Kurzgeschichten Band 1 - Helmut Pätz - E-Book

Kurzgeschichten Band 1 E-Book

Helmut Pätz

0,0

Beschreibung

Sammlung von Kurzgeschichten, die ab 1956 in zahlreichen, auch internationalen, Zeitungen und Zeitschriften publiziert wurden.

Das E-Book wird angeboten von und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 223

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Abschied im Regen

Angst

Blaulicht und nasser Asphalt

Denkt ihr noch an Mentilos?

Der Nächste, bitte

Die Nacht aber schweigt

Ehe es dunkel wird

Ein Kind saß am Fenster

Ein ganzes Leben lang

Es lag in seiner Hand

Hinter jenen hohen Mauern

Nur ein Hund

Nur zwanzig Schritte noch

Regennacht

Abschied vom Sommer

Da könntest du stehen

Ein Wochenende

Ein altes Foto

Er hob das Glas

Er kennt den Weg

Erinnerung bei Kerzenschein

Fahrt im Nebel

Gespräch im Bus

Mitten unter uns

Niemand wusste es

Novemberregen

Sanchez braucht keinen Orden

Sie kamen in Scharen

Sie wartet

Sie wollten weiter nicht stören

Treibholz auf dem Fluss

Vergilbte Blätter

Aber er kommt jeden Tag

Allein

Begegnung am Horizont

Begegnung mit dem Herbst

Belanglose Formalitäten

Herbstgeschichte mit Pointe

Herr Stahmer ist empört

Niemand besuchte ihn

Nur noch Erinnerungen

Alle hatten es gesehen

Ein sonniger Morgen

Die Zeit danach

Es wird Frühling

Frühling im alten Stadtpark

In dieser Zeit

Marienkäferchen

Nie wieder

Schneeglöckchen auf dem Schreibtisch

Sonderangebot

Zwischen Tag und Nacht

Am dritten Tag riss das Seil

An alles hatten sie gedacht

Besuch am Nachmittag

Dann kamen die Stiere

Das Ende der Einsamkeit

Diamanten auf blauem Samt

Die Frau neben mir

Die Hälfte hätte genügt

Die Zeit stand still

Eine kleine unscheinbare Frau

Immer wieder rief sie seinen Namen

Mutter trug sie immer

Pietro kam nicht

Treu wie Gold

Überlandbus

Damals, an jenem Frühlingstag

Das vergessene Glück

Nachwort von Marion Pätz

Abschied im Regen

Er setzte die Koffer ab und starrte in die Dunkelheit. In den schwarzen Tannen hing ein leises Rauschen. Der Wind hatte sich gelegt, aber es regnete immer noch. Er schlug den Mantelkragen hoch und ging zu dem Holzhäuschen hinüber, das den Fahrgästen dieser abgelegenen Station als Unterschlupf diente. Er hatte noch Zeit. Er wusste das. Aber es hätte keinen Sinn gehabt, noch länger dort zu bleiben.

Als sich ein schmaler Schatten von der schwarzen Wand löste und auf ihn zukam, zuckte er zusammen, und ihm wurde klar, dass alles vergebens gewesen war.

"Sie?" sagte er nur, und seine Stimme klang rau.

"Ja", entgegnete die Frau. Ihr Atem ging hastig und stoßend, wie nach einem schnellen Lauf. Ganz nahe standen sie jetzt beieinander. "Als ich vorhin beim Abendessen Ihren leeren Platz sah, da wusste ich es..."

Die Dunkelheit war inzwischen vollkommen und hatte einen letzten zarten Schimmer vom Straßenasphalt genommen. "Sie haben niemandem gesagt, dass Sie heute fahren würden."

"Nein", sagte er. Er dachte daran, dass der Bus erst in einer Stunde da sein würde. Sein Blick löste sich von ihr und suchte wieder die Straße, die gegenüber in den Fels gehauen war.

Ihre Hand legte sich zaghaft auf seinen Arm. "Warum haben Sie nichts gesagt?"

Er machte einen Schritt zur Seite. "Wozu?"

Sie antwortete nicht. Es gab keinen Zweifel, dass sie beide dasselbe empfanden, nämlich dumpfe Verzweiflung. Sie hatten nie darüber gesprochen, in all den Wochen und Monaten nicht, in denen sie zusammen gewesen waren in jenem Haus, das ihn anfangs so mit Entsetzen erfüllt und das er doch so voller Hoffnung für seine Wiedergenesung betreten hatte. Und die Hoffnung war stark genug gewesen, das Entsetzen abzutöten. Wenige Tage später war sie gekommen. Sie waren einander vorgestellt worden, und er hatte nur für kurze Zeit Mitleid mit ihr empfunden. Letzten Endes hatte die Krankheit, an der sie hier alle litten, den Schrecken der früheren Jahre verloren, man starb nicht mehr daran... Später dann hatte er sie kaum mehr beachtet, obgleich sie beim Essen nebeneinander saßen. Sie war eine von vielen gewesen, die gekommen waren mit derselben Hoffnung, erfüllt von derselben anfänglichen Furcht.

Einmal, später dann, hatte irgend jemand einen kleinen Scherz gemacht, und sie hatte ihn angesehen, ganz zufällig wohl, und dabei hatte er bemerkt, dass ihre Nase beim Lachen kleine Fältchen warf und ein paar Sommersprossen wie verloren darüber hingestreut waren. Ganz kurz nur hatte er es gesehen und dann mitgelacht.

Noch später dann waren sie ins Gespräch gekommen. Und einmal hatte er ihr voller Stolz ein Foto von seiner Frau und den Kindern gezeigt. Sie hatte nur genickt und gelächelt und die Kinder besonders lange angeschaut. Er erzählte ihr von dem anstrengenden Dienst in der Redaktion einer Zeitung, und dass er nur allzu oft zu wenig Zeit habe für seine Familie. Sie hingegen berichtete ihm von ihrer Tätigkeit auf der Bank und hatte ihm klarzumachen versucht, welch ein lebendiges und voller Überraschungen und Tücke steckendes Wesen doch das Geld sei, und dass sie hoffe, diese ihr im Laufe der Jahre liebgewordene Tätigkeit bald wieder aufnehmen zu können.

Wochen-, monatelang hatten sie bei den Mahlzeiten an demselben Tisch gesessen. Und einmal -wieder ganz zufällig - hatte sie ihn minutenlang gedankenverloren angeschaut, und er war fast erschrocken gewesen über die dunkle Tiefe ihrer Augen und zugleich verwundert über sich selber, dass er das bisher noch nie bemerkt hatte, Schnell hatte er wieder weggeblickt, aber er hatte sie von da an nie wieder ansehen können, ohne diesen Ausdruck in ihren Augen zu suchen, und ihre Gespräche hatten ihre anfängliche Unbefangenheit verloren.

Eines Mittags verfingen sich ihre Blicke wieder ineinander, und eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis die banalen Gesprächsfetzen ihrer Tischnachbarn wieder an ihr Ohr drangen.

In den folgenden Tagen vermieden sie es, einander anzusehen, und sie sprachen daraufhin nur das Notwendigste mit einander .Ein Mal sogar war er sehr unfreundlich zu ihr gewesen, aus einem zu nichtigen Anlass, als dass er sich am nächsten Tag noch daran zu erinnern vermochte. Aber sie schmerzte ihn sehr, diese begangene Unfreundlichkeit, und er war sicher, dass sie ebenso darunter litt wie er. Dennoch hatte er sich nie bei ihr entschuldigt.

Die Tage vergingen in monotonem Gleichmaß. Aber einmal glaubte er, bei ihr eine fast jähe Kopfbewegung zu bemerken, als er beim Essen einem Tischnachbarn beiläufig seine nun bald bevorstehende Abreise mitteilte...

Die ganze Zeit über hatten sie unbeweglich nebeneinander gestanden. Auf der Serpentine am gegenüberliegenden Hang tauchten entfernt die Lichter des Busses auf..

Ihre Gesichter waren einander ganz nahe. Er spürte ihren Atem auf seiner Haut und wusste, dass ihre dunklen Augen ihn fragend ansahen...

Aus der Biegung huschten die Lichter der Scheinwerfer zum ersten Mal mahnend über den nassen Asphalt und über knorriges Geäst.

Er wandte sich ruckartig ab und griff nach den Koffern. Als der Bus hielt, schob er sein Gepäck in hassvoller Verzweiflung über die Stufen, kletterte hinterher und sah sich noch einmal um. Im herausfallenden Lichtschein sah er nur ihre Beine und den unteren Teil des Mantels. Ihr Gesicht war im Schatten...

Wieder fing die Dunkelheit sie ein, und der Regen wurde stärker. Aber sie merkte es nicht, Sie empfand gar nichts.

Sie ging die Straße wieder zurück. Als die Lichter des großen Hauses zwischen den bewegten Tannenästen tanzten, bog sie nach links ab. Sie wollte noch nicht da hinein. Sie hatte plötzlich Angst vor der unsäglichen Einsamkeit, die sie von jetzt ab dort umfangen würde, trotz der vielen Menschen, die um sie waren. Und sie wusste, dass diese Einsamkeit sie nie wieder verlassen würde.

Helmut Pätz

Angst

Als er in der Frühe des Morgens auf die Plattform kletterte, war es neblig. Es war gegen fünf Uhr, und er freute sich, dass es neblig war. Er dachte, dass der Nebel alles zudecken könne, vielleicht sogar die Angst. Er war fünfzig Jahre alt und seine Haltung leicht gebeugt. Als Folge eines Unfalles zog er den linken Fuß etwas nach.

Fast mechanisch nahm er auf dem Führersitz Platz. Mit gewohnter Bewegung schob er sein Frühstücksbrot in das Fach vor sich. Dann trat er auf die Fußglocke, und das harte Rattern der Räder in den Schienen ließ den Wagen erzittern.

Im Wageninnern roch es nach Farbe und kaltem Zigarettenrauch. Er starrte gegen die leise hin- und herpendelnden Reklameschilder, die gegen das dunkle Holz schlugen. Gleich würden die ersten Fahrgäste zusteigen. Nur ganz schwach drang das Licht einzelner erleuchteter Fenster der Häuser durch den Nebel, - und dann kam die Angst wieder. Er spürte, wie sie allmählich wuchs, immer schwerer und drückender wurde, den ganzen Magen ausfüllte, bis nichts anderes mehr Platz hatte darin. Er aß nur noch wenig und morgens schon gar nicht. Je mehr sie sich der Hangstraße näherten, um so mehr wuchs die Angst, mit der er ganz allein war und von der er zu keinem Menschen sprechen mochte.

Als sie an der Hangstraße ankamen, war kein Sitzplatz mehr frei, und die Luft war zum Ersticken. Hinter ihm standen zwei Fahrgäste direkt hinter ihm, in den schlingernden Bewegungen der holprigen Gleise, und sie unterhielten sich laut.

"... ich glaube nicht, dass sie dieses Mal gewinnen", sagte der eine von ihnen. Er war dicklich und aus seinem runden, gleichgültigen Gesicht starrten zwei wässrig-blaue Augen.

Währenddessen fuhr die Bahn die Hangstraße hinab.

"Der Verein ist zu alt", bestätigte sein Begleiter im schläfrigen Ton.

"Ja", nickte der Dicke, "... was die brauchen, sind junge Kräfte..."

Die Hangstraße ging in einer Länge von dreihundert Metern steil abwärts und endete in einer Kurve, die sich lang vor das Bankgebäude hinzog. Jetzt passiert es, dachte er und starrte verzweifelt seine Hände an. Er war jedes Mal wie gelähmt, und er hatte das Bedürfnis, einfach hinauszuspringen. Und doch wäre er nicht in der Lage gewesen, die kleinste Bewegung zu machen. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er hatte das Gefühl, keinen Boden mehr unter den Füßen zu haben und mit zunehmender Geschwindigkeit in einen Abgrund zu stürzen. Er wusste, dass sie auf das Bankgebäude zurasten, und glaubte jedesmal, den Wagen nicht halten zu können. Sie würden aus der Kurve schleudern und gegen den harten, granitenen Unterbau der Bank, die Passanten auf dem Bürgersteig zermalmend, selbst an der Mauer zerschellen...

Dann setzten die Bremsen ein - ein harter, rhythmischer Wechsel zwischen blockierten und freilaufenden Rädern - , und er fühlte wieder Boden unter den Füßen.

Ohne es zu wissen, starrte er den Dicken an. Der Dicke starrte zurück.

"... nee, die werden bestimmt nicht gewinnen..." sagte er dann in fast wütendem Ton.

Die furchtbare Last der Angst löste sich langsam von ihm, als sie mit verminderter Geschwindigkeit an dem Bankhaus vorbeifuhren, blieb aber weiterhin auf der Lauer. Sechs Mal noch würden sie heute diese Stelle passieren, und noch sechsmal würde ihn die Angst packen und lähmen.

Fast zwei Jahre fuhr er nun schon diese Strecke, täglich sieben Mal. Er war fünfzig Jahre alt und ging etwas vornübergebeugt. Die Angst krümmte seinen Körper, aber er sprach zu niemandem davon.

Helmut Pätz

Blaulicht und nasser Asphalt

"Dora 24... Dora 24... bitte kommen..."

Sein Herz krampfte sich zusammen. Er hatte auf diese Stimme gewartet. Als sie jetzt aus dem Mikrofon erklang, wusste er, dass sie ihm galt, ihm ganz allein.

"Hallo, hier Dora 24... ich höre..." rief er zurück. Karl saß neben ihm am Steuer.

Und dann war sie wieder da, diese kalte, unpersönliche Stimme: "Unfall am Kahlberger Ring, Kreuzung Brunsfelde... schwarzer Mercedes gegen einen Baum gefahren... Fahren Sie sofort dorthin!"

Karl hatte schon automatisch die Fahrtrichtung geändert. Sie verließen das Bahnhofsviertel. Bunte Reklamelichter huschten über den blanken Asphalt. Mit Blaulicht und Martinshorn jagten sie an der Schlange der vielen Fahrzeuge vorbei. Schweigend saßen sie nebeneinander, wie immer, wenn sie gemeinsam Dienst taten. Er war abgespannt und schwankte zwischen lähmender Müdigkeit und hellstem Wachsein.

Karl hatte ihn ein paar Mal forschend von der Seite angesehen. Er aber hatte nur abwehrend den Kopf geschüttelt. Was hätte er ihm auch sagen sollen. Karl war noch zu jung, um das alles zu verstehen, was ihn bedrückte. Vor allem das mit Ernst.

Ernst! Wieder spürte er den Stich im Herzen.

Sie ließen den Stadtkern hinter sich zurück. Vor dem 'Rialto' stand der Portier in goldglänzendem Livree. Er gähnte. Aus dem großen Portal fiel ein breiter Lichtschein quer über die Straße, erfüllte einen Augenblick lang das Wageninnere und ließ die Uniformknöpfe aufblitzen. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er Karls unbewegliches Gesicht über dem Steuer.

Die Straßen wurden jetzt dunkler und einsamer. Das eigene Blaulicht umgab sie mit einem unwirklichen Flackern.

"Wir sind gleich da..." sagte Karl.

Er nickte nur. Der Gedanke an Ernst ließ ihn nicht los. Schon einmal hatten sie den Jungen erwischt, als er mit einem fremden Wagen durch die Gegend gejagt war. Es war kein Diebstahl gewesen - das nicht. Er hatte nur einmal am Steuer sitzen, den Rausch der Geschwindigkeit erleben wollen. Später hatte er den Wagen unbeschädigt zurückgebracht. Aber er war beobachtet worden. Gottlob wurde keine Anzeige erstattet, er selbst hatte das noch einmal in Ordnung bringen können. Aber es saß fest in dem Jungen. Er wusste das. Er kannte es nur zu gut, dieses Flackern in seinen Augen, wenn die Rede auf Autos und Motorrädern kam. Dann schlossen sich seine Hände zu Fäusten, krallten sich um etwas Unsichtbares, etwas, das nur in der Fantasie des Jungen lebte. Immer wieder hatte er versucht, ihn davon abzubringen, es ihm auszureden, in Güte, mit Vernunft, - schließlich sogar mit Verboten irgendwelcher Art drohend. Es half nichts. Er wusste das. Er kannte seinen Jungen...

Bitternis quoll in ihm hoch. Den Jungen? Sich selbst kannte er nur zu gut! In ihm war es doch auch. Darum hatte er sich damals zur motorisierten Einheit gemeldet.

"Wir sind da..."

Erst jetzt merkte er, dass der Wagen ausrollte. Karl sprang nach draußen. Er folgte fast mechanisch. Dunkelheit umgab sie. Unter ihren harten Sohlen knackte der regenfeuchte Blaubasalt. Aus der Ferne kamen ihnen fremde Fahrtlichter entgegen. Der Schein aus Karls Taschenlampe flackerte unstet hin und her. Sie gingen nach links hinüber. Ein paar Schatten wichen zurück.

"... da ist nichts mehr zu machen", sagte eine Stimme.

Im flackernden Licht sahen sie den Wagen. Fast zärtlich schmiegte sich das schwarzglänzende Blech um den Chausseebaum. Unter Karls hartem Griff gab die verbogene Tür kreischend nach. Der Lichtkegel wischte über das bleiche Gesicht mit dem dunklen Haar. Seine Ahnung wurde zur schrecklichen Gewissheit.

"Geh, Karl, mach' Meldung..." Es kam ihm gar nicht zum Bewusstsein, dass seine Lippen Worte formten, die irgend jemand verstehen konnte. Aber Karl nickte. Sein Gesicht war schneeweiß.

Eine halbe Stunde später verließen sie das Revier. Karl würde ihn nach Hause fahren.

Meistens hatte er es übernehmen müssen, bei Unfällen die Angehörigen zu benachrichtigen. Man hatte gemeint, er wäre der richtige Mann dafür. Immer fand er die passenden Worte.

Seiner Frau brauchte er nichts zu sagen. Sie würde es seinem Gesicht ansehen. ..

Helmut Pätz

Denkt ihr noch an Mentilos?

Gestern dachte ich an ihn. Fast drei Jahrzehnte war es her. Dazwischen nichts, als hätte es ihn nie gegeben. Gestern aber dachte ich an ihn, als ich im Stadtpark spazierenging, plötzlich, von irgendwoher die zarten Töne einer Geige hörte, stehenblieb und lauschte. Nicht, daß ich besonders musikalisch bin, aber etwas eigenartig Vertrautes rührte mich an, obgleich ich so lange nicht daran gedacht hatte. Ja, vielleicht hätte ich mich nie wieder daran erinnert, wenn nicht jene Klänge durch ein offenes Fenster zu mir gedrungen wären.

"Mentilos..." Ein Wort, ein Name, ein Begriff, - irgendwann von irgendwoher zugeweht, aufgefangen, weitergetragen, festgehalten und fixiert auf "Mentilos" einen abstoßenden, ängstlichen und doch wohl einen der tapfersten Menschen, die mir je begegneten...

"Mentilos kommt..." Hört ihr es noch, dieses Wispern von Mund zu Mund? Wie leergefegt und ausgestorben war dann die Straße, als hätte es uns nie gegeben, die wir eben noch darin gelärmt und getobt hatten. Wir standen in den Hauseingängen, an die Mauer gepreßt, schweigend, und voll angespannter Erregung zitternd.

Und dann kam er, eine kleine schmächtige Gestalt im schwarzen, blankgescheuerten Anzug mit den ausgebeulten Hosen, die Geige unter dem Arm. Er schaute sich nach allen Seiten um, und die Augen in dem faltigen, unrasierten Gesicht waren voller Angst. Er wußte, was ihm bevorstand. Er kannte uns. Dennoch kam er immer wieder, mit unfehlbarer Regelmäßigkeit.

Der erste Hausflur nahm ihn auf, wo ihn noch tiefstes Schweigen umfing und wo vielleicht jedesmal die bange Hoffnung aufkeimte, daß es dieses Mal gutgehen würde, wenn er - im obersten Stockwerk beginnend - die Geige unters Kinn schiebend, zaghaft den Bogen ansetzte. Aber das kleine Volkslied, mit zitternden Fingern vorgetragen, brach jäh mit einem Mißton ab, als mochten unsere flüsternden Stimmen an sein überwaches Gehör gedrungen sein. Wir hörten ihn dann hinunterhüpfen, abgehackt, vorsichtig, auf jedem Treppenabsatz verweilend und dadurch sein angstvolles Lauschen anzeigend. Und wir lagen im Halbdunkel auf der Lauer und warteten, wie die Jäger auf das Wild.

Das Volkslied wurde nie zu Ende gespielt, jedenfalls hörten wir es nie. Auch im nächsten Haus nicht, in das er sich noch hineinwagte. Das dritte betrat er gar nicht erst. Da war er schon auf der Flucht, die Geige fest unterm Arm

geklemmt, sich gehetzt nach uns umblickend, die wir johlend und grölend hinter ihm her jagten: "Mentilos! Mentilos!"

Er floh. Durch zwei, drei Straßen. Dann war unser Mütchen gekühlt, und wir ließen ihn laufen. Er hatte "unser" Reich verlassen, in dem wir niemanden duldeten, jedenfalls nicht solche unseren Spott geradezu herausfordernde, lächerliche Absonderlichkeiten wie Mentilos.

Einmal, auf der Flucht, rutschte er aus und fiel in eine Pfütze. Wir umstanden ihn, schadenfroh lachend. Da schlug er mit dem Geigenstock nach uns. Es war die einzige Gegenwehr, die wir jemals von ihm erfuhren.

Eines Abends - wißt ihr noch? - verfolgten wir ihn, unbemerkt. Wir wollten jetzt noch herausfinden, wo er, wie er hauste. Wir umlauerten jenes kleine Haus in der düsteren Straße. Noch war es nicht an der Zeit, ihm den Stein - den du, Harald, in der Hand hieltest - ins Fenster zu werfen. Und plötzlich hörten wir sie, die Geige. Durch das nur angelehnte Fenster drangen die Töne zu uns. Wir lauschten, schlichen näher und lauschten wieder. Wir konnten nichts anderes tun. Es war Mentlos, der uns in seinen Bann schlug. Und warst du es nicht, Baumgartner, der sich in Haralds Arm warf, um den Steinwurf, den schon gezielten, zu verhindern? Was war es? Was spielte er? Sarasate? Paganini? Kreißler? Wie unwichtig war es, das 'Was'. Aber wie er es spielte...

Das Spiel brach jäh ab. Mentilos hatte uns gesehen, er stürzte ans Fenster, um es zu schließen. "Geht", stieß er hervor, "geht", und seine kurzsichtigen Augen flehten.

Wir baten ihn nicht, weiterzuspielen. Wir wagten es nicht. Wir schlichen wortlos, ohne uns anzusehen, nach Haus.

Denkt ihr nochmal an Mentilos? Ein Stück unserer Jugend, ein eigenartiges, ein wundersames und irgendwie beschämendes -

Wir hatten ihn nie wiedergesehen.

Helmut Pätz

Der Nächste, bitte...

Ich spüre die Kälte. Das Wartezimmer ist nicht geheizt. Man kann es nicht heizen. Es gibt keinen Ofen in diesem alten Haus. Es lohnt nicht mehr. Eines nicht allzu fernen Tages wird man es doch abreißen müssen.

Ich bin der dritte Patient. Als ich vorhin eintrat, blickten die beiden vor mir von ihren zerfledderten Zeitschriften auf. Ganz kurz nur und mürrisch. Ihre Mäntel haben sie anbehalten. Ich beschließe, es ebenso zu tun. Während ich im steifen Rohrstuhl an der Wand hocke, in mich zusammengekauert, um den Rest Eigenwärme möglichst lange bei mir zu behalten, höre ich ihn nebenan mit seinen Instrumenten hantieren. Ich blicke auf die Uhr. Schon eine Viertelstunde über der Zeit. Wie immer! Dann schlürfen seine Schritte über den kahlen Holzfußboden. Wasser plätschert im Becken.

Mein Blick gleitet über das abgetretene Holz der Dielen hinauf zu den verblichenen Tapeten mit den Bildern, die ich so gut kenne. Zwei davon sind echte Stiche. Immer wieder bin ich darüber verwundert, dass noch keiner sie heimlich hat mitgehen lassen. Aber wer vermutet schon hier in diesem dunklen, unfreundlichen Raum solche Kostbarkeiten? Und er selbst, ob er weiß, welche Werte hier bei ihm unbemerkt vergilben und verstauben? Ich bin dennoch ziemlich sicher, dass er es weiß.

Oben an der Decke über dem Fenster breitet sich der gelbe Fleck mit dem dunklen Rand aus. Wie in jedem Jahr. Im Sommer ist er kaum zu sehen. Jetzt aber kommt die Feuchtigkeit wieder durch.

Plötzlich schiebt einer der beiden anderen die Zeitschriften beiseite, springt auf, greift zum Hut, murmelt etwas von "hat man doch schließlich gar nicht nötig..." und "Zeit ist Geld..." und schlägt die Tür hinter sich zu. Der andere blickt nur kurz auf, lächelt etwas betroffen, zuckt dann gleichmütig die Schultern und liest weiter.

Ich sitze da, friere, denke nach und verspüre gleichfalls aufkommenden Ärger. Warum, frage ich mich, warum gehe ich eigentlich zu ihm, immer wieder, bei Wind und Wetter, all die Jahre schon? An drei Zahnärzten führt mein Weg vorbei zu ihm. Drei Zahnärzte, die zwischen meiner Wohnung und seinem Haus ihre Praxis haben. Ich weiß, es sind moderne Zahnarztpraxen mit garantiert schmerzloser Behandlung in hellen, zentralbeheizten Räumen mit bequemen Sesseln im Wartezimmer. Aber ich, ich gehe ausgerechnet hierher zu ihm, der er noch nicht einmal eine Sprechstundenhilfe hat. Ich brauche ihn nicht zu fragen, warum er allein arbeitet. Er hat Mühe, sich selbst durchzuschlagen.

Jetzt höre ich ihn hinter der Tür. Er öffnet sie. Vornübergebeugt, mit der blitzenden Brille unter dem schlohweißen Haar, blickt er in dem fast leeren Raum umher. Als er mich erkennt, lächelt er. Es ist ein Lächeln, das mich für all die Unbequemlichkeiten hier entschädigt. "Gleich..." sagt er mit sanfter Stimme, "es wird nicht lange dauern..." und wie zur Entschuldigung: "Ja... ich weiß, es ist kalt heute, sehr kalt..." Dann bittet er den ersten Patienten zu sich. Ich bin jetzt allein, und die Kälte kommt wieder auf mich zu.

Später sitze ich dann in seinem veralteten Behandlungsstuhl, der bei jeder Bewegung knarrt, und blinzle in den trüben Tiefstrahler. Ich verfolge seine zittrigen Hände, wie sie den Bohrer in meinen Mund führen, die aber ganz ruhig werden, wenn er ansetzt und mit unfehlbarer Sicherheit jene gewisse Stelle findet. Ich sehe ihm zu, wie er mit bebenden Lippen die Tropfen zählt, sie auf eine kleine Porzellanplatte fallenlässt und mir dabei bis ins einzelne die Notwendigkeit der Behandlung erklärt. Er hat Zeit, viel Zeit für seine Patienten. Man ist zu Gast bei ihm.

Und dann weiß ich auf einmal, warum ich zu ihm komme, ausgerechnet zu ihm. Irgendwie war er ein Teil Hauses, denen er nicht entfliehen konnte. Seine wenigen Patienten aber, sie brachten ein Stückchen Welt zu ihm, jenen Anteil des Lebens, den er noch brauchte.

Ja, irgendeiner, fühlte ich, irgendeiner mußte da draußen sitzen, wenn er die Tür öffnete und sagte:

"Der Nächste, bitte..."

Helmut Pätz

Die Nacht aber schweigt

Über der kleinen Stadt lag gleißendes Mondlicht. Der Schatten der niedrigen Häuser lastete in den engen Straßen, und wie blind blickten die Fenster in die Nacht. Es war still.

Der Mann hockte auf dem Rand des Marktbrunnens. Während er in die Nacht hineinlauschte, zeichnete er mit dem Handstock wahllos Figuren in den weichen Sand. Von irgendwo kam die heisere Stimme eines Betrunkenen, verstummte erschrocken. Dann wurde eine Autotür mit lautem Knall zugeschlagen. Der Mann atmete erleichtert auf. Wirkliche Stille kann man nur ertragen, wenn sie hin und wieder von den trivialen Geräuschen des Lebens unterbrochen wird. Er stand auf und stützte sich auf seinen Handstock. Alles war wie immer: die Treppe mit dem verschnörkelten Geländer, die zu dem kleinen Rathaus führte, die Apotheke gleich daneben, in deren Butzenscheiben sich das spärliche Licht der Nacht spiegelte, das alte Wirtshaus an der Ecke...

Er blickte nach oben. Es war klar, und der helle Mondschein ließ das Flackern der Sterne verblassen. Die Nacht war schön.

Er schritt aus. Er spürte das Unbehagen, das diese Nacht in sich barg, ein Unbehagen, das hinter einer immer mehr verblassenden Erinnerung stets auf der Lauer gelegen hatte seit einer Zeit, da diese hellen Nächte erfüllt waren von Untergang und Vernichtung, wo der Boden erbebte und die Menschen aufstöhnten in grenzenloser Verzweiflung. Er spürte das Dröhnen aus der Erde her, und er schritt schneller aus, wie um zu entfliehen.

Aber es gab kein Entrinnen.

Von dumpfem Donnergrollen war die Nacht erfüllt, ein Grollen, das immer lauter und lauter wurde, und das die Stille der Nacht in sich verschlang.

Und dann kam es heran.

Ein fauchendes, graugeflecktes Ungetüm walzte um die Häuserecke, feindselig, geduckt. Es war, als berste die Erde, aber ihr qualvoller Aufschrei wurde erstickt unter den mahlenden Raupenketten.

Der Mann stand wie gebannt. Er presste sich unwillkürlich gegen die Hauswand, und er hörte, wie das ängstliche Singen der erzitternden Fensterscheiben unterging in dem Aufheulen der Motoren.

Er starrte auf die Panzer, auf die drohenden Geschützrohre. Er sah junge Soldaten, die, in Zeltplane gehüllt, auf den Plattformen hockten. Sie schliefen, dösten vor sich hin, rauchten. Ihre jungen, grauen Gesichter waren erschöpft, gezeichnet von den Anstrengungen der letzten Tage der großen Herbstmanöver.

Hier und da flammte in einem der Häuser ein Licht auf, wurde ein Fenster geöffnet. Der mildtätige Schleier der Vergessenheit schien jäh zerrissen.

Dann kam der letzte Panzer. Er verschwand auf knirschenden Ketten im Schatten der Häuser. Das Dröhnen der Motoren, das Zittern der gequälten Erde verlor sich.

Und wieder schwieg die Nacht. Es war sehr still jetzt, fast beängstigend still.

Der Mann ging weiter. Er ließ die letzten Häuser hinter sich zurück. Zu beiden Seiten der Straße dehnten sich die Äcker, und über dem schwarzen Wald ganz in der Ferne zeigte ein fahler Schein den nahenden Morgen an. Er hob das Gesicht. Tief atmete er den herben Geruch der aufgebrochenen Erde ein. Und der helle Streifen am Horizont, er hatte etwas unsagbar Tröstendes...

Helmut Pätz

Ehe es dunkel wird

Als er das große, weiße Haus verließ, war ihm, als betrete er eine völlig neue, ihm unbekannte Welt.

Er hatte sich gefürchtet vor diesem Augenblick, der ihm endgültige Gewissheit bringen sollte. Aber jetzt war die Angst, die ihm wie ein eiserner Panzer die Brust zusammengedrückt hatte, abgefallen.

Er ging langsam. Er hatte ja Zeit jetzt, - viel Zeit. Er vernahm das Singen der Vögel im nahen Park, das leise Rauschen des Windes in den Bäumen. Er spürte die wärmenden Sonnenstrahlen auf seiner Haut und hatte für einen Augenblick lang das Gefühl, das alles sei nur für ihn da. Dennoch befiel ihn ein leises Frösteln.

"Das waren die stärksten Brillengläser, die es gibt..."

Der Arzt hatte ihn dabei so sonderbar angesehen, und er hatte es wohl auch mehr für sich selbst gesagt. Vielleicht aber waren die Worte auch gar nicht gefallen, und er selbst hatte ganz einfach die Gedanken des anderen erraten.

Ja, es waren die stärksten Gläser gewesen. Er hatte es schon lange gewusst. Der Arzt hatte dann noch viele andere Dinge gesagt, aufmunternde, tröstende, fast nichtssagende, aber er hatte nicht mehr richtig zugehört. Er hatte nur einfach so dagesessen. Ein müder, alter Mann, dessen Gedanken weit weg waren, weit voraus, in einer anderen Welt, die er nun bald betreten sollte, und in die er vielleicht schon den ersten Schritt getan hatte.