Kurz und kürzer - Detlef Brettschneider - E-Book

Kurz und kürzer E-Book

Detlef Brettschneider

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Beschreibung

Es gibt einen alten Spruch, welcher da lautet: "Die Katze lässt das Mausen nicht". Umgemünzt auf den Verfasser des vorliegenden Buches kann man sinngemäß sagen: "Wer einmal begonnen hat Kurzgeschichten zu schreiben, der bleibt auch dabei". Deshalb liegt mit diesem Machwerk bereits der siebente Band von Geschichtchen vor, die allesamt der Fantasie des Autors entsprungen sind. Fiktive Kriminalfälle, ein bisschen Liebe und skurrile Gedanken ausgedachter Personen warten genau wie in den vorherigen Büchern auch diesmal auf geneigte Leser und Leserinnen.

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„Man sollte immer nur Bücher lesen, die sich gut auf dem Nachttisch machen, falls man unerwartet stirbt.“

Julian Barnes, englischer Schriftsteller, * 19. Januar 1946

Saalfeld, 25.10.2021

Inhaltsverzeichnis

So etwas wie ein Vorwort

Bourbon im Regen

Nur zwei Worte

Eine kleine Lüge

Die Straße

Nervensäge Erna

Marias Wohnung

Das Maisfeld

Fernsehverbot

Das Loch

Der Geruch von Mais

Ich bin klug. Oder etwa nicht?

Die Geldstrafe

Herr Madz

Zu zweit

Alles möglich

Blechschaden

Das allererste Mal

Zwei Stichwunden

Alles nur Verarsche

Die Spieluhr

Hans hat Glück

Der Fall Obermann

Lara und Andy

Der Kater

Reinlich

Sörenfried

Nie mehr arbeiten

Zehn Meter

Sport

Darrell

Der tote Vater

Meine Sorgen

Der hellsehende Bruder

Das Märchen von der Gans

Schnupfen

Der andere Steffen

Evas Tagebuch

Viecher

Fast tot

Stiefbrüder

Über den Autor

So etwas wie ein Vorwort

Dieses siebente Buch mit Kurzgeschichten entstand, um Missverständnisse aus der Welt zu räumen. Wenn man mich bisher fragte, was ich denn wohl bisher geschrieben hätte, antwortete ich stets: „Sechs Bücher“. Das führte meist zu dem phonetischem Irrtum: „Sexbücher“. Man möge mir verzeihen, aber ich weiß nicht, was ich sonst in diese sogenannte Vorrede schreiben sollte. Nun könnte man ja mit Fug und Recht sagen, ich solle das Vorwort einfach weglassen. Aber nach den sechs vorangegangenen Machwerken ist es für mich so etwas wie eine Tradition, dem Ganzen ein paar Bemerkungen voranzustellen. Womit ich bei dem Begriff „Tradition“ wäre. Im Duden findet man dazu die Formulierung: „Tradition ist etwas, was im Hinblick auf Verhaltensweisen, Ideen, Kultur o. Ä. in der Geschichte, von Generation zu Generation [innerhalb einer bestimmten Gruppe] entwickelt und weitergegeben wurde [und weiterhin Bestand hat]“. Das bringt mich in die verzwickte Lage, meine Kurzgeschichten in Verbindung mit Generationen zu bringen. Vielleicht kann ich mich damit herausreden, dass meine Bücher nicht nur von meinen Kindern, sondern hoffentlich auch mal von meinen Enkeln und Enkelinnen gelesen werden. Falls die Menschen in Zukunft überhaupt noch in Büchern blättern.

Übereinstimmungen bzw. Ähnlichkeiten von Namen, Orten, Geschehnissen oder sonstigen Dingen, dienen lediglich der jeweiligen Geschichte und entsprechen in keinem Fall der Realität.

Bourbon im Regen

Vielleicht ist Ihnen das auch schon begegnet: Die Augen sind noch gut, nur die Arme sind zu kurz. Zurzeit reichen die meinigen gerade noch so aus, um die Morgenzeitung mit reichlichem Abstand zu lesen. Aber wenn ich die Veränderung dieses Abstandes in den letzten Wochen mal laienhaft statistisch auswerte, dann wird die Länge meiner oberen Extremitäten in etwa zwei Monaten eben nicht mehr hinkommen. Aber ein Privatdetektiv mit Brille? Der sieht doch aus, als hätte er keinen Durchblick. Außerdem stört so ein Guckeisen, wenn man mal durch ein Fernglas blicken will. Und beim Herabspringen von einer Mauer kann das Ding möglicherweise von der Nase hopsen. Einen ähnlichen Hüpfer können wohl aber auch Kontaktlinsen vollführen. Außerdem haben die noch weitere Nachteile. Morgens muss man die Dinger, meines Wissens nach, einsetzen und vor dem Zubettgehen herausnehmen. Ich mag mir aber nicht täglich mit meinen ungeschickten Fingern im Auge herumfuchteln. Tageslinsen sind zudem auf Dauer ziemlich teuer, bei Monatslinsen ist die Sauerstoffdurchlässigkeit nicht so gut, und sie sind überdies auch noch ziemlich hart. Die Augen lasern lassen kommt bei mir nicht in Frage. Erstens weil mit 40 Jahren die sogenannte Presbyopie auftritt, und da wird vom Lasern abgeraten. Ich bin dieses Jahr nämlich gerade vierzig geworden. Und zweitens weil mein Bankkonto ganz energisch dagegen protestiert hat. Meine Krankenkasse sieht nämlich gutes Sehen als nicht medizinisch notwendig an. Komischerweise werden aber Kosten für Hörgeräte bis zu einer bestimmten Höhe übernommen. Wenn ich nun aber mal folgende Sprüche vergleiche: „Herr Ober, in meiner Suppe schwimmt ein Hörgerät!“ – „Wie bitte?“ Und: Der Augenarzt nach der Untersuchung: „Wie haben sie eigentlich hierher gefunden?“, dann sehe ich doch das Letztere viel bedrohlicher für die menschliche Gesundheit an. Aber Spaß beiseite. Ich werde nicht umhin kommen, mir so ein Nasenfahrrad anpassen zu lassen.

Keine Ahnung wie Sie das sehen, aber ich bin mit Leib und Seele ein Kleinstädter. Auch wenn ich in einer größeren Stadt mehr Aufträge erhaschen würde, bin ich doch nicht gewillt, von hier wegzuziehen. Warum auch? Hier gibt es alles; Theater, Kino, Supermarkt, Arztpraxen, Discounter, Frisörläden, einen Friedhof, eine Nachtbar, unverschämt viele Apotheken, und gelegentlich auch mal einen Parkplatz. Außerdem beherbergt unser kleines Städtchen sogar zwei Augenoptiker. Einen, der bescheiden in der Fußgängerzone verharrt, und einen, der zu einer großen Optikerkette gehört, welche meine Nerven tagtäglich massenweise mit Werbung strapaziert. Wenn ich König von Deutschland wäre, würde ich als Erstes die Fernsehwerbung verbieten. Davon mal abgesehen, musste ich nun einem der beiden Optikergeschäfte meine Augen anvertrauen, da ein Termin beim Augenarzt in diesem Jahrhundert nicht mehr zu ergattern gewesen war. Mithin war ich in der misslichen Lage abwägen zu müssen, ob ich dafür nervige Reklame über mich ergehen lassen wollte, oder eben gezwungen war, etwas mehr Geld auf den Tresen zu ballern. Es wurde einer dieser denkwürdigen Momente, an denen ich mutig meinem Bankkonto widersprach. Ich kann Werbung nun mal nicht leiden.

Es war Montag. Ein Montag nach einem langweiligen Wochenende. Wenn ich ehrlich sein sollte, dann muss ich zugeben, dass auch die Woche davor ziemlich langweilig gewesen war. Ich hatte wieder einmal nicht einen einzigen Auftrag hereinbekommen. Langsam reute mich mein vorgefasster Entschluss, den teuren Optiker aufzusuchen. Wer weiß, wie viel mich so eine Brille kosten würde. Aber wenn ich erstmal etwas gesagt habe, dann bleibt es auch dabei. Genau wie damals, als ich mit dem Rauchen aufgehört habe. Da protzte ich auch vor jedem, dass ich ab sofort keinen Tabak mehr anrühren würde. Ich hätte mich damals nicht mehr im Spiegel betrachten können, falls ich rückfällig geworden wäre. Ich blamiere mich halt nicht gern. Deshalb würde ich auch nie im Leben als Kandidat zu einer Quizshow gehen. Aber zu einem Optiker musste ich nun mal pilgern, denn wie sollte ich meine Arbeit machen, wenn ich blind wie ein Maulwurf wäre. Es bimmelte eine Ladenglocke, als ich eintrat. Hinter einem Glastresen blickte ein junger Mann auf: „Was kann ich für Sie tun?“ Ich druckste etwas herum, dann bekannte ich meine Sehschwäche. Er nickte: „Haben Sie ein Rezept vom Augenarzt?“ Die Frage ärgerte mich ein klein wenig: „Das hätte ich wohl, wenn es in diesem Lande möglich wäre, einen Termin innerhalb eines Jahres zu bekommen!“ Er nickte erneut: „Dann müssen wir jetzt ihre Augen überprüfen. Aber das mache nicht ich, sondern meine Schwester“. Er drehte seinen Kopf in Richtung eines kleinen Vorhangs, der wohl als Raumtrenner zu einem anderen Zimmer diente: „Andrea! Kommst du mal bitte?“ Daraufhin bewegte sich dieser wunderbare Vorhang und eine Frau trat heraus. Was heißt hier Frau. Eine Königin. Ach was, eine Göttin. In meinem Gehirn gab es einen Laut, als wäre dort ein riesiger Luftballon geplatzt. Schwarzgewelltes, schulterlanges Haar umspielte ein ebenmäßiges Gesicht mit verführerischen Lippen. Ihr Körper hätte selbst das Herz eines männlichen Steins zum Schmelzen gebracht. Mit ihrer feingliederigen Hand deutete sie in die hintere Ecke des Raumes, wo sich ein Stuhl und einige optische Gerätschaften tummelten. Ich setzte mich, nein, ich schwebte in das Sitzmöbel, bekam ein seltsames Gerät auf die Nase gesetzt, und musste verschiedene Buchstaben bzw. Muster an der Wand erkennen. Dabei wechselte diese anbetungswürdige Fee immer wieder einige optische Gläser in meinem Nasengestell aus. Ich konnte kaum einen Blick von ihr lassen, und wurde mehrmals ermahnt, nach vorn zu schauen. Nachdem die Dioptrien meiner zukünftigen Brille ermittelt waren, schickte sich die Schönheit an, wieder hinter ihrem Vorhang zu verschwinden. Jeder normale Mann hätte jetzt die Gelegenheit ergriffen, und sie zum Essen eingeladen. Ich Trottel nicht. Der junge Mann, ihr Bruder, grinste unverschämt über das ganze Gesicht, als er meinen Blick auffing: „Sie ist noch frei. Vielleicht sollten Sie es bei ihr mal versuchen. Aber ich warne Sie, sie ist sehr wählerisch. Strengen Sie sich also etwas an! Ehrlich gesagt, ich würde sie gern loshaben, damit ich meine Frau hier in dem Laden unterbringen kann. Mein Schwesterherz macht mir außerdem das Leben mit ihrem Dickkopf ziemlich schwer. Hier meine Geschäftskarte. Hinten habe ich schon mal für alle Fälle die Privatadresse meiner Schwester aufgeschrieben. Vielleicht können Sie ihr auch nur eine besser bezahlte Stellung anbieten. Wer weiß? Hauptsache sie verschwindet aus meinem Geschäft. Übrigens gebe ich allen Männern, die hier hereinschneien, die Adresse. Bloß, dass Sie’s wissen!“

Der nächste Tag begann fast so, wie alle anderen. Die einzige Ausnahme war, dass ich beim Frühstück nicht nur mit der Marmelade kleckerte, sondern diesmal auch noch aus Versehen mit dem Kaffee die Tischdecke besprenkelte. Beim Saubermachen des Teppichs stieß ich mit dem Hinterkopf derart arg an der Tischkante an, dass ich das Gefühl hatte, aus meinen Augen würden jede Menge Sterne sprühen. Auf der anschließenden Fahrt zum Büro wurde ich von einem dieser mobilen „Vitronic-PoliScan speed“ auf Fotopapier gebannt. Oder machen die das jetzt digital? Ist ja auch egal. Kein Geld für Läusesalbe, aber Blitzer anschaffen. Wie auch immer, jedenfalls würde ich wohl erneut etwas Geld für den Erwerb einer neuen Radarfalle spenden müssen. Ich überlegte wieder einmal, ob ich nicht meinen Namen „Levin Baer“ in „Levin Speed Baer“ ändern sollte. Das würde sich vielleicht gut auf meiner Bürotür machen.

Meine Laune war nicht besonders gut, als ich mein Büro wie immer um 10:00 Uhr aufschloss. Selbst der Schluck Bourbon kurz vorher hatte als Stimmungsaufheller komplett versagt. Möglicherweise war also meine derzeitige Reizbarkeit daran schuld, dass ich die eintretende Frau von Anfang an nicht leiden konnte. Sie gehörte zu den Menschen, deren Alter ich einfach nicht einzuschätzen vermochte, deren Hochnäsigkeit aber auf einen Kilometer Entfernung deutlich wahrnehmbar war. Ohne eine Begrüßung und ohne die Tür zu schließen ließ sie ihren schweren Körper auf den Besucherstuhl plumpsen. Ich stand wortlos auf, ging zur Tür, schloss diese, trabte zurück hinter meinen Schreibtisch und sagte kurz angebunden: „Und?“ Sie holte eine Fotografie aus ihrer geschmacklosen Handtasche und knallte mir das Bild auf die Schreibtischplatte: „Mein Mann. Seit drei Tagen weg. Sie sollen ihn finden. Das können Sie doch, oder?“ Ich antwortete in dem gleichen Tonfall: „Das kostet Sie aber eine Stange Geld. Das haben Sie doch, oder? Vielleicht wäre es besser, ihren Gatten bei der Polizei als vermisst zu melden?“ Sie senkte den Kopf und blickte mich an, als wolle sie mich in der nächsten Sekunde erdolchen: „Halten Sie mich für blöd? Der Mensch wird nicht vermisst, sondern er hat sich verpisst. Er ist mir weggelaufen. Und nun sollen Sie ihn wiederfinden, damit ich ihn an den Haaren zurückzerren kann, den Mistkerl! Schließlich hatte er mir versprochen, dass wir zusammenbleiben, bis der Tod uns scheidet“. Ich unterbrach ihren Redeschwall: „Vielleicht gibt es ja einen Scheidungsrichter, der mit Nachnamen Tod heißt!“ Entweder hatte sie mein Wortspiel nicht verstanden, oder es war ihr egal. Sie redete einfach ungerührt weiter: „Der hat mich nämlich wegen meines Geldes geheiratet, und nachdem ich ihn jahrelang durchgefüttert habe, will er sich jetzt vor den ehelichen Pflichten drücken. Also, was kostet mich die ganze Chose?“ Das Geldzentrum in meinem Hirn verführte mich dazu, meinen Standardtagessatz in diesem speziellen Fall ein ganz klein wenig zu erhöhen: „Zweihundertfünfzig am Tag plus Spesen“. Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper: „Alles klar. Hier ist meine Visitenkarte. Telefonnummer steht drauf. Ich erwarte umgehend ein Ergebnis!“ Dann verschwand sie genauso grußlos, wie sie gekommen war. Ich steckte das Foto in die Brusttasche meiner Jacke, und gab mich den restlichen Tag den Gedanken an meine schöne Optikerin hin. Je weniger ich in dem Fall des geflüchteten Ehegatten unternehmen würde, umso mehr Tage würde ich bei diesem ungenießbaren Weib abrechnen können. Außerdem war mir sowieso nicht klar, wo ich bei diesem neckischen Auftrag ohne jegliche Informationen eigentlich ansetzen sollte.

Am Abend saß ich vor meinem Essen und bekam keinen Bissen hinunter. Meine Gedanken kreisten stets und ständig nur um die verflixt hübsche Frau. Verdammt, war ich gestandene vierzig oder etwa ein verliebter Teenager? Ich beschloss, diese unhaltbare Situation mit einer Flasche Bourbon zu erörtern. Die Diskussion dauerte ziemlich lange, und führte in meinem benebelten Kopf zu dem Entschluss, die Adresse meiner Ersehnten aufzusuchen, um sie zum Essen einzuladen. Kaum hatte ich mir mit Mühe die Schuhe angezogen, als es an meiner Tür bimmelte. Es war Hartmut. Hartmut mein Hassfreund, der schuld daran war, dass ich mich damals von Moni scheiden ließ. Immer wenn ich etwas von ihm brauchte, rieb ich ihm diesen Fakt unter die Nase. Und ich brauchte häufig etwas von ihm, denn Hartmut hatte Beziehungen in die allerhöchsten Kreise. Er blickte mich an, als hätte ihm jemand eine Ladung Schrot in den Hintern geschossen: „Hast du einen Moment Zeit? Ich muss mit jemandem reden. Meine Frau hat mich verlassen!“ Wer könnte da schon nein sagen und einen weidwunden Geschlechtsgenossen auf die kalte Straße jagen. Ich nicht. Vielleicht war aber auch die mitgebrachte Flasche „Elijah Craig Barrel Proof“ daran schuld, dass ich ihn in meine Wohnung bat. Nachdem unsere Gläser gefüllt waren, begann mir Hartmut sein Leid zu klagen, während er unruhig im Zimmer auf und ab ging. Ich hörte kaum zu. Meine Gedanken waren ganz wo anders. Irgendwann legte mir dann Hartmut die Hand auf die Schulter: „Mit dir kann man wenigstens reden. Aber du siehst auch nicht gerade fröhlich aus. Was hast du denn für ein Problem?“ Ich hatte inzwischen genügend enthemmender Flüssigkeit in mich hineingeschüttet, um ebenfalls brühwarm von meiner Angehimmelten zu berichten. Daraufhin meinte Hartmut mit schwerer Zunge, ich müsse ihr ein Gedicht schreiben. Da aber weder ich noch Hartmut in der Verfassung waren, etwas Vernünftiges zu Papier zu bringen, suchten wir in meinem Computer nach einem entsprechend gereimten Machwerk und druckten es aus. Ich kann mich bis heute noch nicht erinnern, was das eigentlich gewesen war. Jedenfalls stopfte ich den Ausdruck in meine Jacke, und machte mich, gestützt von einem ebenfalls schwankenden Hartmut, auf den Weg zur Adresse meiner Begierde. Allerdings stabilisierte mich mein Freund nur mit einem Arm, da er in der anderen Hand munter eine halbvolle Buddel schwenkte. Am Ziel angekommen, konnte mein Helfer gerade noch klingeln, dann fiel er um. Zum Glück landete der Bourbon sanft auf dem weichen Rasen. Als die hübscheste Frau der Welt aus der Tür trat, nestelte ich umständlich mein Gedichtspapier aus der Tasche. Dabei zog ich versehentlich das Foto vom Mann meiner Klienten mit heraus, welches gut sichtbar auf dem Boden landete. Meine Angebetete stutzte: „Was machen Sie denn mit dem Foto meines Cousins? Er hat gesagt, solange er hier wohnt, darf ich keinen zu ihm lassen. Also machen Sie, dass Sie wegkommen!“ Dann schlug sie mir die Tür vor der Nase zu. Es war ein schweres Stück Arbeit, Hartmut auf meine Schulter zu hieven. Ich musste ihn aber noch einmal kurz ablegen, da ich die Bourbon-Flasche retten wollte. Unterwegs wäre dann meine Last beinahe auf der Straße gelandet. Ich war wohl im Gehen eingeschlafen. Zuhause ließ ich Hartmut von der Schulter gleiten und suchte meinen Schlüssel. In allen Taschen. Sehr lange. Der Schlüssel war nicht da. Keine Ahnung, ob ich ihn vergessen oder verloren hatte. Entmutigt ließ ich mich neben dem schnarchenden Hartmut auf die Treppenstufen sinken und zog die trostspendende Flasche hervor. Zu allem Unglück öffnete Petrus in dem Moment auch noch seine Himmelsschleusen. Patschnass ergab ich mich meinem regnerischen Schicksal, und leerte Schluck für Schluck die Buddel. Wie zum Hohn ertönte aus einem geöffneten Fenster des gegenüberliegenden Gebäudes der Song „Whiskey And Rain“ von Michael Ray. Wenn ich den Text richtig verstanden hatte, dann sang der Interpret davon, dass der Whisky einen Honky-Tonk aus dem Wohnzimmer macht. Über der Grübelei, was wohl genau ein Honky-Tonk sei, fielen mir langsam die Augenlieder zu. Ich kam durch ein Rütteln an meiner Schulter wieder zurück ins Land der Wachen. Vor mir stand schwankend mein Hartmut mit einem Schlüssel in der Hand: „Ich hab deinen Schlüsselbund vorsichtshalber mitgenommen. Du hattest ihn im Schloss stecken lassen. Das sollte man heutzutage lieber nicht machen!“

Am nächsten Tag hatte ich das, was man im Volksmund einen Kater nennt. Das Wort ist wohl eine Verballhornung des ähnlich klingenden Wortes Katarrh. Allerdings traf dieses allgemein gebräuchliche Wort Kater im vorliegenden Fall bei mir nicht völlig den Kern der Sache. Ich hatte keinen Kater, ich hatte eine komplette Katzenpension in meinem Kopf. Diesem Umstand, respektive Zustand, hatte ich es wohl zu verdanken, dass ich meiner Klientin, gleich nach dem Verschlingen eines sauren Herings, die Adresse der Cousine ihres Mannes, und damit den derzeitigen Aufenthalt ihres Göttergatten mitteilte. Eigentlich hatte ich die Suchende noch ein paar Tage hinhalten wollen. Von wegen Abrechnung und so. Aber mein Gehirn spielt mir gelegentlich schon mal einen Streich. Andererseits brachte mich das Denkorgan an diesem Tag auf die grandiose Idee, nicht zu meinem Büro zu fahren, sondern den Tag wimmernd im Bett zu verbringen.

Eine Woche später erreichte mich im Büro der Anruf des Optikers. Meine Brille war abholbereit. Ich machte mich gleich auf den Weg, nahm aber sicherheitshalber mein Fernglas mit. Schließlich musste ich aus gebührender Entfernung abchecken, ob nicht etwa die hübsche Andrea im Verkaufsraum war. Ich blamiere mich halt nicht gern.

Nur zwei Worte

Unruhiger Schlaf. Klingelnder Wecker. Erschrockenes Erwachen. Grauer Morgen. Schläfriges Aufstehen. Schmerzender Kopf. Schwankender Gang. Kühles Badezimmer. Ausgiebiges Zähneputzen. Fester Stuhlgang. Heiße Dusche. Kratziges Handtuch. Mühsames Ankleiden. Nervige Essenszubereitung. Dünner Kaffee. Altes Brötchen. Stunpfes Messer. Harte Butter. Schmackhafte Marmelade. Aktentasche packen. Jackett anziehen. Wohnung verlassen. Tür abschließen. Schnell rennen. Bus verpassen. Genervt warten. Bus besteigen. Fast einschlafen. Rasch aussteigen. Büro aufsuchen. Akten sichten. Computer bedienen. Mittagspause ersehnen. Schnell essen. Eine Rauchen. Kollegen volltexten. Büro betreten. Daten eintippen. Danach langweilen. Tasche schnappen. Feierabend abwarten. Bushaltestelle erlaufen. Bus besteigen. Fast einschlafen. Schnell aussteigen. Wohnung aufschließen. Aktentasche wegschleudern. Wohnung verlassen. Kneipe aufsuchen. Bockbier trinken. Schnitzel essen. Schnaps kippen. Zeche bezahlen. Heimwärts wanken. Schlüsselloch verfehlen. Fast hinfallen. Mühevoll ausziehen. Bett erklimmen. Langes Wälzen. Unruhiger Schlaf. Klingelnder Wecker. Erschrockenes Erwachen. Grauer Morgen. Schläfriges Aufstehen. Schmerzender Kopf ……

Eine kleine Lüge

Kommissarin Frauke Wiegand stand mit je einer Tasse in den Händen vor dem Wohnzimmertisch, und blickte ihren Werner vorwurfsvoll an: „Du weißt doch ganz genau, dass wir jetzt Kaffee trinken wollen. Wieso belegst du dann den kompletten Tisch mit Büchern? Und seit wann interessierst du dich für Medizin?“ Kommissar Riemer legte die Bücher übereinander und hob den Stapel neben sich auf das Sofa: „Wusstest du, dass erst in diesem Jahr die Tubarius-Drüse von niederländischen Forschern entdeckt worden ist? Das ist ein bisher völlig unbekanntes, vier Zentimeter langes Organ im menschlichen Körper“. Frauke stellte die Tassen auf die freigeräumte Stelle des Tisches: „Versuchst du mich abzulenken? Warum liest du diese medizinischen Dinger da wirklich?“ Riemer druckste deutlich bemerkbar herum:

„Weil … nun ja, weil ich zurzeit einen Fall mit einem Arzt habe. Da wollte ich mich bei den Verhören nicht mit Fachausdrücken übertölpeln lassen“. Frauke machte sich auf den Weg in die Küche, um die Kaffeekanne zu holen: „Mit einem Arzt? Davon weiß ich ja gar nichts. Das hätte sich doch garantiert in unserer Dienststelle herumgesprochen“. Werner Riemer tat so, als hätte er das nicht gehört: „Soll ich kommen, und den Kuchen aufschneiden?“ Seine Frauke rief zurück: „Komm nur! Du schneidest ja sonst auch immer auf“.

„Sie hatten die absolut richtige Idee, als Sie sich entschlossen haben, eine zweite Meinung einzuholen“. Der Arzt schlug Riemers Patientenakte auf: „Hier, schauen Sie! Wir haben ihre Blutprobe zweimal unabhängig voneinander testen lassen. Alles normal. Von Blutkrebs kann hier in keinem Fall die Rede sein, nur Ihre Blutfettwerte, also Cholesterin und Triglyzeride, die sind etwas hoch. Schon mal was von Abnehmen gehört?“ Der Kommissar grinste: „Ja. Meine Lebensgefährtin nimmt beim Stricken immer Maschen ab. Aber trotzdem vielen Dank für Ihre Mühe! Ich werde mir jetzt gleich mal meinen Hausarzt an die dicke Brust nehmen!“

Irene Wolter, die Sprechstundenhilfe, machte große Augen: „Sie sind aber schnell. Ich habe doch gerade mal vor drei Minuten die Polizei verständigt. Können Sie fliegen? Der Doktor liegt im Sprechzimmer. Irgendwann musste das ja mal so kommen. Ich habe nichts angerührt“. Der Kommissar schob seinen Kopf etwas nach vorn: „Wie meinen Sie das?“ Die Arzthelferin entgegnete eifrig: „Das weiß ich aus dem Fernsehen. Eine Leiche darf nicht bewegt werden“. Riemer holte tief Luft: „Ich meine doch, dass Sie gesagt haben, es würde irgendwann mal so kommen“. Die Frau stützte sich auf einer Stuhllehne ab: „Weil er sich öfters mit falschen Diagnosen ein paar Feinde geschaffen hat. Mir hat er gestern gekündigt, weil ich ihn wiederholt darauf aufmerksam gemacht habe. Ich bin nur noch hier, weil ich bemüht bin die Kündigungsfrist einzuhalten. Er hat auch Laborleistungen abgerechnet, obwohl er nie etwas an ein Labor geschickt hat. Ich habe bisher nichts gesagt, weil ich meinen Arbeitsplatz nicht verlieren wollte. Aber gestern habe ich alles an die Ärztekammer geschrieben“. Riemer murmelte etwas in seinen nicht vorhandenen Bart, und betrat vorsichtig das Sprechzimmer. Der Doktor lag neben seinem Schreibtisch auf dem Rücken. Rings um ihn herum hatte der Teppich das Blut aufgesaugt, das aus seiner Brustwunde gesickert war. Kommissar Riemer zog sein Smartphon aus der Tasche, und verständigte die Spurensicherung.

„Sage mal, bist du Hellseher?“ Frauke Wiegand hatte beide Arme in die Hüften gestemmt und blickte ihren Werner fragend an: „Du beschäftigst dich mit medizinischen Unterlagen, und zwei Tage später ist dein Hausarzt tot. Da steckt doch mehr dahinter. Hat das vielleicht mit deinem Aufenthalt im Schlaflabor zu tun? Also fang an zu beichten, aber plötzlich!“ Werner Riemer antwortete etwas gereizt: „In das Schlaflabor hat mich damals eine Internistin geschickt, zu der mich der Tote überwiesen hatte. Das hat nun wirklich nichts miteinander zu tun. Und die Medizinbücher habe ich gewälzt, weil der Verblichene eine Fehldiagnose gestellt hat. So, und nun will ich nichts mehr davon hören!“ Frauke setzte sich neben ihn: „Das könnte dir so passen. Also gib dir keine Mühe, ich erfahre ja doch alles morgen in der Dienststelle“. Riemer seufzte: „Männer und Frauen sollten eben nicht zusammenarbeiten“.

Als der Kommissar eintrat, drehte sich Dr. Mertens, die wohl schlankste Gerichtsmedizinerin der Welt, mit genervtem Blick um: „Ich habe Ihnen schon tausendmal gesagt, es geht auch nicht schneller, wenn Sie mit Ihren dicken Füßen in meine Pathologie getrampelt kommen. Ich hätte Sie nachher schon angerufen“. Der Kommissar schien an diesem Tag beleidigungsresistent zu sein, und überhörte beflissentlich die spitze Bemerkung über seine körperliche Verfassung: „Aber wenn ich nun schon mal hier bin, dann können Sie mir doch auch gleich etwas über den Todeszeitpunkt und über die Tatwaffe verraten! Bitte, bitte! Ich habe doch bald Geburtstag“. Die Frau drehte ihren superschlanken Körper wieder zurück zu dem Toten: „Na dann herzlichen Glückwunsch! Rechnen Sie übrigens nach Jahren oder nach Kilos?“ Auch das überhörte der Kommissar: „Und wie steht es nun mit den Fakten?“ Etwas brummig, weil ihre Provokationen nicht gezündet hatten, antwortete die Pathologin: „Der Todeszeitpunkt liegt am gestrigen Tag zwischen sechs und neun Uhr morgens. Zur Tatwaffe kann ich nur vage Angaben machen. Es handelt sich um einen dünnen, länglichen Gegenstand, der dem Opfer mit großer Kraft in die Brust gestoßen wurde. Zufrieden?“ Riemer drehte sich zur Tür: „Das werde ich erst sein, wenn ich den Täter geschnappt habe“.

„Schatz, möchtest du zum Abendbrot lieber belegte Brote, oder das Aufgewärmte von heut Mittag? Werner? Hallo! Bist du noch da?“ Frauke Wiegand kam ungehalten ins Wohnzimmer: „Du könntest ruhig mal antworten! Oder sprichst du neuerdings nicht mehr mit mir?“ Kommissar Riemer schreckte aus seinen Gedanken hoch: „Entschuldige bitte! Das ist nur wegen dieses blöden Falles. Ich weiß nicht, wo ich ansetzen soll. Der Kerl hat so viele Fehldiagnosen gestellt, dass so gut wie jeder seiner Patienten einen Grund hatte, ihm den Tod zu wünschen. Ich eingeschlossen“. Frauke setzte sich neben ihn und strich ihm über’s Haar: „Heute ist Sonntag. Morgen kannst du dann wieder über den Fall nachdenken! Sprich doch nochmal mit dieser Sprechstundenhilfe. Und jetzt sagst du mir endlich, was du zum Abendbrot magst!“

Vor der Arztpraxis wies ein Schild darauf hin, dass die Einrichtung wegen eines Todesfalles bis auf Weiteres geschlossen sei. Also fuhr Kommissar Riemer zur Wohnung von Irene Wolter. Die Frau schien zunächst überrascht zu sein, als sie dem Kommissar die Tür öffnete. Doch dann bat sie ihn freundlich herein, und bot ihm auf der Wohnzimmercouch Platz an: „Möchten Sie einen Kaffee?“ Riemer lehnte ab: „Ich habe nur noch eine oder zwei Fragen. Hat Ihr Chef irgendwelche Drohbriefe erhalten, oder hat ihn in der Praxis mal ein Patient direkt bedroht?“ Die Arzthelferin verneinte: „Eigentlich haben alle unseren Doktor gemocht. Sie doch auch, oder?“ Der Kommissar stand auf: „Das steht hier nicht zur Debatte. Aber sagen Sie mal, was sind denn das für Urkunden und Medaillen dort an der Wand?“ Die Frau zierte sich etwas: „Nun ja, ich bin in meiner Freizeit Bogenschützin. Aber zu Auszeichnungen über die Kreisklasse hinaus habe ich es nie gebracht“. Riemer zog die Stirn kraus. Sollte es so einfach sein? Ein Pfeil ist nun mal ein dünner, länglicher Gegenstand, der mit großer Kraft in einen Körper eindringen kann. Aber die beste Theorie taugt nichts ohne Beweise. Um das Gespräch nicht abreißen zu lassen, fragte Werner Riemer ganz beiläufig: „Wo kann man denn eigentlich so einen Sportbogen kaufen?“ Irene Wolter hob die Schultern: „Ach Gott, halt in dem Sportartikelladen in der Johann-Sebastian-Bach-Straße. Da habe ich damals meinen ersten Bogen und meine ersten Pfeile gekauft. Und aus alter Gewohnheit kaufe ich immer noch dort“. Mehr Fragen fielen dem Kommissar im Moment nicht ein. Also verabschiedete er sich höflich, und fuhr zur Dienststelle.

Frauke Wiegand klopfte ungeduldig an die Badezimmertür: „Wie lange brauchst du denn noch? Wir kommen bestimmt zu spät zum Dienst. Oder wir müssen das Frühstück ausfallen lassen“. Kommissar Riemer antwortete von drinnen: „Du wolltest doch, dass ich mir endlich die Fußnägel schneide. Von wegen kratzig und so. Aber ich bin schon beim rechten Bein“. Frauke wandte sich grummelnd ab: „Dann werde ich wohl erst mal den Kaffee aufsetzen. Bei dem Kerl kann es ja noch eine ganze Weile dauern“. Doch kaum war sie in der Küche angekommen, als Werner Riemer schon hinter ihr stand: „Fertig!“ Die Kommissarin drehte sich verwundert um: „Was, schon fertig? Aber du warst doch erst beim rechten Bein“. „Nicht ‚erst‘ sondern ‚schon‘. Ich fange immer mit dem linken Fuß an. Du nicht?“ Frauke schüttelte den Kopf: „Ich nehme immer zuerst den rechten Fuß. Schon seit meiner Kindheit. Der Mensch ist halt ein Gewohnheitstier“. Riemer nickte: „Stimmt. Und … Halt! Na klar! Ich habe endlich einen Ansatzpunkt für meinen Fall gefunden. Schatz, du bist ein Genie. Aber du musst trotzdem alleine zur Dienststelle fahren. Ich habe noch eine wichtige Erledigung zu machen“. Frauke Wiegand war leicht entsetzt: „Aber wir wollten doch zusammen mit deinem Auto fahren. Hast du vergessen, dass mein Wagen wegen der blöden Rückrufaktion in der Werkstatt ist?“ Werner Riemer kratzte sich mit verkniffenem Gesicht am Hinterkopf: „Na gut, dann nimmst du eben meine Karre, und ich rufe mir ein Taxi“.

Der Kommissar war wegen eines früheren Falles schon einmal in dem Laden gewesen. Er musste noch etwas warten, bis der Ladenbesitzer die Eingangstür aufschloss. Wie damals begrüßte ihn ein sogenannter singender Fisch am Eingang, und nach wie vor gab es von Schlauchboten, über Sportpistolen, bis hin zu Einmannzelten alles, was das Freizeit-Herz begehrte. Der Ladenbesitzer schien lange keinen Umsatz mehr gemacht zu haben, denn er strahlte den Kommissar überfreundlich an. Seine Freude wurde aber sichtlich gedämpft, als Riemer seinen Dienstausweis vorzeigte, und erklärte, dass er nur ein paar Fragen hätte. „Kennen Sie eine Irene Wolter? Die müsste bei Ihnen Stammkundin sein“. Der Mann klimperte ein wenig auf seinem Computer herum: „Ja, die hat hier schon zwei Sportbögen gekauft, und sie holt sich auch regelmäßig Pfeile“. Der Kommissar nickte wissend: „Kauft sie die Dinger einzeln, oder immer gleich mehrere?“ Der Verkäufer befragte erneut seinen Computer: „Bisher hat sie dreimal einen 12er Pack Pfeile aus Holz, 29 Zoll mit Stahlspitze gekauft. Insgesamt also 36 Pfeile. Kann ich sonst noch was für die Polizei tun?“ Riemer schüttelte den Kopf, bedankte sich, und bestieg das wartende Taxi.

Hauptkommissar Hohlbach zog spöttisch seine Mundwinkel nach unten: „Riemer, Riemer, was Sie sich da wieder einmal ausgedacht haben. Wir bekommen doch nie einen richterlichen Beschluss, um ein paar Pfeile durchzuzählen. Außerdem kann so ein Ding schnell mal im Gelände verschwinden, und wird dann nie wieder gefunden. Das wäre doch niemals ein Beweis“. Kommissar Riemer atmete hörbar aus: „Chef, Sie haben wieder nichts begriffen. Ich will doch die Frau nur nervös machen. Der Todespfeil steckte nicht mehr in der Leiche. Ergo muss sie ihn noch irgendwo haben. Und mit der Durchsuchung können wir die Frau vielleicht aufscheuchen. Wir beschatten sie rund um die Uhr, und möglicherweise führt sie uns dann zu dem Versteck“. Hohlbach setzte sich kopfschüttelnd: „Nein, Riemer, nein. Ein ‚vielleicht‘ oder ‚möglicherweise‘ reichen nicht, um Personal dafür zu binden. Sie müssen sich schon etwas Besseres einfallen lassen!“

Kommissar Riemer betrat abgespannt seine Wohnung, warf wie üblich die Schlüssel auf das Tischchen der Flurgeraderobe, und hängte ohne hinzusehen seinen Mantel an den Garderobenhaken. Das widerspenstige Kleidungsstück war aber nicht damit einverstanden, und landete auf dem Boden. Der Kommissar grunzte: „Glaubst du, ich habe Lust mich mit meinem Prachtbauch nach dir zu bücken? Bleib mal schön liegen!“ Dann betrat er das Wohnzimmer und erschrak: „Frauke, was machst du denn hier? Wollten wir uns heute bei mir treffen? Ich habe gedacht, ich sollte eigentlich nachher zu dir kommen. Oder?“ Die Angesprochene antwortete leicht gereizt: „Vielleicht habe ich dir auch nur den Wagen zurückgebracht? Schon vergessen? Ich habe zurzeit kein Auto, weil mein Wagen wegen dieser Rückrufaktion noch in der Werkstatt ist. Und wir könnten vielleicht morgen gemeinsam mit deinem Gefährt zur Dienststelle kutschieren, oder? Überfordert das den Herrn Kommissario?“ Riemer ließ sich aufs Sofa plumpsen, welches das Gewicht des Kommissars mit deutlichem Stöhnen kommentierte. „Komm her Schatz! Setz dich auf meinen Schoß, sei wieder gut und gib mir einen Kuss. Den kann ich heute besonders gut gebrauchen. Die Affenfresse Hohlbach hat mich wieder einmal rund gemacht“. Kommissarin Wiegand setzte sich schmunzelnd auf den Schoß von ihrem Werner: „Der kann dich gar nicht rund gemacht haben, weil du immer schon ausgesprochen rund gewesen bist. Also, wir fahren morgen zusammen zur Arbeit. Am Nachmittag bekomme ich dann sowieso mein Auto …“ Sie konnte den Satz nicht beenden, weil Riemer aufsprang. Um ein Haar wäre Frauke auf dem Boden gelandet. Der Kommissar schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn: „Das ist es! Mensch, das ist es! Schatz, du bist ein Genie!“ Das Gesicht der Kommissarin drückte Unverständnis aus: „Das hast du nun schon zum zweiten Mal gesagt. Langsam glaube ich es selber“.

Der Besitzer des Sportgeschäftes war zunächst nicht so recht einverstanden: „Aber Herr Kommissar, das wäre doch eine Lüge. Und ich habe auch noch nie im Leben gehört, dass es Rückrufaktionen für schadhafte Sportpfeile gibt. Das klappt doch nie und nimmer“. Riemer grinste: „Im Gegenteil, mein Freund, im Gegenteil. Das ist die beste Gelegenheit unerwünschte Pfeile auf einfache Art und Weise loszuwerden. Sie haben doch bestimmt Briefpapier mit Ihrem offiziellen Logo? Also schreiben Sie!“

Hauptkommissar Hohlbach thronte wie üblich in Feldherrenpose hinter seinem antiken Schreibtisch: „Also Riemer, für die Lüge mit dem Rückruf werde ich mir später noch etwas einfallen lassen. Aber dass Sie die Kollegen vom Kriminallabor in das Hinterzimmer eines Sportgeschäftes verfrachtet haben, ist nahezu unverzeihlich. Das ist eine eindeutige Kompetenzüberschreitung. Ich warte also auf Ihren schriftlichen Bericht. Übrigens, was war eigentlich das Motiv dieser Frau?“ Werner Riemer antwortete nicht gerade freundlich: „Also, die Sprechstundenhilfe war dafür verantwortlich, Blut- und Urinproben sowie Abstriche zu etikettieren und an die entsprechenden Labore zu verschicken. Sie hat aber alles im Müll entsorgt und mit gefälschten Briefbögen Laborrechnungen dafür fingiert, auf denen ihre eigene Kontonummer aufgedruckt war. Den tödlichen Pfeil hatte sie zunächst versteckt, hat ihn aber für die angebliche Rückrufaktion wieder hervorgeholt und freiwillig in das Sportgeschäft getragen. Unsere Kriminaltechniker konnten an Ort und Stelle die DNA des Toten an einem der Pfeile nachweisen, und ich konnte daraufhin die Verhaftung vornehmen. Und jetzt gehe ich nach Hause, auch wenn es noch zehn Minuten bis zum Feierabend sind. Sie können mich ja wegen schlechter Dienstauffassung verhaften! Aber ich denke mal, unsere beider Lieblingskriminalistin Frauke Wiegand wird mich dann im Rahmen einer Rückrufaktion gleich wieder aus dem Knast holen“.

Die Straße

„Entschuldigen Sie bitte! Hallo! Hallo Sie! Entschuldigung, sind Sie von da?“

„Nein, ich bin von hier“.

„Das meine ich doch. Ist doch das gleiche“.

„Nein. Ich bin nur hier. Wäre ich da, dann wäre ich nämlich dort“.

„Entschuldigung, aber ich wollte doch nur wissen, ob Sie sich hier auskennen“.

„Hier und da schon. Warum?“

„Weil ich Sie nach einer Straße fragen wollte“.

„Wieso? Wollen Sie eine kaufen?“

„Äh … nein, ich wollte nur fragen, ob Sie wissen, wo die Heinrich-Beck-Straße liegt“.

„Weiß ich“.

„Ja gut, und wo befindet sich die nun?“

„Da, wo man sie angelegt hat“.

„Wollen Sie mich ärgern?“

„Warum? Ich kenne Sie doch gar nicht“.

„Können Sie mir also bitte sagen, wie ich da hinkomme? Und kommen Sie mir bitte nicht wieder so blöd, und antworten so etwas, wie: »Ich kann das sagen«, sondern sagen Sie es einfach!“

„Sind Sie Choleriker?“

„Nein, zum Teufel, ich will lediglich wissen, wie ich zur Heinrich-Beck-Straße kommen kann!“

„Am besten laufen“.

„Mensch, dass weiß ich auch. Aber wo lang muss ich denn laufen?“

„Also erst geradeaus, dann links … Warum wollen Sie eigentlich dorthin?“

„Das geht Sie ja wohl kaum was an!“

„Na gut. Also erst geradeaus, dann links … aber wenn ich Ihnen schon den Weg beschreiben muss, dann könnten Sie mir doch einfach mal sagen, was Sie dort wollen!“

„Ich will einen Freund besuchen“.

„OK. Also erst geradeaus, dann links … wie heißt denn Ihr Freund?“

„Der heißt Spindler. Zufrieden?“

„Gut. Also erst geradeaus, dann links … heißt Ihr Freund vielleicht Max Spindler? Ich kannte mal einen Max Spindler. Der hat in unserer Abteilung gearbeitet. Der Chef hat immer gesagt, Max wäre das beste Pferd im Stall, weil er den meisten Mist gemacht hat“.

„Mein Freund heißt aber Karl-Heinz! Würden Sie mir bitte endlich den Weg dorthin verraten!“

„Also erst geradeaus, dann links … wo kommen Sie eigentlich her?“

„Vom Bahnhof“.

„Ach was! Sind Sie dort geboren?“

„Was? Quatsch! Ich bin von Saalfeld mit dem Zug gekommen. Bitte sagen Sie mir endlich, wo es zur Heinrich-Beck-Straße geht!“

„Also erst geradeaus, dann links … was wollen Sie eigentlich bei Herrn Spindler?“

„Mal abgesehen von der Tatsache, dass Sie das nun wirklich nichts angeht, braucht man wohl keinen besonderen Grund, um seinen Freund zu besuchen, oder?“

„Keine Ahnung, ich habe keine Freunde. Noch nie gehabt. Also erst …“

„Gerade aus, dann links. Das weiß ich schon“.

„Ja wenn Sie es schon wissen, warum fragen Sie dann?“

„Ich habe doch nur wiederholt, was Sie schon dreimal gesagt haben. Am liebsten würde ich jetzt jemand anderen fragen, aber es ist ja keiner hier außer Ihnen. Bitte, bitte, guter Mann, sagen Sie mir endlich welchen Weg ich nehmen muss!“

„Also erst geradeaus, dann links …“

„Ja, zum Kuckuck, und was dann?“

„Dann fragen Sie am besten noch mal jemanden!“

Nervensäge Erna

Ich müsste mal wieder Urlaub machen. Und zwar endlich mal einen richtig langen Urlaub. Die letzte Zeit war etwas stressig gewesen. Ich hatte jede Menge Aufträge abgearbeitet und mein Bankkonto war deshalb zum Glück einigermaßen gefüllt. Ich bin übrigens Privatdetektiv. Ein Privatdetektiv und ein Tollpatsch. Und ich kleckere meistens beim Essen. Und ich bin vergesslich. Ein tollpatschiger, vergesslicher, kleckernder Privatdetektiv. Alles wahnsinnig gute Voraussetzungen zum Erzielen beruflicher Erfolge. Übrigens leide ich armer Kerl auch