigerter Geistesklarheit, in dem wir nicht nur unserer Wahrnehmungen gewahr sind, sondern uns auch darüber klar sind, dass alle gedanklichen Vorstellungen, die wir über uns selbst als »den Wahrnehmenden« und über »unsere Wahrnehmungen« gebildet haben und bilden, nichts anderes sind als ebendas: unsere eigenen ­Vorstellungen und Interpretationen des Erlebten. Sich hierüber klar zu werden ist schon sehr viel, und aus dieser Erkenntnis entsteht sehr wahrscheinlich dann die Bereitschaft in uns, jede Vorstellung, die wir uns von uns selbst und von der Welt gemacht haben, systematisch infrage zu stellen, zum Beispiel indem wir häufig zu ergründen versuchen: »Wer ist sich dieses Traums gewahr?« Diese Fragestellung ist besonders effizient, um zu einer verlässlichen Luzidität zu kommen, denn mit dem ersten Teil des Satzes, also »Wer …?«, ziehen wir das »Ich« und jedes »Selbstbild« in Zweifel, und mit dem zweiten stellen wir die »objektive Wirklichkeit« der Welt infrage, indem wir affirmieren, dass all unser Erleben die Natur eines Traums hat. In Richtung auf die fiktionale Natur des menschlichen Denkens und Erkennens räsonierte ja auch die Erkenntnistheorie des Philosophen Kant und die von Descartes, und Letzterer ahnte in seinen Überlegungen zum sogenannten »Traumargument«, dass es in jeder Erlebnisform und Wahrnehmung im Schlafen und Wachen eigentlich unmöglich ist nachzuweisen, dass das Erlebte nicht ebenfalls Teil unseres Traumes ist.

Leider verblieben beide schlussendlich in einer dualistischen Sichtweise, die letztlich nur das Subjektive diskreditierte und das Objektive als davon unabhängig existierend affirmierte. Descartes identifizierte sich so sehr mit seinem Denken, dass er sein Sein als davon abhängig definierte, indem er zu dem Schluss kam: »Ich denke, also bin ich.«

Descartes wird mit Recht als Vorläufer der modernen Philosophie betrachtet. Wo der Geist nur philosophiert, aber nicht fähig ist, das eigene Denken zu »über-schreiten«, kann er die antinomische Natur des Denkens auch nicht transzendieren – und folglich die übergegensätzliche Natur des Geistes nicht realisieren.

Die buddhistische Philosophie und Psychologie wuchs aus der direkten Beobachtung von Körper und Geist – aus einer unmittelbaren empirischen Beobachtung, die durch ein rigoroses Beiseitelassen von ­Konzepten vermeiden konnte, die Beobachtung mit den eigenen konzeptuellen Prämissen zu kontaminieren. Sie beschreibt das Wesen des »Geistes« oder des »Lebens« als die prinzipielle Untrennbarkeit von Gewahrsein und seinen Erscheinungen oder Erfahrungen, die nur scheinbar, eben wie in einem Traum, auseinandertreten, um das Spiel der Selbstwahrnehmung des Geistes überhaupt zu ermöglichen.

Dem Buddha nach ist das Wesen des »Wahrnehmenden« und der »Dinge« an sich und in sich unerkennbar – aber was heißt das? Es ist unerkennbar, weil in Wirklichkeit das »allumfassende« große Ganze eins ist, weil das gesamte Universum ein einziger lebendiger Geist ist. Alles Erkennen vollzieht sich also innerhalb des Geistes und ist niemals wirklich von ihm getrennt, sondern nur in seiner eigenen Vorstellung.

Wie gesagt: So wie wir luzide geworden sind im Traum, diesen als unseren eigenen Traum erkennen, so erkennen wir luzide geworden im Wachzustand den konzeptuellen Prozess der Vorstellung, der das fließende Erleben der meisten Menschen fast immer begleitet, als unsere eigene Vorstellung und Projektion. Luzide geworden, halten wir unseren eigenen Traum nicht mehr für eine von uns unabhängige Wirklichkeit, und ebenso halten wir die Vorstellungen, die wir von den »Dingen« haben, dann nicht mehr für eine objektive, von uns unabhängige, eigenständige Wirklichkeit.

Es versteht sich wohl von selbst, dass diese Art durchschauender Luzidität und diese nichturteilende Achtsamkeit und Freiheit von Gedanken einer systematischen Geistesschulung und Einübung bedürfen, um schließlich zu einer gewissen Stabilität des Ruhens in einem Zustand reinen, luziden Gewahrseins gelangen zu können. Solange wir noch nicht völlige Freiheit von Gedanken erlangt haben, sind wir auch nicht völlig frei von möglicher Projektion und Übertragung.

Eine einsichtsvolle Zurückhaltung in Bezug auf den Hochmut des Denkens, Benennens und Urteilens, wie sie aufleuchtet im Wort des Angelus Silesius: »Ich weiß nicht, was ich bin, und ich bin nicht, was ich weiß«, ist also immer angebracht. Stillesein, Rezeptivität, Einfühlungsvermögen, Nichturteilen und Zuhörenkönnen sind Qualitäten der klar erkennenden Natur des Geistes, die das Wesen der Dinge intuitiv und nonverbal unterscheiden und verstehen kann.

Wenn ein Therapeut sich selbst vergessen und sein Rat und Hilfe suchendes Gegenüber so ohne Vorbehalte und Vorwissen annehmen und empfangen kann wie ein leerer und klarer Spiegel, so sind die idealen Voraussetzungen für eine einfühlsam-mitfühlende, intuitive Erkenntnis des imaginären Problemzusammenhangs seitens des Therapeuten und für ein vertrauendes Sichöffnen, befreiendes Erkennen und Loslassen seitens des Hilfesuchenden gegeben. Mit nichturteilendem Gewahrsein werden die psychischen Probleme des Gegenübers zwar mitfühlend als wirksam anerkannt und betrachtet, aber es wird ihnen keine Wirklichkeit zugestanden, indem man sie weiter konzeptualisiert und mit Aufmerksamkeit auflädt. Entsprechend dem wundervollen Diktum des Mahasiddha Tilopa – »Wisse, mein Schüler, nicht die Erfahrungen binden dich, sondern nur dein Anhaften an ihnen« –, kann sowohl die Vergänglichkeit eines jeden gedanklichen Konstrukts aufgezeigt werden wie auch die Möglichkeit, einschränkenden, selbstreferenziellen Vorstellungen und Strukturen keine Aufmerksamkeit mehr zu widmen und die Aufmerksamkeit stattdessen auf heilsame, selbsttranszendierende Ideen zu lenken.

Der Gordische Knoten einer Problemvorstellung muss und kann nicht auf derselben Bewusstseinsebene gelöst oder durchschnitten werden, auf der er geflochten wurde. Ich möchte dies hier darauf beziehen, dass jeder illusionäre Knoten im Bewusstsein geflochten und im Unterbewusstsein festgehalten wird, seine Lösung aber liegt im Gewahrsein und in der entschiedenen Loslösung, dem Durchschneiden der problematisierenden Gedanken. Die intuitive Fähigkeit, das richtige Wort zur richtigen Zeit zu finden, erübrigt lange Analysen, welche ja selbst neue Konstrukte sind. Dieses erlösende Wort kommt spontan aus einem freien und offenen Geist, es kommt vom Herzen, und es zeigt in der fiktiven, vom Denken immer wieder verdichteten, erdichteten Wand der jeweiligen Konstrukte auf die immer offene Tür, die übersehen wurde, weil die Aufmerksamkeit bisher unnötigerweise auf eine gedankliche Struktur oder Erinnerungsspur fixiert war. Es zeigt auf das in diesem Augenblick ganz offene, frische und heile Gewahrsein des in Gedanken und Gefühle verstrickten, Lösungen suchenden Menschen. Es zeigt direkt auf den Himmel, auf den Raum zwischen zwei Gedanken, der unsere wahre, ungeborene Natur ist, während alles andere immer fließend geboren wird und stirbt. »Nur das, was sich nicht verändert, ist wirklich«, so lehrten schon die Upanishaden. »Was ist es, das all dieser vergänglichen Erfahrungen gewahr ist?« Diese Fragestellung führt uns direkt zurück in unsere unvergängliche Mitte und in den Zustand der Luzidität.

Dr. Roberto Assagioli erklärte die Herangehensweise seines therapeutischen Systems der »Psychosynthese« einmal so: Es gehe darum zu erkennen, dass man einen Körper habe, aber nicht sein Körper sei. Man habe Gefühle, aber sei nicht seine Gefühle. Man habe Wünsche, aber sei nicht seine Wünsche. Man habe einen Geist, aber sei nicht sein Geist – sondern ein Zentrum aus reinem Bewusstsein. Daraus schließe ich, dass Assagioli, inspiriert vom Advaita-Vedanta, bereits in eine Richtung gearbeitet hat, die mir für eine künftige Psychotherapie nun möglich scheint. Ich möchte dabei aber im Sinne des Dzogchen Bewusstsein und Gewahrsein, Psyche und Gewahrsein klar unterschieden wissen und dann die Betonung auf Gewahrsein legen, insofern von dort Heilung kommt – ja, Heilsein in unserem nichtkonzeptuellen Zustand bereits immer verwirklicht ist. Wenn wir nun von dieser grundlegenden Gesundheit ausgehen und bei ihr ansetzen wollen, so ist es gut, von »Gewahrseinstherapie« zu sprechen.

Energie fließt immer dahin, worauf die Aufmerksamkeit sich richtet. Gewahrseinstherapie vollzieht eine völlige Wende der therapeutischen Sicht- und Vorgehensweise, indem der Fokus des Therapeuten weniger auf die Probleme als auf die ursprüngliche Gesundheit, auf das reine Gewahrsein des Patienten gerichtet ist. Der Patient lernt im Gespräch, wie er seine Gefühle und Gedanken achtsam betrachten kann, ohne auf sie mit Verdrängung, mit Anhaften oder Aversion zu reagieren, und erfährt dadurch Selbstdistanzierung und Freisein von diesen Inhalten. Mithilfe der Fragestellung »Wer ist sich dieser Gefühle und Gedanken gewahr?« kann er direkt in den Zustand reinen Gewahrseins eingeführt werden, der in der grundlegenden Offenheit der Sinne und des Geistes zwar immer gegenwärtig ist, aber bisher übersehen wurde.

Ist der Patient in der Anwendung dieser Fragestellung instruiert worden, so kann er sie selbst in allen Situationen verwenden und sich so seiner ursprünglichen Freiheit von allen Gefühlen und Gedanken erinnern.

Die Schwierigkeiten des Hilfesuchenden werden zwar vorsichtig erfragt und gemeinsam betrachtet, die Therapie beschäftigt sich aber nicht weiter mit den Symptomen, sondern weist erstens auf die Möglichkeit hin, die belastenden Inhalte loszulassen, da diese sich ja von selbst auflösen, wenn man sie nicht festhält. Zweitens verweist sie darauf, dass das Gewahrsein des Patienten von diesen immer schon frei ist, weil er fähig ist, sie zu erkennen, weil er ihrer gewahr ist.

Eine natürliche Distanz zu unserem psychischen Erleben und zu der Vorstellung, die wir von uns selbst haben, also zu unserem vorgestellten oder erfahrbaren Selbst, ist in jedem Menschen bereits immer gegenwärtig. Wir können einen Gegenstand ja auch nur dann sehen, wenn er eine gewisse Distanz zu unserem Auge hat.

Wie ich schon sagte, ist die Leerheit all unserer Sinne und des ihnen zugrunde liegenden Gewahrseins die Conditio sine qua non aller Wahrnehmung und Vorstellung. Unsere wahre Natur oder unser wahres Selbst ist also nicht etwas, was sich entwickelt oder von uns entwickelt werden kann. Es geht lediglich darum zu entdecken, was wir immer schon sind.

Diese unsere ursprüngliche Freiheit kann in jeder Wahrnehmungs­situation entdeckt werden. Dieser Raum, in dem alles geschieht, ist immer und überall gegenwärtig – in jeder Situation. Oder besser: Jede Situation geschieht ja nur im Raum. Unsere Leiden können nur bestehen, wenn wir uns auf eine Erfahrung, Idee oder Vorstellung fixieren und den Raum, in dem das Ganze geschieht und in den sich jeder Gedanke ja sofort wieder auflöst, noch nicht oder gerade nicht mehr sehen. Eine solche therapeutisch-initiierende Vorgehensweise setzt natürlich voraus, dass der Therapeut selbst den Zustand nichtkonzeptuellen Gewahrseins gut kennt, selbst darin eine gewisse Stabilität erreicht hat und ihn deshalb einem anderen Menschen aufzeigen kann. Es werden solche meditierenden Psychologen sein – und es gibt sie bereits –, die diesen Ansatz weiterentwickeln werden.

Einen weiteren solcher Gewahrseinstherapie verwandten Ansatz sehe ich in der Logotherapie von Viktor E. Frankl. Ich weiß nicht viel über seine Lehre, denn mein eigentliches Studiengebiet ist der Buddhismus, nicht die westliche Psychologie, aber es gibt eine interessante Aussage von ihm, die mir zeigt, dass er die Natur des Geistes gesehen hat, ja – dass er ausgehend von dieser »Satori-Erfahrung« wohl seinen Begriff der »Selbst-Transzendenz« entwickelt hat.

Jemand fragte ihn einmal, was das in wenigen Worten sei, und er antwortete, der Mensch könne sich nur da verwirklichen, wo er sich selbst vergesse. Selbsttranszendenz »seien« unsere Augen: Die Fähigkeit unserer Augen, optisch wahrzunehmen, stehe und falle mit der Unfähigkeit, sich selbst wahrzunehmen, von Spiegelungen von uns selbst abgesehen. In dem Maße, wie unser Auge etwas von sich selbst bemerke und sehe, sei es krank. Wenn man Wolken sehe, sei es grauer Star oder eine Linsentrübung und so weiter. Das normale Auge sehe nicht sich selbst. Genauso sei es mit dem Menschsein. Selbst-Transzendenz heiße, dass der Mensch ganz Mensch werde, genau in dem Maße, in dem er sich selbst übersehe und vergesse. In diesem Maße sei er offen für den Dienst an einer guten Sache, bezogen auf den Sinn oder offen für andere Menschen. Da werde er ganz er selbst.

In dieser Aussage wird offensichtlich, dass Frankl »sein eigenes Gesicht« geschaut hat, das er bereits hatte, bevor seine Eltern geboren wurden. In einem spontanen Erleuchtungserlebnis hat er eines Tages sich selbst erkannt. Selbstlos ist es, offen, leuchtend, und nichts im Universum wird von ihm zurückgewiesen. Weil unsere wahre Natur leer ist und selbstlos, kann sie alles erkennen und besitzt unbehindertes, grenzenloses Mitgefühl. Sie besitzt ungehinderte Responsibilität und ist erleuchtet vom intuitiven Erkennen des Sinns.

Buddhismus: Sich selbst studieren

Der große Zen-Meister des 13. Jahrhunderts Dogen Zenji sagte, die buddhistische Lehre zu studieren bedeute, sich selbst zu studieren. Sich selbst zu studieren bedeute, sich selbst zu vergessen. Sich selbst zu vergessen bedeute, erleuchtet zu werden von den zehntausend Dingen.

Wenn wir wahrhaft luzide geworden in solcher Erkenntnis leben, so brauchen wir den Tod nicht zu fürchten, denn wir selbst haben uns als unzerstörbares, leeres Gewahrsein erkannt; und das, was stirbt und geboren wird, sind nur unsere Erfahrungen, von Anfang an vergänglich und unfassbar. Wer also könnte oder müsste sie festhalten oder begreifen?

Alle Erfahrung ist »Rang-Nang«, ist »Selbst-Erfahrung«, aber alle Wesen im Samsara, dem Kreislauf der Existenzen, sind so geblendet und betäubt von der überwältigenden Vielfalt ihrer Wahrnehmungen, dass sie ihren Traum für eine unabhängig vom Erkennen existierende Realität halten. Auf das Erlebte mit Begehren und Aversion reagierend, vergessen sie sich selbst als den Schöpfer und Erkenner ihrer eigenen Projektionen. Aus diesem Grund lautet die essenziellste der befreienden Instruktionen für den Bardo-Zustand – und wir sind auch jetzt in einem Bardo, einem »Zwischenzustand« –: »Ruhe frei von Gedanken in reinem Gewahrsein, und erkenne alle Erscheinungen als deine eigene Vision, untrennbar von dir selbst!«

Wenn wir in der Leerheit des Geistes ruhen, sind auch alle Erscheinungen für uns leer. Nun kommen die leeren Gestaltungen unserer individuellen Träume aus unserem persönlichen Karma, aus den Spuren unseres eigenen früheren Denkens und Handelns. Der Traum der Menschheit aber, in die wir hineingeboren wurden, ist Ausdruck des kollektiven Karmas und Denkens aller Individuen, aus denen sie sich zusammensetzen; und alle haben mit ihrem bildnerischen Denken, Wünschen und Handeln kreativen Anteil daran. Alle Wesen, die gerade als Mensch verkörpert sind, befinden sich in einem Lernprozess, in dessen Verlauf sie erfahren können, wie sie mit ihrem Körper, ihrer Rede und ihrem Geist verantwortlich und heilsam umgehen und nicht die Ursachen für neues Leid, sondern die Ursachen für das Glück schaffen können, das alle Wesen sich im Grunde wünschen. Das menschliche Leben bietet die Möglichkeit, aus Fehlern zu lernen und zu solcher »Lebensweisheit« zu kommen.

Während ein Großteil der Gesellschaften in West und Ost inzwischen unter den Einfluss eines ganz auf das Diesseits bezogenen Zeitgeistes geraten sind, der auf allen medialen Kanälen, wirtschaftlichen Interessen folgend, immer neue weltliche Ziele, Glücksversprechen und Wunschobjekte propagiert, öffnen sich wie gesagt gleichzeitig immer mehr Menschen, vom Mainstream und seiner Oberflächlichkeit enttäuscht, einer authentischen inneren Suche nach dem eigentlichen Sinn des Lebens und nach wahren Werten, und diese Wahrheitssuche ist sehr persönlich. Sie folgt weniger aus einer gesellschaftlichen Konvention oder einer Konfession. Von sich aus, von ihrem Inneren her, suchen die Menschen nun eher – einem internen Antrieb und geistigen Impuls zu tieferem Erkennen folgend, der all jene in dieser Zeit inspiriert, die für ihn empfänglich sind.

Viele sind auch von den althergebrachten Religionen enttäuscht, in die sie hineingeboren wurden – teils, weil deren Vertreter ihren hohen Idealen im Lauf der Geschichte selbst nicht immer folgten, teils, weil ihre Lehren über Gott und die Welt einem weiterentwickelten Verstand keine befriedigenden Antworten geben konnten. Wo es nicht ­gestattet war, Glaubensinhalte denkerisch und experimentell zu überprüfen, haben sich viele vom Glauben abgewandt und ihr gläubiges Vertrauen und ihre Hoffnung in menschliches Denken und Erfassen gesetzt. Die den gesellschaftlichen und medialen Diskurs immer noch dominierende Wissenschaftsgläubigkeit, gepaart mit einer populär-positivistischen, »aufgeklärten« Sichtweise, hat – egal, ob in kapitalistischer, sozialistischer oder kommunistischer Ausformung – alles Transzendente und Nichtwägbare und alle den materialistischen Rahmen sprengende spirituelle, übersinnliche Erfahrung als naiv, überholt, dumm oder sogar als pathologisch diskreditiert und immer mehr entwertet. Was im Christentum und Buddhismus als die Hauptfaktoren eines heilsamen, selbstlosen und nachhaltigen Handelns gelehrt wurde, die christlichen Grundtugenden und »die die Welt transzendierenden Tugenden«, die »Paramitas«, scheint vielen nun, wenn sie überhaupt noch darüber nachdenken, als beliebig ausgedacht und eine Vorstellung von vielen.

Was ein »korrektes Verhalten« oder, mit anderen Worten, »ethisches Handeln« ist, wird zunehmend als »Moralvorstellung«, als etwas der jeweiligen Zeit und den persönlichen Neigungen, Bedürfnissen und Auffassungen Entsprechendes oder als soziale Übereinkunft definiert. Eine Pluralität von willkürlichen, persönlichen Meinungen wird in den Medien als Vielfalt interessanter, möglicher Standpunkte zu ethischen Fragen verbreitet. Und sie unwidersprochen als gleichermaßen berechtigt gelten zu lassen wird als Toleranz und damit als positiv und demokratisch dargestellt. Faktisch wird es für den Einzelnen immer schwerer, »das Richtige« und das für alle Beteiligten und für sich selbst heilsame Handeln zu erkennen, wenn so viele Stimmen durcheinandersprechen. Wenn die Definition eines »korrekten, ethischen Verhaltens« in diesen wichtigen Fragen, wie zum Beispiel die Legalisierung von assistiertem Selbstmord und Abtreibung, zum Gegenstand von Diskussionsrunden und einer mehrheitlichen, »demokratischen« Abstimmung gemacht wird, dann bestimmen heute nolens volens die Medienmacher, was ethisch ist und was nicht.

Wenn wir also, um uns inmitten einer »Entwertung aller Werte« Klarheit zu verschaffen, die Frage stellen, worin der Sinn eines ethischen, eines tugendhaften Handelns besteht, so wird dies deutlich, indem wir »Tugend« in ihrem ursprünglichen Sinn einfach als »geschicktes Handeln« verstehen. Geschicktes Handeln schafft für uns selbst und unsere Kinder, für alle Lebewesen, für die Menschheit und für unsere Welt, nachhaltig heilsame, gesunde und das Leben und seine Grundlagen bewahrende Umstände, und es bewirkt nicht Vergiftung, Tod und neues Leid. Ein Handeln, das uns selbst, den anderen und unserer Umwelt auf kurze und auf lange Sicht schadet – sowohl psychisch als auch physisch –, ist dagegen unvernünftig und kontraproduktiv.

Es gibt also hier auf Erden einiges zu lernen, und so war und ist das eigentliche Ziel der Menschenbildung und der Selbstentwicklung der Erwerb höchst schätzenswerter Qualitäten: zum Beispiel ein wacher Verstand, Weisheit, Mitgefühl, Gelassenheit, Aufrichtigkeit, Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit – Eigenschaften, die den Menschen zu einem vernünftigen, achtsamen, altruistischen, mutigen und verantwortlichen Handeln befähigen und ihn dadurch unter seinen Mitmenschen besonders auszeichnen und liebenswert und vertrauenswürdig machen.

Das grundlegende Leitmotiv eines religiösen Lebens im Christentum, Judentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus besteht nach wie vor darin, sich von negativen Charaktereigenschaften oder Untugenden zu befreien. Als da wären Selbstsucht, Ignoranz, Gleichgültigkeit, Rücksichtslosigkeit, Überheblichkeit, Eifersucht, Begierde, Neid und Zorn. Es geht um die Befreiung von aller Anhaftung an Dinge und Sinnesreize, an Körper, Ich und Welt. Es gilt, positive Qualitäten wie Selbstlosigkeit, Mitgefühl, Liebe, Mitfreude und Gleichmut sowie Tugenden wie Freigebigkeit, Geduld, Selbstbeherrschung, freudiges Bemühen im Guten, geistige Sammlung und klar unterscheidende Weisheit zu kultivieren.