Schön kurz - Detlef Brettschneider - E-Book

Schön kurz E-Book

Detlef Brettschneider

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Beschreibung

Theoretisch könnte man dieses Buch unter das Motto stellen: "Er kann es einfach nicht lassen". Der Autor wollte nämlich das Schreiben von Kurzgeschichten an sich schon längst an den sprichwörtlichen Nagel gehängt haben, hätte dann aber nichts mehr zum Protzen im Bekanntenkreis vorweisen können. Also stolpert er auch in dieser Ausgabe wieder quer durch alle Genres. Neben den Ermittlungen eines dicken Kriminalkommissars findet der Leser auch ein Märchen, und den Erlebnissen eines Privatdetektivs steht beispielsweise eine Geschichte von Aliens gegenüber. Dementsprechend hofft der Verfasser, dass auch diesmal wieder für jeden Geschmack etwas Passendes in diesem Machwerk zu finden ist.

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Seitenzahl: 323

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Contents

Einleitung

Ein echtes Wunder

Der Kakadu

Das Märchen

Die Akte Lloyd

Die Tochter des Königs

Die Puppe

Verschwörungstheorie

Eine Leiche im Schlaflabor

Dinge mit Seele

Der Scheintote

3D-Echsen

Der Quizzer

Die Anti-Zeitreise

Arbeitslos

Bier

Tod im Krematorium

Rockys Femtosekunden

Vater und Sohn

Arnulf

Der Nachschlüssel

Ein guter Ehemann

Mein Fast-Herzinfarkt

Bennos Forschung

Faustino Gran Reserva

In der elften Dimension

Ein Show-Unfall

Gummibärchen

Ach Werner

Björalfs Schicksal

Geldstrafe

Drei Wünsche

Robert

Der Schmetterlingseffekt

Die große Flasche

Hausaufgaben

Vergesslichkeit

4 ist 6 weniger als 2

Der Linkshänder

Leon und Verona

Der 31. März

Der Kobold

Abgefärbt

Über den Autor

Einleitung

Eigentlich wollte ich diesem Buch gar kein Vorwort voranstellen. Dann fiel mir jedoch auf, dass ich in meinen bisherigen Büchern zwar die Worte „Prolog“ beziehungsweise „Vorwort“ verwendet habe, aber noch nie den Begriff „Einleitung“. Das wollte ich ändern. Daraufhin habe ich mich dann aber gefragt, was dieses Wort eigentlich bedeutet. Deshalb hier ein kleiner Auszug aus dem Internetlexikon „Wikipedia“:

einführendes Kapitel eines Textes

Beginn einer Rede

Einbringung von flüssigen oder festen Stoffen in ein Gewässer

das erste Stadium der Narkose

Geburtseinleitung, also die künstliche Herbeiführung einer Geburt

Dementsprechend leite ich nun hiermit die Geburt meines neuen Buches ein. Und wie bei allen anderen vorangegangenen wünsche ich mir, dass Ihnen, werter Leser, werte Leserin, zumindest eine meiner Kurzgeschichten besonders gut gefallen möge!

P.S.

Das ist nun schon das zweite Buch, das ich während der Corona-Pandemie geschrieben habe, um in der unfreiwilligen Freizeit wenigstens etwas Produktives fabriziert zu haben. Man möge mir verzeihen!

Übereinstimmungen bzw. Ähnlichkeiten von Namen, Orten, Geschehnissen oder sonstigen Dingen sind kaum beabsichtigt, und entsprechen keinesfalls den Tatsachen.

Ein echtes Wunder

Nun, ich bin schon etwas älter. Das erkennt man unter anderem auch deswegen, weil ich zu den wenigen Leuten gehöre, die sich bei bestimmten Fernsehserien noch darüber aufregen können, dass die Schauspieler keine Gage, sondern Finderlohn für die richtige Betonung bekommen. Ein weiteres Indiz für mein Alter ist die Tatsache, dass ich bei dem Wort „Weltwunder“ nicht an die Wunder der Neuzeit denke, sondern ausschließlich an die „Sieben Weltwunder der Antike“. Ich bin mir fast sicher, Sie haben auch schon etwas von diesen vermeintlich wundersamen Dingen gehört, denn während meiner Schulzeit waren diese sieben Wunder beispielsweise ein Thema im Geschichtsunterricht.

Betrachten wir doch mal als erstes die Pyramiden von Gizeh. Die größte unter ihnen, die Cheops-Pyramide, ist mutmaßlich das Grabmal von Pharao Cheops. Man hat in ihr drei Grabkammern gefunden: Die Königinnenkammer, die Königskammer und die Kellerkammer. Aber alle drei Kammern … Trommelwirbel … sind leer. Das ist dasselbe, als wenn Sie sich eine Flasche Limonade kaufen und nach dem Öffnen feststellen: Nix drin! Ich persönlich halte das nicht unbedingt für ein Wunder.

Oder nehmen wir die Zeus-Statue des Phidias. Sie bestand laut Überlieferung aus Elfenbein, Ebenholz und Gold, war mindestens zwölf Meter hoch und wurde vor weit mehr als zweitausend Jahren in der griechischen Stadt Olympia aufgestellt. Hat schon mal jemand diese Statue gesehen? Nein, denn angeblich ist sie verbrannt. Dass es sie tatsächlich gegeben haben soll, wissen wir nur deshalb, weil seit knapp dreißig Generationen immer der jeweilige Vater seinen damaligen Kindern von dem Ding erzählte. Und wer schon jemals „Stille Post“ gespielt hat, der kann sicher den Wahrheitsgehalt dieser Information erahnen.

Als nächstes werfen wir mal einen Blick auf die Hängenden Gärten der Semiramis von Babylon. Die Existenz dieser Gärten wird selbst von Historikern immer wieder in Frage gestellt. Da bisher keinerlei Beweis dafür gefunden wurde, behaupten manche Leute, es hätte sie zwar gegeben, aber nicht in Babylon, sondern an einer ganz anderen, unbekannten Stelle. Mal ehrlich, wenn einer zu Ihnen sagen würde, er besäße ein riesiges Vermögen, wisse aber nicht, wo es sich befände, dem würden Sie bestimmt auch nicht unbedingt glauben wollen.

Wenden wir uns nun dem Leuchtturm von Pharos vor Alexandria zu. Forscher haben herausgefunden, dass zu antiken Zeiten in der Nacht niemals Schiffe gefahren sind. Wozu dann einen Leuchtturm bauen? Außerdem war damals Brennmaterial sehr rar. Womit also hat man den Turm befeuert? Nun, zum Glück braucht man diese Fragen nicht mehr zu beantworten, denn praktischerweise wurde der Turm von mehreren Erdbeben vernichtet. Sagt man.

Damit kommen wir nun zum Mausoleum in Halikarnassos. Maussolos der Zweite, ein mächtiger Statthalter aus Halikarnassos, hat das Monument als seine letzte Ruhestätte errichten lassen. Es soll eine riesige Säulenhalle gewesen sein. Natürlich wurde auch dieses Gebäude bei einem Erdbeben vernichtet. Wen wunderts. Als Beweis dient heute lediglich eine viereckige Baugrube.

Womit wir bei dem Artemis-Tempel in Ephesos angelangt wären. Von dem steht nur noch eine einzige Säule. Dieser klägliche Pfeiler ist angeblich der Beleg für die ehemalige Existenz des größten Tempels der Welt mit rund achttausend Quadratmetern Grundfläche. Nun ja, wenn mir einer einen Knopf auf den Tisch legt und behauptet, das wäre der unwiderlegbare Beweis dafür, dass er eine Textilfabrik besitzen würde, dann wäre ich zumindest ein kleines Stück weit skeptisch.

Schauen wir zum Schluss noch auf den Koloss von Rhodos. Nach einer langwierigen Belagerung der griechischen Stadt Rhodos, welche für die Bewohner gut ausgegangen war, wollte man dem Sonnengott Helios danken und baute ihm zu Ehren über zwölf Jahre hinweg eine dreißig Meter hohe Bronze-Statue. Auch dieses Standbild wurde, oh Wunder, von einem Erdbeben zerstört. Dass anschließend die Bronzeteile geplündert wurden, ist noch das Glaubhafteste an dieser Geschichte.

Nun könnte man ja sagen, ich sei ein unverbesserlicher Skeptiker, der nicht an Wunder glaubt. Dem wäre auch so, wenn mir nicht selbst vor Kurzem ein kleines Wunder untergekommen wäre. Ich glaube erwähnt zu haben, dass ich schon etwas älter bin. Logischerweise habe ich auch bereits einige Geburtstage über mich ergehen lassen müssen. Das wiederum hat viele Bekannte und Freunde vor ein Problem gestellt. Nämlich: Was schenkt man einem, dem man doch im Laufe seines Lebens schon alles geschenkt hat? Und so kam es, dass ich an meinem vergangenen Geburtstag eine elektronische Gabel geschenkt bekam. Man höre und staune, eine digitale Besteckgabel! Dieses lustige Gerät beherbergt in seinem etwas dickeren Handgriff einige Sensoren, sowie irgendwelche andere elektrische Bauteile, die tatsächlich überwachen, ob man zu schnell isst. Wenn man sich richtig schön träge die Nahrung zum Munde gabelt, dann leuchtet am Griffende ein kleines, grünes Lämpchen. Das wird aber sofort rot, falls man die Schlagzahl leicht erhöht. Außerdem meldet sich das hinterhältige Ding auch noch währenddessen mit einem nervigen Summton. Aber jetzt kommts! Man kann die kleine Leiterplatte mit der kompletten Elektronik hinten aus dem Griff herausziehen. Nachdem ich dann den ganzen digitalen Mist weggeworfen hatte, konnte ich dieses Hightech-Gerät wie eine völlig normale Gabel verwenden. Und das, ja genau das, war für mich wirklich ein echtes Wunder.

Der Kakadu

Es gibt Leute, die ihren Körper hervorragend beherrschen. Menschen, die wegen ihrer außergewöhnlichen Geschicklichkeit bewundert werden. Ich gehöre zu den anderen. Wenn ich etwas in die Hand nehme, geht es leider bisweilen kaputt. Oder wie ich es als Kind damals ausdrückte: Manchmal fast immer. Ich kann allein durch normales Anheben einer Kaffeekanne deren Henkel abbrechen. Das bringt sonst kein anderer fertig. Trotzdem bewundert mich niemand deswegen. Dazu kommt auch noch, dass ich beim Essen hervorragend kleckern kann. Außerdem hebe ich mich von allen anderen Menschen dadurch ab, dass ich in der Küche einen Teppich auf dem Fußboden zu liegen habe. Einen geschenkten Flokati. Nur geistig Umnachtete legen sich einen Flokati in die Küche. Wenn ich Ihnen nun noch erzähle, dass ich gern Bourbon trinke, dann kennen Sie fast meine vollständige Lebensgeschichte. Ich sage „fast“, weil ich noch nichts über meinen Beruf erwähnt habe. Da ich wegen meiner Ungeschicklichkeit von Arbeitgebern nicht besonders gern gesehen werde, musste ich mich zwangsläufig selbständig machen. Als Privatdetektiv. Und ich gehe gern barfuß. Mehr brauchen Sie nun wirklich nicht über mich zu wissen.

Es war Mittwoch. Der Mittwoch, an dem ich eine unangenehme Sache regeln wollte. Eine Frau hatte mich beauftragt ihren Ehegatten zu beschatten, weil dieser angeblich fremd gehen würde. Nach acht Tagen und einer Unzahl von Fotos, teilte mir die Dame dann aber mit, dass auf den Bildern der Mann immer nur in der Umarmung mit ihr selbst zu sehen sei. Diese durchgeknallte Tante hatte bloß ihr Sexualleben durch den Umstand aufpeppen wollen, dass sie ein Fremder bei der Sache beobachtet. Weil ich aber somit angeblich keinerlei Beweise geliefert hätte, dass ihr Mann eine außereheliche Beziehung unterhalten würde, wollte mich das Miststück nicht bezahlen. Ich beabsichtigte daher an diesem speziellen Mittwoch, ihr ein letztes Mal ins Gewissen zu reden. Ansonsten würde ich die Angelegenheit einem Richter übergeben. Auch wenn ich in der Vergangenheit schon einige komplizierte Fälle gelöst habe, so muss ich doch zugeben, derartige Probleme mag ich überhaupt nicht. Und hätte ich gewusst, was dabei auf mich zukommt, dann wäre ich schon mal gar nicht zu der Lady gepilgert.

„So, so“, sagte der Anzugträger vor mir, „Sie geben also vor, Privatdetektiv zu sein“. Er war von auffallend kleiner Statur und es schmeckte mir nicht, dass er an meiner Berufung Zweifel äußerte. Um ihn zu provozieren, entgegnete ich: „Und Sie geben also vor, Polizist zu sein. Ich dachte, bei der Polizei muss man eine bestimmte Körpergröße haben“. Er überlegte nicht lange und antwortete: „Und ich dachte, als Privatdetektiv besitzt man etwas Intelligenz und eine Spur von geistiger Reife. Wir haben uns vielleicht beide getäuscht“. Touché! Der Kerl war gar nicht so blöd wie ich aussehe. Er lächelte überlegen und lehnte sich genüsslich zurück: „Vielleicht täuschen Sie sich ja ebenfalls, was die Tat angeht“. Der Mensch grinste wie das sprichwörtliche Honigkuchenpferd. Leicht angepisst entgegnete ich: „War das jetzt eine Frage, oder halten Sie Selbstgespräche?“ Seine gute Laune schien einfach nicht zu verfliegen. Lächelnd meinte er: „Sie hatten die Möglichkeit, die entsprechende Waffe und ein triftiges Motiv. Schließlich hat Ihnen die Frau Geld geschuldet!“ Langsam wurde ich ernsthaft ärgerlich: „Was soll denn das nun wieder bedeuten? Sie selbst hätten doch auch die Möglichkeit, jemanden zu erschießen. Behaupte ich vielleicht deswegen, dass Sie ein Mörder sind? Und was das Motiv betrifft, dürfte selbst Ihnen klar sein, dass kein Mensch einer Frau wegen knapp zweitausend Mäusen zwölf Kugeln in den Bauch jagt. Glauben Sie mir, das war ein Verbrechen aus Leidenschaft, und nichts anderes!“ Er begann noch breiter zu grinsen: „Vielleicht haben genau Sie, und nur Sie, diese Frau leidenschaftlich geliebt? Weiß man‘s? Außerdem können Sie nicht bestreiten, dass man Sie am Tatort mit blutigen Händen vorgefunden hat“. Ich unterbrach ihn gereizt: „Um erste Hilfe zu leisten, Mensch!“ Er fuhr unbeirrt fort: „Und wie, wenn ich fragen darf, sind Sie in die Wohnung gelangt?“ Ich versuchte meinem Gesicht einen spöttischen Ausdruck zu verleihen und beugte mich zu ihm vor: „Ich bin durch die Wasserleitung gekrochen. Oder wie kommt man sonst in eine Wohnung?“ Er beugte sich mir ebenfalls entgegen: „Ich würde durch die Tür gehen“. „Sehen Sie, genau das habe ich gemacht“. Ich lehnte mich triumphierend zurück: „Die Tür war nämlich nicht abgeschlossen und hatte eine Klinke. Da drückt man drauf, die Tür geht auf, und man kann hineingehen“. Mein Widersacher kratzte sich am Kinn: „Mit anderen Worten, die Tür war zu. Gehen Sie gewöhnlich ungebeten in jede Wohnung, wenn deren Tür eine Klinke hat? Oder nur, wenn Ihnen jemand Geld schuldet?“ Ich riss mich zusammen, um ihm nicht eine zu knallen: „Ich habe Schreie gehört. Und zwar sehr seltsame Schreie“. Der Zwerg spielte den Naiven: „Oh, ich wusste bisher gar nicht, dass eine Leiche mit zwölf Kugeln im Körper noch seltsam schreien kann“. Meine Zähne knirschten, ohne dass ich es eigentlich wollte, und meine Stimme wurde noch etwas lauter: „Hat die Leiche auch nicht. Es war der Kakadu. So ein großer, weißer Kakadu. Der hat in seinem Käfig randaliert und wie am Spieß geschrien. Ich denke mal, Ihre Kollegen werden das Vieh ins Tierheim gebracht haben. Das sollten Sie eigentlich wissen, oder interessieren Sie sich nicht für Einzelheiten?“ Der Typ ließ sich einfach nicht aus der Hütte locken: „Des Weiteren hat man bei Ihnen eine P2000 sichergestellt, und die verschießt nun mal 9 mm Luger, wie man sie im Körper des Opfers gefunden hat“. Mir platzte der Kragen: „Wenn Sie meinen Waffenschein richtig durchgelesen hätten, dann wäre Ihnen vielleicht aufgefallen, dass ich eine HK P2000 SK besitze. Das SK steht für Subkompakt. Nicht nur, dass die Waffe 10 mm kürzer als die normale P2000 ist, für diesen Typ gibt es auch ausschließlich nur Magazine mit maximal zehn Schuss. Glauben Sie vielleicht, ich habe die Waffe erst leer geschossen und dann nochmal nachgeladen, um weitere zwei Kugeln abzufeuern, anstatt zu verschwinden? Und noch eins, bevor Sie hier hirnrissige Beschuldigungen aussprechen, sollten Sie vielleicht erstmal den Bericht der Ballistik abwarten! Oder übersteigt das Ihre Intelligenz?“ Der Mensch schien beleidigungsresistent zu sein, denn er grinste unaufhörlich weiter: „Den Bericht habe ich längst. Ihre Waffe ist sauber. Aber man kann’s ja mal versuchen!“ Soviel Chuzpe verschlug mir dann doch die Sprache. Er lächelte wie Buddha persönlich und stand auf: „Ihre Pistole wurde längere Zeit nicht abgefeuert und das Rillenprofil an den Geschossen passt auch nicht zum Lauf Ihrer Waffe. Außerdem waren an Ihren Händen keine Schmauchspuren zu finden. Sie können gehen!“ Wütend sprang ich auf. Der Kerl hatte mich die ganze Zeit nur verarscht. An der Tür drehte ich mich noch einmal ruckartig um: „Sie sollten mir ab jetzt lieber nicht im Dunklen begegnen!“ Er schmunzelte. Mir kam der Gedanke, selbst wenn ich ihm jetzt mit voller Wucht ins Gesicht schlagen würde, wäre er bestimmt weiterhin am Grinsen. Gelassen nestelte mein lächelnder Freund eine Visitenkarte aus seiner Anzugtasche und hielt sie mir hin: „Hier! Falls Ihnen noch etwas Sachdienliches einfallen sollte“.

Auch wenn ich es nicht besonders gern zugebe, aber es gibt Tage, an denen bin ich einfach ungenießbar. Wenn ich an so einem Tag auch noch über eine Frauenleiche stolpere und mir vielleicht ein zu kurz geratener Beamter dumme Fragen stellt, katapultiert das meine Laune nicht unbedingt nach oben. Dann gibt es nur eine einzige Sache, die mich vor einer spontanen Selbstentzündung bewahrt. Nämlich, wenn ich zusammen mit meiner Bourbon-Flasche eine Selbsthilfegruppe gründe. Also saß ich am Abend auf meiner Couch und wurde mit jedem Schluck fröhlicher. Irgendwann lächelte ich dann beseelt meine Flasche an. Das Schlimme war nur, dass die Pulle zurücklächelte. Das sicherste Zeichen dafür, dass ich mindestens ein Glas zu viel intus hatte. Da nun der Weg bis zu meinem Schlafzimmer viel zu weit und beschwerlich gewesen wäre, kippte ich einfach seitlich um, und lobte den Erfinder, welcher dereinst auf die Idee gekommen war, der Menschheit die Sofadecke zu bescheren.

Am nächsten Morgen wachte ich zerknittert auf. Gleichermaßen an Kleidung und Gesicht. Irgendwie hatte ich ein seltsames Gefühl. Nein, keinen Kater, sondern das mulmige Gefühl etwas übersehen oder vergessen zu haben. Sosehr ich aber meinen durchtränkten Kopf anstrengte, ich kam einfach nicht darauf, was es sein könnte. Irgendein wichtiger Gedanke hatte sich in den Weiten meines Hirns versteckt, und war einfach nicht zu überreden, sich fassen zu lassen. Na gut, dann eben nicht! Ich hatte sowieso andere Sorgen. Erst einmal die durchgeschwitzten Sachen vom Leib zu kriegen und danach ausgiebig zu duschen. Beim anschließenden Frühstück war ich völlig geistesabwesend und bemerkte gar nicht, dass ich diesmal ausnahmsweise nicht gekleckert hatte. Die Gedanken in meinem Kopf hörten nicht auf zu kreisen. Aber alles, was im Endeffekt dabei herauskam, war die seltsame Feststellung, dass es politisch unkorrekt ist, in der Geometrie von einem rechten Winkel zu sprechen. Schließlich gibt es ja auch keinen linken Winkel. Auweia, das hatte mir garantiert der Bourbon vom Vorabend eingeflüstert. Ich beschloss, erst einmal die Klamotten von gestern in die Waschmaschine zu stopfen, dann nicht mehr nachzudenken, und einfach nur ins Büro zu fahren. Auf dem Weg dahin, lief mir plötzlich ein kleiner Hund vor das Auto. Er sah aus, wie ein ausrangierter Handfeger auf Beinen. Ich glaube, man nennt die Rasse ‚Bologna Zwetna‘. Mein Fuß trat mit aller Kraft auf die Bremse und meine Reifen quietschten derart, dass es bestimmt noch zehn Blocks weiter zu hören gewesen sein musste. Ein recht bunt gekleideter Herr sprang auf die Straße, hob den Hund auf, und redete erregt auf das Tier ein. Er sagte etwas von ‚bösen Männern‘ mit ‚brutalen Maschinen‘. Normalerweise hätte ich den Menschen vollgenölt, dass er besser auf seine Bestie aufzupassen hätte, aber mein Unterbewusstsein war wohl immer noch damit beschäftigt, intensiv nach einem bestimmten Gedanken zu fahnden. Also fuhr ich wortlos weiter. Vor meinem Büro angekommen, klang mir immer noch das unbändige Quietschen meiner gequälten Reifen in den Ohren. Und da machte es plötzlich klick! Der schreiende Kakadu! Irgendetwas an seinem Anblick hatte mich gestört. Und jetzt wusste ich endlich, was es war! Kleine rote Punkte. Vielleicht würde mir ein gutsortierter Ornithologe widersprechen, aber meiner Meinung nach gab es keinen Kakadu, der von Natur aus kleine rote Punkte auf seinem weißen Federkleid spazieren trägt. Ich rannte wie blöd die Treppe zu meinem Büro hoch, klappte den Laptop auf und suchte nach allem, was ich seit meinem Biologieunterricht über Vögel vergessen hatte. Irgendwann war mir mal der Begriff ‚Blutfeder‘ untergekommen. Wie ich jedoch lesen konnte, sind das nur Federn, die einem Vogel neu wachsen und deshalb viel Blut benötigen. Aufgrund der Blutversorgung erscheint der Schaft einer solchen Feder viel dunkler als der einer älteren. Aber kleine rote Punkte gibt es da nicht. Mein Kakadu hatte also Blutspritzer abbekommen. Verdammt, das ließ den Mord in einem völlig anderen Licht erscheinen. Ich kämpfte eine Weile mit mir, ob ich der Polizei meine Erkenntnis mitteilen sollte, oder vielleicht lieber alles zu versuchen, um den Fall allein zu lösen. Da ich dafür nun aber sehr wahrscheinlich kein Geld bekommen würde, entschied ich mich, meinen Dauergrinser anzurufen. Also suchte ich in allen verfügbaren Taschen meiner Kleidung nach der Visitenkarte. Verflixt! Das Hemd von gestern steckte ja in der Waschmaschine. Zum Glück hatte ich sie nicht eingeschaltet, weil die Trommel noch halb leer war. Aber jetzt bei der Polizei anzurufen und nach einem zu klein geratenen Beamten zu fragen, war mir dann doch zu blöd. Was blieb also übrig? Ich stolperte die Treppe hinunter, schwang mich in mein kleines Auto und brauste nach Hause, um selbstlos der Polizei mittels eines Anrufs zu helfen. Eine ganz bestimmte Art den Ordnungshütern Hilfe angedeihen zu lassen, erledigte ich allerdings schon auf dem Weg. Meine Geschwindigkeit ermutigte einen Blitzer, mich zu fotografieren. Wieder einmal! Wahrscheinlich würden sich die Bullen demnächst von meinen Strafzetteln einen neuen Streifenwagen leisten können.

„Hören Sie, ich habe es überhaupt nicht gerne, wenn irgendwelche Privatschnüffler ihre Nase in meinen Fall stecken!“ Mir wäre beinahe das Handy aus der Hand gefallen. Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein? Vergnatzt sagte ich trotzdem: „Der Kakadu hatte Blutspritzer auf den Federn. Das wäre beim Erschießen nicht möglich gewesen. Die Kugeln sind viel zu schnell und erzeugen nur kleine Löcher. Wenn man allerdings ein Messer in einen Menschen sticht und gleich wieder herauszieht, dann spritzt etwas Blut durch die Gegend. Die Schüsse wurden also nur gesetzt, um die Einstiche zu überdecken und die Ermittlung in eine falsche Richtung zu lenken. Sie sollten vielleicht vorrangig nach einem Messer suchen!“

Als es klingelte, dachte ich an nichts Böses. Nach dem Öffnen meiner Wohnungstür war ich dann aber doch ziemlich überrascht. Da stand ein kleiner Mann mit einer Flasche Bourbon in der Hand und grinste breit über das ganze Gesicht: „Ich habe mich über Sie erkundigt. Angeblich trinken Sie gern dieses Zeug hier. Soll einen kleinen Dank für Ihre Hilfe darstellen. Manchmal ist man eben betriebsblind. Da kann eine Anregung von außen schon mal ganz gut sein. Wir haben das Messer gefunden. In der Wohnung. Mit Fingerabdrücken vom Ehemann. Das wars schon! Wiedersehen!“ Er ging davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Brauchte er auch gar nicht. Ich wusste auch so, dass er unaufhörlich feixte. Also trollte ich mich mit seiner Flasche in Richtung meiner Couch. Irgendwie beschlich mich dabei der Verdacht, dass ich heute wieder einmal die Sofadecke benutzen würde.

Das Märchen

„Weißt du, mein Mädchen, dein Opa ist eben schon alt. Ich halte nicht viel von diesem neumodernen Zeug. Und einen netten Inder kenne ich auch nicht“.

„Internet, Opa, das heißt Internet und hat nichts mit einem netten Inder zu tun“.

„Wie auch immer, Liebes. Jedenfalls habe ich in meiner Jugend kein Telefon streicheln müssen“.

„Das nennt man wischen, Opa, und nicht streicheln. Es ist kein einfaches Telefon mehr, so wie früher. Man kann sich da beispielsweise Bilder anschauen. Oder Nachrichten verschicken“.

„Ach was? Die Nachrichten vom Fernsehen hast du dahin geschickt? Darf man das mit elf Jahren schon? Schickst du auch die Filme ans Fernsehen?“

„Nein, Opa, das ist ganz anders gemeint. Aber Filme kann ich auf meinem Smartphon auch ansehen. Sogar Bücher lesen“.

„Ich hab in meiner Jugend nicht viel gelesen. Hatte nicht viel Zeit. Wir mussten immer auf unserem Feld arbeiten. Oder im Stall. Aber Sonntagabend hat mir meine Großmutter immer Märchen erzählt. Mein Lieblingsmärchen war … das war … das hab ich glaube vergessen. Weißt du, Schätzchen, dein Opa ist eben schon alt“.

„Mir hat noch niemand ein Märchen erzählt. Aber Mutti hat mich immer Kinderfilme im Fernsehen anschauen lassen. Das war schön“.

„Nun ja, Engelchen, es ist aber viel schöner, wenn man Märchen erzählt bekommt. Das regt die Fantasie an. Da kann man sich die Landschaft und die Personen im Geiste selbst ausmalen, und bekommt nicht alles fertig vorgesetzt. Das macht viel mehr Spaß“.

„Dann erzähl mir doch bitte so ein Märchen!“

„Weißt du, mein Schatz, Opas Gedächtnis ist nicht mehr das beste“.

„Versuchs doch einfach! Bitte Opi!“

„Also gut. Es war einmal ein Mädchen. Nein, Moment, es waren zwei. Oder drei? Nein, jetzt erinnere ich mich, es waren genau zwei. Ihre Namen habe ich vergessen. Irgendwas mit ‚weiße Rose‘. Halt, es waren zwei Rosenbäumchen! Eins mit weißen und eins mit roten Rosen. Und das eine Bäumchen war still und half der Mutter, und das andere Bäumchen sprang immer in der Gegend herum und pflückte Blumen“.

„Aber Opi, Bäumchen können doch keine Blumen pflücken“.

„Also waren es doch Mädchen. Habe ich ja von Anfang an gesagt. Und bei Bäumen hätte es auch keinen Sinn gemacht, dass ihnen an Winterabenden die Mutter immer Geschichten vorgelesen hat. Und eines Abends hat es dabei geklopft. Also an der Tür. Herein kam ein dicker schwarzer Bär. Und der Bär fing an zu sprechen …“

„Aber Opa, Bären können doch nicht sprechen“.

„Sei nicht so vorlaut, Kind! Schließlich ist es ein Märchen. Da können sogar Wölfe eine Großmutter im Ganzen verschlucken. Also, wo war ich? Ach so. Der Bär sprach: ‚Fürchtet euch nicht, ich tue euch nichts zuleid, ich bin halb erfroren und will mich nur ein wenig bei euch wärmen‘. Und dann …“

„Mensch, Opi. Bären haben von Natur aus ein dickes Fell. Die frieren nicht. Das weiß doch jeder“.

„Wirst du wohl still sein, du neunmalkluges Gör? Im Märchen ist alles möglich“.

„Ist ja gut, Opa. Vielleicht hatte der Bär ja eine Krankheit und ein ganz dünnes Fell. Erzähl bitte weiter!“

„Also, wo war ich? Aja, der Bär kam täglich und sprach davon, eines der Mädchen zu freien“.

„Was wollte der? Feiern? Oder frieren? Oder was?“

„Nein, freien. Das bedeutet heiraten“.

„Ja klar! Ein Bär heiratet ein Mädchen. Guck doch nicht so böse, Opa! Ich bin ja schon still“.

„Im Sommer verschwand der Bär aber wieder in den Wäldern. Dafür fanden die Mädchen einen kleinen, alten Zwerg mit einem langen, weißen Bart. Das Ende des Bartes war in eine Spalte von einem Baum eingeklemmt, und das Männchen wusste nicht, wie es sich helfen sollte. Da holte eines der Mädchen ihre Schere hervor und schnitt den Bart einfach ab“.

„Warte mal Opi! Haben denn früher die Mädchen immer eine Schere mit sich herumgetragen?“

„Wenn du jetzt nicht still bist, klebe ich dir eine. Wer soll denn da in Ruhe ein Märchen erzählen. Undankbares Kind!“

„Entschuldige! Ich sag ja schon gar nichts mehr“.

„Jedenfalls war der Alte, anstatt für die Hilfe dankbar zu sein, stinksauer, weil ihm ein Stück von seinem geliebten Bart fehlte. Und dann kam auch noch ein Adler, der den Zwerg packte und mit ihm wegfliegen wollte. Die Mädchen zerrten jedoch das Männchen aus den Klauen des Vogels, und dieser musste ohne Beute davonfliegen. Aber denkst du, der Alte war diesmal dankbar? Nein, er schrie: ‚Ihr unbeholfenes und läppisches Gesindel, ihr habt so an meiner Jacke gezerrt, dass sie überall zerfetzt und durchlöchert ist‘. Da kam plötzlich der Bär um die Ecke und knallte dem Kleinen mit seiner großen Tatze eine solche Ohrfeige, dass der Zwerg auf der Stelle tot war“.

„Opa, das ist brutal. Bist du sicher, dass Märchen so bestialisch erzählt werden müssen?“

„Jetzt reichts aber! Musst du mich denn dauernd unterbrechen? Kein Respekt vor dem Alter! Du kriegst von mir auch gleich so eine Ohrfeige!“

„Ach Opa, sei doch nicht so! War doch nicht so gemeint. Erzähl bitte weiter!“

„Na jedenfalls fiel plötzlich die Bärenhaut ab, und es stand ein wunderschöner Prinz …“

„Warte mal, Opi! Das Handy hat geklingelt. Es ist Andrea, meine Freundin. Moment, du kannst gleich weitererzählen!“

„Weißt du was, du undankbares Balg? Du brauchst ab sofort nicht mehr zu mir zukommen! Dir Arschmade erzähle ich nie wieder was!“

„Hallo Andrea, was steht an? Nein, ich bin bei meinem Opa. Der erzählt gerade ein Märchen. Was? Naja, am Anfang ist es stinklangweilig, aber zum Schluss macht es wenigstens höllisch aggressiv!“

Die Akte Lloyd

Der graue, kantige Drucker hatte die erste DIN-A4-Seite bis ungefähr zur Hälfte herausgeschoben. Eine dickliche Hand, die unbestreitbar zu Kommissar Riemer gehörte, wollte soeben das Papier entgegennehmen, aber das Gerät zog das dünne Blatt sofort wieder ein, um auch noch die Rückseite zu bedrucken. Riemer murmelte etwas von „Scheißtechnik“ und „seltsamer Drucker“. Dann wartete er nervös, bis der Printer alle Blätter der Akte „Aaron Lloyd“ ausgespuckt hatte. Eigentlich war es nicht erlaubt, Dokumente auszudrucken. Um Papier zu sparen, sollten alle Fälle lediglich im Computer bearbeitet werden, aber Riemer hatte nun mal die Angewohnheit, Akten mit nach Hause zu nehmen. Auf dem Sofa sitzend, mit einem Glas Wein in der Hand, kamen ihm immer noch die besten Ideen. Er durchwühlte seinen Schreibtisch nach einem Umschlag, in welchem er die losen Blätter verstauen konnte. Als er auf seiner Suche die linke Schublade öffnete, wurde es ihm etwas wehmütig ums Herz. Früher hatten hier Bonbons, Schokoriegel und andere Süßigkeiten auf ihn gewartet. Seitdem er sich aber vorgenommen hatte, sein Körpergewicht ein wenig zu reduzieren, war die Lade bis auf ein paar Stifte leer. Was tut ein Mann nicht alles einer Frau zuliebe. Schließlich fand er einen unbenutzten Schnellhefter. Also lochte er die Blätter und heftete sie akribisch ein. Bevor er sich aber auf den Heimweg machte, führte ihn sein Weg noch in die Kantine. Er hatte Lust auf eine Tasse Kaffee, auch wenn das braune Getränk dort nicht gerade den ersten Preis in Sachen Geschmack gewinnen würde. Schließlich konnte ja keiner ahnen, dass dort, wo er sich hinsetzen wollte, ein Vorgänger mit seinem Essen gekleckert hatte. Das wurde dem Kommissar erst schmerzlich bewusst, als sein linker Fuß wegrutschte. Dass er dabei seinen Kaffee über den Schnellhefter entleerte, setzte dem ganzen Vorgang sprichwörtlich die Krone auf. Ein Kantinenmitarbeiter half dem laut Fluchenden auf, und trocknete hilfsbereit mit einem Wischtuch jede einzelne Seite in Riemers Hefter. Zwar waren die meisten Blätter jetzt bräunlich eingefärbt, aber man konnte noch alles ohne Probleme lesen. Der Kommissar bedankte sich kurz angebunden bei seinem Helfer, wünschte ihm noch ein schönes Wochenende und trollte sich, leise vor sich hin schimpfend, in Richtung Ausgang.

Es war ein schöner, warmer Sonntagmorgen. Kommissar Riemer hatte die Nacht bei Frauke Wiegand verbracht. Jetzt saß er mit ihr und ihrer Tochter Carla am gemeinsamen Frühstückstisch. Seine linke Hand wollte gerade die Hälfte eines Käsebrötchens zum Mund führen, als sein Blick auf die Augen der Frau traf. Die Hand blieb unverrichteter Dinge mitten in der Luft hängen: „Was? Was ist los?“ Frauke Wiegand blickte nach unten: „Ich habe nichts gesagt“. Riemer ließ das Brötchen wieder zurück auf den Teller sinken: „Du hast aber sehr deutlich nichts gesagt. Also raus mit der Sprache! Was ist los?“ Die Frau blickte auf: „So kann das nicht weitergehen!“ Tochter Carla sah förmlich dicke Wolken über den Köpfen der Erwachsenen heraufziehen und sprang von ihrem Stuhl hoch: „Ich muss noch packen. Wenn mich nachher Irene und ihr Vater ins Internat fahren wollen, dann muss ich ja schließlich damit fertig sein“. Sie verschwand mit schnellen Schritten in ihrem Zimmer. Riemer schob seinen Frühstücksteller zur Seite: „Du hast eine kluge Tochter. Und sie ist auch noch sensibler als meine eigene. Aber hör zu! Ich war schon einmal verheiratet, und ein gebranntes Kind scheut nun mal das Feuer. Schau, wir sehen uns doch regelmäßig auf der Dienststelle! Manchmal lösen wir sogar einen Fall gemeinsam. Du bist oft bei mir zu Hause und ich bin mindestens dreimal die Woche hier bei dir. Müssen wir denn wirklich heiraten?“ Die Augen der Frau begannen gefährlich zu funkeln: „Du Holzklotz! Du … du blöder Heini! Ich hab nicht mal mit dem kleinen Finger ans Heiraten gedacht. Mir geht es um etwas völlig anderes!“ Werner Riemer zog bestürzt die Mundwinkel nach unten: „Autsch! Da stehe ich ja jetzt wohl bis zum Bauchnabel in einem Fettnäpfchen!“ Seine Kollegin schüttelte energisch den Kopf: „Nein, du stehst eher im Moment bis zum Hals in einer Fritteuse!“ Der Gescholtene zog die Stirn kraus: „Nun sag schon worum es geht! Was hab ich Trottel wieder mal falsch gemacht?“ „Du schnarchst. Und zwar derart laut, dass beinahe die Bilder von der Wand fallen! Und ich kann nicht schlafen. Entweder musst du noch viel mehr abnehmen oder unbedingt mal zum Pneumologen!“ Riemer angelte sich die Käsescheibe vom Brötchen und stand auf: „Heute Abend schlafe ich wieder bei mir zu Hause. Da brauchst du dann mein Schnarchen nicht mehr zu hören“. Worauf Frauke das Gespräch genervt mit dem kurzen Kommentar beendete: „Männer!“

Es war etwa gegen drei Uhr dreißig morgens, als das Diensthandy den Kommissar aus seinem wohlverdienten Schlummer riss. Verschlafen tappten seine dicken Finger auf dem Nachttisch umher, bis sie endlich des Störenfriedes habhaft wurden. Noch mit geschlossenen Augen drückte Riemer das Smartphon ans linke Ohr: „Wehe es ist nicht wichtig! Ich bin Besitzer einer Dienstpistole und auch gewillt, diese zu benutzen!“ Eine Stimme sagte aufgeregt: „Hier ist die Zentrale. Sie müssen sofort in die Dienststelle kommen! Ihre Kollegen sind auch bereits alarmiert worden“. Riemer richtete sich im Bett auf: „Was ist denn los?“ Aber die Gegenseite hatte bereits aufgelegt. Der Kommissar wälzte sich unbeholfen von seiner Lagerstatt herunter. Wenn man nicht nur ihn, sondern auch die anderen Kollegen mobilisiert hatte, dann war bestimmt ein ganz dicker Hund am Start. Er eilte augenwischend ins Bad und spülte sich, mit einem traurigen Blick auf die ungenutzte Dusche, wenigstens die Zähne mit einem Schluck Mundwasser durch. Beim Anziehen verzichtete er auf die Unterhose, damit es schneller ging. Da die Straßen um diese Zeit noch verhältnismäßig leer waren, trat er das Gaspedal seines Autos fast bis zum Anschlag durch.

Die Dienststelle war seltsamerweise stockdunkel, nur der Wachhabende schaute ihn aus seinem Kabuff verdutzt an: „Geht Ihre Uhr falsch, oder haben Sie eine feuchte Wohnung?“ Riemer steckte sich den Zeigefinger in den Hemdkragen und kratzte sich nervös am Hals: „Ist denn noch keiner da? Die Zentrale hat mich her geklingelt. Oder ist eventuell heute der erste April?“ Sein Gegenüber schmunzelte: „Es ist zwar schon August, aber da hat sich trotzdem einer einen schlechten Scherz mit Ihnen erlaubt. Wenn wirklich etwas los wäre, dann wüsste ich das als Erster“. Riemer machte ärgerlich auf dem Absatz kehrt und stieg in sein Auto: „Das kriege ich raus. Diese Pfeifen knöpfe ich mir vor. Und nicht zu knapp!“

Volker Hartwig runzelte die Stirn: „Mal langsam und von vorn! Was genau willst du von mir?“ Kommissar Riemer faltete die Hände, als wolle er beten: „Du sollst als mein Freund und Kollege meine Wohnung unter die Lupe nehmen. Und zwar inoffiziell. So mit Sicherstellen von Fingerabdrücken, untersuchen des Eingangsschlosses und so weiter, und so fort. Man hat mich in der Nacht weggelockt, und als ich wieder nach Hause kam, stand meine Tür auf, das Licht brannte und ein Schnellhefter war verschwunden“. Hartwig blickte nicht gerade freundlich: „Heißt das, du hast eine Akte mit nach Hause genommen? Jetzt ist sie weg und keiner soll das erfahren?“ Riemer nickte: „So in etwa!“

Hauptkommissar Hohlbach zielte mit seinem spitzen Zeigefinger genau auf Riemers Nase: „Glauben Sie vielleicht, die EDV-Abteilung hat mich aus lauter Jux und Tollerei angerufen? Jemand hat gestern mehrfach vergeblich versucht die Akte ‚Lloyd‘ aus dem Computer zu löschen. Und deshalb frage ich Sie nun, waren Sie das?“ Riemer wurde ärgerlich: „So ein Quatsch! Das ist doch eine meiner ureigensten Akten, und somit habe ich die volle Berechtigung auf die entsprechende Datei. Hätte ich sie tatsächlich löschen wollen, dann wäre das wohl kaum vergeblich gewesen. Das sollte selbst Ihnen einleuchten“. Hohlbach knirschte mit den Zähnen: „Riemer, Riemer! Sie vergreifen sich wieder einmal im Ton. Und jetzt erzählen Sie mal, was an dieser Akte derart ungewöhnlich ist, dass Außenstehende ein Interesse daran haben könnten!“ Kommissar Riemer lehnte sich achselzuckend zurück: „Keine Ahnung. Aaron Lloyd war ein gebürtiger US-Amerikaner, der eine Hiesige geheiratet und die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hat. Vor drei Tagen lag er reglos in seinem Zimmer mit einer handvoll Schlaftabletten und einer halben Flasche Whisky im Magen. Ein Freund wollte ihn besuchen, hat ihn aber nur noch tot aufgefunden. Nach intensivem Sondieren entdeckte man dann auch im Kühlschrank das fast leere Röhrchen von den Tabletten und daneben die Flasche mit dem restlichen Scotch. Also hat es unsere Gerichtsmedizinerin als Selbstmord eingestuft“. Hohlbachs Blick verfinsterte sich: „Und warum graben Sie dann immer noch in dem Fall herum? Schließen Sie ihn ab und schieben sie die Akte ins Archiv!“ Riemer hob abwehrend seine Hände und ließ sie einige Zeit in der Luft hängen: „Erstens hatte ich da so ein seltsames Bauchgefühl, und zweitens würde wohl niemand die Akte löschen wollen, wenn alles koscher wäre“. Hohlbach runzelte die Stirn: „Falls ich das richtig sehe, dann entbehrt Ihr Bauchgefühl jeglicher Grundlage. Was ist im Übrigen mit seiner Ehefrau? Ich glaube, die hieß doch Lisa oder so“. Riemer antwortete achselzuckend: „Die ist in Afrika. Seit vierzehn Tagen. Ärzte ohne Grenzen. Und sie heißt Linda“.

Kommissar Riemer suchte seit zehn Minuten die angefangene Flasche Cabernet Sauvignon. Dann griff er missgelaunt zum Handy: „Hör mal, Schatz! Du warst doch gestern Abend hier. Hast du da gesehen, wohin ich den Wein gestellt habe?“ Frauke Wiegand antwortete: „Ich hab gestern noch aufgeräumt, bevor ich gegangen bin. Dein Wein steht im Kühlschrank“. Riemer schüttelte den Kopf samt Telefon: „Aber Schatz, Wein gehört doch nicht in den … Scheiße, ich hab den Fall gelöst!“ Er unterbrach die Verbindung, um gleich danach seinen Kollegen Schimmler anzurufen: „Du, Schimmelchen, ich komme morgen früh ein oder zwei Momente später ins Büro. Muss erst noch eine kleine Verhaftung vornehmen. Tu mir einen Gefallen, und suche inzwischen die Flugverbindungen von vor drei Tagen von und nach Afrika heraus!“ Schimmler grollte: „Hast du ‘ne Ahnung, wie viele das sind? Bin ich vielleicht neuerdings dein Laufbursche? Und soll ich dir eventuell auch noch einen Pflaumenkuchen backen?“ Riemer griente: „Nö, aber einen Platz im Verhörraum für eine Pflaume freihalten!“

Der Kommissar rieb sich intensiv mit dem Daumennagel über den Nasenrücken: „Jungchen, ich finde es ja ehrenwert, dass Sie in Ihrer Freizeit eine Weiterbildung zum Koch machen. Aber Sie hätten vielleicht besser einen Computerkurs belegen sollen. Dann hätten Sie gewusst, dass man eine geschützte Datei nicht so einfach löschen kann. Oder Sie hätten auch Kriminologie studieren können. Dort hätte man Sie dann gelehrt, dass bei Wohnungseinbrüchen Handschuhe getragen werden sollten. Wegen der Fingerabdrücke. Trotzdem muss ich Ihnen ein Kompliment machen. Beim Wegwischen von Kaffeeflecken eine Akte durchzulesen, das schafft nicht jeder. Wissen Sie, mein Fehler war die ganze Zeit, dass ich gedacht habe, eine Einzelperson hätte den Mord begangen. Aber es waren zwei. Ein Liebespärchen. Sie und die Frau des Toten. Draufgekommen bin ich wegen ein paar dummer Vorurteile. Nämlich, dass Frauen immer alles wegräumen müssen, und dass nie ein Mann eine Flasche Scotch in den Kühlschrank stellen würde. Und weil diese albernen Klischees in meinem Kopf kreisen, deshalb sitzen Sie jetzt hier. Außerdem denke ich, Ihre Geliebte sitzt bald neben Ihnen“. Der Verhaftete versuchte seinem Gesicht einen überheblichen Ausdruck zu verleihen: „Das glaube ich nun weniger. Linda ist schon längst wieder nach Afrika zurückgeflogen. Die kriegen Sie nie wieder zu Gesicht!“ Worauf Riemer gelassen antwortete: „Sie aber auch nicht“.

Die Tochter des Königs

Was ich euch jetzt erzählen möchte, begab sich vor langer, langer Zeit, in einem weit, weit entfernten Land. Damals waren die Regentropfen noch vom feinsten Weine und der Schnee aus purem Gold. Aber niemand kann ständig nur Wein trinken, und wenn alle gleichermaßen viel an glänzendem Golde ihr Eigen nennen, so kann man dafür auch nichts kaufen.

Zu dieser Zeit regierte ein böswilliger König sein Reich mit eisenharter Hand. Das Volk stöhnte unter seiner Knute, denn während in den Nachbarländern die Bauern den zehnten Teil ihrer Ernte an den jeweiligen Herrscher abtreten mussten, so bestand unser König auf der Hälfte aller erworbenen Güter. Doch selbst dieses war dem Potentaten immer noch nicht genug. Wenn beispielsweise ein Bauer sein Korn zur Mühle brachte, dann musste der Müller auch noch die Hälfte des daraus gewonnenen Mehls dem König überlassen, dem geschröpften Bauern aber blieb somit am Ende nur noch ein Viertel seines Ertrages. Die Menschen darbten, und nicht wenige mussten ihr Leben aus lauter Hunger dem Sensenmann anheimstellen. Der König hingegen schlemmte nach Herzenslust. Während seine Untertanen nur einmal am Tag eine dünne Wassersuppe schlürfen konnten, stopfte er sich von morgens bis abends Gebratenes und Gesottenes in den Wanst. So kam es dann auch, dass er aufgrund seiner Körperfülle von den Dienern die schrägen Treppen im Schlosse hinaufgeschoben und auch wieder hinuntergetragen werden musste. Seine Gelehrten wurden angehalten, sich eine Vorrichtung zu erdenken, mit welcher man den Dickwanst auf sein armes, geschundenes Pferd hinaufhieven konnte.