Kur oder Verschickung? - Hans-Walter Schmuhl - E-Book

Kur oder Verschickung? E-Book

Hans-Walter Schmuhl

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Beschreibung

Von 1951 bis in die 1990er-Jahre hinein führte die DAK etwa 450.000 Kinderkuren durch. Kinder, die »unterernährt«, »blutarm«, »krankheitsanfällig« oder »tuberkulosegefährdet« schienen, wurden zur Erholung in eines der kasseneigenen Heime – »Schuppenhörnle« im Schwarzwald, »Haus Hamburg« in Bad Sassendorf und »Haus Quickborn« in Westerland auf Sylt – geschickt oder in anderen Einrichtungen untergebracht. Gedacht als Maßnahme zur Gesundheitsvorsorge, wurden die Kinderkuren ganz unterschiedlich erlebt. Manche der verschickten Kinder im Alter von vier bis vierzehn Jahren haben sie in guter Erinnerung, andere litten in den Kurheimen unter Einsamkeit, Heimweh, Verlustängsten und einer strengen Behandlung. Der damals gängigen »schwarzen Pädagogik« folgend, kam es in einigen Fällen zu körperlichen Züchtigungen und anderen demütigenden Strafen, manchmal sogar zu sexuellen Übergriffen. Das Buch nimmt erstmals die Kinderkuren eines großen Trägers systematisch in den Blick, untersucht die quantitative Dimension und die organisatorischen Abläufe und rekonstruiert anhand von Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen den Alltag in den Heimen.

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„Nur wenn wir uns unserer eigenen Geschichte stellen und dafür Verantwortung übernehmen, können wir uns heute authentisch für ein solidarisches Miteinander stark machen.“ Aus dem Geleitwort der DAK-Gesundheit

Von 1951 bis 1993 wurden etwa 450.000 Kinder zur Erholung in eines der drei Kinderkurheime der DAK geschickt oder auf Kosten der DAK in Heimen anderer Träger untergebracht. Gedacht als Maßnahme zur Gesundheitsvorsorge, wurden die Kinderkuren ganz unterschiedlich erlebt. Manche der verschickten Kinder haben sie in guter Erinnerung, andere litten unter Einsamkeit, Heimweh und einer strengen Behandlung. Der damals gängigen „schwarzen Pädagogik“ folgend, kam es in einigen Fällen zu körperlichen Züchtigungen und anderen demütigenden Strafen, sogar zu sexuellen Übergriffen. Das vorliegende Buch nimmt erstmals die Kinderkuren eines großen Trägers systematisch in den Blick, untersucht die quantitative Dimension und die organisatorischen Abläufe und rekonstruiert anhand von Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen den Alltag in den Heimen.

Hans-Walter Schmuhl

KUR ODER VERSCHICKUNG?

Die Kinderkuren der DAK zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Impressum eBook

© 2023 Dölling und Galitz Verlag GmbH München · Hamburg

E-Mail: [email protected]

www.dugverlag.de

Schwanthalerstraße 79, 80336 München, Tel. 089 / 23 23 09 66

Friedensallee 26, 22765 Hamburg, Tel. 040 / 389 35 15

Gestaltung: Annalena Weber, Hamburg

Satz: Frauke Moritz, Ahrensburg

Umschlagabbildungen vorne: Kinderkurheim Schuppenhörnle, Falkau / Schwarzwald, Liegeraum, zwischen 1938 und 1945;

hinten: Kinderkurheim Haus Hamburg, Aufenthaltsraum, 1930er-Jahre

(© DAK-Zentralarchiv)

Technische Realisation: Dölling und Galitz Verlag GmbH

und Libreka GmbH, Rudolstadt

1. Auflage eBook 2023

ISBN 978-3-86218-174-2

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Geleitwort

Forschung muss Betroffenenberichte in den Mittelpunkt stellen

Einleitung

Themenstellung und Forschungsstand

Fragestellungen, Quellen und Methoden

Aufbau der Arbeit

1 Das Kinderkurwesen der Angestelltenkrankenkassen 1921–1945

Auf dem Weg zur DAK

Kinderkuren als Teil des „Gesundheitsdienstes“ in der Weimarer Republik

Die „Gleichschaltung“ der DAK

Kinderkuren als Teil der „Gesundheitsführung“ im „Dritten Reich“

Der Bau des „Schuppenhörnle“ – zur architektonischen Gestaltung der Kinderkurheime

Der Ausbau der „Gesundheitsführung“ im Jahre

Kinderkuren im Zweiten Weltkrieg

Zwischenfazit: Kinderkuren 1921 –

2 Das Kinderkurwesen der DAK 1945–1993

Die Wiederaufnahme der Kinderkuren nach dem Zweiten Weltkrieg

Die bürokratischen Abläufe bei der Antragstellung

„Überfallartiger Antragseingang“. Erfahrungen mit den ersten Kinderkurgängen

Verschiebungen bei den Indikationen zur Kur

Die quantitative Dimension der Kinderkuren 1951–1993

Die Kinderkurheime der DAK

Das Konzept der Kindererholungskur

„Eine andere Welt“. Möglichkeiten und Grenzen der Aufsicht über die Kinderkurheime

3 Theoretischer Rahmen Die „totale Institution“ und die Verletzungen des Selbst

Das Konzept der „totalen Institution“

Gewalt als Verletzung des Selbst

4 Alltag und Gewalt in den Kinderkurheimen der DAK 1950er bis in die 1980er Jahre

Quellen und Methoden. Leitfadengestützte Interviews

Gründe für die Verschickung in eine Kinderkur

Von der Bewilligung der Kur bis zur Abfahrt

„Schockstarre“. Abschied, Anreise und Ankunft

Von Teddys und Puppen. Der Umgang mit Übergangsobjekten

„Frühstück mit Morgenlied, Toilette“. Die Tagesstruktur

„Donnerstags und samstags Solebaden“. Die Kuranwendungen

„Wir freuen uns auch nicht zu sehr beim Spielen“. Das Freizeitprogramm

„Wehe, es wurde nicht aufgegessen.“ Die Mahlzeiten

„Schönes Wetter, gutes Essen“. Die Kommunikation mit der Familie

Die Mittagsruhe

„Aus dem Bett gezerrt“ und „bloßgestellt“. Nachts im Kinderkurheim

„Kleine Furien“. Wie die Kinder die Betreuerinnen erlebten

„Wir waren alle verängstigt, und Angst entfremdet.“ Das Verhältnis zu den anderen Kindern

Ohrfeigen und Eckestehen. Strafen im Kinderkurheim

Sexualisierte Gewalt

„Ich hab’ gedacht, ich müsste für immer bleiben.“ Zur Wahrnehmung der Kurdauer

„War schön? Ja, war schön.“ Zurück in der Familie

„Ich kämpfe jeden Tag.“ Langfristige Folgen der Kur

Bildteil

5 Fazit

Erklärungsansätze für die Entstehung einer Subkultur der Gewalt: Organisationslogik, soziale Praktiken, theoretischer Überbau

Formen und Ausmaß der Gewalt in den Kinderkurheimen der DAK

Rechtshistorische Betrachtung

Anhang

Die Vertragsheime der DAK

Literatur

Über die Autor:innen

Dank

Geleitwort

Immer mehr Menschen, die in ihrer Kindheit in Kinderkurheime verschickt worden sind, melden sich öffentlich zu Wort. Auch das mediale Interesse für dieses wichtige Thema nimmt zu. Nachdem wir konkrete und ausführliche Schilderungen früherer Verschickungskinder über eine repressive Pädagogik und Misshandlungen in Kinderkurheimen erhielten, sicherten wir als Vorstand und Verwaltungsrat der DAK-Gesundheit eine sorgfältige und umfassende Aufarbeitung der Missstände zu. Unserer gesellschaftlichen Verantwortung als ehemaliger Träger dieser Einrichtungen möchten wir mit der vorliegenden Forschungsarbeit nachkommen und dieses bisher nicht ausreichend untersuchte Kapitel unserer Geschichte transparent machen.

In den 1950er bis 1990er Jahren unterhielt die damalige DAK drei eigene Kinderkurheime und arbeitete mit bis zu 26 Vertragsheimen zusammen. Insgesamt wurden in diese Heime ca. 216.000 Kinder verschickt. Die von der DAK bezuschussten Kinderkuren in Vertragsheimen beliefen sich auf ca. 234.000 Kinder, sodass im Untersuchungszeitraum insgesamt rund 450.000 Kinder verschickt wurden.

Die Kinderkuren wurden ärztlich verordnet und hatten das Ziel, die Gesundheit der vier- bis 14-jährigen Kinder zu erhalten oder wiederherzustellen.

Kinderkuren waren vor allem in der unmittelbaren Nachkriegszeit von großer Bedeutung. Insbesondere in den 1950er Jahren war die Situation vieler Familien dadurch geprägt, dass viele Väter in Kriegsgefangenschaft, kriegsversehrt oder gefallen waren. Die Mütter mussten unter schwierigen Bedingungen die Familie versorgen. Hinzu kamen die Folgen von Flucht und Vertreibung. Die oftmals schwierigen familiären oder sozialen Verhältnisse spiegelten sich im Gesundheitszustand der Kinder wider, der aus unterschiedlichen medizinischen Gründen einen Kuraufenthalt erforderlich machte. Die Kinder sollten in den Einrichtungen physisch und psychisch gestärkt werden und gesund heimkehren. Dass es gerade hier zu körperlicher und seelischer Gewalt und vereinzelt zu sexuellen Übergriffen gekommen ist, schockiert uns und macht uns sehr betroffen.

Als Vorstand und Verwaltungsrat der heutigen DAK-Gesundheit haben wir uns die fundierte Aufarbeitung der Vorkommnisse zum Ziel gesetzt. Zu Betroffenen und der „Initiative Verschickungskinder“ haben wir Kontakt aufgenommen und um Entschuldigung für die damaligen Geschehnisse gebeten. Für die historische Aufarbeitung haben wir den renommierten Historiker apl. Professor Hans-Walter Schmuhl mit der systematischen und unabhängigen Untersuchung beauftragt. Er hatte zu jedem Zeitpunkt freien und umfassenden Zugang zum Archiv der DAK-Gesundheit und wurde bei Bedarf durch die Mitarbeitenden aus dem für diese Thematik gegründeten DAK-Arbeitsteam „Verschickungskinder“ unterstützt.

Mehr als ein Jahr lang hat Professor Schmuhl an der Analyse und der Rekonstruktion der damaligen Umstände gearbeitet. Die Aufklärung der teilweise viele Jahrzehnte zurückliegenden Vorkommnisse war und ist aufgrund der Quellenlage komplex und schwierig. Die eigenen Häuser der DAK wurden teilweise bereits in den 1960er bis 1980er Jahren veräußert, Vertragsheime wechselten im Laufe der Zeit den Träger bzw. Eigentümer. Schilderungen der Betroffenen stellen deshalb eine sehr wichtige Quelle dar, um den Vorwürfen nachzugehen und diese möglichst weitgehend aufzuklären. Der Historiker und Autor führte 19 Interviews, war im kontinuierlichen Dialog mit der Initiative der Betroffenen und wertete im DAK-Archiv unzählige Ordner, Broschüren, Jahresberichte und Dokumente aus. Diese wissenschaftliche Aufarbeitung ist auch deshalb so wichtig, weil es aufgrund der gesetzlichen Vorgaben zur Aufbewahrung keine Dokumente aus jener Zeit mehr gibt, die persönliche Daten der Betroffenen enthalten.

Mit der systematischen Aufarbeitung wollen wir als DAK-Gesundheit einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte um die Verschickungskinder leisten und damit die Initiativen der Betroffenen unterstützen. Als älteste gesetzliche Krankenkasse Deutschlands sehen wir dies als Teil unserer moralischen Verantwortung gegenüber den Betroffenen und der Öffentlichkeit. Wir hoffen, mit der vorliegenden historischen Aufarbeitung dieses Kapitels unserer fast 250-jährigen Geschichte dazu beizutragen, neue Impulse für die Debatte zu liefern. Dieses Buch soll zudem den damaligen Verschickungskindern zumindest ein Stück weit helfen, ihr persönliches Schicksal aufzuarbeiten.

Das Leid der Opfer anzuerkennen, ist wichtig und war lange überfällig. Nur wenn wir uns unserer eigenen Geschichte stellen und dafür Verantwortung übernehmen, können wir uns heute authentisch für ein solidarisches Miteinander starkmachen.

Andreas Storm

Dieter Schröder

Vorstandsvorsitzender der DAK-Gesundheit

Vorsitzender des Verwaltungsrates der DAK-Gesundheit

Hamburg, im Februar 2023

Forschung muss Betroffenenberichte in den Mittelpunkt stellen

Wir begrüßen außerordentlich, dass die DAK Verantwortung für ihren Anteil an den Kinderverschickungen übernimmt, indem sie die vorliegende Forschungsarbeit des Historikers Hans-Walter Schmuhl ermöglicht hat. Der Autor hat von Anfang an den Kontakt zu unserer Initiative gesucht, das Gespräch mit den Betroffenen gewagt und die von uns zusammengetragenen Aktenbestände und Erlebnisberichte gewissenhaft ausgewertet. Sein Ansatz, die Kinderverschickungen – ähnlich wie z. B. Psychiatrie und Heimfürsorge – als Beispiel für institutionelle Gewalt zu interpretieren, ist sehr fruchtbar und wird den Erlebnissen und Erinnerungen der Betroffenen gerecht.

Denn Hans-Walter Schmuhl begegnet den Betroffenen von Kinderverschickungen nicht als Untersuchungsobjekte oder Proband: innen, sondern gleichrangig: Er nimmt ihre Berichte des Alltags in diesen Heimen ernst und stellt sie dem oftmals verklärenden Bild offizieller Schriftquellen konfrontativ gegenüber. So kommt er zu einer angemessenen Einordnung der vorhandenen Quellen. Der Alltag in den Heimen, also „das, was jeden Tag geschieht“, so schreibt er, spiegele sich in den „ohnehin spärlichen DAK-Schriftquellen so gut wie gar nicht wider“, stattdessen zeichnet sich ein „verklärend positives Bild“, „negative Aspekte“ würden „völlig ausgeblendet“. Deshalb sei es unumgänglich, auf die Erinnerungen von Menschen zurückzugreifen, die in ihrer Kindheit zur Kur verschickt waren.

Und das tut Hans-Walter Schmuhl dann auch, er führt ausführliche leitfadengestützte Interviews durch und ergänzt diese durch Dokumente aus dem Privatbesitz der Interviewten, dem Zentralarchiv der DAK sowie zeitgenössischer Literatur. Den Kontakt zu den Interviewpartnern konnte er über die Verschickungskinder-Umfrage des AEKV e.V. herstellen. Fast alle Interviewten waren noch im Vorschul- oder Grundschulalter, als sie in den Jahren zwischen 1954 und 1982 verschickt wurden. In den ausführlichen Interviews werden die bisherigen Befunde aus den Untersuchungen unserer Initiative bedrückend konkret, insbesondere in der Schilderung der vielfältigen Misshandlungen und Gewaltvorkommnisse.

Doch nicht allein die 450.000 Kinder in den DAK-Heimen sind betroffen, sondern insgesamt 8–12 Millionen Kinder, die heute als Erwachsene oftmals noch mit den langfristigen Folgen leben müssen. Die DAK ist mit der Ermöglichung dieser Studie ein Vorreiter. Aber nicht nur ein Träger, nicht nur einzelne Bundesländer, sondern alle damals Beteiligten müssen schleunigst gemeinsam handeln! Die Verantwortung, die hier ein Träger von Verschickung übernimmt, muss bundesweit Schule machen. Es braucht wissenschaftliche Aufarbeitung in enger Zusammenarbeit mit der Initiative Verschickungskinder, es braucht aber auch Unterstützung der Betroffenen bei ihrer Aufarbeitung. Diese ist individuell oftmals heilsam, aber sie ist auch der wichtigste Motor für weitere Forschung. Praktisch alle bisherigen wissenschaftlichen Ergebnisse beruhen auf Betroffenenberichten und Betroffenenforschung. Diese Studie ist der beste Beweis dafür.

Anja Röhl und Christiane Dienel

im Namen des AEKV e.V.

(Verein Aufarbeitung und Erforschung Kinderverschickungen e.V.)

Berlin, im Februar 2023

Einleitung

Themenstellung und Forschungsstand

Mit der Veröffentlichung des Buches „Schläge im Namen des Herrn“ von Peter Wensierski im Jahre 20061 drang in das öffentliche Bewusstsein, dass es in der Bundesrepublik Deutschland – teilweise bis in die 1980er/90er Jahre hinein – „Sonderwelten“ gab, in die Kinder und Jugendliche abgeschoben wurden, die als verwahrlost oder schwer erziehbar, körperlich oder geistig beeinträchtigt oder psychisch krank galten. Erfahrungsberichte von Menschen, die es in solche „Sonderwelten“ verschlagen hatte, zeugten von Vernachlässigung, Ausbeutung, Demütigungen und Misshandlungen. Der Heim- und Anstaltskosmos stellte sich als tendenziell rechtsfreier Raum inmitten einer Gesellschaft dar, die sich durch die verfassungsmäßige Garantie der Grundrechte, das Rechtsstaatsprinzip, eine freiheitlich-demokratische Grundordnung und ein umfassendes System sozialer Staatlichkeit definierte. Betroffeneninitiativen bauten Druck auf, damit ihre Anliegen auf die politische Agenda gesetzt wurden, das immense Medieninteresse verlieh den Forderungen nach Anerkennung und Unterstützung Nachdruck. Rückten mit dem 2009 eingerichteten „Runden Tisch Heimerziehung“, der zur Gründung zweier Fonds für die ehemaligen Heimkinder in der Bundesrepublik und der DDR führte, zunächst die Fürsorgeerziehungsanstalten und Kinderheime in den Fokus des öffentlichen Interesses, so kamen Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie erst mit zeitlicher Verzögerung in den Blick – mit der 2017 errichteten „Stiftung Anerkennung und Hilfe“ wurden Menschen, die in ihrer Kindheit und Jugend in solchen Einrichtungen untergebracht worden waren, den ehemaligen Heimkindern gleichgestellt. Parallel zu den politischen Aufarbeitungsprozessen setzte auch die wissenschaftliche Forschung zu diesem Themenkomplex ein. Mittlerweile liegt eine ganze Reihe von Arbeiten zu verschiedenen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe,2 der Behindertenhilfe3 und der Kinder- und Jugendpsychiatrie4 vor.

2017 lenkte eine Radioreportage das Augenmerk auf die Kinderkurheime und Kinderheilstätten in der Bundesrepublik Deutschland,5 in denen – so legen es die Berichte von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen nahe – ähnliche Verhältnisse geherrscht hatten wie in den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Damit weitete sich der Blick – mit den Kinderkurheimen und Kinderheilstätten wird ein bislang nahezu unbekannter Heimkosmos von ungeahnten Dimensionen allmählich sichtbar. Die Sonderpädagogin und Publizistin Anja Röhl, die mit ihren Publikationen maßgeblich dazu beigetragen hat, das Thema in das öffentliche Bewusstsein zu rücken,6 schätzt, ausgehend vom Bundesjugendbericht 1965, der für das Jahr 1963 nicht weniger als 839 Einrichtungen dieser Art mit 56.608 Plätzen ausweist, dass innerhalb von zwanzig Jahren, von 1960 bis 1979, sechs bis acht Millionen Kinder zur Kur verschickt wurden – wobei sie betont, dass es sich um eine konservative Schätzung handelt.7 Es gibt Hinweise, dass die Zahl der Kinderkurheime und Kinderheilstätten bei über 1.000 gelegen haben könnte. Daraus ergeben sich Schätzungen von bis zu zwölf Millionen verschickten Kindern. Angesichts dieser Größenordnung öffnet sich der Forschung ein weites Feld.

Die Initiative Verschickungskinder bildet ein bundesweites Netzwerk, das seit 2019 die Gründung regionaler Gruppen von ehemaligen Verschickungskindern fördert und den vielen Aktivitäten Betroffener eine gemeinsame Plattform bietet, etwa durch eine Internetseite und die Veranstaltung von Fachkongressen.8 Der aus der Initiative heraus gegründete Verein „Aufarbeitung und Erforschung von Kinderverschickung (AEKV e.V.)“ versteht sich als wissenschaftliche Begleitung der Initiative und fördert explizit die wissenschaftliche Erforschung der Kinderkurheime auf der Basis der Citizen Science. Anstöße zur Forschung erfolgten aber auch aus der Politik heraus. 2020 forderten die Jugend- und Familienminister der Länder die Bundesregierung auf, ein Forschungsprojekt zur Aufarbeitung der Thematik auf den Weg zu bringen. Einstweilen gehen einzelne Bundesländer voran, so etwa das Land Nordrhein-Westfalen durch eine im März 2022 im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales veröffentlichte Studie zur Vorbereitung der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Kinderkurwesens.9 Auch andere Bundesländer wie Baden-Württemberg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein haben die Initiative ergriffen, um die wissenschaftliche Aufarbeitung voranzutreiben. Mittlerweile liegen auch erste Fallstudien zu einzelnen Einrichtungen vor.10 Dem Einsatz sedierender Medikamente in Kinderkurheimen, auch schon vor ihrer Markteinführung, widmet sich eine weitere Arbeit.11 Hinzu kommt eine stetig wachsende Zahl von Erlebnisberichten Betroffener.12 Weitere Impulse kommen von den Trägern ehemaliger Kureinrichtungen und den entsendenden Institutionen.13 Hier reiht sich die vorliegende Studie ein, die im Auftrag der heutigen DAK-Gesundheit entstanden ist. Sie befasst sich mit den Kinderkuren, die zwischen 1951 und 1993 in den drei eigenen Kinderkurheimen sowie in insgesamt 65 Vertragskurheimen der DAK oder, von der DAK bezuschusst, in Kinderkurheimen anderer Träger stattfanden. Die Gesamtzahl der von der DAK durchgeführten oder bezuschussten Kinderkuren beläuft sich auf etwa 450.000.14 In einer gemeinsamen Stellungnahme zu den Berichten früherer Verschickungskinder über ihre leidvollen Erfahrungen in Einrichtungen der DAK haben sich der Vorstand und der Verwaltungsrat der DAK-Gesundheit am 30. November 2020 zu ihrer Verantwortung bekannt. Wörtlich heißt es in dieser Stellungnahme:

„Die DAK-Gesundheit nimmt das Leid der Betroffenen sehr ernst. Wir entschuldigen uns für das, was den ehemaligen Kurkindern in unseren früheren Einrichtungen widerfahren ist. Wir nehmen unsere Verantwortung als ehemaliger Träger dieser Einrichtungen ernst und sichern eine sorgfältige, umfassende und transparente Aufarbeitung zu.“15

Konkret kündigten Vorstand und Verwaltungsrat der DAK-Gesundheit in diesem Papier an, „die Vorkommnisse und die Missbrauchsfälle historisch untersuchen und aufarbeiten“ zu lassen. In der vorliegenden Studie werden die Ergebnisse dieser Aufarbeitung dargelegt.

Fragestellungen, Quellen und Methoden

Zunächst stellen sich eine Reihe von Fragen zur Sozialgeschichte der DAK-Kinderkuren: Wo liegen die Anfänge des Kinderkurwesens der DAK? Welche sozial-, politik- und kulturgeschichtlichen Entwicklungen gaben den Anstoß zur Aufnahme der Kinderkuren durch die Angestelltenkrankenkassen in der Weimarer Republik? Was versprachen sich die Kassen von den Kinderkuren? Auf welchen medizinischen, soziologischen und pädagogischen Vorannahmen beruhte das Konzept der Kinderkur? Wie waren die Kinderkuren organisiert? Wie wirkte sich die „Gleichschaltung“ unter nationalsozialistischer Herrschaft auf die Kinderkuren aus? Welche Kontinuitäten oder Diskontinuitäten über die Epochenzäsur von 1945 hinaus sind feststellbar? Was waren die Gründe für die Wiederaufnahme der Kinderkuren in eigener Regie durch die DAK im Jahre 1951? Wie stellte sich die quantitative Dimension dar? Welche Faktoren lagen der Ausweitung der Kinderkuren bis Mitte der 1970er Jahre, welche der seitdem allmählich sinkenden Nachfrage von Seiten der Versicherten zugrunde? Wie entwickelte sich das Kurkonzept nach 1945 weiter? Welche Mittel wurden für die Kinderkuren aufgewendet? Wie war das Kinderkurwesen der DAK organisiert? Wie war die Rechtsaufsicht über die Kinderkurheime geregelt? Diese Fragen sollen anhand der bruchstückhaften Aktenüberlieferung, der Jahresberichte und Publikationsreihen der DAK, die sich im Zentralarchiv der DAK in Hamburg finden, nach den Regeln historischer Hermeneutik untersucht werden.

Auf dieser Basis soll der Alltag in den von der DAK genutzten Kinderkurheimen rekonstruiert werden, wobei das besondere Augenmerk den gewaltförmigen Praktiken gelten soll, die im Alltag der Heime zum Tragen kamen. Auch hier stellt sich ein Bündel von Fragen: Von wem ging Gewalt aus? Was waren Anlässe für Gewalt? Wer wurde Opfer von Gewalt? Welche Formen der Gewalt lassen sich unterscheiden? Welche Handlungslogiken sind hinter den gewaltförmigen Praktiken erkennbar? Wie erlebten die zur Kur verschickten Kinder diese Praktiken? Welche Verletzungen hinterließen sie? Welche Überlebensstrategien entwickelten die Kurkinder? Wie wirkten sich die Gewalterfahrungen auf die weitere Biographie der Verschickungskinder aus? Beeinflussten sie das Verhältnis zu den Eltern? Gab es Auswirkungen im Hinblick auf das Bindungsverhalten? Welche Ängste, Zweifel, Anfälligkeiten hinterließen die in der Kur zugefügten Verletzungen der persönlichen Integrität? Der Königsweg zur Beantwortung solcher Fragen sind Interviews mit Menschen, die als Kinder zur Kur verschickt waren, und die Auswertung dieser Interviews mit den Methoden der Oral History.

Aufbau der Arbeit

Kapitel 1 bietet einen Überblick über die Entstehung und Entwicklung des Kinderkurwesens der Angestelltenkrankenkassen, aus denen die DAK-Gesundheit in ihrer heutigen Gestalt hervorgegangen ist, von den Anfängen nach dem Ersten Weltkrieg über den Ausbau in der Weimarer Republik und die „Gleichschaltung“ im „Dritten Reich“ bis zur vorläufigen Einstellung der Kinderkuren um die Jahreswende 1944/45. Kapitel 2 befasst sich mit dem Kinderkurwesen der DAK in der Bundesrepublik Deutschland, von der Wiederaufnahme der Kuren in eigener Regie im Jahre 1951 bis zum Auslaufen der Kuren im Jahre 1993. Hier geht es um die Organisation und Konzeption der Kinderkuren, den allmählichen Wandel der Indikationen zur Kur und die quantitative Entwicklung der DAK-Kinderkuren. Dieser sozialgeschichtliche Abriss soll die Rahmenbedingungen sichtbar machen, innerhalb derer sich der Alltag der Kinderkurheime entfaltete, die von der DAK genutzt wurden. Kapitel 3 stellt das theoretische Rüstzeug vor, das helfen soll, die Berichte der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen über die im Alltag der Kinderkurheime zutage tretende Gewalt zu strukturieren, zu analysieren und zu interpretieren. Ausgehend vom Idealtypus der „totalen Institution“, wird eine Definition von Gewalt entwickelt und, darauf aufbauend, eine Typologie der Gewaltformen entworfen, die insbesondere die subtileren Spielarten von Gewalt in den Blick nehmen soll. Kapitel 4 ist der Analyse der Interviews gewidmet, deren Inhalte in synoptischer Perspektive zu Clustern zusammengeführt werden. Ziel ist es, das Geschehen in den Kinderkurheimen im Sinne einer „dichten Beschreibung“ zu rekonstruieren und auch die dahinter aufscheinenden Handlungslogiken sichtbar zu machen. In Kapitel 5 werden die empirischen Befunde vor dem Hintergrund der zuvor entwickelten Interpretationsfolie zusammenfassend diskutiert. Auch sollen die in der empirischen Analyse herausgearbeiteten gewalttätigen Praktiken noch einmal an den rechtlichen Maßstäben der Zeit gemessen werden.

Anmerkungen

1 Peter Wensierski, Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik, Freiburg im Breisgau 2006.

2 Vgl. z. B. Matthias Benad / Kerstin Stockhecke / Hans-Walter Schmuhl (Hg.), Endstation Freistatt. Fürsorgeerziehung in den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel bis in die 1970er Jahre, Bielefeld 2009 (2. Aufl. 2011); Wilhelm Damberg / Bernhard Frings / Traugott Jähnichen / Uwe Kaminsky (Hg.), Mutter Kirche – Vater Staat. Geschichte, Praxis und Debatten der konfessionellen Heimerziehung seit 1945, Münster 2010; Matthias Fröhlich (Hg.), Quellen zur Geschichte der Heimerziehung in Westfalen 1945–1980, Paderborn 2011; Hans-Walter Schmuhl / Ulrike Winkler (Hg.), Heimwelten. Quellen zur Geschichte der Heimerziehung in Mitgliedseinrichtungen des Diakonischen Werkes der Ev.-Luth. Landeskirche Hannovers e.V. von 1945 bis 1978, Bielefeld 2011; Andreas Henkelmann / Uwe Kaminsky / Judith Pierlings / Thomas Swiderek / Sarah Banach, Verspätete Modernisierung. Öffentliche Erziehung im Rheinland. Geschichte der Heimerziehung in Verantwortung des Landesjugendamtes (1945–1972), Essen 2011; Bernhard Frings / Uwe Kaminsky, Gehorsam – Ordnung – Religion. Konfessionelle Heimerziehung 1945–1975, Münster 2012; Sylvelyn Hähner-Rombach, „Das ist jetzt das erste Mal, dass ich darüber rede …“. Zur Heimgeschichte der Gustav Werner Stiftung zum Bruderhaus und der Haus am Berg GmbH 1945–1970, Frankfurt am Main 2013; Uwe Kaminsky, „Danach bin ich das erste Mal abgehauen“. Zur Geschichte der Evangelischen Kinder- und Jugendhilfe Oberbieber 1945–1975, Essen 2015; Inga Bing-von Häfen / Albrecht Daiss / Dagmar Kötting, „Meine Seele hat nie jemanden interessiert“. Heimerziehung in der württembergischen Diakonie bis in die 1970er Jahre, Stuttgart 2017; Brigitte Baums-Stammberger / Benno Hafeneger / Andre Morgenstern-Einenkel, „Uns wurde die Würde genommen“. Gewalt in den Heimen der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal in den 1950er bis 1980er Jahren, Opladen 2019; Ulrike Winkler, Kein sicherer Ort. Der Margaretenhort in Hamburg-Harburg in den 1970er und 1980er Jahren, Bielefeld 2021.

3 Vgl. z. B. Hans-Walter Schmuhl / Ulrike Winkler, Gewalt in der Körperbehindertenhilfe. Das Johanna-Helenen-Heim in Volmarstein von 1947 bis 1967, Bielefeld 2010 (2. Aufl. 2013); dies., „Als wären wir zur Strafe hier“. Gewalt gegen Menschen mit geistiger Behinderung – der Wittekindshof in den 1950er und 1960er Jahren, Bielefeld 2011 (3. Aufl. 2012); Gerda Engelbracht / Andrea Hauser, Mitten in Hamburg. Die Alsterdorfer Anstalten 1945–1979, Stuttgart 2013; Hans-Walter Schmuhl / Ulrike Winkler, Die Behindertenhilfe der Diakonie Neuendettelsau 1945–2014. Alltag, Arbeit, kulturelle Aneignung, Stuttgart 2014; Susanne Schäfer-Walkmann / Birgit Hein, Das Schweigen dahinter. Der Umgang mit Gewalt im lebensweltlichen Kontext von Heimbewohnerinnen und Heimbewohnern der Stiftung Liebenau zwischen 1945 und 1975, Freiburg im Breisgau 2015; Annerose Siebert / Laura Arnold / Michael Kramer, Heimkinderzeit. Eine Studie zur Situation von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen der katholischen Behindertenhilfe in Westdeutschland (1949–1975), Freiburg im Breisgau 2016; Hans-Walter Schmuhl / Ulrike Winkler, Aufbrüche und Umbrüche. Lebensbedingungen und Lebenslagen behinderter Menschen in den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel von den 1960er bis zu den 1980er Jahren, Bielefeld 2018; Gudrun Silberzahn-Jandt, „… und da gab’s noch ein Tor, das geschlossen war …“. Alltag und Entwicklung der Anstalt Stetten 1945 bis 1975, Stetten 2018; Karsten Wilke / Hans-Walter Schmuhl / Sylvia Wagner / Ulrike Winkler, Hinter dem Grünen Tor. Die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission, 1945–1975, Bielefeld 2018 (3. Aufl. 2019); dies., „Es sollte doch alles besser werden.“ Die Behindertenhilfe der Rummelsberger Diakonie 1945 bis 1995, Bielefeld 2021; Hans-Walter Schmuhl / Ulrike Winkler, Ausgeschlossen – Eingeschlossen. Die Evangelische Stiftung Alsterdorf von der Anstalt ins Quartier, Stuttgart 2023.

4 Franz-Werner Kersting / Hans-Walter Schmuhl, Psychiatrie- und Gewalterfahrungen von Kindern und Jugendlichen im St. Johannes-Stift in Marsberg (1945–1980). Anstaltsalltag, individuelle Erinnerung, biographische Verarbeitung, Münster 2018 (2. Aufl. 2018); Frank Sparing, Zwischen Verwahrung und Therapie. Psychiatrische Unterbringung und Behandlung im Bereich des Landschaftsverbandes Rheinland von 1945 bis 1970, Berlin 2018; Heiner Fangerau / Anke Dreier-Horning / Volker Hess / Karsten Laudien / Maike Rotzoll (Hg.), Leid und Unrecht. Kinder und Jugendliche in Behindertenhilfe und Psychiatrie der BRD und DDR 1949 bis 1990, Köln 2021. Einen guten Überblick zum aktuellen Forschungsstand gibt der Sammelband von Wilfried Rudloff / Franz-Werner Kersting / Marc v. Miquel / Malte Thießen (Hg.), Ende der Anstalten? Großeinrichtungen, Debatten und Deinstitutionalisierung seit den 1970er Jahren, Paderborn 2022.

5 Lena Gilhaus, Heimerziehung – Albtraum Kinderkur, Deutschlandfunk, 1.5.2017, https://www.deutschlandfunk.de/heimerziehung-albtraum-kinderkur-100.html [letzter Zugriff: 26.1.2023].

6 Anja Röhl, Das Elend der Verschickungskinder. Kindererholungsheime als Orte der Gewalt, Gießen 2021; dies., Heimweh – Verschickungskinder erzählen, Gießen 2021; dies., Kindererholungsheime als Forschungsgegenstand. Erwachsene Zeitzeug*innenschaft am Beispiel eines Beschwerdebriefes im Adolfinenheim auf Borkum, Sozial. Geschichte Online 31 (2022), https://sozialgeschichteonline.files.wordpress.com/2022/04/rocc88hl_verschickungskinder_vorverocc88ffentlichung.pdf[letzter Zugriff: 26.1.2023].

7 Röhl, Elend, S. 33 f. Vgl. S. 90.

8https://verschickungsheime.de/die-bundeweite-initiative-verschickungskinder/. Bislang fanden drei Fachkongresse statt, 2019 auf Sylt, 2021 auf Borkum, 2022 in Bad Sassendorf.

9 Marc von Miquel, Verschickungskinder in Nordrhein-Westfalen nach 1945. Organisation, quantitative Befunde und Forschungsfragen (im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen) [2022], https://verschickungsheime.de/wp-content/uploads/2022/01/Studie-Verschickungskinder-in-NRW_sv_dok_2022.pdf [letzter Zugriff: 26.1.2023].

10 Bernhard Jungnitz, Sommerfrische auf Juist – Gewichtszunahme bis zu 18 Pfund, in: Jahrbuch des Kreises Unna 30 (2009), S. 47-52; ders., „Verhindern, daß die heranwachsende Jugend der städtischen und Industriebevölkerung … dauernden Schaden an ihrer Gesundheit erleidet.“ Kindererholungskuren auf den Nordseeinseln am Beispiel des Kreises Unna, in: Westfälische Forschungen 64 (2014), S. 159-189; Fred Kaspar, Bethesda, Siloah und Bethlehem. Kinderheilstätten als Diakonie und Caritas, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 66 (2021), S. 308-374; Nike Johanna Matthiesen, Die Kinderheilanstalt Bad Sassendof als „totale Institution“ (1945–1960), Masterarbeit Universität Münster 2019; Matthias Bade, Kontinuität im Kinderkurheim? Die Institutionsgeschichte des Heims St. Agnes in Bad Sassendorf 1917–1969, Masterarbeit Universität Münster 2022.

11 Sylvia Wagner / Burkhard Wiebel, „Verschickungskinder“ – Einsatz sedierender Arzneimittel und Arzneimittelprüfungen. Ein Forschungsansatz, in: Sozial.Geschichte Online 28 (2020), S. 1-32, https://sozialgeschichteonline.files.wordpress.com/2020/08/wager_wiebel_verschickung_sgo_28_vorverc3b6ffentlichung-1.pdf [letzter Zugriff: 26.1.2023].

12 Vgl. z. B. Regina Konstantinidis, Verschickt – Verdrängt – Vergessen. Ein persönlicher Erfahrungsbericht des Verschickungskindes Regina Baumann, Norderstedt 2021; Anton Ottmann, Gewitternächte in Nickersberg. Das „Kinderkurheim“ des Dr. Bartsch. Eine Dokumentation, Bretten 2021. Auf den Zeugnissen Betroffener beruhen auch die Bücher von Anja Röhl sowie: Hilke Lorenz, Die Akte Verschickungskinder. Wie Kurheime für Generationen zum Albtraum wurden, Weinheim 2021.

13 Stefan Kleinschmidt, Drei tote Kinder in der Kinderheilanstalt Bad Salzdetfurth 1969. Quellenbasierte geschichtswissenschaftliche Dokumentation (im Auftrag der Diakonie in Niedersachsen), Erkenntnisstand: 13. August 2020, Hannover 2020; Stefan Kleinschmidt / Nicole Schweig, Geschichtswissenschaftliche Dokumentationen. Adolfinenheim Borkum 1946 bis 1996–Helenenkinderheim Bad Pyrmont 1945 bis 1992–Seehospiz Norderney, Marienheim Norderney, Flinthörnhaus Langeoog, Kinderheimat Bad Harzburg 1945 bis ca. 1980 [2021], https://verschickungsheime.de/wp-content/uploads/2021/08/Dokumentationen-Kinderkurheime_2021.pdf [letzter Zugriff: 26.1.2023]; Johannes Richter / Sarah Meyer, Zwischenbericht „Erfahrungen und Hintergründe der Verschickungskinder in den Einrichtungen des Vereins für Kinder- und Jugendgenesungsfürsorge und der Rudolf-Ballin-Stiftung Hamburg–1945–1980“ [2021], https://www.ballin.hamburg/wp-content/uploads/2022/04/ballin-stiftung-zwischenbericht-verschickungskinder.pdf [letzter Zugriff: 26.1.2023]; Susanne Herold, Verschickungskinder. Die Barmer Ersatzkasse und die Kinderverschickungen von 1945–1990 [2021, https://verschickungsheime.de/wp-content/uploads/2022/05/220411_Bericht_Quellenlage_Verschickungskinder.pdf [letzter Zugriff: 26.1.2023]; Christine Möller, Zwischenbericht. Stand der Aufklärung der ursprünglich in NetzwerkB erhobenen Vorwürfe über sexuelle Gewalt und körperliche Misshandlungen in den Kinderkurheimen (St. Antonius und St. Johann in Timmendorfer Strand-Niendorf/Ostsee und Sancta Maria auf Borkum) der Kongregation der Franziskanerinnen vom hl. Martyrer Georg zu Thuine. Zeitraum 1970 bis 1990 [2022], http://www.franziskanerinnen-thuine.de/Kinderkuren_21-11-15-Dokumentation-DRUCK.pdf [letzter Zugriff: 26.1.2023].

14 Vgl. S. 78 f.

15 DAK-Gesundheit erkennt das Leid der Betroffenen an. Gemeinsame Stellungnahme des Vorstands und des Verwaltungsrats zum Thema „Verschickungskinder“ und Kurheime, https://www.dak.de/dak/download/pressemeldung-2390494.pdf [letzter Zugriff: 26.1.2023].

1 Das Kinderkurwesen der Angestelltenkrankenkassen 1921–1945

Als die DAK im Jahre 1951 beschloss, die Kinderkuren in eigener Regie wiederaufzunehmen, knüpfte sie an drei Jahrzehnte Erfahrung an, reichten doch die Anfänge des Kinderkurwesens der Angestelltenkrankenkassen, aus denen die DAK hervorgegangen war, bis in die frühen 1920er Jahre zurück. Konzeption, Organisation und Praxis der Kinderkuren ab den 1950er Jahren orientierten sich, wie im Folgenden gezeigt werden soll, weitgehend an den Mustern, die sich zwischen 1921 und 1944 herausgebildet hatten.

Um diese Kontinuitätslinien zu verdeutlichen, ist es notwendig, die Entwicklung des Kinderkurwesens der Angestelltenkrankenkassen vom Beginn der Weimarer Republik bis zum Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ in groben Strichen nachzuzeichnen. Zum besseren Verständnis kommt man zudem nicht umhin, die zerklüftete Landschaft der Angestelltenverbände und der mit ihnen eng verbundenen Angestelltenkrankenkassen mit in den Blick zu nehmen. Hier kam es in der Zwischenkriegszeit zu einer Vielzahl von Zusammenschlüssen und Umgründungen, die einen Konzentrationsprozess zur Folge hatten, aus dem Ende der 1920er Jahre die DAK hervorging.

Auf dem Weg zur DAK

Ausgangs des 19. Jahrhunderts gab es im Deutschen Reich eine Vielzahl größerer und kleinerer Vereine und Verbände, die sich als Interessenvertretung der Angestelltenschaft verstanden. Diese stark zersplitterte Angestelltenbewegung nahm mit der Gründung des „Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes“ (DHV) im Jahre 1893 ein anderes Gepräge an. Verstanden sich die traditionellen Angestelltenverbände als weltanschaulich neutrale, auf den friedlichen Ausgleich mit den Arbeitgebern setzende genossenschaftliche Zusammenschlüsse, in denen sich der „Stand“ der Handlungsgehilfen, Büroangestellten und „Privatbeamten“ im Sinne der Selbsthilfe organisierte, so trat mit dem DHV ein „völlig neuer Typ der Interessenvertretung“1 auf den Plan. Der DHV erschien „teils als Partei, teils als Gewerkschaft“.2 Als Gewerkschaft brach der DHV mit dem eher wirtschaftsfreundlichen Kurs der anderen Angestelltenverbände und zeigte sich zunehmend bereit, die wirtschaftlichen Interessen der Angestellten notfalls auch mit den Mitteln des Arbeitskampfes durchzusetzen – dies führte zu einer allmählichen „Vergewerkschaftlichung“ der Angestelltenbewegung. Als „weltanschaulicher Richtungsverband mit Bewegungscharakter“3 trieb der DHV – der sich die Abwehr der Sozialdemokratie, die Einschränkung der Frauenerwerbstätigkeit sowie einen völkischen Antisemitismus auf die Fahnen geschrieben hatte – zudem die „Politisierung“4 der Angestelltenbewegung voran.

Zu Beginn der Weimarer Republik zerfiel die Angestelltenbewegung in drei politische Lager. Das linke Lager bildeten die sozialdemokratisch-freigewerkschaftlichen Angestelltenverbände. Sie waren im „Allgemeinen freien Angestelltenbund“ (AfA) zusammengeschlossen, der im Jahre 1920 fast die Hälfte aller organisierten Angestellten repräsentierte – ein Zeichen für einen gewissen „Linksschwenk“5 der Angestelltenbewegung vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs, der Novemberrevolution und der Gründung des Weimarer Wohlfahrtsstaates. Doch verlor der AfA ab 1923–also in den „Goldenen Zwanzigern“, dem Jahrfünft relativer Stabilität zwischen 1924 und 1929–zunehmend an Bedeutung, 1930 gehörte ihm nur noch ein Drittel aller organisierten Angestellten an.

Entsprechend erstarkte das „bürgerlich-mittelständische Lager“.6 Dieses hatte sich im Jahre 1916 zur „Arbeitsgemeinschaft der kaufmännischen Verbände“ zusammengeschlossen, die indessen in der frühen Weimarer Republik zerfiel, als der DHV aus den bisherigen Einheitsbestrebungen ausscherte und zusammen mit einigen kleineren Verbänden – darunter dem „Verband der weiblichen Handels- und Büroangestellten“ – im November 1919 den „Gesamtverband deutscher Angestelltengewerkschaften“ (Gedag) gründete. Dieser verstand sich als „Dachorganisation der ‚christlich-nationalen‘ Angestelltenverbände“.7 Den politischen Kurs bestimmte der DHV – „stramm rechts, antisemitisch und völkisch-nationalistisch“. So wurde der Gedag zum Sammelbecken des rechten Lagers. Entsprechend nahm seine Bedeutung mit dem allmählichen Erstarken der politischen Rechten – und dem klammheimlichen Aufstieg des Nationalsozialismus – zu, Ende 1926 zog er von der Mitgliederzahl her am AfA vorbei und etablierte sich als größter Angestelltenverband im Deutschen Reich.

Nach dem Ausscheren des DHV aus der „Arbeitsgemeinschaft der kaufmännischen Verbände“ schlossen sich mehrere Angestelltenverbände aus der politischen Mitte8 am 20./21. November 1920 zum „Gewerkschaftsbund der Angestellten“ (GDA) zusammen, der in der Weimarer Republik mit etwa 300.000 bis 375.000 Mitgliedern die drittgrößte Selbstorganisation der Angestellten bildete.9

Die verschiedenen Angestelltenverbände unterhielten je eigene Krankenkassen – und auch hier geriet mit der Bildung der drei Dachverbände einiges in Bewegung. So kam es in den 1920er Jahren zu einer schrittweisen Zusammenführung der Krankenkassen der im GDA vereinigten Verbände, wobei es einige Hindernisse zu überwinden galt.10 Mit Wirkung vom 1. Januar 1922 fusionierten zunächst die „Kranken- und Begräbniskasse des Verbandes Deutscher Handlungsgehilfen“ (Leipzig) und die „Krankenkasse des Kaufmännischen Vereins von 1858, Versicherungs-Verein auf Gegenseitigkeit“ (Hamburg) zur „Krankenkasse des Gewerkschaftsbundes der Angestellten“. Mit Wirkung vom 1. April 1924 schloss sich auch die Kasse des „Breslauer Handlungsgehilfen-Vereins“ von 1774 der neuen Kasse an. Mit den Krankenkassen des „Vereins der Deutschen Kaufleute“ (Berlin) und des „Deutschen Angestellten-Bundes“ (Magdeburg) war die „Krankenkasse des Gewerkschaftsbundes der Angestellten“ zunächst in einer „Arbeitsgemeinschaft“ verbunden, weil einer Fusion rechtliche Hürden entgegenstanden. Nachdem der Gesetzgeber diese Hürden beiseitegeräumt hatte, vereinigten sich die drei Kassen schließlich mit Wirkung vom 1. Januar 1928 zur „Berufskrankenkasse des Gewerkschaftsbundes der Angestellten“, die ihren Namen zum 1. Januar 1930 in „Deutsche Angestellten-Krankenkasse“ (DAK) änderte.

Kinderkuren als Teil des „Gesundheitsdienstes“ in der Weimarer Republik

Bei der „Gesundheitsvorsorge“ für Kinder und Jugendliche übernahm die „Krankenkasse des Gewerkschaftsbundes der Angestellten“ eine „Pionierrolle“.11 Seit 1921 gewährte sie als zusätzliche, freiwillige Leistung im Rahmen der Familienhilfe „für eine große Anzahl skrofulöser oder stark unterernährter und hochgradig blutarmer Kinder Beihilfen für die Unterbringung in Kinderpflege- und Erholungs-Heimen“.12 Insbesondere war, wie es im Jahresbericht 1923/24 hieß, das „Kinderheim im Park Zehlendorf“,13 das sich im Besitz des GDA befand, fast durchgängig voll belegt.

Nach der Überwindung der Hyperinflation machte sich der Verbund der Krankenkassen unter dem Dach des GDA daran, das Kinderkurwesen auszubauen. 1926 begann die „Krankenkasse des Deutschen Angestellten-Bundes“ auf der Grundlage einer Vereinbarung mit den anderen Kassen mit dem Bau einer eigenen „Kinderheilstätte“ bei Bad Frankenhausen am Kyffhäuser, die am 20. April 1927 ihren Betrieb aufnahm. Zu Ehren des wenige Tage zuvor verstorbenen Vorstandsvorsitzenden der „Krankenkasse des Gewerkschaftsbundes der Angestellten“ erhielt dieses erste eigene Kinderkurheim den Namen „Hermann-Hedrich-Heim“. Mit der Vereinigung der drei Krankenkassen im Umfeld des GDA ging das Haus in den Besitz der „Berufskrankenkasse des Gewerkschaftsbundes der Angestellten“ über. Nach einem Ausbau konnte das Heim bis zu hundert Kinder aufnehmen – fortan wurden jährlich zwischen 400 und 600 Kinder zur Kur in das „Hermann-Hedrich-Heim“ verschickt.14 Des Weiteren gewährte die „Berufskrankenkasse des Gewerkschaftsbundes der Angestellten“ ihren Mitgliedern Zuschüsse zu Kinderkuren in anderen Heimen, so etwa im Kinderheim „Haus Sonnenschein“ in Wittdün auf Amrum, das dem GDA gehörte. Ausgangs der Weimarer Republik wurden jährlich bis zu 2.000 Kinder über die DAK in die Kur verschickt.15 Diese Zahl wurde auch im Jahre 1932 noch erreicht, obwohl die Reichsregierung im Dezember 1931 den Krankenkassen alle freiwilligen Leistungen, darunter auch die Erholungsfürsorge, untersagt hatte – während sich zugleich die Ernährungssituation von Kindern in der Folge der Weltwirtschaftskrise abermals dramatisch verschlechterte.16

Die Kinderkuren gehörten zusammen mit den seit 1922 angebotenen Jugendkuren für Stammversicherte bis zum 20. Lebensjahr, den seit 1930 durchgeführten Reihenuntersuchungen für jugendliche Stammversicherte „mit nachfolgender Gesundheitsbetreuung“17 und dem „Hygienischen Vortragswesen“ zum Bereich des „Gesundheitsdienstes“ – wie die Gesundheitsvorsorge bei der DAK zunächst genannt wurde.

Welche Motive lagen dem Auf- und Ausbau dieses „Gesundheitsdienstes“ und insbesondere seines Herzstücks, der Kinder- und Jugenderholung, zugrunde? Hier sind zunächst die Folgen des Ersten Weltkriegs auf den Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen zu nennen. Das Deutsche Reich, das vor dem Krieg etwa ein Drittel seines Lebensmittelbedarfs importiert hatte, war im Jahr 1914 auf einen längeren Krieg denkbar schlecht vorbereitet. So entfaltete das nach Kriegsbeginn von Großbritannien über das Deutsche Reich verhängte Handelsembargo, das durch eine zunehmend wirkungsvollere Seeblockade durchgesetzt wurde, rasch seine Wirkung. Ihren Höhepunkt erreichte die Hungerkrise im „Steckrübenwinter“ 1916/17–nachdem die Kartoffelernte im Jahre 1916

nur etwa die Hälfte des Friedensertrags erreicht hatte, blieben zur Ernährung der Zivilbevölkerung fast nur noch Kohl- und Steckrüben übrig. Bis Kriegsende blieb die Ernährungssituation angespannt. Vorsichtigen Schätzungen zufolge lag die Gesamtzahl der zivilen Hungertoten im Deutschen Reich im Zeitraum von 1914 bis 1918–unter Berücksichtigung der durch die Spanische Grippe im letzten Kriegsjahr bedingten Übersterblichkeit – bei 424.000.18 Bei den „Kriegskindern“ hatte die jahrelange Mangel- und Fehlernährung tiefe Spuren hinterlassen. Sie waren in ihrer Entwicklung deutlich verzögert, im Durchschnitt drei bis fünf Zentimeter kleiner als gleichaltrige Kinder früherer Geburtsjahrgänge und wogen zwei bis fünf Kilogramm weniger, waren blass und blutarm. Mangelkrankheiten wie Rachitis und Tuberkulose waren weit verbreitet.19 Vor diesem Hintergrund lag der Gedanke, neben Heilkuren für kranke Kinder auch Erholungskuren für gesundheitsgefährdete Kinder anzubieten, auf der Hand.

Beides hatte es bereits lange vor dem Ersten Weltkrieg gegeben.20 Seit den 1860er/70er Jahren waren in Deutschland – nach englischem Vorbild – zahlreiche Solebäder und Seehospize speziell für Kinder entstanden, die sich 1881 unter dem Vorsitz von Friedrich Wilhelm Beneke (1824–1882), dem Begründer der Bäderheilkunde in Deutschland, im „Verein für Kinderheilstätten an den deutschen Küsten“ zusammenschlossen. Um 1900 gab es bereits 33 Seehospize und 28 Kinderheilstätten in deutschen Kurorten mit fast 4.900 Betten, die Heilkuren für Kinder anboten.21 Daneben gründeten die mit der Einführung der Arbeiterrentenversicherung im Jahre 1890 eingeführten Landesversicherungsanstalten, die sich schon bald der Tuberkulosebekämpfung zuwandten, seit 1903 eigene Kurheime für Kinder, die an Tuberkulose erkrankt waren.22 Auf dem Feld der Erholungskuren hatten sich seit den 1870er Jahren – nach Schweizer Vorbild – auch in Deutschland private „Vereine für Ferienkolonien“ gegründet, die sich 1885 zu einer „Zentralstelle der Vereinigungen für Sommerpflege in Deutschland“ zusammenschlossen. Im Jahre 1910 bestanden 289 solcher Vereine, die Erholungskuren für rund 74.000 Kinder anboten.23 Daneben traten bereits vor 1914 auch andere Akteure auf dem Feld der „Erholungsfürsorge“ auf den Plan, „so die Träger der freien Wohlfahrtspflege, Kommunen, überörtliche Fürsorgeträger, Großbetriebe, öffentliche Verwaltungen wie Eisenbahn und Post sowie Krankenkassen“.24 Sie organisierten sich unter dem Dach des 1917 gegründeten Vereins „Landaufenthalt für Stadtkinder“, der auch als „Reichszentrale für die Entsendung von Kindern zum Erholungsaufenthalt“ fungierte.

Heilkuren für erkrankte Kinder gehörten seit 1914 zu den freiwilligen Leistungen der Krankenkassen. Rechtliche Grundlage dafür war der § 187, Abs. 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) vom 19. Juli 1911, der die „Fürsorge für Genesende“ zum Gegenstand hatte und es den Kassen erlaubte, über ihre Pflichtaufgaben hinaus Genesungsheime und Walderholungsstätten zu unterhalten sowie Bade- und Luftkuren durchzuführen. § 363 RVO gestattete es den Krankenkassen darüber hinaus, finanzielle Mittel zur „allgemeinen Krankheitsverhütung“ bereitzustellen.25 Dieser Paragraph eröffnete den Kassen nach dem Ersten Weltkrieg die Möglichkeit, Erholungskuren für Kinder anzubieten, deren Gesundheit durch die Folgen des Krieges gefährdet war.

Die Sorge um die „Kriegskinder“ überlagerte sich mit der bereits vor dem Ersten Weltkrieg in der Pädiatrie und Balneologie formulierten These, dass die moderne Großstadt, in der die natürlichen „Wachstumsreize“26 – frische Luft, Sonne, Bewegung – weitgehend ausgeschaltet wären, der jugendlichen Gesundheit abträglich sei und zu Entwicklungsstörungen führe. Als typische Symptome meinte man ein übermäßiges Längenwachstum, Untergewicht, einen zu geringen Brustumfang, eine schlechte Haltung und eine allgemeine Körperschwäche erkennen zu können. Dem „untersetzten, kräftigen, breitbrüstigen Bewohner des Landes“ wurde „der langaufgeschossene, schmalbrüstige, muskelschwache Schreiber oder Handlungsgehilfe als Typus gegenübergestellt“.27 In den 1920er Jahren versuchten verschiedene Spezialstudien zu belegen, dass Kaufmannslehrlinge – als Angehörige eines „Reizmangelberufs“28 – in ihrer Entwicklung besonders gehemmt seien.29 Zugleich seien sie an ihrem Arbeitsplatz in besonderem Maße der Überflutung durch schädliche Reize ausgesetzt. „Durch Rationalisierung, Kurzschrift, die Einführung von Diktierapparaten und Fernsprechern habe sich die Arbeitsintensität um ein Vielfaches gesteigert“,30 was in vielen Fällen zu einer „Nervenschwäche“ führe. Der Mangel an natürlichen und das Übermaß an schädlichen Reizen in der urbanen Lebenswelt habe zudem zu einer bedenklichen allgemeinen Entwicklungsbeschleunigung („Akzeleration“) geführt.31 Dass solche Studien die Aufmerksamkeit gerade der Angestelltenkrankenkassen erregten, kann nicht verwundern – Reihenuntersuchungen der versicherten Lehrlinge und Erholungskuren für die „Gesundheitsgefährdeten“ unter ihnen waren die logische Konsequenz, ebenso Kindererholungskuren, die Entwicklungsstörungen schon vor Eintritt in das Jugendalter vorbauen sollten.

Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass der Gesichtspunkt der medizinischen Prophylaxe in den 1920er Jahren ganz allgemein an Gewicht gewann. Die Studien über die gesundheitlichen Auswirkungen kaufmännischer Berufe fallen in das Gebiet der Sozialhygiene, einer noch jungen Teildisziplin der Hygiene, die sich mit den Zusammenhängen zwischen Gesundheit, Krankheit und sozialer Lage befasste. Die Sozialhygiene hatte sich, an ältere Ansätze aus dem 19. Jahrhundert anknüpfend, zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Grenzbereich zwischen Medizin, Hygiene und Demographie etabliert und erlebte in den 1920er Jahren einen kräftigen Aufschwung – galt doch die Stärkung der „Volksgesundheit“ als wichtiger Baustein im Wiederaufbau der Wirtschaft, der Gesellschaft und des Staates nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs.32 Mit dem Aufschwung der Sozialhygiene trat der Gedanke der vorbeugenden Gesundheitsfürsorge immer stärker in den Vordergrund – hier bereits in der Kindheit und Jugend zu beginnen, lag nahe. Für die Angestelltenkrankenkassen war diese Form des „Gesundheitsdienstes“ in doppelter Hinsicht attraktiv. Sie ließ sich leicht mit dem genossenschaftlichen Gedanken verbinden, der für das Selbstverständnis der Angestelltenverbände und ihrer Kassen grundlegend war – sie sahen sich als Solidargemeinschaften von Standesgenossen und deren Familien. Zum anderen versprach die vorbeugende Gesundheitsfürsorge Kosteneinsparungen im Bereich der Behandlung von Krankheiten: Auf lange Sicht – so die Überlegung – würden sich die Aufwendungen für gesundheitliche Aufklärung, Reihenuntersuchungen und Erholungskuren rechnen.

Schließlich darf nicht vergessen werden, dass unter den Krankenkassen, auch unter den Angestelltenkrankenkassen, ein scharfer Wettbewerb herrschte. Die „Krankenkasse des Gewerkschaftsbundes der Angestellten“ stand auch auf dem Feld des „Gesundheitsdienstes“ in Konkurrenz insbesondere mit der „Deutschnationalen Kranken- und Begräbniskasse“, also der Krankenkasse des DHV, die seit ihrer Gründung im Jahre 1899 mit aggressiver Werbung versucht hatte, nicht nur den Ortskrankenkassen, sondern auch den freien Hilfskassen der anderen kaufmännischen Vereine und Verbände das Wasser abzugraben.33 Nach dem Ersten Weltkrieg wandte sich auch die „Deutschnationale Krankenkasse“ der vorbeugenden Gesundheitsfürsorge zu. Seit 1921 führte sie Kindererho-lungskuren im Evangelischen Johannesstift in Spandau durch, 1928/29 eröffnete sie ihr erstes eigenes Kinderkurheim, das „Anton-Tarnowski-Heim“ in Bad Sassendorf in Westfalen,34 wenig später folgte ein weiteres, das „Kinderheim Schloß Neuhaus“ bei Sonneberg in Thüringen.

Auch in der Jugendgesundheitsfürsorge waren der DHV und die „Deutschnationale Krankenkasse“ aktiv. „Wehrertüchtigung“ war bereits im Kaiserreich ein wichtiges Anliegen der Lehrlingsarbeit des DHV gewesen und wurde „vordringliches Ziel der DHV-Turnergilde, als der Versailler Friedensvertrag die Wehrpflicht in Deutschland abgeschafft hatte“.35 Schon früh wurden die Mitglieder dieser „Turnergilde“ sportmedizinisch untersucht, was ab 1926 zu verstärkten Bemühungen führte, allmählich alle Lehrlinge des zweiten Lehrjahres, die in der „Deutschnationalen Krankenkasse“ versichert waren, durchzumustern.36 1922 hatte der DHV die Burg Lobeda im gleichnamigen Ort bei Jena im Thüringer Wald erworben. Zunächst als Tagungs- und Schulungsstätte sowie Ferienheim genutzt, diente die Burg ab 1926 als „Heilstätte der deutschen Kaufmannsjugend“.37 1929 richtete die „Deutschnationale Krankenkasse“ eine eigene Abteilung Gesundheitsfürsorge ein, die von dem Sportarzt und Sozialhygieniker Hans Hoske (1900–1970) geleitet wurde, der seit 1926 als Beratender Arzt nebenamtlich für die Kasse tätig gewesen war – er sollte im „Dritten Reich“ vor allem mit seiner Schrift „Die menschliche Leistung als Grundlage des totalen Staates“ (1936) der nationalsozialistischen Leistungsmedizin kräftige Impulse geben.38 Unter Hoskes Leitung entfaltete die Abteilung Gesundheitsfürsorge der „Deutschnationalen Krankenkasse“ eine Kampagne zur „Gesundheitserziehung“, die sich, abgesehen von verschiedenen Publikationen, auch einer in Zusammenarbeit mit dem Dresdner Hygienemuseum erarbeiteten Wanderausstellung bediente.39

Bis 1933 standen die freiwilligen Leistungen der „Krankenkasse des Gewerkschaftsbundes der Angestellten“ und der „Deutschnationalen Krankenkasse“ auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge in unmittelbarer Konkurrenz zueinander – es ging immer auch darum, durch vorbildliche Leistungen vorbeugender Gesundheitsfürsorge die eigenen Mitglieder an die Kasse zu binden und neue Mitglieder zu gewinnen, womöglich bei der Konkurrenzkasse abzuwerben. Erst mit der nationalsozialistischen Machtübernahme kam es zu einer Bündelung der konkurrierenden Bestrebungen.

Die „Gleichschaltung“ der DAK

Im Zuge der nationalsozialistischen „Gleichschaltung“ verloren die Angestelltenverbände ihre Selbstständigkeit: Der AfA sah sich Ende März 1933 zur Selbstauflösung gezwungen, GDA und Gedag verschmolzen im Mai 1933 zur „Nationalsozialistischen Angestelltenschaft“, die schließlich in der Deutschen Arbeitsfront (DAF) aufging. Dieser Prozess der „Gleichschaltung“ hatte Auswirkungen auch auf die Angestelltenkrankenkassen – es blieben nur noch fünf Verbandskassen übrig.40 Die DAK konnte ihre Eigenständigkeit retten, indem sie ihre männlichen Mitglieder an die „Deutschnationale Krankenkasse“ abgab und dafür von den verbliebenen übrigen Angestelltenkrankenkassen deren weibliche Mitglieder übernahm.41 So wurde die DAK am 1. Juli 1933 in die „VWA-Kasse. Berufskrankenkasse der weiblichen Angestellten“ umgewandelt (ab 1. Januar 1935: „Berufskrankenkasse der weiblichen Angestellten (Ersatzkasse)“, BdwA) und am 1. Mai 1934 mit vier weiteren Kassen zur „Arbeitsgemeinschaft der Berufskrankenkassen“ zusammengefasst. Am 1. Juli 1935 wurde die BdwA schließlich mit der „Berufskrankenkasse der Kaufmannsgehilfen“ (BdK) – so der neue Name der Kasse des DHV – zu einer „Arbeitsgemeinschaft der Berufskrankenkassen für Kaufmannsgehilfen und weibliche Angestellte“ zusammengeführt.42 Die beiden Kassen bildeten fortan eine Verwaltungsgemeinschaft, deren Hauptsitz ab 1935 am Holstenwall 3–5 in Hamburg untergebracht war. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs – zum 1. Januar 1940–fusionierten die BdwA und die BdK zu einer einzigen Krankenkasse, die den Namen „Berufskrankenkasse der Kaufmannsgehilfen und weiblichen Angestellten. Ersatzkasse. Körperschaft des öffentlichen Rechts“ (BKW) erhielt. Die neue Kasse begann mit 875.000 Mitgliedern, 1944 zählte sie bereits 1,12 Mio. Mitglieder – sie war damit die zweitgrößte Krankenkasse im Deutschen Reich.43

Festzuhalten bleibt, dass die DAK, die sich als Krankenkasse der im GDA zusammengeschlossenen Angestelltenverbände der politischen Mitte gebildet hatte, mit der Krankenkasse des früheren DHV zusammengeführt wurde – damit gewann der völkische Gedanke auch im Kinderkurwesen der Angestelltenkrankenkassen weiter an Boden.

Kinderkuren als Teil der „Gesundheitsführung“ im „Dritten Reich“

Ungeachtet der institutionellen Umbrüche wurde der „Gesundheitsdienst“ weiter ausgebaut – nun unter dem Begriff der „Gesundheitsführung“. Hinter dieser neuen Begrifflichkeit verbarg sich eine Neuausrichtung dieses Arbeitsfeldes nach dem Prinzip der differenzierten Fürsorge: Die Aufgabe bestehe, so legte es die Leitung der „Arbeitsgemeinschaft der Berufskrankenkassen“ in einem Grundsatzbeschluss im Dezember 1934 fest, „nicht mehr in einer wahl- und ziellosen Fürsorge für das Schwache und Minderwertige im Staate, sondern in der zielbewußten gesundheitlichen Führung des erbbiologisch wertvollen Volksgenossen“.44

Die „Kinderfürsorge“ und insbesondere die Kinderkuren bildeten nach wie vor den Schwerpunkt innerhalb dieses Arbeitsfeldes. Dafür standen der „Arbeitsgemeinschaft der Berufskrankenkassen“ zunächst drei eigene Kinderkurheime zur Verfügung: das „Hermann-Hedrich-Heim“ (75 Betten), das der DAK gehört hatte und im Zuge der Aufteilung des Vermögens der DAK an die Kasse des DHV überging,45 ferner das „Anton-Tarnowski-Heim“ in Bad Sassendorf (96 Betten) sowie das „Kinderheim Schloß Neuhaus“ bei Sonneberg (46 Betten).46 1934 machten 1.269 Kinder im Rahmen der Familienhilfe eine Kur in einem dieser drei Kurheime. Andere Kinder wurden in „Vertragsheime“ verschickt – das waren Heime anderer Träger, die vertraglich mit der „Arbeitsgemeinschaft der Berufskrankenkassen“ verbunden waren. 1934 konnten insgesamt 4.104 Kinder eine Kur machen.47 Bis Ende der 1930er Jahre verdoppelte sich diese Zahl. Das Kinderkurwesen der Krankenkassen konnte sich behaupten, auch wenn die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) im Zuge der „Kinderlandverschickung“ ungleich mehr Kinder auf das Land schickte.48

Der Bau des „Schuppenhörnle“ – zur architektonischen Gestaltung der Kinderkurheime

Aufgrund der großen Nachfrage entschloss sich die „Berufskrankenkasse der Kaufmannsgehilfen“, im Hochschwarzwald ein weiteres Kinderkurheim zu bauen. Zu diesem Neubau gibt es eine dichte Quellenüberlieferung, die Einblicke in die architektonische Gestaltung der Kinderkurheime und das ihr zugrunde liegende Konzept der Kinderkur erlaubt. Da viele Kinderkurheime der 1920er/30er Jahre – so auch das neue Heim im Schwarzwald – noch lange nach 1945 genutzt wurden und die räumlichen Gegebenheiten ganz wesentlich zu den Rahmenbedingungen der Kinderkuren gehörten, sei der Bau des Hauses „Schuppenhörnle“ an dieser Stelle ausführlicher dargestellt.

Am 31. Januar 1935 wurde gemäß den Vorgaben des Reichskulturkammergesetzes vom 1. November 1933 ein Wettbewerb zum Bau eines Kinderkurheimes am Hang des Schuppenhörnle in Falkau bei Altglashütten ausgeschrieben, zu dem sechs Architekturbüros aus Hamburg, Hannover, Nürnberg, Stuttgart, Karlsruhe und Freiburg eingeladen wurden.49 Der Neubau sollte, so hieß es in den Erläuterungen zur Ausschreibung, „den praktischen Bedürfnissen eines Kinderheimes“50 entsprechen – „Wert auf irgendwelchen Luxus wird nicht gelegt“. Eine der Vorgaben war, dass sich der Bau „außenarchitektonisch […] dem Landschaftsbild anpassen [sollte] unter Verwendung des in der dortigen Gegend üblichen Bausteins“. Die Kosten sollten 300.000 RM nicht übersteigen. Aus dem Wettbewerb ging das Karlsruher Architekturbüro Brunisch & Heidt als Sieger hervor.51 Der Entwurf des neuen Kinderkurheims stammte von Arthur Brunisch (1889–1965) und Friedrich Heidt (1889–1973), doch wurde ihnen bei der Umsetzung „von der Bauherrschaft“52 der Referent für Baukunst in der Landesleitung Baden der „Reichskammer der bildenden Künste“, Dipl.-Ing. Lang aus Pforzheim, der auch schon dem Preisgericht des Wettbewerbs angehört hatte, „als Mitarbeiter […] beigegeben“.53

Am 10. Juli 1935 begannen die Bauarbeiten, am 30. November 1935 wurde das Richtfest gefeiert. Eigentlich sollte das neue Kinderkurheim Mitte 1936 seiner Bestimmung übergeben werden, doch verzögerten sich die Bauarbeiten aufgrund der schwierigen Witterungsverhältnisse, der Transportschwierigkeiten sowie des Arbeitskräftemangels.54 Auch die Kosten liefen aus dem Ruder – am Ende summierten sie sich auf rund 500.000 RM.55 Schließlich konnte das „Schwarzwald-Kinderheim“ am 16. Januar 1937 in Anwesenheit von Vertretern aus Staat und Partei feierlich eingeweiht werden.56 Ein Beleg dafür, dass das neue Heim auch überregionale Beachtung fand, waren die zahlreichen Glückwunschtelegramme, die zur Einweihung eintrafen – darunter eines des „Reichsärzteführers“ Gerhard Wagner (1888–1939). Arthur Brunisch – dem übrigens wenig später, vom 3. Juni 1938 bis 17. Februar 1939, wegen seiner Geschäftsbeziehungen zu jüdischen Unternehmen und seiner früheren Zugehörigkeit zu einer Freimaurerloge vorübergehend die Mitgliedschaft in der NSDAP entzogen wurde57 – bezeichnete es in seiner Ansprache bei der Einweihung des neuen Kinderkurheims als „die vornehmste Aufgabe des Architekten, eine Baugestaltung aus dem Wesen der Landschaft, des Volkes und der Volksgemeinschaft heraus zu finden.“58 Architekt Lang als Landesreferent der „Reichskammer der bildenden Künste“ sprach in seiner Rede „über die Baukunst des Dritten Reiches […], die gerade in diesem neuen Falkauer Heim wieder bestimmenden Ausdruck gefunden habe“.59 Das Heim solle „Zeuge nationalsozialistischen Aufbauwillens sein“. Im März 1937–der erste Kurgang im „Schwarzwald-Kinderheim“, der am 19. Januar begonnen hatte, lief noch – verkündete „Der Betriebshelfer“ stolz: „Vom Schuppenhörnle im Badnerland weht das Hakenkreuzbanner.“60

Unter dem Titel „Vorbildliches neues Kinderheim der Berufskrankenkasse“ legte die „Arbeitsgemeinschaft der Berufskrankenkassen“ den Landesstellen des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda den Entwurf eines Pressetextes vor, in dem die Vorzüge des neuen Hauses angepriesen wurden.61 Es biete „Raum für 100 Kinder und für ein betreuendes Personal von 25 Köpfen“. Es sei alles berücksichtigt worden, „was Hygiene, Technik und Soziologie an neuen Erkenntnissen und Möglichkeiten bieten“. Der Pressetext ging auch auf die architektonische Gestaltung des neuen Kinderheims ein, das „in seiner Bauweise sichtbarer Ausdruck einer neuen, arteigenen Baugesinnung ist“.

Diese letzte Bemerkung spielt darauf an, dass das neue Kinderkurheim am Hang des Schuppenhörnle konsequent im Stil der „Heimatschutzarchitektur“ erbaut war.62 Diese mit der Gründung des „Deutschen Bundes Heimatschutz“ im Jahre 1904 erstmals proklamierte, auf die Überwindung des Historismus und des Jugendstils gerichtete Reformbewegung in der Baukunst ist mit ihrer auf Klarheit, Sachlichkeit und Funktionalität abhebenden Formensprache eindeutig auf dem Weg in die architektonische Moderne zu verorten, sie forderte zugleich aber auch eine behutsame Einbettung ihrer Bauten in die sie umgebende Kulturlandschaft, die Wiederaufnahme traditioneller, handwerklich geprägter Bauweisen und die Verwendung ortsüblicher Baumaterialien. Sie setzte damit einen