Kurzgeschichten Band 2 - Helmut Pätz - E-Book

Kurzgeschichten Band 2 E-Book

Helmut Pätz

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Beschreibung

Sammlung von Kurzgeschichten, die ab 1956 in zahlreichen, auch internationalen, Zeitungen und Zeitschriften publiziert wurden

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Inhaltsverzeichnis

Das Glück der anderen

Der schönste Beruf der Welt

Die andere

Die schönste Liebesgeschichte

Ich ging ihm nach

Ein Umweg

Ein Wiedersehen

Ein ganz besonderer Tag

Ein großes Talent

Eine ganz und gar alltägliche Frau

Fünf Stockwerke Angst

Gedanken in der Nacht

Nebenbei erzählt

Seit jenem Tag

Sie hatte Angst

Sie hörte Schritte

Unter der Rotbuche

Wie zwei Fremde

Und trotzdem war es ein guter Tag

Aldo mit den zarten Händen

Amors Pfeil trifft jeden

Mein Kind

So ändern sich die Zeiten

Und Mutter lachte

Die Entscheidung

Die Prüfung

Ein Abend zu dritt

Ein guter Staatsbürger

Es stand in der Zeitung

Johnsons Hund

Kein Preis für Bello

Später Anruf

Unser Onkel Tobias

Wir haben ein Aquarium

Worauf es ankommt

All die vielen Jahre

Alte Möbel zum Spottpreis

Blumen für Liddy

Chinesisches Reisfest

Der Baum gehört mir

Der Zylinderhut

Der geheime Wunsch des Herrn Huber

Es war ihre Entscheidung

Fußtritt aus dem Jenseits

Held wider Willen

Zehn Minuten vor Abfahrt

Nina, kleines weißes Täubchen

Sekunden der Entscheidung

Sie hatte schon immer zu viel Fantasie

Sie hätte nicht kommen dürfen

Und was machen wir mit ihm?

Werbung- mal ganz anders

Aber er hat doch alles

Als der Morgen graute

Besuch in der Frühe

Der „Herr Matthies“

Ein glücklicher Mensch

Ein Hund muss bellen

Ein Zug kam

Es war kein Sonntag

Kleiner Laden nebenan

Koslowski tut nichts umsonst

Da stand ein Baum

Der Finderlohn

Mein Stück Land

Nachmittag mit Bettina

Tauben auf dem Dach

Der zweite Mann

Die Ehrenrunde

Die Zielscheibe

Ein Parkplatz bei der Firma

Ein seltenes Jubiläum

Einer wie er

Für Jens durchs Watt

Ganz oben

Das Glück der anderen

Sie blickte hinab auf die stille Straße, und ihre unruhigen Hände zerknüllten das Taschentuch. Dann trat sie aufseufzend vom Fenster in das Zimmer zurück. Der kleine Tisch war für zwei Personen liebevoll gedeckt. Sie rückte schnell noch hier eine Tasse zurecht, glättete da ein Fältchen im weißen Damasttischtuch und schob die Kristallvase ein wenig mehr in die Mitte, wobei sie daran dachte, dass sie ihr wöchentliches Budget um diese fünf blassrosa Nelken beträchtlich überzogen hatte.

Und wieder las sie das Telegramm: "... bin auf der Durchreise. Komme auf ein Stündchen vorbei... Martina...“

Sie hatte sich ordentlich ranhalten müssen, wie es so ist, wenn man überraschend Besuch erwartet. Und während sie den Teppich absaugte, die Möbel überpolierte, die nötigen Einkäufe tätigte und dann den Tisch deckte, dachte sie fortwährend an Martina. Sie konnte es immer noch nicht fassen. Martina kam! Die berühmte, die gefeierte, die große Martina! Martina, deren wundervolle Stimme die größten Opernhäuser der ganzen Welt erobert hatte!

War nicht eine Ewigkeit vergangen seit der gemeinsamen glücklichen Jugendzeit? Dieselbe Straße, in der man wohnte, dieselben Spiele, dieselben Streiche, dieselben Verbote und Strafen! Ewige Treue und Freundschaft hatte man sich geschworen, damals, und sich doch schon so bald nach der Schulzeit aus den Augen verloren. Gewiss, anfangs schrieb man sich noch, aber die Briefe wurden seltener, und schließlich hörte die Verbindung ganz auf. Sie selbst hatte geheiratet, war glücklich und zufrieden und mit ihrem Mann und ihren zwei gesunden Kindern, so wie sie es sich von Kind auf vorgestellt hatte. Martina aber – sie war entschwunden - war für sie unerreichbar geworden. In der Zeitung hatte sie von ihr gelesen, hatte ihre herrliche Stimme im Radio und auf CDs gehört und dann immer wieder ihren Mann und ihren Kindern von den gemeinsam verbrachten Mädchenjahren erzählt...

Als unten ein Auto hupte, schrak sie zusammen und eilte ans Fenster. Wirklich, es war Martina, die da unten stand und strahlend zu ihr hinaufwinkte. Elegant und gepflegt, von Kopf bis zu den Füßen. Sie schalt sich insgeheim selbst eine Närrin, aber, weiß Gott, ihr Herz schlug ihr bis zum Hals.

Und dann hielten sie sich umfangen - und alles scheinbar Fremde, Trennende war in diesem Augenblick vergessen. Was für eine aparte, auffallende Erscheinung war Martina doch geworden, schöner eigentlich noch als früher. Sie hatte den Jahren wirklich keine Gelegenheit gegeben, sich an ihr bemerkbar zu machen. Und lachend und wohlig aufseufzend ließ sich Martina in den Sessel fallen, während sie selbst vergeblich nach einer passenden Vase für den riesigen Strauß prachtvoller, gelber Teerosen suchte.

„...gemütlich...“ sagte Martina wohlig und anerkennend, während sie sich umschaute, "wie gemütlich hast du es hier..." Und jetzt, da sie sich unbeobachtet glaubte, wirkte ihr Gesicht plötzlich alt, verfallen und unendlich müde. Für einen winzigen Augenblick nur. Aber es hatte genügt, um die Freundin die Wahrheit erkennen zu lassen. Und irgendwie - ihre eigene Unsicherheit war wie weggewischt.

Dann saßen sie sich gegenüber und erzählten abwechselnd von ihrem Leben, - die eine vom Erfolg, aber auch von den Schattenseiten des Ruhmes, von stundenlangen Proben, von den vielen ermüdenden Pflichten, von der ewigen Hetze und randvoll beschriebenen Terminkalendern, die andere vom Glück in der Familie und der häuslichen Geborgenheit, aber auch vom Kummer über Krankheiten und Unarten der Kinder und den, naja, nicht enden-wollenden Sorgen um das leidige Geld.

Zwischendurch schwiegen sie auch mal, sahen sich nachdenklich an und lächelten zuweilen...

Schnell, viel zu schnell kam dann der Abschied. Das ungeduldige Hupen eines Autos, eine kurze, aber warmherzige Umarmung, ein letzter Blick. Und dann kehrten sie beide in ihr eigenes Leben zurück. Und jede würde die Erinnerung an die andere in sich tragen, ein Wunschbild fast, das ihnen Stärke und Kraft gab, mit dem eigenen Leben fertig zu werden.

Irene Pätz

Der schönste Beruf der Welt

Es war still.

Conrad blickte vom Fenster zurück in die Klasse. Die ersten schrägen Strahlen einer frühen Vormittagssonne fielen auf die blonden und braunen Mädchenköpfe, die über die Aufsatzhefte gebeugt waren. Hin und wieder vernahm er das Wenden eines Blattes. Und dann blieb sein Blick an Marlies haften. Eigentlich war sie sein einziges Sorgenkind in der Klasse. Nicht, dass sie besonders laut oder übermütig gewesen war. Im Gegenteil. Sie schien es sogar darauf anzulegen, durch nichts, aber auch durch gar nichts auffallen zu wollen, weder durch besonders gute Leistungen noch durch irgendwelche Streiche, die ihr sicherlich die fehlende Zuneigung der Klassenkameradinnen eingebracht hätten.

Über ein Jahr war sie nun schon hier bei ihnen. Aber es schien ihr nicht gelungen zu sein, zu irgendeinem der anderen Mädchen in engeren Kontakt zu kommen. Immer noch wirkte sie wie ein Fremdkörper. Und wenn sich die anderen lachend und schwatzend in den Pausen zusammendrängten, stand sie abseits, mit jenem stillen Gleichmut, der Einsame umgibt. Einmal aber hatte er einen Blick von ihr aufgefangen, einen Blick so voller Sehnsucht nach Gemeinsamkeit, dass er fast erschrak. Er hatte oft darüber nachgedacht und dann mit dem Direktor, einem erfahrenen, verständnisvollen Pädagogen, darüber gesprochen. "... das ist allein Sache der Mädchen. . . " hatte der gemeint, ". . . man sollte die Dinge sich selbst überlassen. Ein Eingreifen von dritter Seite kann sich manchmal verhängnisvoll auswirken... so etwas regelt sich meistens von selbst..." Zusammen hatten sie dann noch in den Personalakten geblättert, aus denen hervorging, dass Marlies schon recht früh ihren Vater verloren hatte und die Mutter mit den Kindern hierher gezogen war...

Vom Fenster her zog die Sonne lange Schatten durch den Raum und eine Fliege summte durch die Stille.

Herr Conrad lächelte in die vielen jungen Gesichter hinein, die ihn erwartungsvoll ansahen. Er öffnete die Aktentasche und legte den Stapel Hefte vor sich aufs Pult. "... die Aufsätze sind recht gut ausgefallen. Ihr habt das Thema 'Was ich einmal werden möchte’ voll erfasst und sinnvoll behandelt ... insgesamt gesehen sind es die bisher besten Aufsätze dieses Jahres geworden..."

Eine leise Unruhe machte sich bemerkbar, als er sich anschickte, die besten Arbeiten vorzulesen. Doch dann wurde es wieder still, und voller Anteilnahme folgte man den kühnen Plänen der blonden Grit, die als Astronautin den Himmelsraum zu erobern gedachte, amüsierte sich dann köstlich über die Pläne der stets übermütigen Dagmar, einmal als weltberühmter, weiblicher Clown die Menschen in allen Erdteilen zu nicht enden wollenden Lachstürmen hinreißen zu können, und lauschte ergriffen und hingerissen zugleich den Worten der Klassenbesten, der strebsamen Gertrud, die als Ärztin in den Urwald gehen wollte, um den notleidenden Eingeborenen zu helfen... Und dann kam das letzte Heft. Immer war es der beste Aufsatz gewesen, den Herr Conrad bis zum Schluss aufhob. Wessen Heft mochte es dieses Mal sein? Mucksmäuschenstill war es, und in dem Raum knisterte es vor Spannung.

"Diese Arbeit hat Marlies geschrieben. Ich möchte weiter nichts dazu sagen. Ihr sollt Euch selbst ein Urteil bilden ...“

Und dann las er vor. Kein Laut war zu hören. Kein Ruf des Entzückens, der Spannung, der Überraschung, nicht das leiseste Kichern oder Tuscheln wie sonst.

Es war die Geschichte eines Mädchens, das von seiner Mutter erzählte. Man erfuhr etwas über den Vater, der als Forstbeamter durch einen stürzenden Baum tödlich verletzt worden war, hörte von dem Haus tief im Wald, das sie verlassen mussten, weil es von dem Nachfolger bezogen werden sollte, und erfuhr vor allem von der Mutter, die das alles aufgeben und mit den Kindern woanders hinziehen musste. Da klang in einfachen, kindlichen Sätzen etwas durch von Entbehrungen, aber ebenso auch von tapferer Fröhlichkeit und liebevoller Sorge der Mutter in durchwachten Nächten am Bett des einen oder anderen kranken Kindes. Es war die Geschichte einer Mutter, die ihren Kindern das gab, was sie am meisten brauchten: Liebe und Güte, Verstehen und Duldsamkeit, gepaart mit viel Toleranz und nie versiegendem Humor...

Und dann kam der letzte Satz dieses Aufsatzes. Schlicht und einfach und gerade darum so überzeugend und glaubhaft: "Was ich einmal werden möchte? ... Ich möchte einmal so werden wie meine Mutter, ja, das möchte ich..."

Langsam klappte Herr Conrad das Heft zu. Er sah in lauter nachdenkliche Gesichter. Lange, nachdem er geendet hatte, herrschte Stille im Raum. Eine ganze Weile, bis sie jäh zerrissen wurde durch das schrille Läuten der Schulglocke, die das Ende der Stunde anzeigte. Er schob die Hefte in die Tasche zurück, wortlos und verließ langsam den Klassenraum. Aber noch im Hinausgehen sah er, wie eines der Mädchen nach dem anderen zu Marlies hinüberging und wie schließlich alle ihren Platz umringten.

Jetzt ist alles in Ordnung, dachte er. Er kannte seine Mädels, und er wusste, dass Marlies jetzt in der Schule viele Freundinnen haben würde...

Irene Pätz

Die andere…

Es geschah, als die Frau im Pelzmantel aus ihren Wagen stieg. Der kleine Junge rannte so heftig gegen sie, dass die Pakete, die sie in der Hand und unter dem Arm trug, auf die Erde fielen. Erschrocken sah er sie an und fing an zu weinen. Da war auch schon seine Mutter bei ihm und stellte ihn energisch wieder auf die Beine. "Du Nichtsnutz", schalt sie liebevoll, während sie ihm den Schmutz von den Hosen klopfte, "schnell, entschuldige dich bei der Dame und heb die Pakete auf..." Verlegen richtete sie sich auf. "Hoffentlich ist nichts kaputtgegangen..." Die Dame winkte ab. Es macht nichts, wirklich nicht. Die Hauptsache ist doch, dem Jungen ist nichts passiert..." Freundlich und fast ein wenig abwesend lächelte sie den beiden zu, ehe sie durch das schmiedeeiserne Tor ging, hinter dem ein Weg zu einer weißen Villa führte.

Es wurde schon dunkel, als die Frau ans Fenster trat und in den Garten hinaussah. Wo ihr Mann nur wieder blieb? In einer Viertelstunde würden die ersten Gäste da sein. Manchmal hatte sie das Gefühl, als ob auch er selbst nur Gast in seinem eigenen Haus war. Wichtige Konferenzen, Auslandsreisen, stundenlange Telefongespräche mit Geschäftspartnern - für sie blieb da nicht viel Zeit übrig. Und dann immer wieder diese ermüdenden Parties! Fremde Menschen, ihr völlig gleichgültig, leere Gesichter und inhaltslose Gespräche. Ach, wie satt sie das alles hatte! Und plötzlich, ganz übergangslos, fiel ihr die Szene von heute Morgen ein. Wie zärtlich, trotz allen Unmuts, hatte die Mutter ihren Jungen aufgehoben. Und im Geiste verfolgte sie den Weg dieser jungen Frau... Wie sie mit dem Jungen an der Hand nach Hause geeilt sein mochte, nach Haus, wo vielleicht noch ein kleines Mädchen im Kinderbettchen schlief mit roten Wangen und leicht geöffnetem Mund. Und wie sie dann alle gemütlich um den Tisch saßen, und sie mit ihnen spielte oder ihnen eine Geschichte erzählte. Und dann, pünktlich wie immer, würde es klingeln, und alle würden zur Tür stürzen, um den heim-kehrenden Vater zu begrüßen, der lachend zurückweichen mochte vor so viel Überschwang, um sie dann aber liebevoll alle zu umarmen...

Die Frau am Fenster seufzte tief auf. Nein, sie wusste es sicherlich nicht, die andere, wie gut das Schicksal es mit ihr gemeint hatte.

Die ersten Gäste kamen. Aus dem Dunkel ihrer Gedanken trat sie zurück ins Licht und schritt ihnen lächelnd entgegen...

Die junge Frau ließ sich auf den Stuhl fallen. Sie musste sich erst mal ausruhen. Die Kinder waren im Bett, und der Mann war auf einen Sprung zu einem Freund gegangen. Sie hatte erst nachkommen wollen, aber die Arbeit schlug ihr mal wieder über dem Kopf zusammen. Und jetzt hatte sie einfach keine Lust mehr. Der Junge hatte ein wenig über Schmerzen im Knie geklagt, und sie hatte ihm nach dem Baden ein großes Pflaster über den blauen Fleck geklebt, worauf er stolz ins Bett geklettert war. Nur Kathrinchen hatte angefangen bitterlich zu weinen, weil sie auch so ein schönes Pflaster aufgeklebt haben wollte. Und ihren Brei hatte sie auch mal wieder nicht aufgegessen. Sie war sowieso so ein magerer, kleiner Spatz. Dann fiel ihr plötzlich die Hose ein, die der Junge heute Morgen bei dem Zusammenstoß mit der fremden Frau zerrissen hatte. Du meine Güte, - es war seine beste! Und während sie den Stopfkorb hervorholte und wenig später sorgfältig die Nadel durch den Stoff führte, überkam sie die Müdigkeit wie eine unerträgliche Last. Eine ganze Woche würde sie durchschlafen, Tag und Nacht, ließe man sie gewähren. Die Frau von heute Morgen, die mit ihrem tollen Auto und der weißen Villa, die kannte bestimmt keine solche schreckliche Müdigkeit, keinen Stopfkorb, der immer voll war mit zerrissenen Söckchen und Höschen, keine Haushaltskasse, die immer leer war, keine Sorgen um heranwachsende Kinder, für die man immer da sein musste, die einen immer brauchten und die alle Kraft für sich forderten. Sie seufzte tief auf. Nein, sie wusste es sicherlich nicht, die andere, wie gut das Schicksal es mit ihr meinte.

Später hörte sie den Schlüssel im Wohnungsschloss, und ihr Mann trat ins Zimmer. Dann stand er vor ihr. "Müde?" fragte er teilnehmend.

Da schüttelte sie den Kopf und lächelte ihn an.

Irene Pätz

Die schönste Liebesgeschichte

Man muss sie einmal beobachtet haben, ganz unbemerkt, so eine kleine Runde älterer Damen. Man muss ihnen gelauscht haben, mit welcher Lebendigkeit, ja, jugendlichem Eifer sie sich unterhalten, einander die bunten Bälle der Erinnerungen zuwerfen, geschickt auffangen und blitzschnell weitergeben. Ich habe es miterlebt, als ich neulich im Cafe an so einem "Treffen" teilnehmen konnte, bei dem es dieses Mal um die "schönste Liebeserklärung" ging. Wie röteten sich da die welken Wangen, wie leuchteten die müden Augen auf, als da so manches zarte Geheimnis aus dem Wust unzähliger Erinnerungen hervorgekramt wurde.

Zuletzt kam schließlich jene zierliche, betagte Dame an die Reihe, die still, mit einem versteckten, ganz versonnenen Lächeln dem bunten Reigen der Erzählungen gefolgt war. Nach anfänglichem Zögern gab sie schließlich mit jenem Hauch kindlich-naiver Ziererei, der dem weiblichen Geschlecht jeden Alters so gut steht, diese kleine Begebenheit preis.

Sehr früh schon war sie Witwe geworden, und der Sinn ihres einsam gewordenen Lebens war es, dem einzigen Sohn den Vater, so gut es ging, zu ersetzen und einen rechtschaffenen, tüchtigen Menschen aus ihm zu machen. Ja, und ehe sie sich versah, war aus ihrem kleinen Richard ein großer Richard geworden.

"... er hatte sein Abitur mit Auszeichnung bestanden", fügte sie mit verhaltenem Stolz hinzu. Vielleicht hätte sie es auch gar nicht erwähnt, wenn das nicht letzten Endes der Anlass zu ihrer kleinen Geschichte gewesen wäre.

Sie wollte ihn also für das gute Abschlusszeugnis mit einer kleinen Party belohnen und bereitete selbst alles auf das liebevollste vor. Es herrschte dann auch bald eine ausgelassene Fröhlichkeit, und auch sie selbst fühlte sich trotz der vorangegangenen Mühen glücklich und unbeschwert, als ihr Blick plötzlich auf ihren Sohn fiel.

"... eigentlich war es gar nichts Besonderes, was ich da sah. Er stand nur da, umringt von einigen dieser jungen, fröhlichen Mädchen. Mir aber fiel es auf einmal wie Schuppen von den Augen. Mein kleiner, großer Richard - er war kein Kind mehr! Er war erwachsen, war ein Mann geworden.

Ach, meine Lieben, ihr werdet mir nachfühlen können, was in diesem Augenblick in mir vorging. Eine Welt versank für mich, eine Welt, die nur uns beiden, ihm und mir gehört hatte. Mein Junge trat nun ins Leben ein und mich würde er zurücklassen mit meinen Erinnerungen an vergangene schöne Zeiten. Es war ja das Natürlichste auf der Welt, was da geschah. Ich wusste das, aber den Schmerz, der mich befiel - den spüre ich noch heute..." Sie lächelte wehmütig. "Später dann, am Abend, trat Richard auf mich zu. Ich zog ihn verstohlen an mich und sagte lächelnd, wie im Scherz zu ihm :'Nun, mein Junge, welche von ihnen gefällt dir denn am besten?' Er wandte sich um, und sein nachdenklicher Blick wanderte über all die braunen und blonden Mädchenköpfe hinweg. Dann sah er mich wieder an, eine ganze Weile. Und dann sagte er langsam, fast verlegen: 'Weißt du, Mutti, für mich ist die die Schönste, die so ist wie du...'

Ich erhob mich aus meiner Ecke und verließ still, um die alten Damen nicht zu stören, den Raum. Zum ersten Mal erfuhr ich, dass eine Liebesgeschichte auch so aussehen konnte, und wenn man mich gefragt hätte, ich wüsste, wem ich den ersten Preis für die schönste zugeteilt hätte.

Irene Pätz

Ich ging ihm nach

Ich hatte geschlafen.

Ein kühler Luftzug weckte mich, als der Bus hielt, um einen einzigen Fahrgast an dieser entlegenen Station einsteigen zu lassen. Ohne irgend jemanden zu beachten, trottete er zum Führersitz und legte sich daneben nieder. In der wohligen Wärme der Motornähe war er bald sanft entschlummert.

Es war weiter nichts Besonderes an dem neuen Fahrgast, außer dass er ein Hund war. Kahle Flecken in dem zottigen Fell zeigten mir, dass er nicht mehr der Jüngste war. Niemand außer mir schien von ihm Notiz zu nehmen, und auch der Busfahrer strich ihm nur kurz einmal über den Kopf. Dennoch erschien es mir seltsam, dass man offenbar nur seinetwegen hier angehalten hatte und dass er ohne Begleitung war.

So blickte auch ich denn wieder hinaus auf die vom Pflug aufgebrochenen Äcker, über denen die ersten Nebelschwaden aufstiegen. Aber ich konnte nicht wieder einschlafen.

Schon zwei Stationen weiter erwachte der Hund aus seinem kurzen Schlummer, und der Fahrer hielt an, um ihn aussteigen zu lassen.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, erhob ich mich und verließ ebenfalls den Bus. Ich war neugierig geworden, und da ich zufällig Zeit hatte, folgte ich ihm.

Wir standen jetzt nebeneinander an der Autostraße. Auch jetzt noch schien er mich nicht zu bemerken. Als die Fahrbahn frei war, lief er schnell hinüber. Ich ging ihm nach. Für einen Augenblick stand ich unschlüssig vor dem großen, schmiedeeisernen Friedhofstor. Ich sah, wie er den Hauptweg entlanglief, an den dunklen Pappeln und Tannen vorbei, geradewegs auf die kleine Kapelle zu.

Er schien genau zu wissen, wohin er wollte.

Im Windschatten der Kapelle blieb ich stehen. Ich sah, wie er mit einem mächtigen Satz über eine Buchsbaumhecke sprang. Vor einem ungepflegten Grabplatz mit einem kleinen Stein blieb er stehen, beschnüffelte die welken Blumen, ließ sich nieder und legte den Kopf auf die Pfoten. So verharrte er regungslos. Ich trat vorsichtig näher.

"Ja... er ist unser treuester Besucher", sagte da jemand.

Neben mir stand in gebückter Haltung der Friedhofsgärtner. Er beschnitt gerade eine Hecke.

Ich begriff nicht. "Der treueste?"

Der andere richtete sich auf, nickte, und wies mit der Hand auf das Tier.

"Tag für Tag kommt er her. Immer um dieselbe Zeit. Seit sein Herr hier begraben liegt. Vor einem halben Jahr war das. Der Mann war blind, wissen Sie. Als wir ihn beerdigt hatten, blieb der Hund hier auf dem Grab liegen. Drei Tage und drei Nächte wich er nicht vom Platz. Da halfen keine Bitten und auch keine Befehle. Schließlich folgte er dann aber doch dem alten Martin, einem Eigenbrötler aus seinem Heimatdorf, der sich auf Hunde besser versteht als auf Menschen. Doch tagtäglich kehrte er zurück an das Grab seines Herrn, und jedes Mal musste der alte Martin ihn wieder holen."

Ich sah hinüber zu dem Hund, der einmal schläfrig auf blinzelte.

"Und was geschah dann?"

"Eines Tages wäre er dem Bus beinahe in die Räder gelaufen. Seitdem nimmt der Fahrer ihn immer mit, pünktlich zur Abfahrtszeit steht der Hund an der Haltestelle. Eine komische Geschichte, was? Dass es so etwas noch gibt in unsrer Zeit..."

Der Alte beugte sich wieder über seine Arbeit. "... aber der Hund," murmelte er, "der Hund, er ist der Treueste von allen..."

Nach einer halben Stunde ungefähr erhob das Tier sich plötzlich, schüttelte sich kurz, trottete an mir vorbei und ging denselben Weg zurück. Dieses Mal folgte ich ihm nicht. Wozu auch? Ich kannte ja jetzt seine Geschichte. Die Geschichte eines Geschöpfes, das den Begriff "Treue" wohl nur zu erahnen vermochte, das aber für diese Treue leben würde bis an sein eigenes Ende.

Helmut Pätz

Ein Umweg

Unruhig wälzte er sich auf die andere Seite und schob die Bettdecke weg. Die Müdigkeit quälte ihn, aber der Schlaf wollte nicht kommen.

Er lauschte in die Dunkelheit. Es war still, aber er ahnte, dass die Mutter nebenan in ihrem Zimmer auch nicht schlief.

Er wusste nicht, warum alles so gekommen war. Er konnte die Gedanken nicht zurückrufen. Es waren nicht seine Gedanken gewesen, nicht seine Gefühle. Es mussten die eines anderen gewesen sein Er selbst war weit weggewesen, für ein paar Stunden, für eine Ewigkeit. Und dann war er zurückgekehrt, hierher, in seine kleine Welt, aber die Last der Schuld, die er auf sich geladen hatte, drohte ihn zu erdrücken...

Es war alles so schnell gegangen.

Pichlers Schnellimbissbude. Außer ihm waren keine Leute da. Nur selten wartete hier jemand um diese Zeit auf einen der späten Busse in die Stadt.

Er hatte im Schatten gestanden, und als Pichler ihm für einen Augenblick den Rücken zugewandt hatte, griff er zu. Er wusste nicht, wie viel Geld in der Kassette war. Mehrere Scheine hatte er gesehen und auch etwas Kleingeld. Aber er hatte das Geld nicht einmal angerührt, denn Pichler hatte sich umgedreht, als ahnte er etwas.

Er war weggerannt. Zwanzig Schritte weiter standen schon die ersten hohen Bäume. Nein, Pichler konnte ihn nicht erkannt haben. Jeans und Parkas trugen viele Jungen seines Alters. Außerdem war alles viel zu schnell gegangen.

"Hilfe!" hatte Pichler gerufen, und dann noch einmal: "Hilfe ... Überfall..."

Immer wieder hörte er die Stimme, nahe erst, dann immer weiter weg, und schließlich war es auf einmal still. Er hörte nur noch das Rauschen des Windes in den schwarzen Bäumen und das Pochen seines eigenen Herzens. Keuchend lehnte er sich an einen Baumstamm.

Auf einmal war ihm klargeworden, was geschehen war. Er hatte etwas tun wollen, etwas Verbotenes, Ungeheuerliches. Er hatte sein Vorhaben nicht ausgeführt, nicht ausführen können aber die Schuld war geblieben. Er glaubte, dass jeder es ihm ansehen müsste, sogar jetzt in der Dunkelheit. Dabei war es ganz einsam hier um diese Zeit, und die öffentlichen Wege hatte er sowieso gemieden. Er kannte den Wald. Hier waren sie aufgewachsen, er und Walter.

Ja, er musste zu Walter!

Walter würde ihm helfen. Sie hatten sich immer verstanden. Ohne viel Worte. Ja, er würde ihm helfen. Immer schon hatten sie so etwas gemeinsam tun wollen. Auch an Pichlers Würstchenbude hatten sie dabei gedacht. Aber dann hatte ihnen doch das letzte Quäntchen Mut gefehlt.

Er lief weiter.

Die neue Autostraße hatte er hinter sich gelassen. Rechts war der Fluss. Davor der endlos schwarze Zaun und dahinter die riesige Kiesgrube. Er war über den Zaun geklettert und dann war da der Stein gewesen. Stechender Schmerz durchzuckte sein Fußgelenk und für einen Augenblick sank er zu Boden. Stöhnend humpelte er weiter. Er sah fast nichts. Nur die rechte Hand hielt Fühlung mit dem rauen, splittrigen Holz der Bretterwand, und links, kaum einen Schritt weiter, wusste er die Grube, ein tiefer See jetzt, voller Wasser.

Das Haus, in dem Walter wohnte, lag weit zurück in einem tiefen Park. Die Fenster waren hell erleuchtet und verhießen Geborgenheit. Auf einmal spürte er die Sinnlosigkeit seines Vorhabens. Aber es war schon zu spät zur Umkehr. Ganz nahe war das scharfe Bellen des Hundes, und dann sprang das Tier auch schon an ihm hoch.

"Wolf..." flüsterte er. Sie kannten sich gut, das Tier und er. Der Hund lief freudig bellend durch den dunklen Park zurück ins Haus. Zusammen mit Walter kam er wieder.

"Mensch... du?" Walter hatte einen Mantel übergeworfen. "... ich hab' schon gepennt... meine Eltern haben Gäste heute Abend..."

Unbemerkt waren sie dann in Walters Zimmer hinaufgeschlichen, hatten beieinander gehockt, ohne recht zu wissen, was sie einander zu sagen hatten. Da war nun wirklich eingetreten, was sie schon immer mal vorgehabt hatten. Nur so, um ihren "Mut auszuprobieren". Eigentlich war ja gar nichts geschehen, und doch waren sie nicht mehr dieselben war eine nie gekannte Fremdheit zwischen ihnen. Nichts war da von der Bewunderung, die er vielleicht doch erwartet hatte, nichts von der insgeheim erhofften Anerkennung. Aber er brauchte keine Bewunderung, keine Anerkennung. Er brauchte Hilfe.

Sein Fuß schmerzte höllisch.

Er hatte daran gedacht, hier bleiben zu können bei Walter. In seinem Zimmer, oder vielleicht oben auf dem Dachboden. Er fragte aber nicht, und Walter murmelte nur etwas wie:... sich verstecken... drüben im Wald... den er doch so gut kannte... hier bei ihm ginge das auf gar keinen Fall... seine Eltern.. die vielen Gäste... er müsse das verstehen... er selber würde natürlich schweigen wie ein Grab... Ehrensache!

Ja, er hatte verstanden.

Walter hatte ihn dann noch hinausbegleitet. Von niemanden bemerkt, verschwand er mit zusammengebissenen Zähnen humpelnd in der Dunkelheit.

Und dann dachte er an Helga. Ja, sie würde ihm helfen. Helga, das war etwas anderes als mit Walter. Sie wirkte so reif, so erwachsen. Er hatte das Gefühl, ihr alles anvertrauen zu können.

Er hielt sich im Schatten der Bäume. Die Schmerzen im Fuß waren fast unerträglich geworden. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Dennoch wusste er, dass es spät war. Viel zu spät, um noch zu Helga zu gehen. Nein, er konnte nicht zu ihr gehen, es war alles zu erbärmlich, zu schmutzig.

Auf einmal dachte er an seine Mutter.

Eigentlich hatte er im Unterbewusstsein immer an sie gedacht, aber diese Gedanken immer wieder verdrängt. Ihn fror, als er ins Haus kam und seine Zähne schlugen aufeinander, als er an ihrem Zimmer vorbeischlich, hinter dessen Tür er sie wach wusste, hellwach und krank fast vor Angst um ihn...

Als der erste graue Lichtschimmer durchs Fenster fiel, stand er auf. Humpelnd ging er an die Tür, öffnete sie behutsam.

"Komm..." hörte er die Stimme der Mutter. Er ging zu ihr und setzte sich auf den Bettrand.

Sie richtete sich auf. „... du hättest gleich zu mir kommen sollen..."

Der Junge sah sie an, eine ganze Weile, dann nickte er.

"Ja.... ich hätte gleich zu dir kommen sollen..."

Helmut Pätz

Ein Wiedersehen…

Während ich Maria ansah, rührte ich nachdenklich in meiner Kaffeetasse. Ganz zufällig hatten wir uns hier wiedergetroffen, in dieser kleinen Konditorei, nach so vielen Jahren, in denen nach gemeinsam verbrachter Kindheit jegliche Verbindung zwischen uns abgebrochen war.

Nein, Maria hatte sich kaum verändert. Immer noch leuchtete ihr welliges Haar auf, wenn sich ein Lichtstrahl darin verfing, immer noch besaß sie die strahlend blauen Augen und jene knabenhafte, anmutige Figur, die schon damals jedermann entzückt hatte. Und plötzlich war ich mir in jäh aufkommender Bitterkeit meines eigenen gewiss nicht so vorteilhaften Spiegelbildes bewusst. Maria aber war ein Menschenkind, das sich immer nur auf der Sonnenseite des Lebens befand.

Herzlich war der warme Druck ihrer Hände, mit denen sie die meinen umschloss und teilnehmend und interessiert zugleich klang ihre Stimme, als sie sich nach meinem jetzigen Leben erkundigte, nach dem Mann, den ich geheiratet hatte, nach den Kindern.

“.. mir selbst geht es gut..." wehrte sie immer wieder in ihrer natürlichen Art alle diesbezüglichen Fragen ab. Und da gab es auch nichts zu fragen. Man sah es dem unauffällig wertvollen Schmuck an, den schlanken, gepflegten Händen, ihrer ganzen dezent modischen Erscheinung.

Maria... Sie sprach wenig, hörte nur zu, lachte hin und wieder hell auf und spann in kurzen Worten den Bogen vom Gestern zum Heute. Maria... Immer bewundert, umschwärmt, beliebt. In der Schule stets die Erste, im Spiel die Führende, im Sport die Beste. Sie verbreitete Heiterkeit und Wärme, und wo sie ging und stand, da gab es keine Uneinigkeit, keinen Streit, keine Disharmonie. Sie vereinte das alles in sich, was jeder von uns auch nur zu einem geringen Teil für sich erträumte, ersehnte.

Ich sah Maria an. Sie lächelte, und unwillkürlich seufzte ich auf, dachte an meine Probleme, an die vielen kleinen häuslichen Sorgen, an das Geld, das nie reichte, an das kleine Reihenhaus, das es mühsam abzubezahlen galt, an die Kinder, die meine ganze Kraft abverlangten. Und darum wollte ich schon ablehnend den Kopf schütteln, als Maria mich in ihrer herzlichen Art bat, mit ihr zu sich nach Haus zu fahren. Die frühere Freundschaft aber verdrängte dann doch alle aufgekommene Bitterkeit, und sogar ein wohlig aufatmend ließ ich mich in die weichen Polster ihres noblen Wagens sinken, den sie mit jener Gelassenheit, die man ganz einfach bei ihr voraussetzte, durch den Stadtverkehr lenkte. Bis wir weit draußen vor der Stadt vor dem schmiedeeisernen Tor einer in einem großen Park gelegenen Villa hielten und ein Mädchen mit weißem Spitzenschürzchen mir aus dem Mantel half.

Maria nahm meinen Arm. Gemeinsam schritten wir hinein in diese teppichweiche, erlesene Behaglichkeit, die erfüllt war von warmem Licht und dem Duft frisch geschnittener Blumen in verschwenderischer Fülle, Blumen, die Maria immer schon so liebte. Ja, so und nicht anders musste die Umgebung sein, in der sie lebte!

Und dann erblickte ich ihn, den Jungen, der auf uns zugesprungen kam. In seinen blassen, ausdruckslosen Augen leuchtete es glücklich auf, wie in denen eines kleinen Kindes, das die Mutter gesucht und endlich gefunden hatte.

"Mama..." kam es unbeholfen über seine Lippen. "Mama...". Mehr nicht.

Harald..." Maria zog den großen, fast erwachsenen Jungen zärtlich an sich.

"Mama..." stammelte er, und nur immer wieder:..Ma... Ma..."

Und plötzlich begriff ich. Dieser Junge, mochte er auch die Gestalt eines Erwachsenen angenommen haben, er würde immer nur den Verstand eines Kindes behalten.

Maria wandte sich mir zu.

„...das ist Harald..." Ihre Stimme war jetzt voll ganz besonderer Wärme, und mein Herz krampfte sich zusammen. "Er ist meine Aufgabe, meine einzige... er ist meine ganze Welt... und er wird es immer bleiben..."

Den ganzen Tag ließ mich der Gedanke an Maria und ihren Jungen nicht mehr los.

Irene Pätz

Ein ganz besonderer Tag

„...hübsch, nicht wahr?" Die Verkäuferin sah zufrieden auf den zierlich gebundenen Strauß in ihrer Hand, und als sie ihn mit geübtem Griff in das Seidenpapier einschlug, fragte sie. "Also noch einen... und genau den gleichen?"

Sie sah den Mann an, der mit einem versonnenen Lächeln vor ihr stand. Sein zustimmendes Kopfnicken kam aus gedankenverlorener Ferne, und während ihre flinken Hände Blume für Blume aus den verschiedenen Vasen zogen, blickte er durch das Schaufenster nach draußen. Aber er sah die Menschen nicht, die da vorbeihasteten. Seine Gedanken wanderten weit zurück zu jenem Tag, an dem er die zwei Briefe in der Hand gehalten hatte. Auf dem einen hatte er sofort die schwungvolle Handschrift der Mutter erkannt, und mit jähem Erschrecken war ihm das Versäumte eingefallen. Ihr Geburtstag! Er hatte ihn einfach vergessen.

Sicher, er hatte bis über die Ohren in Arbeit gesteckt damals, hatte kurz vor dem Examen gestanden und Tag und Nacht über den Büchern gehockt! Aber trotzdem es gab keine Entschuldigung. Er wusste genau, was er für die Mutter bedeutete, nachdem der Vater so früh gestorben war und sie nur noch ihn hatte. Und er wusste außerdem, wie schwer es ihr gefallen war, ihn für so lange Zeit in die ferne Stadt auf die Universität zu schicken... Verflixt, ihren Geburtstag, den hatte er noch nie vergessen, und so fürchtete er sich fast davor, ihren Brief zu öffnen. Wie er sie kannte, würde er kein Wort des Vorwurfs enthalten, aber selbst der kleinste, leiseste Hauch von Traurigkeit darin würde ihn schmerzen.