Kurzer Abriss - Alex Gfeller - E-Book

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Alex Gfeller

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Beschreibung

Kurzer Abriss der Geschichte der Transplantatorischen Zufallsrepublik Opportunien RTF (République Transplantatoire Fortuite) und ein viel zu langes Aperçu auf die kleine Industriestadt Furz an der Brunze mit etwas zu vielen ärgerlichen Wiederholungen und peinlichen Vergleichen. Eine inoffizielle und behördlicherseits gewiss nicht autorisierte Geschichtsklitterung und zudem für Nationalisten völlig ungeeignet.

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Seitenzahl: 256

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Alex Gfeller

Kurzer Abriss

der Geschichte der Transplantatorischen Zufallsrepublik Opportunien RTF (République Transplantatoire Fortuite) und ein viel zu langes Aperçu auf die kleine Industriestadt Furz an der Brunze mit etwas zu vielen ärgerlichen Wiederholungen und peinlichen Vergleichen. Eine inoffizielle und behördlicherseits gewiss nicht autorisierte Geschichtsklitterung und zudem für Nationalisten völlig ungeeignet.

Eine gut und gern zwei bis drei Kilometer dicke Eisschicht bedeckte nahezu unverrückbar während absurd vieler menschheitsgeschichtlich völlig bedeutungsloser Jahre das unübersichtliche Schwemm-, Bruch-, Stau-, Spül-, Geschiebe-, Schleif-, Sumpf- und Trümmergebiet, das sich noch heute zwischen zwei recht unterschiedlichen Gebirgszügen befindet, bevor die ersten steinzeitlichen Jäger und Sammler, vorwiegend halb verhungerte Neandertaler und rachitische Cro-Magnon, auf mühsamen und sehr beschwerlichen Schleichwegen von Südwesten her ohne Papiere über die eisfreien, aber eisigen Hügelkuppen völlig unkontrolliert, also illegal und absolut ungebeten und zugegebenermaßen auch etwas unerwartet, zudem möglicherweise sogar unerwünscht und wahrscheinlich auch eher unbeholfen radebrechend, überhaupt erst dahin gelangen konnten, wo wir uns heute mehrheitlich komfortabel, übergewichtig, aber meistens eher missmutig befinden mögen und in durchaus angenehmer Sicherheit wähnen, trotz eines weiteren, pausenlosen Krieges der reichen Klassen gegen die armen Klassen, der soeben überall heftig im Gange ist, einer von vielen, nota bene.

Wenn wir uns somit unverständlicherweise ausgerechnet in diesem späteren Opportunien aufhalten, in dieser unserer heißgeliebten Heimat Opportunien, sagen wir vor zehntausend Jahren, in einem Land, das damals natürlich noch gar niemand kennen konnte, weil es Opportunien damals noch gar nicht gab, also in einem eher bedeutungs- und belanglosen Durchzugs- und Durchgangsgebiet, im klassischen, internationalen Rückzugsgebiet der Reichen, Überreichen, Superreichen und Superschönen und im typischen, abweisenden Durchgangsland für allerhand arme und ärmste, also unerwünschte Menschen auf der Flucht und auf der verzweifelten Suche nach bezahlter oder auch unbezahlter Arbeit irgendwelcher Art, dann fällt es uns heute schwer, uns die menschenleere Landschaft von damals vorzustellen, denn diese steinzeitlichen Jäger und Sammler schlugen sich wahrscheinlich unter vielen Entbehrungen einzig deshalb bis hierher durch, weil sie um den lokalen Wildreichtum wussten und um sich des überaus üppigen prähistorisch-voralpinen Wildbrets, aber auch der schönen Aussicht, der erheblichen Steuererleichterungen und des äußerst praktischen Bankgeheimnisses zu bedienen, das versteht sich von selbst. Sie mochten zwar ungebildet sein, einverstanden, unzivilisiert gar, bitte sehr, meinetwegen auch ungetauft, kein Problem, aber blöd waren sie gewiss nicht, wenn auch eindeutig papierlos und somit eigentlich völlig rechtlos und, wie gesagt, eindeutig illegal.

Lange Zeit blieb das kleinräumige, von zahllosen, stark kupierten Hügelzonen durchsetzte und deshalb reichlich unübersichtliche und extrem schlecht zugängliche, zudem von ausgedehnten Sümpfen, riesigen Seen und wilden, unberechenbaren Flüssen, von endlosen und äußerst langweiligen Schwemmebenen, von weitverzweigten, völlig unbekannten Seenlandschaften, minderwertigen Autobahnen und nahezu undurchdringlichen Wäldern beherrschte Gebiet mit seinem trotz globaler Erwärmung eindeutig abweisenden Klima nach dem letzten und vorderhand endgültigen Rückzug der riesigen Kontinentalgletschermassen vom Rest der Welt völlig isoliert und somit von allen guten Geistern verlassen. Es stellte ja, ehrlich gesagt, sowohl geologisch und tektonisch, als auch morphologisch nichts anderes als eine verdammte Sauordnung und ein geografisches Durcheinander dar und war somit für die Welt des gepflegten Homo sapiens, der erst viel später hinzukam, vorerst völlig uninteressant, weil zu unerschlossen und zu unzivilisiert und blieb deshalb lange Zeit recht unattraktiv für die ersten mehr oder weniger manierlichen und durchaus achtbaren Menschen mit eindeutig menschlichem Antlitz und menschlichem Gehabe, wie auch für die Welt des ausgedehnten, gesicherten Handels, der achtbaren und gesitteten Gesellschaftsordnung, der gestandenen Rechtssicherheit, des blühenden Handels, der weithin unübersehbaren Kultur und somit auch der menschenwürdigen Zivilisation, vor allem von derjenigen im späteren Nahen Osten, die uns heute deshalb immer noch irgendwie biblisch vorkommt.

Besagte Leitkulturen bevorzugten natürlich eindeutig den klimatisch angenehm milden Mittelmeerraum, das üppige Nildelta und das überaus fruchtbare Zweistromland mit seinen ersten wirtschaftlichen und kulturellen Höhepunkten, mit seinen Einkaufsmöglichkeiten, Zukunftsaussichten und mannigfachen Unterhaltungs- und Zerstreuungs-Gelegenheiten, die sie, die menschliche Zivilisation also, aus verständlichen Gründen ausgiebig und für ausreichend lange Zeit einem kargen Leben im alpinen Raum vorzog und auch intensiver nutzte. Erste beachtliche Hochkulturen entstanden im Nu, äußerst wirksame Leitkulturen bildeten sich allmählich heraus, und langzeitliche Denkstrukturen fanden dort ihre durchaus bemerkens- und bedenkenswerten Anfänge. Ein dergestalt angenehmes Leben zu klimatisch derart vorzüglichen Bedingungen hätten auch wir damals wie heute fast ausnahmslos alle sehnlichst herbeigewünscht, versteht sich, denn wer geht schon gerne freiwillig oder unfreiwillig in eine kalte, abweisende, gefährliche Wildnis hinaus, wo man ständig friert, oder in eine eisig feindliche Einöde hinein, wo es nicht einmal einen Supermarkt hat, wo man sich wenigstens etwas aufwärmen könnte? Sie vielleicht? Na, also.

Viele tausend Jahre später, nach etlichen kecken, ja, geradezu frechen neolithischen bis frühkeltischen Vorstößen auf Campingplätze und Schreberhärten und anschließenden, vielleicht etwas gar demoralisierenden Rückzügen mit all ihren zivilisatorischen Spuren auf Hügelkuppen und ihren banalen Müllkippen an See- und Flussufern, war besagtes Territorium einige hundert Jahre lang erst dem unbesiegbaren Römischen Imperium mit all seinen zivilisatorischen Errungenschaften und gleich anschließend satte tausend Jahre lang dem eindeutig weniger zivilisierten, doch anscheinend auch unbesiegbaren Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zugehörig, warum und wozu auch immer. Das war weder ein Aufstieg, noch ein Fortschritt, und schon gar keine Endbereinigung, denn ausgerechnet dieses etwas gar wilde und angeblich nahezu unbezähmbare Niemandsland, hoffnungslos eingeklemmt zwischen Nord und Süd, blieb eigentlich immer nur eine ausgesprochene Grenz-, Rand- und Restregion inmitten einer überaus üblen Welt voller wahrhaft abstoßender Reichs-Kungeleien und absolut ekelerregender, klerikaler Intrigen, eine von der christlichen Zivilisation vorsätzlich gemiedene Region also, in einem im Übrigen wirklich abstoßenden Gesamteuropa der machtbesessenen Maßlosigkeiten der Eliten, der christlichen Unbarmherzigkeiten und der gierigen Unverfrorenheiten, ganz besonders während und nach all den blutigen Religionskriegen und deren noch blutigeren Folgekriegen, bei denen es eigentlich um gar nichts Wesentliches mehr ging, wenn man mal vom unübersehbaren Machtanspruch von allerhand korrupten Päpsten und überheblichen Kaisern absah – um von der unerhört gewalttätigen Kolonisierung der globalen Restwelt ganz zu schweigen.

Die vielen kleinen und kleinsten, völlig isolierten und halb vergessenen, von jeglichem Einbezug ausgenommenen Ländereien zwischen dem mittlerweile grünen Schori und den schneebedeckten Hohen Wampen wurden indes pausenlos von einem richtig üblen Haufen von örtlichen Schlaumeiern und lokalen Schlitzohren in ständig wechselnden Besetzungen gepiesackt, geschändet, ausgenommen und geknechtet, von recht unfeinen Herrschaften mit deutlichem Stallgeruch und einem handfesten Hang zur Kleptomanie, die sich zudem gegenseitig in aller Unlogik und aus lauter Dummheit und mit dem Slogan «Konkurrenz belebt das Geschäft!» unablässig selber bekämpften und bekriegten und die sich inmitten ihrer gestohlenen Schaf-, Ziegen-, Schweine-, Hühner-, Gänse- und Kuhherden tatsächlich für echte Adelige hielten, zumindest für aufgeschlossene Landpomeranzen, in Wahrheit aber nur überhebliche, verdorbene und verlogene Patrizier waren, die aber unmissverständlich, also mit blutiger Hand Respekt einforderten.

Doch machen wir uns nichts vor: Das rurale und marginale Gebiet stellte unbestritten seit jeher einen zivilisatorischen und kulturellen Outback dar, genau zwischen den aktuell dominanten europäischen Kulturen im Norden und Süden, im Osten und im Westen gelegen und doch immerzu völlig unberührt davon geblieben und zudem niemals von ernst zu nehmender politischer, strategischer oder gar wirtschaftlicher Bedeutung – mit einer Ausnahme: dem lukrativen Verkauf armer Bauernbuben an üble, fremde Armeen gleich welcher Art. Das war ihr Glück, das sie aber niemals verdient hätten.

Erst der schlaue Napoleon Bonaparte aus Korsika entdeckte dieses von der Entwicklung und von der europäischen Strategie völlig übersehene, stark vernachlässigte, unbedeutende und seit jeher mehr oder weniger sich selbst überlassene, von niemand Bedeutendem, also wirklich Einflussreichem ernsthaft beanspruchte Territorium auf seiner ersten prospektiven Europareise, und auch das eigentlich nur ganz zufällig.

Während der Planung und Vorbereitung seiner Oberitalienischen Feldzüge gegen die Großmacht Österreich und weiterer geostrategischer Fer-keleien im Namen der unvergesslichen Französischen Revolution, insbesondere aber gegen die dominierende Seemacht England nämlich, erkannte er als Erster den geostrategischen Wert des ganzen eidgenössischen Sauhaufens, genau zwischen Frankreich und Österreich gelegen. Er war, direkt aus Paris kommend, zwar zunächst richtig angewidert von all dem rückständigen und hinterwäldlerischen Unsinn, den er hierzulande antraf, je weiter er nach Osten kam, doch konnte er immerhin den prallen Staatskassen der diversen reichen Stadtstaaten ein gewisses und unumstrittenes Interesse entgegenbringen, denn das viele Gold und Geld würde ihm schlankweg seinen teuren und kurz bevorstehenden Feldzug nach Ägypten finanzieren helfen, mutmaßte er bereits im Geheimen und rieb sich dazu die Hände, der korsische Schlaumeier. Aber um an diese nahezu krisensichere Knete zu gelangen, müsste er allerdings erst das hoffnungslos korrupte und restlos verdorbene lokale Patriziat von seinen überaus einträglichen Sitzen, ergiebigen Pfründen und französischen Schlössern gewaltsam entfernen und ersatzlos vertreiben.

Kurz und gut, er müsste als erstes das ganze unübersichtliche Gefüge der vielen kleinen Ländereien, Flecken und Herrschaften völlig auf den Kopf stellen und gleich anschließend grundsätzlich neu organisieren, am besten revolutionär neu, stellte er ernüchtert und leicht enttäuscht fest, doch gleichzeitig war ihm natürlich sofort klar, dass dies, militärisch gesehen, nicht allzu schwierig sein dürfte, jedenfalls viel leichter als z.B. ein folgenreicher Feldzug gegen die Österreicher oder gar gegen die Engländer, das stand schon mal fest.

Er musste eigentlich nur Bern erobern, das reichte schon, den vollmundigen Wortführer des ganzen Packs, den Maulhelden, den Platzhirsch, den Türsteher – sonst nichts. Das würde zu einem nahezu militärischer Spaziergang werden, zu einem kleinen Nebensatz der Geschichte, von zwei kleinen, französischen Armeen leicht zu bewältigen, eine schlaue Zangenbewegung direkt von Westen und gleichzeitig von Norden her, taktisch gesprochen, und das Militärische daran war das einzige, das ihn interessierte.

Er würde zudem mit seiner revolutionären Befreiung des opportunistischen Bürgers vom patrizialen Joch als Befreier dastehen und somit auf breite und begeisterte Zustimmung in der nahezu flächendekkend verarmten und entrechteten Bevölkerung stoßen – das ewige Trauma einer jeden Herrschenden Klasse, ganz gleich welcher. Zudem stellte er angenehm überrascht fest, dass sich das unbekannte, weil kartografisch noch kaum erfasste Gebiet genau zwischen Frankreich und dem verhassten Österreich befindet, was natürlich sein persönliches Interesse zusätzlich wecken musste.

In der Tat: Dieser strategisch wichtige und nützliche Umstand machte die uneinheitliche, ungeordnete und unstrukturierte Zone voller absurder Partikularinteressen plötzlich fast über Gebühr bedeutend, und Napoleon wusste sofort: Er musste das haben, schon nur wegen der schwierigen Alpenpässe, der einzige Weg nach Oberitalien. Österreich, wir kommen!

Das in jeder Beziehung deutlich hinter jeder europäischen Entwicklung zurückgebliebene Gebiet wurde für den Ersten Konsul und seine militärischen und politischen Bedürfnisse somit unerwartet interessant. Es stellte ein wirres, nahezu unverständlich verschlungenes Bündnis-System von untereinander seit vielen Jahrhunderten rettungs- und heillos verkrachten Clans, Wegelagerern und Religionsrichtungen, engen Tälern, kleinen Dörfern und noch kleineren Städten, allerhand Untergeordneten und Übergeordneten, Hintersaßen und Vordersaßen, Hinterladern und Vorderladern, Ein- und Aussaßen aus alten Stammlanden, Zugewandten, Eroberten, Unterworfenen, Niedergeschlagenen, Ausgeplünderten, Beigelagerten, Fortgejagten, Auf- und Vorgesetzten, Bündnispartnern, Hilfskräften, Zugewandten und auch ganz einfach von vielen frechen, wenn auch nur lokalen und regionalen Diebstählen, Schlaumeiereien und Tricksereien dar.

Viele brutale Verfolgungen und gnadenlose Vertreibungen waren dabei, Massenertränkungen, Massenköpfungen und Massenhängungen, dazu auch noch jede unvorstellbare Menge von Vergewaltigungen, Verstümmelungen und die üblichen Hexenverbrennungen und Armenhängungen, ganz und gar unschöne Sachen also, wie zum Beispiel auch die Eroberung der Waadt des Aargaus, des Thurgaus oder der Ennetbirgischen Vogteien, lauter Eroberungen voller Gewalt und präventiver Unterdrückung.

Gerade diese mehr als verworrene, scheinbar recht labile, zudem ständig die Seiten wechselnde, fortwährend die politische, religiöse und sogar die geografische Zusammensetzung ändernde und zudem wirtschaftlich extrem flexible Bündnis- und deutlich undurchsichtige, mehr als nur bestechliche, also käufliche Herrschaftsvielfalt stellte für den revolutionären Frechling, kühnen Eroberer und unwillkommenen Befreier aus Paris, wie bereits angedeutet, militärisch überhaupt kein Problem dar. Militärisch war er erfahren wie keiner, und somit war diese mehr als schlecht zugängliche Zwischengebirgszone knapp von der halben Größe Savoyens trotz ihrer generellen Unverständlichkeit und offenbar prinzipiellen Undurchschaubarkeit erstmals nach Telgte und Osnabrück des Jahres 1648 von Europa und für Europa wiederentdeckt und politisch zur Kenntnis genommen worden, wenn auch nur von Napoleon auf Grund seiner kühnen Pläne und fiesen Absichten.

Doch sie war somit umgehend aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht, unvermittelt in die europäische Geschichte eingetreten, bzw. unvermutet eingetreten worden, aber eindeutig zum Leben erweckt worden, die Zone der 13 alten Orte, und zwar vom Ersten Konsul persönlich wachgeküsst, und bald einmal wird es für Napoleon nur noch darum gehen, selbige für seine geplante militärische Nutzung durch den Bau von anständigen, also solide befestigten Pass-und Durchgangsstraßen besser vorbereiten und anschließend militärisch optimal nutzen zu können.

Das gesamte, eigentlich völlig unüberschaubare Rechtswirrwarr und Gesetzeschaos von überaus Ungleichen und vorwiegend Rechtlosen indes, also all das Gemenge der verkaterten Ein- und Ausheimischen, all das Geschiebe der Zugewandten und Anverwandten, all das Geknete der Auf- und Absaßen in ihren niedrigen, schindel- oder strohgedeckten, zudem ungesund rauchdunklen Bauernhäusern oder in ihren voralpin zugigen Steinhäusern, also all die Vordersaßen, die Hintersaßen, die Zugeborenen, die Angeheirateten, die Unterworfenen, die Untergeordneten, die Umhergetriebenen, die Ausgesetzten, all die lebenslang, ja, generationenlang Ausgestoßenen, Eingebetteten, Umgesiedelten, Ausgewiesenen, Vergessenen, Vogelfreien und somit faktisch Hoffnungslosen konnten natürlich vorerst und noch lange danach überhaupt nicht verstehen, noch nachvollziehen, was ihnen an Wundersamem sozusagen über Nacht kostenlos und völlig unerwartet zugestoßen, bzw. zugefallen war. Wie auch?

Die Bevorzugten, die Bevorteilten, die Beförderten, die Übergeordneten, also die alteingesessenen Oberhunde und ihre diversen, reichlich parfümierten Häupter und Oberhäupter auf ihren prächtig gelegenen Herrensitzen und in ihren französisch inspirierten Lustgärten, also all die Hochwohlgeboren, die offensichtlich Gottgefälligen und somit zweifellos Gottgewollten, sowie deren seit jeher klerikal Gebenedeiten, will heißen all die Massivbevorteilten, all die „Von und Zu“, also all die Richter in eigener Sache und somit die eindeutig Mehrbesseren und ihre vielen klerikalen Unterhunde rieben sich jetzt erst zutiefst erschrocken, abgrundtief erschüttert und recht eigentlich ahnungslos verwundert die teure französische Schminke aus den Augen. Sie werden noch lange nicht glauben können, wie ihnen, den völlig Unschuldigen, soeben unerwartet, absolut unerwünscht und reineweg unangemeldet geschehen war, geschieht und noch geschehen wird, denn mit Napoleon brach in ihren Augen rechtlich ungebeten und politisch unerwünscht die europäische Moderne über ihre bedürfnislose, althergebrachte Geografie herein, mitsamt den leuchtenden Idealen der Französischen Revolution: Liberté! Egalité! Fraternité! Wenn das nicht das Ende der Welt bedeutete, was dann?

Schlimmeres konnte man sich auf der hektischen, ja, nahezu kopflosen Flucht auf Pferderücken, in Leiterwagen oder in teuren Kutschen und eleganten Karossen mit zugezogenen Vorhängen Richtung rettendes Österreich gar nicht ausdenken, weil es für die entsetzten Herrschaften Schlimmeres gar nicht erst geben konnte, als das, was sie jetzt eben erleben mussten, und noch schlimmer konnte ihre unvermittelt verzweifelte Lage in der Düsternis der gesellschaftlichen Entwicklung gar nicht werden, vermutete man sehr besorgt, sehr betroffen und sehr entsetzt, also für einmal ganz persönlich berührt und beleidigt, selber ahnungslos und schuldlos, ja, zuweilen bereits in richtig ausgewachsener Panik, denn etwas Schlimmeres als die Revolution des Pöbels, die bislang immer nur ein fernes, fahles und reichlich unglaubwürdiges, französisches Gerücht geblieben war, konnte es gar nicht geben, wenn man mal von Pest und Cholera absah. Nicht wahr?

Doch selbst Pest und Cholera waren in ihren Augen völlig harmlos und lachhaft im Vergleich zu einem Contrat social, zu einer Déclaration des droits de l’homme und zu einem Code civil.

Somit definierte und vereinheitlichte der bekannte räuberische Konsul in Paris, der natürlich gleich als erstes die prallen Staatskassen zügig abtransportieren ließ, als Allererster und im Alleingang das sprachlose, ja, entsetzte Territorium ohne Namen, und zwar nach revolutionärem Recht, aber auch nach durchaus praktischen Gesichtspunkten. Er erfand es neu, indem er die Gemeinen Herrschaften einfach zu gleichwertigen Orten erhob, und nahm alles weg, was seines Erachtens gar nicht dazu gehörte, sowohl im Norden und im Süden, als auch im Osten und im Westen, denn er setzte sich über alle althergebrachten Partikularinteressen hinweg, über alle altgeliebten Privilegien, über alle altbekannten Abmachungen und fetten Pfründen und selbst über alle althergebrachten Grenzen, die nicht die Seinen sein konnten, indem er sie einfach vom Kartentisch wischte. Er nahm aber auch einige gewichtige Herrschaften einfach weg, setzte somit neue Grenzen und gab der neu entstandenen Miniaturnation erstmals einen eigenen, einen richtigen, wenn auch vorderhand einen etwas komischen, weil revolutionären Namen.

Zudem übergab er den perplexen Vertretern der verschiedenen Städte, Orte, Talschaften und Landschaften kurz nach deren Eroberung eine moderne, also französische Verfassung, zusammen mit dem einheitlichen, modernen, französischen Recht, setzte damit einer jahrhundertealten Willkür ein abruptes Ende und brachte somit Freiheit und Demokratie tout court ins Land, wenn auch nur für den männlichen Teil der Bevölkerung ab 21, dazu eine komplett neu geschriebene Geschichte der neu geschaffenen Nation, die bis weit ins Hochmittelalter zurück reichte, bis ins unheilige Interregnum, angesichts der Tatsache, dass jegliche Geschichte immer und ausschließlich von den Siegern geschrieben wird, und niemals von den Verlierern.

Endlich bescherte er dem soeben neu erfundenen Land gegen dessen eigenen Willen landesweit auch noch die gültigen französischen Dezimalmaße, dazu moderne Landkarten für die militärischen Bedürfnisse, sowie einheitliche militärische Begriffe und Bezeichnungen und überhaupt moderne, also französische Vorstellungen von Kultur, Wirtschaft, Justiz, Wissenschaft, Armee und Politik, alles neue, unbekannte Ideen, verbunden mit wahrhaft Aufsehen erregenden Projekten und kühnen Konzepten zu nahezu allem und jedem, was fürderhin jemals anstehen mochte. Es gab ja in der gottvergessenen Gegend sonst nichts, weil da zunächst einfach gar nichts vorhanden war, nichts Brauchbares jedenfalls.

Der Empereur machte somit aus der leichten Eroberung, die insgesamt nicht länger als ein paar Tage, höchstens ein paar Wochen gedauert hatte, kurzum ein neues Land in Europa, wenn auch nur ein kleines und unbedeutendes und von aller Welt abgeschnittenes. Es war ja nicht größer als eine halbe Handfläche auf der europäischen Landkarte, nicht größer als ein Stecknadelkopf auf dem Globus, doch es ward somit immerhin erstmals zu einem nahezu fest umrissenen Land mit richtigen, gültigen und anerkannten Landesgrenzen, wenn auch reichlich künstlichen, also äußerst willkürlichen und vor allem erheblich zufälligen und zuweilen sogar völlig absurden, also eigentlich rundweg unverständlichen und somit fraglos unbrauchbaren. Kurz, er erfand ganz einfach die RTF, die République Transplantatoire Fortuite, wie wir noch sehen werden, die Transplantatorische Zufallsrepublik, sogar mit einer richtigen Hauptstadt, wie wir auch noch sehen werden. Der Citoyen suisse sollte merken: Wir sind auch wer. Wir gehören auch dazu. Wir haben es geschafft.

Das zwar ziemlich zentral gelegene, doch bis an-hin nahezu unbekannte, weil völlig verschnarchte, jetzt aber unvermittelt heftig zu Tode erschrockene Landstädtchen namens Furz an der Brunze, als einem nur locker Zugewandten Ort, der vorher, zusammen mit dem ganzen Jura, dem Bischof von Basel gehört hatte, wurde über Nacht überraschend zur provisorischen Landeshauptstadt erklärt. Niemand wusste und niemand weiß, also auch heute noch nicht, was den unberechenbaren Usurpatoren in Paris geritten hatte, als er solcherlei Absurdes zwischen zwei wichtigen Sitzungen des Konsulats verfügte, denn es konnte und durfte natürlich nicht Bern sein, noch Zürich oder Genf oder Basel, musste aber wegen der Verkehrsbedingungen einigermaßen zentral gelegen sein.

Selbst die verblüfften Einheimischen, also die Citoyens des neu geschaffenen Landes, mussten sich jetzt erst mal ratlos fragen: „Furz an der Brunze? Was ist das? Wo ist das? Was soll das? Wie heisst das?“

In der Tat: Das nahezu unbekannte, weil völlig bedeutungslose Landstädtchen, an der Brunze gelegen, einem klaren Flüsschen voller fetter Forellen, das immerhin sauber und kostenlos, sauerstoffreich und munter von den weiten, grünen Hügeln herab etliche Mühlen, Walzen, Drahtzüge und Sägen treibend durch die Vorstadt sprudelte, kannte damals kein Mensch außerhalb von Furz selber. „Das muss ein französischer Furz sein!“ stöhnten folglich die daselbst so wundersam Befreiten und jetzt fürwahr wunderbar Gleichgestellten, denn niemand hatte bis anhin von Furz an der Brunze etwas gehört, also nicht einmal die perplexen Bewohner dieses soeben neu entstandenen Landes mit dem nahezu unaussprechlichen Namen RTF („Ärtheäff“) selber.

L’Empereur führte indessen subito und natürlich ungefragt seinen Code und seine modernen republikanisch-demokratischen Spielregeln ein und ließ den völlig überraschten Untertanen von nun an ungewohnt freien und, noch ungewohnter, rechtsgleichen Citoyens des umgehend auserwählten Landes kurzum erklären, sie seien jetzt endgültig aus der mittelalterlichen Sklaverei des Feudalismus befreit worden und hätten die Ketten der Knechtschaft erfolgreich gesprengt. Somit seien sie fortan alle einander gleichgestellt, was logisch und heutzutage modern sei, behauptete er, längst zurück in Paris, kühn. Sie seien jetzt rechtlich und somit auch politisch liberalisiert, egalisiert und fraternisiert, seien ab jetzt bis in alle Zukunft weder Hinter-, noch Vordersaßen, weder Zugewanderte, noch Zugewandte, weder Gemeine, noch Beherrschte und deshalb auch nicht Untertanen von irgendwem oder irgendwas. «Wie? Was? Wie bitte? Wo bitte?»

Denn ab sofort stellen sie allesamt und unterschiedslos und mit allen demokratischen Rechten ausgestattete Wählbare dar, erklärte er den verblüfften Einheimischen – zumindest die Männer ab 21. Selbige seien jetzt also kraft der Revolution lauter ehrbare und vor allem gleichberechtigte Bürger ihres eigenen Landes geworden, genau wie die Franzosen in Frankreich, dem Mutterland der Freiheit auch. Ja, es seien umgehend Liberté, Egalité und Fraternité endlich auch in der Fortuite angekommen, die sich jetzt glücklich wähnen möge, zu den auserwählten Nationen der Französischen Revolution zu gehören. «Wie? Was? Wie bitte? Warum bitte?»

Doch das war an sich einfach und durchaus verständlich, weil zudem die örtliche, gebildete, rein erbrechtlich orientierte Oberschicht, mit der er allenfalls hätte verhandeln müssen, wenn er denn überhaupt jemals hätte verhandeln wollen, mehr oder weniger geschlossen, doch in deutlicher Panik nach dem sicheren Österreich oder gar nach dem noch sichereren England geflüchtet war. Weg waren sie. Von einem Tag zum andern. Alle. Wie auf Kommando. Wie der Blitz. Leider nicht auf Nimmerwiedersehn, wie wir es uns gerne gewüscht hätten. Trotzdem hieß es von nun an fast allerorten:

Vive l’Empereur! Vive la République! Vive la Fortuite! Vive la France! Vive la Révolution! Vive Napoléon! Pfiiffe Lampenöu!

Doch ausgerechnet dieser Napoleon verlor bekanntlich nach zwanzig schrecklichen Kriegsjahren seinen großen, gesamteuropäischen Krieg, was uns wieder einmal eindrücklich zeigt, dass man sich politisch niemals vorschnell festlegen sollte, wenn man nicht unverdient und völlig unverschuldet für nachträglich als sehr unpassende politische Haltungen, Handlungen und Entscheide haftbar gemacht werden möchte. Aber die Fortuite war ja zum Glück nur ein winziger, nutzloser Blinddarm im Gedärm, verglichen mit der Situation der europäischen Gross- und Kleinmächte.

Der zutiefst aus seinem Tiefschlaf aufgeschreckte europäische Hochadel musste nämlich schleunigst zusehen, dass er seine großen und kleinen Territorien, seine großen und kleinen Ländereien und somit seine göttliche Berufung und himmlische Bedeutung subito wieder ans Trockene kriegen konnte, bevor seine Untertanen etwas von der Liberté, der Egalité und der Fraternité etwas merken und mitbekommen konnten und somit auch haben wollten, versteht sich, denn nichts fürchten die Herrschenden mehr als die Unberechenbarkeit des eigenen Volkes. Die Französische Revolution war zwar vorläufig gescheitert, einverstanden, doch aus der Ferne leuchteten immer noch hell und klar die Vereinigten Staaten von Nordamerika mit ihrer republikanischen Verfassung, mit ihrem ganzen Demokratiekonzept, mit ihrem Wahlkonzept und Wahlsystem, mit ihren geradezu unerhörten persönlichen Freiheiten, mit ihren in den Augen des Adels degoutant unnatürlichen Menschenrechten und mit ihrer ganzen, sträflich republikanischen Haltung: Das war eine einzige antieuropäische Provokation gegen jede göttliche Gesellschaftsordnung und somit gegen jeden göttlichen Willen und gegen jedes göttliche Tun und Wollen gerichtet, also eine einzige, allerdings gigantische Blasphemie gegen Gott selber, bestätigten die Klerikalen pflichteifrigst allen Zweiflern.

Schon begannen für die Sieger die längst absehbaren Probleme mit den unverständlich unverständigen und unangebracht eigenwilligen Leuten auch aus der ehemaligen République Transplantatoire Fortuite. Was sollte jetzt mit der reichlich überflüssigen, eigentlich absolut unwichtigen und zudem auch noch völlig verstörten und wie immer heillos in sich verkrachten RTF geschehen? Genau das fragten sich, allerdings eher nebenbei, auch die verdächtig gelassenen, etwas gar uninspirierten, deutlich zerstreuten und sogar recht angewiderten Deputierten in Wien, einige der wichtigsten Repräsentanten Europas, vor allem englische und russische Diplomaten, und Gott allein weiß, warum.

Zwischen zwei ausufernden Trinkgelagen wurde indes allen klar: Die Karte Europas musste nach der unerhörten französischen Anmaßung vollständig neu gezeichnet, die Geschichte wiederum völlig umgeschrieben, die Gewichte endlich wieder gerecht verteilt und deshalb die Ansprüche der Großmächte absolut neu definiert werden. Ordnung musste wieder her, und zwar subito! Ein europäisches Gleichgewicht, die Göttliche Ordnung!

Immerhin war man im brummenden, brausenden, ja, bacchantischen Wien in ein wahrhaft grandioses Gelächter ausgebrochen, als die untereinander schon seit mehreren Jahrhunderten haltlos zerstrittenen und deutlich unbeholfenen, weil eher ruralen Vertreter der einzelnen winzigen, aber umso überheblicheren Fortuite-Käffer wegen jahrhundertealter Dauerkomplikationen aus gegenseitiger chemischer Unvereinbarkeit und biologischer Unverträglichkeit nur noch separat vorgesprochen und umfangreiche Privilegien für sich selber und ihre winzigen Provinzchen, bedeutungslosen Landstädtchen und mikroskopisch kleinen Ortschaften verlangt hatten, weil sie sich untereinander selbstverständlich nicht nur nicht hatten einigen können, sondern weil sie sich vor allem schon seit vielen Jahrhunderten wegen allerhand lokaler Kalamitäten und regionaler Konflikte, immerzu begleitet von abgrundtiefen religiösen und geografischen, aber auch wirtschaftlichen Unverträglichkeiten, in den Haaren gelegen hatten und sich im Hinblick auf eine allfällige Fortsetzung ihrer eigenen Geschichte vorgängig nächtelang in ihren sauber getrennten wienerischen Herbergen wie ehedem sehr handgreiflich gezankt und geprügelt hatten, wie man aus Spitzelkreisen amüsiert hörte und natürlich genüsslich kolportierte. Sie zankten sich, weil sie nichts anderes kannten und weil sie einander nicht einmal das kalte Wasser gönnen konnten.

Die kleine Fortuite war den Siegern des Jahrhunderts in der Tat ein nahezu endloses Gelächter wert: Die Leute auf dem Land vertrugen die Leute in den Städten nicht, und umgekehrt, die Protestanten vertrugen die Katholiken nicht, und ebenfalls umgekehrt, und beide vertrugen die sog. Außersaßen, die Zusaßen und die Hintersaßen nicht – und umgekehrt auch. Untertanen in ihren diversen, feinen Abstufungen vertrugen die Patrizier in ihren diversen, feinen Abstufungen nicht, und umgekehrt, die Reichen vertrugen die Armen nicht, ebenfalls in sämtlichen Abstufungen, und dies natürlich auch umgekehrt, die Sesshaften vertrugen die Obdachlosen und die Zigeuner nicht, die äußerst verschiedenen sozialen Schichten, Kasten und Klassen vertrugen einander auch überhaupt und ganz grundsätzlich nicht, die Handwerker-Zünfte hatten auch ständig Krach untereinander und gleichzeitig mit allen andern, der gesamte Handel lahmte deutlich und hinkte schwerfällig hinter den bescheidenen Möglichkeiten her, die lokalen Zölle waren exorbitant, das ganze Zollwesen lachhaft kompliziert und absolut korrumpiert, die Versorgungssicherheit katastrophal, die mehr als eigenwilligen Bauern, immerhin gut neunzig Prozent der Bevölkerung, vertrugen einander sowieso nicht, und zwar grundsätzlich nicht, vorsätzlich nicht, absichtlich nicht und ausnahmslos nicht, bis in die feinsten Verästelungen nicht, die verschiedenen Handwerksinnungen lagen sich schon seit Jahrhunderten um gewisse oder eventuell tatsächliche oder auch nur angebliche Vorrechte in den Haaren, und das wild wuchernde Finanzwesen war ein einziger, unübersichtlicher, doch trickreicher Dschungel von verschiedenen Währungen mit ständig wechselnden Kursen und Werten und Valuten. Volatilität, wohin man blickte!

Die permanente Rechtsungleichheit und Rechtsunsicherheit im ganzen Land wollen wir hier gar nicht erst zur Sprache bringen, weil sie von uralten Privilegien bis hin zur Todesstarfe, also bis zum Galgen oder bis zum Richtschwert reichte, das übrigens reichlich zur Anwendung kam, allerdings fast immer nur gegen die Armen. Währungen, Maße, Vorrechte und entsprechende Gesetze gab es ebensoviele wie Teilnehmer an den nie enden wollenden Krächen, die obrigkeitlichen Bewilligungsverfahren gestalteten sich noch intrigenreicher als alle Intrigen zusammengenommen, und die behördlichen Zusagen, Bewilligungen und Gestattungen aller Art waren meist rein zufällig, völlig willkürlich und natürlich absolut korrumpiert, weil allein deren Inkraftsetzung stets von der Höhe der Schmiergelder abhing, und sie entbehrten zudem zusätzlich, vorsätzlich und grundsätzlich jeglicher Rechtsgrundlage.

Die bekloppten Bewohner der einen, sonnigen Talhälfte vertrugen diejenigen auf der andern, schattigen Seite nicht, und umgekehrt, die einen hassten die Pfaffen, die andern beteten sie an, und alle hassten sie die Vornehmen, die Ausländer, die Halbstarken, die Töfflibuben, die Juden, die Zigeuner und die spärlichen Touristen aus Britannien. Immerhin gab es noch fast keine Ausländer, und was ausländische Arbeitskräfte sind, wusste damals noch keiner. Selbst die Vornehmen verabscheuten sich plötzlich untereinander und gegenseitig nach der ersten Lektüre von Voltaire und ganz besonders von Jean-Jacques Rousseau, warfen empört ihre teuren Perücken, Stöckelschuhe und Korsetts weg, wie man das schon vor fünfzig Jahren in Paris begeistert gemacht hatte, gründeten alternative Bewegungen und esoterische Salons. Die vornehmen Damen entließen ihre langjährigen, zuverlässigen Ammen in die definitive Armut und reichten ihren Neugeborenen neuerdings selber ihre eigenen blassen, blaugeäderten Brüste – es wurde richtig abstoßend, um nicht zu sagen: dégoutant.

Die wenigen Gebildeten des unglücklichen Landes verachteten auf einmal sogar das Papier, auf welchem gültige Verträge, neue Gesetze und zukünftige Verfassungen hätten zu stehen kommen sollen, oder zumindest die Tinte, mit der sie allenfalls in akkurater Schönschrift hätten geschrieben werden müssen; die Leute diesseits eines Baches verabscheuten diejenigen auf der anderen Seite des Baches, und dies galt ebenso für die Dorfstraßen. Die reichen Bauern vertrugen die armen Bauern nicht, noch deren Mühen, Qualen und Sorgen, und umgekehrt ging auch nichts, und sei es nur aus reinem Neid geschehen. Die Kuhhirten bekämpften die Schafhirten, die Ziegenhirten die Kuhhirten, und alle hassten sie gleichermaßen intensiv die Schweinehirten, wie auch die Viehhändler und die trickreichen Störmetzger, versteht sich, die sowieso. Die Sesshaften vertrieben die Heimatlosen, und die Christen die Juden und so weiter. Dieu seul sait pourquoi. Die Bauleute trauten den Bauherren nicht mehr über den Weg, und auch die Kaufleute misstrauten neuerdings einander, hassten sich abgrundtief und bezichtigten sich gegenseitig des Betrugs, so wie sie auch die Säumer und die Schiffer, die Wagner und die Fuhrleute, die Zöllner und die Landjäger verachteten, nämlich genau so, wie auch die Steinmetze die Bauleute, die Bauern die Müller und die Zimmermänner die reichen Schreinereibesitzer verachteten. Und genau so, wie die Heimweber die Tuchhändler anfeindeten oder die Ledergerber die Schuhmacher, so verabscheuten die Garnspinner die Heimweber abgrundtief, und beide zusammen unisono die Rohstoff-Lieferanten aus dem Ausland und so weiter und so fort. Es war kein Ende der ständigen Streitereien in Sicht.

Somit gab es eigentlich niemanden weit und breit, der in der RTF für ein friedliches, geordnetes und landesweites Zusammenleben auch nur annähernd geeignet gewesen und auch persönlich eingestanden wäre, niemand, Ehrenwort. Selbst Eheleute verachteten einander ein ganzes Eheleben lang abgrundtief, was schon damals durchaus die Regel darstellte, und nicht etwa die Ausnahme, wenn denn schon damals alles schieflaufen musste, was jemals schieflaufen konnte, dann stimmte Murphy’s law schon damals, und alle zusammen vertrugen sie einhellig die Juden und die Zigeuner nicht, wie gesagt, das verstand sich sozusagen von selbst; das gehörte sogar zum guten Ton und war eine reine Ehrensache, selbst dann, wenn die Leute im Dorf noch gar nie einen gesehen hatten, einen Juden oder einen Zigeuner, und folglich auch gar nicht wissen konnten, was das ist, denn der Hausierer an der Haustür war einfach der Hausierer an der Haustür, und sonst nichts, ein armes Schwein, das von Tür zu Tür und von Dorf zu Dorf Bürsten und Lappen, Kämme und Töpfe verkaufte, so wie die Scherenschleifer Scheren schleiften und die Schirmflicker Schirme flickten. Oder gerade deshalb nicht.

Denn wenn keiner mehr übrigblieb, dem man sein gesamtes, lange und sorgsam gehegtes Frust- und sein sorgfältig gesammeltes Hasspotenzial entgegenwerfen konnte, durfte man praktischerweise immer noch unwidersprochen den Juden und den Zigeunern die Schuld für alles Missratene und Misslungene geben, kein Problem, darin waren sich alle einig. Oder den Ausländern ganz generell, obschon man in einem Land, das noch gar nicht richtig bestand und wahrscheinlich auch keinen Bestand haben würde, ja nicht wirklich von Ausländern sprechen konnte, weil ja, genau genommen, ab 1815 alle irgendwie wieder zu rechtlosen Ausländern im eigenen Land geworden waren. Es herrschte einen Hungersnot nach dem grossen, europäischen Krieg, der alles vernichtet hatte, und da musste jeder selber für sich schauen.