Kurzlehrbuch Neurologie - Heinrich Mattle - E-Book

Kurzlehrbuch Neurologie E-Book

Heinrich Mattle

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Beschreibung

Konzentration auf das Wesentliche - das gesamte relevante Neuro-Wissen für Studierende

Ohne Vorkenntnisse beginnen und innerhalb kurzer Zeit einen vollständigen Überblick über die Neurologie gewinnen.

Die klinisch-neurologische Untersuchung bildet aufgrund ihres hohen Stellenwertes in der Neurologie einen besonderen Schwerpunkt des Buches. Hochwertige Grafiken, zahlreiche klinische Abbildungen sowie übersichtliche Tabellen erleichtern das Verständnis und ermöglichen ein möglichst effizientes Lernen.

Neu in der 5. Auflage:
- Vollständig überarbeitet
- Zahlreiche neue klinische Abbildungen und Grafiken

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Seitenzahl: 910

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Kurzlehrbuch Neurologie

Heinrich Mattle, Urs Fischer, Franca Wagner

5., überarbeitete Auflage

476 Abbildungen

Vorwort

Namen wie Alzheimer, Babinski, Broca, Brown-Séquard, Charcot, Dejerine, Devic, Duchenne, Erb, Gerstmann, Guillain, Huntington, Jackson, Korsakow, Lasègue, Miller-Fisher, Oppenheim, Parkinson, Wallenberg, Wepfer oder Wernicke sind untrennbar mit der klinischen Neurologie verbunden. Diese Pioniere und viele weitere Wissenschaftler und Ärzte haben in den letzten Jahrhunderten die Grundlagen der Neurologie gelegt. Als Methoden dienten ihnen exakte klinische Beobachtungen und pathologisch-anatomische Studien. In jener Zeit war die Neurologie eine Domäne der Männer und nur wenige Frauen, wie z.B. Augusta Dejerine-Klumpke, Gabrielle Lévy, Denise Louis-Bar, Margaret Dix, Mary Walker, Charlotte Dravet oder Anita Harding, hinterließen Spuren. In neuerer Zeit prägen zunehmend Frauen die Neurowissenschaften. Als pionierhafte Vorbilder seien Marie-Germaine Bousser, Gudrun Boysen, Hanna Damasio oder May-Britt Moser genannt. Im klinischen Alltag sind die Neurofächer ohne Frauen nicht mehr denkbar. Wir freuen uns deshalb sehr, dass wir Franca Wagner gewinnen konnten, als erfahrene Neuroradiologin bei diesem Buch mitzuwirken.

Zusatzuntersuchungen, die Teil des neurologischen Instrumentariums sind und präzise Diagnosen ermöglichen, kamen erst im letzten Jahrhundert und mit rasantem Tempo in den letzten Jahrzehnten auf. 1924 begann Hans Berger in Jena die Elektroenzephalografie zu entwickeln. 1927 führte der Portugiese António Egas Moniz die erste zerebrale Angiografie durch. In den 50er-Jahren wurden Elektroneuro- und -myografie diagnostische Hilfsmittel und 1954 beschrieb G.D. Dawson eine Summations- und Mittelungstechnik, die den Weg zur Ableitung evozierter Potenziale bereitete. 1972 kam der erste Computertomograf auf den Markt, entwickelt vom Engländer Sir Godfrey Hounsfield. Nur zwei Jahre später, 1974, gelang Paul Lauterbur die erste Bildgebung mit Magnetresonanztomografie (MRT). Bereits 1990 standen klinisch anwendbare Techniken zur MR-Angiografie und bald auch zur Darstellung der zerebralen Perfusion, zur Diffusion auf Molekularebene und zur Visualisierung der neuronalen Funktionen zur Verfügung. Dank kontinuierlicher Weiterentwicklung der Informatik und Geräte prägen heute qualitativ hochwertige multimodale CT- und MR-Bilder den klinischen Alltag.

Gleichzeitig machten auch Biochemie, Molekularbiologie und Pharmakologie bedeutende Fortschritte, besonders bei der Entwicklung neuer Therapeutika. 1961 entdeckten Hornykiewicz und Birkmayer eine günstige Wirkung von intravenösem L-Dopa auf Akinese, Rigor und Tremor bei Parkinson-Patienten, was wohl einer der wichtigsten Meilensteine in der Therapie neurologischer Erkrankungen sein dürfte. Es folgten alsbald neue Medikamente gegen Epilepsien, Antithrombotika und Statine zur Schlaganfallprophylaxe, Triptane und CGRP-Inhibitoren gegen Migräne, immunmodulierende und immunsupprimierende Medikamente gegen Multiple Sklerose und andere entzündliche Erkrankungen des zentralen und peripheren Nervensystems, Immunglobuline und Plasmapheresen bei Polyradikulitiden, intravenöse Thrombolyse und endovaskuläre Therapie bei akutem Hirninfarkt, Mikrochirurgie bei Hirntumoren, Coiling von Aneurysmen und Stents oder die tiefe Hirnstimulation bei extrapyramidal-motorischen Störungen, um nur die wichtigsten Fortschritte zu nennen.

War die Neurologie vor wenigen Jahrzehnten ein kontemplatives Fach ohne große therapeutische Möglichkeiten, bietet sie heute nicht nur eine verbesserte Diagnostik, sondern bei den meisten Erkrankungen des Nervensystems, ob häufig oder selten, kausale oder symptomatische Therapien. Diese Entwicklung ist noch nicht zu Ende. Selbst bei einigen genetischen Erkrankungen gelang bereits ein therapeutischer Durchbruch. Sowohl diagnostische Methoden als auch Therapien verbessern sich permanent weiter. Angesichts der steigenden Lebenserwartung und der damit verbundenen Zunahme neurologischer Erkrankungen ist das eine segensreiche und notwendige Entwicklung.

Diese 5. Auflage des Kurzlehrbuchs gibt Ihnen einen Einblick in die faszinierende Welt der klinischen Neurologie. Vielen Studentinnen und Studenten scheint die Neurologie kompliziert. In der Realität ist die Neurologie jedoch ein logisches Fach, da eine enge Korrelation zwischen dem Ort einer Läsion und der klinischen Präsentation besteht. In den ersten Kapiteln wird deshalb Wert auf die Grundlagen gelegt, auf die Darstellung der klinischen Untersuchung und der topischen Diagnostik, auf die Repetition der klinisch relevanten Neuroanatomie und auf die Differenzialdiagnose neurologischer Symptome und Syndrome. Diese Kenntnisse erleichtern das Verständnis der nachfolgenden Kapitel über Krankheiten des zentralen und peripheren Nervensystems. Mithilfe der Anamnese und somatischen Untersuchung ist es in der Neurologie möglich, die meisten Krankheiten rein klinisch richtig zu diagnostizieren. Damit können Zusatzuntersuchungen gezielt und kostengünstig zur Verifizierung und näheren Präzisierung einer klinisch vermuteten Erkrankung eingesetzt werden.

Der Text wurde komplett überarbeitet und aktualisiert und deckt alle Fragen ab, die in den letzten Jahren bei den Staatsexamina gestellt wurden. Ein modernes Layout, klare Grafiken und zahlreiche Tabellen erleichtern das Verständnis und das Lernen. Viele Abbildungen und Grafiken sind überarbeitet oder neu.

Herzlichen Dank gilt unseren Kollegen und Freunden des Inselspitals Bern, sowohl jenen, die bei früheren Auflagen geholfen haben als auch jenen, die diesmal wertvolle Hinweise, Unterstützung oder Anregung in Diskussionen gegeben haben. Besonders danken wir den Professoren und Doktoren Marcel Arnold, Claudio Bassetti, Jürgen Beck, Andrew Chan, Jan Gralla, Christian W. Hess, Simon Jung, Paul Krack, Johannes Mathis, Michael Oberholzer, Andreas Raabe, Nora Renz, Christoph Schankin, Olivier Scheidegger, Kaspar Schindler, Gerhard Schroth und Maja Steinlin. Im Thieme Verlag war ein ganzes Team für die Gestaltung des Buches im unermüdlichen Einsatz: Herr Dr. Jochen Neuberger als Programmplaner, die Redakteurinnen Frau Dr. Barbara Suhr und Margie Kaufmann, in der Herstellung Frau Maria Rembold und Herr Michael Zepf, Frau Anja Jahn von der Grafikabteilung sowie die beteiligten Grafikerinnen und Grafiker. Ihnen gebührt ein herzliches Dankeschön.

Ein spezieller Dank gebührt Professor Marco Mumenthaler (*1925; †2016).

Abb. 0.1Professor Marco Mumenthaler (1989)

Marco Mumenthaler war von 1962 bis 1990 Chefarzt und Direktor der Universitätsklinik für Neurologie am Berner Inselspital und am Ende seiner Amtszeit auch Rektor der Universität Bern. Er war eine außerordentliche Persönlichkeit, begabter Wissenschaftler und weltweit bekannter Lehrer. Nach 1967 veröffentlichte er 13 Auflagen des Standardwerks Neurologie beim Thieme Verlag, die letzten 4 Auflagen zusammen mit Heinrich Mattle. Mit jeder Auflage wurde der Umfang des Buches größer, zu groß für Studierende. Deshalb begründeten Marco Mumenthaler und Heinrich Mattle 2002 dieses Kurzlehrbuch, das reichlich illustriert wieder studentengerecht sein soll.

Viel Lesevergnügen und Spaß beim Lernen!

Heinrich Mattle, Urs Fischer und Franca Wagner

Bern im Januar 2021

Widmung

von Heinrich Mattle

Für Alma, Mio, Eli Jim, Ennio und Vida,

unsere Enkel, die unser Leben bereichern

von Urs Fischer

für Ioana, Lia und Eva

von Franca Wagner

für meine lieben Eltern

Autoren

Prof. Dr. med. Heinrich Mattle

Prof. Dr. med. Heinrich Mattle ist seit der Emeritierung anfangs 2015 Konsiliarius an der Universitätsklinik für Neurologie des Inselspitals Bern. Studium in Bern und Zürich. Ausbildung in Innerer Medizin, Neurochirurgie und Neurologie, letztere am Universitätsspital Zürich. Fellowship in Neuroradiologie am Beth Israel Deaconess Medical Center und an der Harvard Medical School in Boston. Seit 1983 Oberarzt und später Chefarzt und stellvertretender Klinikdirektor der Universitätsklinik für Neurologie des Inselspitals. Er leitete die neurologische Poliklinik, baute zusammen mit der Neuroradiologie ein Stroke-Forschungsteam und das Stroke Zentrum auf und etablierte die Multiple-Sklerose-Sprechstunde. Prof. Mattle ist Autor des Standardwerks „Neurologie“ (begründet von M. Mumenthaler) (Thieme Verlag, 10. bis 13. Auflage), und des „Kurzlehrbuch Neurologie“ (Thieme Verlag, 1. bis 5. Auflage). Seine Publikationen umfassen um 500 Artikel und Buchbeiträge, davon mehr als 200 Originalarbeiten in renommierten Fachzeitschriften. Prof. Mattle erhielt mehrere Preise, als wichtigste 1992 den Robert Bing Preis, 2004 den Theodor Nägeli-Preis und 2016 den Presidential Award der European Stroke Organisation. Er ist u.a. Ehrenmitglied der Schweizerischen Hirnschlaggesellschaft, der Österreichischen Schlaganfallgesellschaft sowie der European Stroke Organisation.

Abb. 0.1Professor Dr. med. Heinrich Mattle

(mit freundlicher Genehmigung von Rösly Mattle-Baumgartner, Bern)

Prof. Dr. med. Urs Fischer

Prof. Dr. med. Urs Fischer ist Extraordinarius für Akutneurologie und Stroke an der Universitätsklinik für Neurologie des Inselspitals Bern. Studium in Bern, London, San Francisco und Lomé. Nach Innerer Medizin am Bürgerspital Solothurn Ausbildung in Neurologie am Universitätsspital Bern. „Master of Science by Research in Clinical Neurology“ an der Universität Oxford. Seit 2015 Extraordinarius an der Universität Bern. Er ist Leiter der stationären Akutneurologie, Co-Leiter des Stroke Centers Bern und Stellvertretender Direktor der Clinical Trials Unit (CTU) der Universität Bern. Im August 2021 wird er ans Universitätsspital Basel wechseln, wo er als Chefarzt und Leiter der Neurologischen Klinik gewählt ist. Sein Forschungsschwerpunkt umfasst die Behandlung von Patienten mit einem akuten ischämischen oder hämorrhagischen Hirnschlag, u.a. als Principal Investigator von internationalen randomisierten kontrollierten Studien. Seine Publikationen umfassen um 250 Artikel und Buchbeiträge, davon zwei Drittel als Originalarbeiten in renommierten Fachzeitschriften. Prof. Fischer ist im Vorstand der Schweizerischen Neurologischen Gesellschaft, ehemaliger Generalsekretär der European Stroke Organisation (ESO) und Mitglied des Programmkomitees der European Academy of Neurology (EAN).

Abb. 0.1Professor Dr. med. Urs Fischer

(mit freundlicher Genehmigung von Pascal Triponez, Inselgruppe AG, Kreation, Bern)

PD Dr. med. habil. Franca Wagner

Frau Privatdozentin Dr. med. habil. Franca Wagner ist Fachärztin für Diagnostische Radiologie FMH und Diagnostische Neuroradiologie FMH. Sie ist Leitende Ärztin am Inselspital Bern im Department für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie und Lehrbeauftragte der Universität Bern. Studium in Regensburg und Jena. Anschließende Facharztausbildung an Kliniken in Deutschland und Regionalspitälern in der Schweiz sowie den Universitätsspitälern Zürich und Bern. Fellowship in Head and Neck Imaging am Massachusetts Eye and Ear Infirmary und an der Harvard Medical School in Boston. European Board in Head and Neck Radiology (EBiHNR) Diplom 2016. Ihre breite wissenschaftliche Tätigkeit und ihre Publikationen sind schwerpunktmäßig auf „Head and Neck Imaging“ und „Neuroimmunologie“ fokussiert. Ihre Forschung weist einen direkten klinischen Bezug auf und wurde bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet, z.B. mit dem renommierten Peter Huber-Preis der Schweizerischen Gesellschaft für Neuroradiologie. Frau PD Dr. med. Franca Wagner ist Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Neuroradiologie (SGNR), wo sie die Arbeitsgruppe Kopf-Hals-Radiologie leitet. Zudem ist sie Mitglied der European Society of Head and Neck Imaging (ESHNR) sowie der European Society of Neuroradiology (ESNR).

Abb. 0.1PD Dr. med. habil. Franca Wagner

(mit freundlicher Genehmigung von Claudia Larsen, Zürich)

Inhaltsverzeichnis

Titelei

Vorwort

Widmung

Autoren

1 Grundlagen

1.1 Mikroskopische Anatomie des Nervensystems

1.1.1 Neuron

1.1.2 Neuroglia

1.1.3 Markscheiden

1.1.4 Synapse

1.2 Grundlagen der Neurophysiologie

1.2.1 Ionenkanäle

1.2.2 Ruhepotenzial

1.2.3 Aktionspotenzial

1.2.4 Erregungsleitung

1.3 Grundlagen der Neurogenetik

1.3.1 Allgemeine Genetik

1.3.2 Neurogenetik

1.3.3 Genetische Beratung

2 Das ärztliche Gespräch in der Neurologie

2.1 Allgemeine Prinzipien der Anamneseerhebung

2.1.1 Allgemeine Voraussetzungen der Anamneseerhebung

2.1.2 Allgemeine Prinzipien der Gesprächsführung

2.1.3 Umgang mit dem Patienten

2.1.4 Anamnese und klinische Untersuchung

2.2 Spezielle Aspekte der Anamneseerhebung

2.2.1 Aktuelle Krankengeschichte

2.2.2 Vorgeschichte, Familien- und Sozialanamnese

3 Die neurologische Untersuchung

3.1 Grundsätzliches zum Erheben des Neurostatus

3.2 Stehen und Gehen

3.2.1 Allgemeine Beurteilung von Stehen und Gehen

3.2.2 Spezielle Stand- und Ganguntersuchungen

3.3 Untersuchung des Kopfes und der Hirnnerven

3.3.1 Kopf und Halswirbelsäule

3.3.2 Hirnnerven

3.4 Untersuchung der oberen Extremitäten

3.4.1 Allgemeines

3.4.2 Untersuchung von Motorik und Bewegungskoordination

3.4.3 Untersuchung von Muskeltonus und Kraft

3.4.4 Untersuchung der Reflexe

3.4.5 Untersuchung der Sensibilität

3.5 Untersuchung des Rumpfes

3.5.1 Untersuchung von Rücken und Wirbelsäule

3.5.2 Untersuchung der Reflexe

3.5.3 Untersuchung der Sensibilität

3.6 Untersuchung der unteren Extremitäten

3.6.1 Allgemeines

3.6.2 Bewegungskoordination und Kraft

3.6.3 Untersuchung der Reflexe

3.6.4 Untersuchung der Sensibilität

3.7 Untersuchung des autonomen Nervensystems

3.8 Elemente der neurologisch relevanten Allgemeinuntersuchung

3.9 Neuropsychologische und psychiatrische Untersuchung

3.9.1 Psychopathologischer Befund

3.9.2 Neuropsychologische Untersuchung

4 Zusatzuntersuchungen in der Neurologie

4.1 Grundsätzliches

4.2 Die bildgebenden Untersuchungen

4.2.1 Konventionelle Röntgendiagnostik des Skeletts

4.2.2 Computertomografie (CT)

4.2.3 Kernspintomografie (MRT)

4.2.4 Angiografien mit Röntgenkontrastmitteln (DSA)

4.2.5 Myelo- bzw. Radikulografie

4.2.6 Nuklearmedizinische Diagnostik

4.3 Elektrophysiologische Untersuchungsmethoden

4.3.1 Grundsätzliches

4.3.2 Elektroenzephalografie (EEG)

4.3.3 Evozierte Potenziale

4.3.4 Elektromyografie (EMG)

4.3.5 Elektroneurografie (ENG)

4.3.6 Übrige elektrophysiologische Untersuchungen

4.4 Ultraschalluntersuchungen (Neurosonografie)

4.5 Weitere Zusatzuntersuchungen

4.5.1 Liquoruntersuchung

4.5.2 Gewebebiopsien

4.5.3 Perimetrie

5 Topische Diagnostik und Differenzialdiagnostik der neurologischen Syndrome

5.1 Grundsätzliches

5.2 Motorische Schwäche und andere Störungen der Bewegungsabläufe

5.2.1 Anatomische Grundlagen

5.2.2 Regulationssysteme der Motorik und ihre Störungen

5.3 Störungen der Sensibilität

5.3.1 Anatomische Grundlagen

5.3.2 Peripherer Anteil des sensiblen Systems und seine Störungen

5.3.3 Zentraler Anteil des sensiblen Systems und seine Störungen

5.4 Störungen der Wachheit und des Bewusstseins

5.4.1 Somnolenz, Sopor, Koma: Schweregrade und Ursachen

5.4.2 Differenzialdiagnosen des Komas

5.5 Syndrome einzelner Hirnregionen

5.5.1 Syndrome einzelner Großhirnlappen

5.5.2 Syndrome der Basalganglien

5.5.3 Thalamussyndrome

5.5.4 Limbisches System

5.5.5 Hirnstammsyndrome

5.5.6 Kleinhirnsyndrome

6 Erkrankungen des Gehirns und seiner Hüllen

6.1 Angeborene und perinatal erworbene Erkrankungen des Gehirns

6.1.1 Überblick

6.1.2 Klinische Manifestationen

6.1.3 Zerebralparesen und zerebrale Bewegungsstörungen

6.1.4 Hydrozephalus

6.1.5 Mikrozephalie

6.1.6 Dysrhaphische Fehlbildungen

6.1.7 Heterotopien

6.1.8 Ulegyrie

6.1.9 Phakomatosen

6.1.10 Intrauterin erworbene Infektionen des Gehirns

6.1.11 Weitere Embryopathien

6.1.12 Fehlbildungen des Schädels und Missbildungen des kraniozervikalen Überganges

6.1.13 Psychische Störungen

6.2 Schädel-Hirn-Trauma (SHT)

6.2.1 Überblick

6.2.2 Anamnese und Untersuchung

6.2.3 Schweregradeinteilung und bildgebende Diagnostik

6.2.4 Pathophysiologie und Klinik

6.2.5 Traumatische Hämatome

6.2.6 Therapie des Schädel-Hirn-Traumas

6.2.7 Komplikationen

6.2.8 Prognose

6.3 Hirndruck

6.3.1 Definition, Ätiologie und Pathogenese

6.3.2 Klinik und Diagnostik

6.3.3 Komplikation: Einklemmung

6.3.4 Therapie

6.4 Hirntumoren

6.4.1 Überblick

6.4.2 Glioblastom, Astrozytome und Oligodendrogliome

6.4.3 Ependymome

6.4.4 Medulloblastome und primitive neuroektodermale Tumoren (PNET)

6.4.5 Meningeome

6.4.6 Lymphome

6.4.7 Hypophysentumoren

6.4.8 Missbildungstumoren (Hamartome)

6.4.9 Neurinome

6.4.10 Metastasen

6.5 Zerebrale Ischämie und ischämischer Infarkt

6.5.1 Überblick

6.5.2 Anatomie und Pathophysiologie

6.5.3 Schweregradeinteilung der zerebrovaskulären Ischämien

6.5.4 Ätiologie, Risikofaktoren und Primärprophylaxe

6.5.5 Verlaufsdynamik zerebrovaskulärer Ischämien

6.5.6 Infarkttypen

6.5.7 Klinik: zerebrale Gefäßsyndrome

6.5.8 Diagnostik

6.5.9 Therapie des ischämischen Hirninfarktes

6.5.10 Sonderformen der zerebralen Ischämie und ihre Besonderheiten

6.6 Nicht traumatische intrakranielle Blutung

6.6.1 Intrazerebrale Blutung

6.6.2 Subarachnoidalblutung (SAB)

6.7 Infektionen des Gehirns und seiner Hüllen

6.7.1 Überblick

6.7.2 Akute bakterielle Meningitiden

6.7.3 Akute virale Meningitiden

6.7.4 Chronische Meningitiden

6.7.5 Bakterielle (Meningo-)Enzephalitiden: Spirochäteninfektionen

6.7.6 Virusenzephalitiden

6.7.7 Pilz-Enzephalitiden

6.7.8 Enzephalitiden durch Parasiten und Protozoen

6.7.9 Enzephalitiden bei Prionenerkrankungen: Creutzfeldt-Jakob-Krankheit

6.7.10 Slow-Virus-Erkrankungen

6.7.11 Intrakranielle Abszesse

6.8 Stoffwechselstörungen und Allgemeinerkrankungen mit Auswirkungen auf das Nervensystem

6.8.1 Angeborene Stoffwechselerkrankungen

6.8.2 Intoxikationen und alkoholbedingte Erkrankungen des Nervensystems

6.8.3 Endokrine Erkrankungen

6.8.4 Gastroenterologische Erkrankungen

6.8.5 Hämatologische Erkrankungen

6.8.6 Kollagenosen und Immunkrankheiten

6.8.7 Paraneoplastische Syndrome

6.8.8 Limbische Enzephalitis

6.8.9 Niereninsuffizienz und Elektrolytstörungen

6.9 Morbus Parkinson und andere hyperton-hypokinetische Syndrome

6.9.1 Überblick

6.9.2 Morbus Parkinson (idiopathisches Parkinson-Syndrom, IPS)

6.9.3 Atypische und symptomatische Parkinson-Syndrome

6.9.4 Progressive supranukleäre Lähmung (PSP)

6.9.5 Multisystematrophien (MSA)

6.9.6 Kortikobasale Degeneration (CBD)

6.9.7 Lewy-Körper-Demenz

6.10 Chorea, Ballismus, Dystonie: hyperkinetische Syndrome

6.10.1 Chorea Huntington

6.10.2 Chorea minor (Sydenham Chorea)

6.10.3 Athetosen

6.10.4 Hemiballismus

6.10.5 Dystone Syndrome

6.10.6 Essenzieller Tremor und weitere Tremorformen

6.10.7 Differenzialdiagnose der unwillkürlichen Bewegungen

6.11 Kleinhirnerkrankungen und Leitsymptom Ataxie

6.11.1 Überblick

6.11.2 Auswahl einzelner Ataxien

6.12 Demenzen

6.12.1 Überblick: Das demenzielle Syndrom

6.12.2 Demenz vom Alzheimertyp

6.12.3 Lewy-Körper-Demenz

6.12.4 Frontotemporale Demenzen (FTD)

6.12.5 Vaskuläre Demenz: SAE-assoziierte Demenz und Multiinfarkt-Demenz

6.12.6 Demenz bei Hydrocephalus malresorptivus

7 Erkrankungen des Rückenmarks

7.1 Überblick

7.1.1 Anatomische Grundlagen

7.1.2 Allgemeine Topik und Symptomatik bei Rückenmarksläsionen

7.1.3 Weitere Diagnostik bei Rückenmarksläsionen

7.2 Traumatische Rückenmarksläsionen

7.3 Langsam progrediente Rückenmarkskompression

7.3.1 Rückenmarkstumoren

7.3.2 Myelopathie bei Zervikalspondylose

7.3.3 Klippel-Feil-Syndrom

7.3.4 Syringomyelie und Syringobulbie

7.4 Spinale Ischämie und spinale Blutung

7.4.1 Gefäßversorgung des Rückenmarks

7.4.2 Arterielle Durchblutungsstörungen

7.4.3 Venöse Durchblutungsstörungen

7.4.4 Spinale Blutungen

7.5 Erregerbedingte und entzündliche Erkrankungen des Rückenmarks

7.5.1 Myelitis

7.5.2 Spinale Abszesse

7.6 Vorwiegend die Rückenmarksbahnen befallende Erkrankungen

7.6.1 Überblick

7.6.2 Friedreich-Ataxie

7.6.3 Familiäre spastische Spinalparalyse

7.6.4 Primäre Lateralsklerose

7.6.5 Funikuläre Myelose

7.7 Erkrankungen der Vorderhörner

7.7.1 Überblick

7.7.2 Spinale Muskelatrophien (SMA)

7.7.3 Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)

8 Multiple Sklerose und andere immunvermittelte Erkrankungen des zentralen Nervensystems

8.1 Grundsätzliches

8.2 Multiple Sklerose

8.3 Weitere immunvermittelte ZNS-Erkrankungen

8.3.1 Neuromyelitis optica und Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen

8.3.2 Akute disseminierende Enzephalomyelitis (ADEM)

8.3.3 MOG-Antikörper-assoziierte Enzephalomyelitis

8.3.4 CLIPPERS

8.3.5 Morbus Behçet

8.3.6 Weitere immunvermittelte Erkrankungen

9 Epilepsien und ihre Differenzialdiagnose

9.1 Grundsätzliches

9.1.1 Einteilung der Epilepsien

9.1.2 Praktisches Vorgehen bei Verdacht auf einen epileptischen Anfall

9.2 Generalisierte Anfälle

9.2.1 Tonisch-klonische Anfälle (früher „Grand-mal-Epilepsie“)

9.2.2 Absencen (früher „Petit-mal“)

9.2.3 Atypische Absencen und andere Epilepsieformen im Kindesalter

9.3 Fokale (partielle) Anfälle

9.3.1 Fokale Anfälle ohne Einschränkung des Bewusstseins

9.3.2 Fokale Anfälle mit Einschränkung des Bewusstseins (früher „komplex-partielle“ Anfälle)

9.4 Status epilepticus

9.5 Nicht epileptische anfallsartige Störungen

9.5.1 Nicht epileptische psychogene Anfälle

9.5.2 Anfallsartige Störungen mit kurz dauernder Bewusstseinsstörung und Sturz

9.5.3 Anfallsweise Stürze ohne Bewusstseinsstörungen

9.5.4 Anfallsartige Bewusstseinsstörungen ohne Stürze

9.5.5 Anfallsartige Bewegungsstörungen ohne Bewusstseinsstörung

9.5.6 Anfallsartige Verwirrtheit und Gedächtnisstörungen

10 Schlaf und Besonderheiten im Schlaf

10.1 Verkürzte Schlafdauer oder verschobener Schlaf-Wach-Rhythmus

10.2 Insomnie

10.2.1 Allgemeines

10.2.2 Restless-Legs-Syndrom (RLS)

10.3 Hypersomnie und exzessive Tagesschläfrigkeit

10.3.1 Schlaf-Apnoe-Syndrom

10.3.2 Narkolepsie-Kataplexie-Syndrom

10.3.3 Kleine-Levin-Critchley-Syndrom

10.3.4 Weitere Ursachen von Müdigkeit und Schläfrigkeit am Tage

10.4 Abnorme Bewegungen im Schlaf, Parasomnien

11 Polyradikulopathien und Polyneuropathien

11.1 Grundsätzliches

11.2 Polyradikulitiden

11.2.1 Guillain-Barré-Syndrom (GBS)

11.2.2 Chronisch-entzündlich demyelinisierende (rezidivierende) Polyneuropathie (CIDP)

11.2.3 Polyradiculitis cranialis

11.2.4 Polyradikulitis der Cauda equina

11.3 Polyneuropathien

11.3.1 Einzelne ätiologische Formen der Polyneuropathien

12 Erkrankungen der Hirnnerven

12.1 Störungen des Geruchssinns (N. olfactorius)

12.2 Sehstörungen als neurologisches Problem (N. opticus)

12.2.1 Gesichtsfelddefekte

12.2.2 Visusstörungen

12.3 Störungen der Augenmotorik und Pupillenmotorik

12.3.1 Allgemeine Grundlagen der Okulomotorik

12.3.2 Nystagmus

12.3.3 Supranukleäre Augenmotorikstörungen

12.3.4 Läsionen der Augenmuskelnerven und ihrer Kerne

12.3.5 Ptose

12.3.6 Pupillenstörungen

12.4 Läsionen des N. trigeminus

12.5 Läsionen des N. facialis

12.5.1 Topische Klassifizierung der Fazialisparesen

12.5.2 Ätiologische Klassifizierung der Fazialisparesen

12.6 Störungen von Gehör und Gleichgewicht, Schwindel

12.6.1 Neurologisch relevante Hörstörungen

12.6.2 Gleichgewichtsstörungen und Schwindel

12.7 Läsionen des N. glossopharyngeus und des N. vagus

12.8 Läsionen des N. accessorius

12.9 Läsion des N. hypoglossus

12.10 Multiple Hirnnervenausfälle

13 Erkrankungen der spinalen Nervenwurzeln und der spinalen peripheren Nerven

13.1 Radikuläre Syndrome

13.1.1 Überblick

13.1.2 „Bandscheibenvorfall“: Radikuläre Syndrome bei Diskushernien

13.1.3 Radikuläre Syndrome bei engem Spinalkanal

13.1.4 Radikuläre Syndrome bei Raumforderungen

13.2 Läsionen der peripheren Nerven

13.2.1 Überblick

13.2.2 Erkrankungen des Armplexus

13.2.3 Erkrankungen der peripheren Nerven an den oberen Extremitäten

13.2.4 Erkrankungen der Rumpfnerven

13.2.5 Erkrankungen des Beinplexus

13.2.6 Erkrankungen der peripheren Nerven an den unteren Extremitäten

14 Schmerzsyndrome

14.1 Grundsätzliches

14.1.1 Schmerzentstehung und -wahrnehmung

14.1.2 Allgemeine Aspekte der Schmerzanamnese

14.2 Schmerzsyndrome mit Schwerpunkt in Kopf und Nacken

14.2.1 IHS-Einteilung der Kopfschmerzen

14.2.2 Die Begegnung mit dem Kopfschmerz-Patienten

14.2.3 Die wichtigsten primären Kopfschmerzformen

14.2.4 Die wichtigsten sekundären Kopfschmerzen

14.3 Schmerzsyndrome mit Schwerpunkt im Gesicht

14.3.1 Neuralgien

14.3.2 Gesichtsschmerzen bei Erkrankungen der Zähne und des Kauapparates

14.3.3 Anhaltend idiopathische Gesichtsschmerzen

14.3.4 Weitere Schmerzen im Gesichtsbereich

14.3.5 Differenzialdiagnose der Kopf- und Gesichtsschmerzen

14.4 Schulter-Arm-Schmerzen (SAS)

14.4.1 Zervikogene Schulter-Arm-Schmerzen

14.4.2 Degenerativ und rheumatisch bedingte Schulter-Arm-Schmerzen

14.4.3 Neurogene Brachialgien

14.4.4 Vaskulär bedingte Brachialgien

14.4.5 „Überlastungsbrachialgien“

14.4.6 Sonstige Brachialgien

14.5 Rumpf- und Rückenschmerzen

14.5.1 Brust- und Bauchwandschmerzen

14.5.2 Rückenschmerzen

14.5.3 Leistenschmerzen

14.6 Beinschmerzen

14.7 Pseudoradikuläre Schmerzen

15 Erkrankungen der Muskulatur (Myopathien)

15.1 Bau und Funktionsweise der Muskulatur

15.1.1 Mikroskopische Anatomie des Muskelgewebes

15.1.2 Physiologie der Muskelkontraktion

15.1.3 Reizübermittlung an der motorischen Endplatte und Reizweiterleitung

15.2 Allgemeine Symptomatik

15.3 Muskeldystrophien

15.3.1 X-chromosomal vererbte Muskeldystrophien – Dystrophinopathien

15.3.2 Autosomal vererbte Muskeldystrophien

15.3.3 Seltenere Dystrophie-Formen

15.4 Myotone Syndrome und periodische Lähmungen

15.4.1 Erkrankungen mit einem vorherrschenden myotonen Syndrom

15.4.2 Erkrankungen mit periodischen Lähmungen

15.5 Metabolische Myopathien

15.5.1 Phosphorylasemangel – McArdle-Syndrom

15.5.2 Saure Maltase-Mangel

15.5.3 Akute Rhabdomyolyse

15.5.4 Mitochondriale Enzephalomyopathien

15.6 Myositiden

15.6.1 Polymyositis, Dermatomyositis, Einschlusskörperchenmyositis und nekrotisierende Myositis

15.7 Weitere Erkrankungen mit Muskelbeteiligung

15.7.1 Myopathien im Rahmen internistischer Erkrankungen

15.7.2 Kongenitale Myopathien

15.8 Störungen der neuromuskulären Reizübertragung – myasthene Syndrome

15.8.1 Myasthenia gravis pseudoparalytica

15.8.2 Lambert-Eaton-Syndrom

15.8.3 Seltene myastheniforme Syndrome

16 Erkrankungen des vegetativen (autonomen) Nervensystems

16.1 Anatomie

16.1.1 Sympathikus

16.1.2 Parasympathikus

16.2 Funktionen und Störungen

16.2.1 Schweißsekretion

16.2.2 Blasen-, Darm- und Sexualfunktionen

16.2.3 Halssympathikus und Horner-Syndrom

16.2.4 Generalisierte Störungen der vegetativen Funktionen

Anschriften

Sachverzeichnis

Impressum/Access Code

Thieme Group/Kirsten Oborny |

1 Grundlagen

1.1 Mikroskopische Anatomie des Nervensystems

Key Point

Struktureller und funktioneller Grundbaustein des Nervensystems ist das Neuron. Diese Zelle ist auf die Aufnahme von Reizen und deren Integration und Weiterleitung spezialisiert.

1.1.1 Neuron

Das Neuron besteht aus einem von einer Membran umgebenen Zellkörper bzw. Soma. Dieses enthält einen Kern, Mitochondrien, endoplasmatisches Retikulum, Neurotubuli und Neurofilamente ( ▶ Abb. 1.1). Durch Dendriten, kurze, mehr oder weniger verästelte Zellfortsätze, die afferente Impulse zum Nervenzellkörper leiten, wird die Oberfläche der Zelle vergrößert und damit der zur Verfügung stehende Raum für die interzelluläre Kontaktaufnahme sowie für die Ausbildung von Rezeptoren stark vergrößert. Das morphologische Bild der Dendritenbäumchen variiert bei den verschiedenen Neuronentypen in charakteristischer Weise. So sehen diejenigen der Purkinje-Zellen des Kleinhirns beispielsweise dem Geweih eines Hirsches ähnlich ( ▶ Abb. 1.2). Das Axon, ein meist langer, einzelner Fortsatz, entspringt aus dem Axonhügel. Über ihn leitet die Nervenzelle efferente Impulse weiter an eine andere Nervenzelle oder an ein Effektororgan.

Prinzipiell verfügt jede Nervenzelle über Soma, Axon und einen oder mehrere Dendriten. Anordnung und Struktur der Nervenzellfortsätze (insbesondere der Dendriten) variieren jedoch in Abhängigkeit von der jeweiligen Funktion des Neurons, sodass verschiedene Neuronentypen vorkommen ( ▶ Abb. 1.3).

Abb. 1.1Schematische Feinstruktur einer Nervenzelle (Neuron).

(nach Schünke M, Schulte E, Schumacher U, Prometheus LernAtlas der Anatomie, Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Illustrationen von Voll M und Wesker K, Thieme, 2018)

Abb. 1.2Purkinje-Zelle des Kleinhirns, Mikrofotogramm. Man beachte die zahlreichen Synapsen im Bereich der Dendriten.

(mit freundlicher Genehmigung von Dr. med. Marco Vecellio, Zürich)

Abb. 1.3Drei Neuronentypen. Die Pfeile zeigen die übliche Richtung der Reizweiterleitung an.

(nach Schünke M, Schulte E, Schumacher U, Prometheus LernAtlas der Anatomie, Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Illustrationen von Voll M und Wesker K, Thieme, 2018)

1.1.2 Neuroglia

Die den eigentlichen Funktionsanteil des Nervensystems ausmachenden Neurone sind von einem Stützgewebe umgeben. Dieses wird in seiner Gesamtheit als Neuroglia bezeichnet und in Makro- und Mikroglia unterteilt. Astrozyten und Oligodendrozyten sind die wichtigsten Vertreter der Makroglia. Astrozyten haften einerseits an nicht synaptischen Stellen der Neuronoberfläche, andererseits über perivaskuläre Füßchen an 85 % der Kapillaren des Nervensystems. Sie sichern dadurch die Homöostase der Neurone und sind darüber hinaus eine Komponente der Blut-Hirn-Schranke. Oligodendrozyten sind für die Bildung der Markscheiden wichtig. Die ebenfalls zur Makroglia gehörigen Ependymzellen trennen das Hirngewebe vom Liquor cerebrospinalis; im Plexus choroideus bilden sie auch Liquor. Mikrogliazellen entsprechen spezialisierten Makrophagen, die mittels Phagozytose das Hirngewebe schützen und bei entzündlichen und degenerativen Hirnerkrankungen eine regulatorische Rolle spielen.

1.1.3 Markscheiden

Axone, die dünner als 1 µm sind, sind in der Regel nackt, die dickeren sind von einer Markscheide (Myelinhülle) umgeben. Die Myelinhülle entsteht dadurch, dass die Axone gewissermaßen in einen Oligodendrozyten (bzw. im peripheren Nervensystem in eine Schwann-Zelle) einsinken, wobei ein aus einer Doppelzellmembran zusammengesetztes Mesaxon entsteht. In dieses wickeln sich die Axone anschließend ein. Die einzelnen Myelinsegmente, die bis zu 1 mm lang sein können, werden durch Ranvier-Schnürringe oder -Knoten vom nächsten Segment getrennt. Dies spielt für die ▶ elektrische Weiterleitung der Nervenzellimpulse eine wichtige Rolle. Die im Bereich der Ranvier-Schnürringe nur 1–4 µm breiten, „nackten“ Axonsegmente werden nur z.T. von Fortsätzen der angrenzenden Schwann-Zellen bedeckt und sind im Übrigen lediglich durch das Neurilemm vom endoneuralen Interstitium getrennt. In diesem nodalen Axolemm finden sich unter anderem spannungsabhängige Natriumkanäle, während im internodalen Abschnitt Kaliumkanäle vorherrschen.

1.1.4 Synapse

Die Kontaktstelle des Axons mit der nächsten Zelle wird als Synapse bezeichnet. Diese besteht aus einer kolbenförmig aufgetriebenen Axonterminale (dem sog. Bouton) oder einem Parallelkontakt (sog. Bouton en passage), dem synaptischen Spalt sowie der postsynaptischen Membran des nachgeschalteten Neurons/Effektororgans ( ▶ Abb. 1.4). Kurz vor Ausbildung der kolbenförmigen Endverzweigungen verlieren myelinisierte Axone ihre Markscheide. Ein einzelnes Neuron kann durch wenige oder eine Vielzahl von anderen Axonen mittels Synapsen kontaktiert werden. Hier werden z.T. erregende, z.T. hemmende Impulse auf die Nervenzelle übertragen. Synapsen können sich zwischen Axon und Zellkörper, Axon und Dendrit oder zwischen zwei Axonen ausbilden. In den synaptischen Kontakten zwischen Zellen finden konstante Umbauvorgänge statt, was eine der Grundlagen für das Verständnis der funktionellen Adaptationsmöglichkeiten des Nervensystems darstellt. Die Reizübertragung an den Synapsen geschieht durch chemische Überträgersubstanzen, Transmitter, z.B. im zentralen Nervensystem durch Dopamin, Serotonin, Acetylcholin oder Gamma-Aminobuttersäure. Bestimmte Synapsen verbinden die Axone des peripheren Nervensystems mit den Effektororganen, z.B. mit Muskelzellen – Bindeglied ist die ▶ motorische Endplatte – oder mit den Zellen der Drüsen.

Abb. 1.4Feinstruktur einer Synapse. Gezeigt werden die beiden häufigsten Synapsentypen: (1) bezeichnet eine Dornen- bzw. Spine-Synapse, (2) einen sog. Parallelkontakt bzw. Bouton en passage.

(aus Schünke M, Schulte E, Schumacher U, Prometheus LernAtlas der Anatomie, Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Illustrationen von Voll M und Wesker K, Thieme, 2018)

1.2 Grundlagen der Neurophysiologie

Key Point

Nerven- und Muskelzellen bauen ein Membranpotenzial auf. Sie zeichnen sich durch die Fähigkeit aus, dieses Membranpotenzial auf einen Reiz hin zu verändern (Aktionspotenzial), und zwar durch eine Veränderung der Ionenleitfähigkeit ihrer Membranen. Aktionspotenziale und chemische Reizübertragung an den Synapsen stellen die spezifischen Wege der Informationsübertragung im Nervensystem dar.

1.2.1 Ionenkanäle

Die Neurone sind von einer zweischichtigen Zellmembran umgeben. Diese besteht aus einer inneren Schicht aus Phospholipiden und einer äußeren Schicht aus Glykoproteinen. Spezialisierte Proteinmoleküle innerhalb der Zellmembran bilden Kanäle, die selektiv für Natrium-, Kalium- oder Chloridionen durchlässig sind. Bestimmte Kanäle (z.B. jene an den Synapsen) öffnen sich lediglich, wenn der für sie spezifische Ligand dort haftet, z.B. der für die transzelluläre Reizübertragung zuständige Transmitter. Neben diesen ligandengesteuerten Kanälen finden sich auch spannungsabhängige Kanäle. Diese befinden sich meist an Axonen und werden bei Änderungen des elektrischen Potenzials der Membran geöffnet bzw. geschlossen.

1.2.2 Ruhepotenzial

Innerhalb einer Nervenzelle wird ein elektrisches Potenzial aufgebaut, das auf einer ungleichmäßigen Verteilung von Ionen im Intra- (IZ) und Extrazellulärraum (EZ) der Nervenfaser sowie auf unterschiedlichen Ionenleitfähigkeiten der Zellmembran beruht. Das Ruhepotenzial hängt vor allem vom Verhältnis der Kaliumionenkonzentration ab: Die ruhende Membran ist für Kaliumionen gut durchlässig, hingegen weitgehend undurchlässig für Natriumionen. Da die Kaliumkonzentration im IZ ungefähr 35-mal höher ist als im EZ, diffundieren im Ruhezustand laufend Kaliumionen nach extrazellulär. Hierdurch verliert die Membran auf der Innenseite positive Ladung und lädt sich negativ auf. Die negative Aufladung nimmt so lange zu, bis ihre dem Kaliumausstrom entgegenwirkende Kraft in etwa gleich groß ist wie die durch den Konzentrationsgradienten bedingte Triebkraft der Kaliumionen in Richtung EZ. In der Nettobilanz ist dann kein weiterer Abstrom positiver Ladungen von der Membraninnenseite festzustellen. Dies ist bei einem Wert von –60 bis –90 mV der Fall (= Höhe des Ruhepotenzials).

1.2.3 Aktionspotenzial

Wenn durch Transmittersubstanzen an der Zellmembran Natriumkanäle geöffnet werden, kommt es aufgrund der ungleichen Verteilung von Natriumionen in IZ und EZ (im EZ ist Natrium etwa 20-mal höher konzentriert als im IZ) zu einem raschen Natriumeinstrom in die Zelle. Die Membraninnenseite lädt sich positiv auf und es wird ein Aktionspotenzial ausgelöst, das unabhängig von Art und Stärke des depolarisierenden Reizes nach einem gleichbleibenden Muster abläuft (Alles-oder-nichts-Gesetz der zellulären Erregung). An der Membraninnenseite werden nun Werte von +20 bis +50 mV erreicht. Mit einer leichten Verzögerung steigt auch die Kaliumpermeabilität der Membran nochmals kräftig an, was zu einem Netto-Kaliumausstrom führt. Dies kompensiert den vorherigen raschen Natriumeinstrom und bewirkt eine Repolarisation der Membran. Hierbei ist auch eine aktive Natriumpumpe beteiligt. Bis zur Repolarisation ist eine zunächst absolute und dann relativeRefraktärperiode.

1.2.4 Erregungsleitung

Das Aktionspotenzial beginnt am Axonhügel und pflanzt sich über eine sukzessive Eröffnung spannungsabhängiger Natriumkanäle entlang der Zellmembran des Axons fort. Diese Erregungswelle verläuft als lokale Depolarisation mit einer Geschwindigkeit, die von der Dicke des Axons und der Dicke seiner Markscheide abhängt. Den Ranvier-Schnürringen kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu: Die isolierende Markscheide vermindert die Kapazität der Axonmembran und erhöht ihren Widerstand. Dadurch kommt es nur im Bereich der nodalen Axonabschnitte zur Auslösung eines Aktionspotenzials, die internodalen bemarkten Abschnitte werden gewissermaßen übersprungen. Auf diese Weise können die Nervenzellimpulse wesentlich schneller fortgeleitet werden. Man bezeichnet dies als „saltatorische Erregungsleitung“. Die normale motorische und sensible Leitgeschwindigkeit peripherer Nerven beträgt 50–60 m/s.

1.3 Grundlagen der Neurogenetik

Key Point

Zahlreiche neurologische Krankheitsbilder basieren auf einem genetischen Defekt oder auf einer genetischen Veranlagung. Für das Verständnis dieser Krankheitsbilder sind Grundkenntnisse in der Genetik unabdingbar, wobei sowohl Aspekte der „klassischen“ Vererbungslehre als auch der Molekulargenetik eine Rolle spielen. Kenntnisse in der Genetik sind insbesondere bei der Beratung von Patienten mit Erbkrankheiten von Bedeutung.

1.3.1 Allgemeine Genetik

Merke

Das Erscheinungsbild eines Individuums in Gesundheit und Krankheit, der Phänotyp, wird durch die Gesamtheit der Erbinformation (Genotyp) und durch Umwelteinflüsse bestimmt. Träger der Erbinformation sind die DNA-Moleküle.

Die DNA-Moleküle sind in den Zellkernen und auch in den Mitochondrien enthalten. Einen DNA-Abschnitt, der die Information zur Herstellung eines Proteins trägt, bezeichnet man als Gen, die Gesamtheit der Gene eines Organismus als Genom. Die menschlichen Gene sind im Zellkern auf 23 Chromosomenpaaren zusammengefasst, 44 Autosomen und 2 Gonosomen. Letztere, das X- und das Y-Chromosom, bestimmen das Geschlecht.

1.3.1.1 Rekombination des genetischen Materials

Bei Zellvermehrung und Wachstum wird das genetische Material des Zellkerns im Vorgang der Mitose verdoppelt und anschließend hälftig auf die Tochterzellen verteilt, sodass jede Tochterzelle wieder den kompletten (diploiden) Chromosomensatz erhält. Zur Zeugung von Nachkommen hingegen wird in der Reduktionsteilung der Meiose der diploide Chromosomensatz zum haploiden der Ei- oder Samenzelle (22 Autosomen + 1 Gonosom) reduziert. Verschmelzen Ei- und Samenzelle, entsteht wieder ein vollständiger (diploider) Chromosomensatz, der sich jeweils zur Hälfte aus dem mütterlichen und aus dem väterlichen Genom zusammensetzt.

Gemäß den Mendel-Regeln können einzelne mütterliche/väterliche Eigenschaften bzw. Gene unabhängig voneinander auf die Nachkommen vererbt werden. Dieser Unabhängigkeit sind jedoch Grenzen gesetzt, da die Gene eines Chromosoms gekoppelt sind und nur gemeinsam an die Keimzelle weitergegeben werden können. Dennoch besteht in einem bestimmten Stadium der Meiose die Möglichkeit, dass korrespondierende DNA-Abschnitte homologer Chromatiden ausgetauscht werden (Crossing over), was zu einer neuen Anordnung von Genen auf den an der „Transaktion“ beteiligten Chromatiden führt (Rekombination von Genen). Je weiter Gene auf den Chromosomen voneinander entfernt sind, desto häufiger werden diese Gene rekombiniert.

Neben den physiologischen Mechanismen, die zur Veränderung und Durchmischung des genetischen Materials führen (Durchmischung des mütterlichen und väterlichen Erbgutes durch Keimzellbildung und Keimzellverschmelzung, Rekombination von Genen homologer Chromosomen), gibt es auch spontane Veränderungen der Erbinformation. Sie werden als Mutationen bezeichnet und können weitervererbt werden.

Die mitochondriale DNA wird im Gegensatz zur nukleären ausschließlich von der Mutter (also über die Eizelle) auf die Nachkommen übertragen ( ▶ siehe Kapitel „Maternaler Erbgang des mitochondrialen Genoms“).

1.3.1.2 Autosomal-dominante Vererbung

Ein Gen, das im heterozygoten Zustand eine deutlich erkennbare Wirkung auf den Phänotyp hat bzw. diesen maßgeblich prägt, ist dominant. Ist der Vater Träger oder die Mutter Trägerin eines solchen Gens (im heterozygoten Zustand), weisen 50% der Nachkommen das entsprechende Merkmal auf (sowohl geno- als auch phänotypisch).

Die Wirkung eines dominanten Gendefekts kann sich bei einigen Krankheiten unterschiedlich stark auf den individuellen Phänotyp auswirken. Man spricht dann von reduzierter Penetranz. Im Extremfall kann ein Familienstammbaum „pseudorezessiv“ aussehen und eine Neumutation in einer Familie vortäuschen.

1.3.1.3 Autosomal-rezessive Vererbung

Ein autosomales Gen, das im heterozygoten Zustand keine Wirkung hat und sich nur dann phänotypisch manifestiert, wenn es homozygot vorliegt, ist rezessiv. Sind sowohl Vater als auch Mutter Träger/in eines rezessiven Gens im heterozygoten Zustand, geben beide das entsprechende Gen an 50% ihrer Nachkommen weiter. Bei einem Viertel der Nachkommen wird das betreffende Gen dann homozygot vorliegen und im Phänotyp manifest werden (beispielsweise in Form einer Krankheit). Ein Viertel der Nachkommen erhält das Gen überhaupt nicht, die restliche Hälfte ist für das entsprechende Gen heterozygot und weist das Merkmal phänotypisch nicht auf.

1.3.1.4 X-chromosomale Vererbung

Söhne erhalten ein X-Chromosom von der Mutter und ein Y-Chromosom vom Vater, Töchter erhalten je ein X-Chromosom von beiden Elternteilen. Ein X-chromosomales Gen wird damit von der Mutter (sofern sie in Bezug auf dieses Gen heterozygot ist) an die Hälfte der Nachkommen (Töchter und Söhne) weitergegeben, vom Vater wird es an alle Töchter, nicht aber an die Söhne vererbt. Wird eine X-chromosomal gebundene Krankheit dominant vererbt, erkranken sowohl Töchter als auch Söhne. Im Falle eines rezessiven Erbgangs erkranken überwiegend Männer, Frauen nur in dem unwahrscheinlichen Fall, dass sie sowohl vom Vater als auch von der Mutter ein X-Chromosom mit dem entsprechenden Krankheitsgen erhalten. Kranke Väter erhielten das Gen immer von ihrer Mutter und zeugen (sofern die Partnerin das entsprechende Krankheitsmerkmal nicht trägt) Töchter, die gesunde Konduktorinnen des betreffenden Gens sind. Konduktorinnen zeugen (sofern der Partner das entsprechende Krankheitsmerkmal nicht trägt) zu 50% kranke Söhne und ausschließlich gesunde Töchter, von denen die Hälfte wiederum Konduktorinnen sind.

1.3.1.5 Maternaler Erbgang des mitochondrialen Genoms

Die mitochondriale DNA wird ausschließlich über die Mutter vererbt. Ist die mitochondriale DNA defekt, erkranken sowohl Söhne als auch Töchter der erkrankten mütterlichen, aber nie der erkrankten väterlichen Linie. Im Gegensatz zu einem nukleären Gen, das innerhalb einer Zelle entweder im „normalen“ Zustand oder mutiert vorliegt, können Mitochondrien mit defekter DNA und solche mit gesunder gleichzeitig innerhalb einer Zelle auftreten (). Das Verhältnis zwischen normaler und mutierter mitochondrialer DNA bzw. die Anzahl der defekten Mitochondrien innerhalb einer Zelle bestimmt den Phänotyp bzw. das Ausmaß der Schädigung der betroffenen Zellen und Gewebe.

1.3.1.6 Mutationen

Mutationen sind für die Evolution notwendig. Sie können aber auch Missbildungen und Krankheiten verursachen. Man unterscheidet Genom- und Chromosomenmutationen sowie intragenische Mutationen. Das Finden von Genen und Mutationen, die kausal mit einer Krankheit oder Missbildung verbunden sind, ist für betroffene Patienten und Familien relevant. Genomweite Assoziationsstudien, die dank hochleistungsfähiger molekulargenetischer Techniken heute möglich sind, geben Hinweise auf Gene, die mit bestimmten Krankheiten oder Risikofaktoren für Krankheiten assoziiert sind. Diese Gene wirken in der Regel jedoch nicht direkt kausal und haben im klinischen Alltag keine Bedeutung.

Genommutationen

Hier differenziert man zwischen numerischen und strukturellen Chromosomenaberrationen. Bei den numerischen Aberrationen ist die Zahl der Chromosomen verändert (z.B. Trisomie, Monosomie), bei den strukturellen deren Morphologie. Letzteres kann durch Deletion, Translokation oder Inversion eines ganzen Chromosomenabschnittes entstehen.

Intragenische Mutationen

Intragenische Mutationen kommen durch Veränderungen der DNA zustande. Die DNA ist innerhalb eines Chromosoms linear angeordnet. DNA-Abschnitte bzw. Gene, die die Produktion von Aminosäuresequenzen bzw. Proteinen kodieren (Exons), wechseln mit nicht kodierenden Abschnitten (Introns). Exons machen nur etwa 5% der menschlichen DNA aus. Von der chromosomalen DNA wird zunächst ein primäres Transkript hergestellt, das auch Kopien der Introns enthält. Diese werden in einem zweiten Schritt herausgeschnitten. Dieser Vorgang heißt Spleißen und führt zum reifen Transkript bestehend aus mRNA.

Jeweils drei Nukleotide der mRNA (= Triplet oder Codon) kodieren bei der Proteinbiosynthese für eine Aminosäure. Stopp-Codons zwischen den Exons signalisieren Anfang und Ende des Gens und bestimmen somit die Länge des herzustellenden Proteins.

Wird ein Nukleotid der DNA gegen ein anderes ausgetauscht, ändert sich der Sinn des Codons („Falsch-Sinn-“ oder Missense-Mutation). Bei der Proteinsynthese wird dann eine „falsche“ Aminosäure in das Genprodukt eingebaut, was die Funktion des betreffenden Proteins in sehr unterschiedlichem Maße stören kann. Entsteht bei einem Nukleotidaustausch zufällig ein Stopp-Codon oder fällt ein solches weg, werden unvollständige oder unsinnig lange Proteine gebildet („Unsinn-“ oder Nonsense-Mutation). Durch Einfügen eines zusätzlichen Nukleotids (Insertion) oder Verlust eines solchen (Deletion) ändert sich der Triplet-Takt. Das „normale“ Leseraster wird verändert (Leseraster-Mutation oder Frame-Shift-Mutation). Frame-Shift-Mutationen haben in der Regel eine besonders schwere Struktur- oder Funktionsstörung des betreffenden Proteins zur Folge, z.B. bei der ▶ Duchenne-Muskeldystrophie.

Expansion repetitiver DNA-Sequenzen

Eine weitere und in der Neurologie besonders wichtige Art der Mutation betrifft die Zahl der Trinukleotide/Triplets. Die DNA enthält einen hohen Anteil repetitiver Trinukleotide, die die Funktion der Gene und damit ihre Expression beeinflussen. Bei einer Gruppe von neurodegenerativen Erkrankungen ist die Zahl der Triplet-Wiederholungen (Triplet-Repeats) innerhalb eines Gens vermehrt. Diese Krankheiten werden als Trinukleotid- bzw. Triplet-Repeat-Erkrankungen zusammengefasst ( ▶ Tab. 1.1 ). Statt weniger Triplet-Repeats finden sich bei ihnen Dutzende bis mehrere Hundert. Je länger die Expansion, desto früher manifestiert sich die Krankheit und desto gravierender sind die Symptome. In aufeinander folgenden Generationen nimmt die Länge der repetitiven Sequenzen häufig zu, entsprechend sinkt das Erkrankungsalter und die Krankheitsschwere nimmt zu.

Mutationen der mitochondrialen DNA

Sie haben eine Störung des oxidativen Stoffwechsels in den Mitochondrien zur Folge. Phänotypisch äußern sie sich u. a. in Form der ▶ mitochondrialen Enzephalomyopathien .

1.3.2 Neurogenetik

Merke

In der Neurologie sind insbesondere die Triplet-Erkrankungen von Bedeutung.

Neurodegenerative Triplet-Erkrankungen▶ Tab. 1.1  bietet eine Übersicht. Diese Triplet-Erkrankungen (Expansion von Triplet-Repeats) haben folgende gemeinsame Charakteristika:

Erbgang autosomal-dominant oder X-chromosomal

Erkrankungsalter meist 25–45 Jahre

allmähliche Krankheitsprogression

symmetrischer Neuronenuntergang und Gliose im Gehirn

Antizipation (frühere Krankheitsmanifestation in nachfolgenden Generationen)

Diagnostik mittels DNA-Analysen ist möglich

Die Zahl der Triplet-Repeats korreliert mit dem Zeitpunkt des Auftretens der ersten Symptome und mit der Schwere der Erkrankung.

Tab. 1.1 

Einige neurodegenerative Krankheiten infolge von Triplet-Repeat-Expansionen.

Krankheit

klinische Leitsymptome

Triplet

chromosomale Lokalisation

Erbgang

Fragiles-X-Syndrom

verminderte Intelligenz, evtl. faziale Dysmorphie, Bindegewebsdysplasie

CGG

Xq27.3

XD

Fragiles-X-assoziiertes-Tremor-/Ataxie-Syndrom (FXTAS)

progressiver Intentionstremor, extrapyramidale Hypokinese, Impotenz undkognitive Einschränkungen im Alter

CGG

Xq27.3

XD

Dystrophia myotonica Typ 1 (DM 1; Dystrophia myotonica Curschmann-Steinert)

progressive distal betonte Muskeldystrophieund Myotonie, Herzrhythmusstörungen

CTG

19q13.3

AD

Dystrophia myotonica Typ 2 (DM 2; proximale myotone Myopathie [PROMM])

proximal betonte Muskeldystrophieund Myotonie

CCTG

3q13.3-q24

AD

Friedreich-Ataxie

Ataxie, Areflexie, Pyramidenbahnzeichen,Dysarthrie

GAA

9q13-q21.1

AR

spinobulbäre Muskelatrophie(Kennedy-Syndrom)

Muskelatrophie, Dysarthrie, Faszikulationen,Gynäkomastie

CAG

Xq11-q12

XR

Chorea Huntington

Chorea, selten Spastik oder Rigor, kognitive-und Verhaltensstörungen

CAG

4p16.3

AD

dentato-rubro-pallido-luysiane Atrophie (DRPLA)

Ataxie, Myoklonus, Epilepsie, Choreoathetose, Demenz

CAG

12p13.31

AD

spinozerebelläre Ataxie Typ 1(SCA1)

zerebelläre Ataxie, evtl. Chorea oder Dystonie, Polyneuropathie, oft Pyramidenbahnzeichen, evtl. Demenz

CAG

6p22.3

AD

spinozerebelläre Ataxie Typ 2(SCA2)

zerebelläre Ataxie, evtl. Chorea oder Dystonie, Myoklonus, Polyneuropathie, evtl. Pyramidenbahnzeichen und Demenz

CAG

12q24.12

AD

spinozerebelläre Ataxie Typ 3(SCA3, Machado-Joseph-Krankheit)

zerebelläre Ataxie, evtl. Chorea oder Dystonie, Polyneuropathie, evtl. Pyramidenbahnzeichen und Demenz

CAG

14q32.12

AD

spinozerebelläre Ataxie Typ 6(SCA6)

zerebelläre Ataxie, evtl. Polyneuropathie und Pyramidenbahnzeichen

CAG

19p13.2

AD

spinozerebelläre Ataxie Typ 7(SCA7)

zerebelläre Ataxie, evtl. Chorea oder Dystonie, Retinadegeneration, Polyneuropathie,evtl. Pyramidenbahnzeichen

CAG

3p14.1

AD

spinozerebelläre Ataxie Typ 8(SCA8)

zerebelläre Ataxie, Spastik,reduzierter Vibrationssinn

CTG

13q21.33

AD

spinozerebelläre Ataxie Typ 10(SCA10)

zerebelläre Ataxie, epileptische Anfälle,evtl. Polyneuropathie

ATTCT

22q13.31

AD

spinozerebelläre Ataxie Typ 12(SCA12)

zerebelläre Ataxie, extrapyramidale Hypokinese, später Demenz

CAG

5q32

AD

spinozerebelläre Ataxie Typ 17(SCA17)

zerebelläre Ataxie, Spastik, kognitive Einschränkungen, Psychose, epileptische Anfälle

CAG

6q27

AD

AD autosomal-dominant; AR autosomal-rezessiv; XD X-chromosomal dominant; XR X-chromosomal rezessiv. Weitere Erbkrankheiten des Nervensystems sind bei den Kapiteln der Krankheitsbilder und Syndrome beschrieben.

Häufigste mitochondriale Erbkrankheiten

Progressive externe Ophthalmopathie (PEO)

Kearns-Sayre-Syndrom (KSS)

Leber'sche hereditäre Optikusneuropathie (LHON)

Mitochondriale Enzephalomyopathie mit Laktatazidose und Stroke (MELAS)

Leigh-Erkrankung

Neuropathie, Ataxie und Retinitis-pigmentosa-Syndrom (NARP)

Myoklonusepilepsie mit Ragged-Red-Fibers (MERRF)

Myoneurogastrointestinale Enzephalopathie (MNGIE-Syndrom)

Praxistipp

Die Kenntnis genetischer Defekte nimmt laufend zu. Will man sich schnell über den aktuellen Forschungsstand in Bezug auf eine oder mehrere Erkrankungen orientieren, greift man am besten auf das Internet zu, z.B. zu Online Mendelian Inheritance in Man (OMIM) oder zur Medline/Pubmed.

1.3.3 Genetische Beratung

Mittels DNA-Analysen können sehr viele Genmutationen direkt erfasst werden. Damit ist bei vielen Krankheiten eine Diagnose- und Prognosestellung bereits in einem asymptomatischen Stadium möglich, meist für Krankheiten, die nicht behandelbar sind und kontinuierlich fortschreiten. DNA-Analysen können aber auch genetische Veränderungen aufdecken, deren klinische Signifikanz unklar ist.

Merke

Die Folgen einer DNA-Analyse können für den Patienten gravierend sein. Dies verpflichtet schon im Vorfeld zu einer besonders sorgfältigen Aufklärung und Beratung durch den Arzt.

Vor jeder DNA-Analyse soll der Arzt

eine exakte klinische Untersuchung durchführen,

eine detaillierte Familienanamnese erheben und wenn möglich auch Verwandte persönlich befragen und untersuchen,

den Patienten und seine Angehörigen über die vermutete Krankheit detailliert informieren und

dem Patienten die Konsequenzen der DNA-Analyse in verständlicher Form darlegen.

Ein negatives Testergebnis kann erleichtern und von Angst befreien. Ein positives Resultat kann den Patienten aber in eine schwere Depression stürzen, da er mit der Gewissheit einer Erbkrankheit und einer meist düsteren Zukunft nur schwer umzugehen vermag. Das Wissen um eine abnorme Erbsubstanz kann eine Partnerschaft belasten. Hinzu kommen soziale Konflikte. Personen mit Erbkrankheiten werden in unserer Gesellschaft leider oft wie Aussätzige behandelt. Sie können Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt haben und auch der Abschluss von Versicherungen (v.a. Kranken-, Pflege- und Lebensversicherungen) ist eventuell problematisch. Eine Testung im symptomatischen Stadium ist in der Regel weniger problematisch als im prä- oder asymptomatischen Stadium. Asymptomatische Kinder sollen – auch bei Wunsch der Eltern – keiner DNA-Analyse unterzogen werden, sondern erst bei Erlangung der Urteilsfähigkeit und Volljährigkeit selbst darüber entscheiden.

Informiert man die Patienten und ihre Angehörigen umfassend über eine Erbkrankheit und die Folgen einer DNA-Analyse, verzichten viele darauf. Insbesondere prä- und asymptomatische Personen ziehen die Ungewissheit in Bezug auf ihre Zukunft dem Wissen um das Resultat vor. Ein pathologisches Ergebnis würde ihnen auch die Hoffnung auf spätere Gesundheit zerstören.

Entscheidet sich ein Patient für eine DNA-Analyse und wird er positiv getestet, dann muss ihm und den Angehörigen das Ergebnis in einem ausführlichen, persönlichen Gespräch mitgeteilt werden – niemals in einem Telefongespräch oder schriftlich. Die Ergebnismitteilung darf keineswegs das Ende der ärztlichen Betreuung sein. Bei vielen Erbkrankheiten kann den Betroffenen psychologisch und durch symptomatische Maßnahmen entscheidend geholfen werden, häufig ist eine längere psychotherapeutische Behandlung erforderlich.

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2 Das ärztliche Gespräch in der Neurologie

2.1 Allgemeine Prinzipien der Anamneseerhebung

Key Point

Die Anamnese hat speziell in der Neurologie einen sehr hohen Stellenwert und sollte stets mit größter Sorgfalt erhoben werden – sie ist ein wichtiges diagnostisches Instrument, gibt erste Hinweise auf Kognition und Verhalten der kranken Person, dient der Vertrauensbildung zwischen ihr und dem Arzt und ist ein entscheidender Faktor für den Erfolg der späteren Therapie.

Anhand einer sorgfältig erhobenen Anamnese lässt sich in den meisten Fällen bereits ohne weiterführende Untersuchungen erkennen, welche Art neurologische Störung bei einem Patienten vorliegt. Nicht selten kann sogar eine recht präzise Diagnose gestellt werden. Ein angemessener Zeitaufwand und sorgfältiges Hinhören sind allerdings unerlässlich.

Merke

„Ein blinder Neurologe ist besser als ein tauber Neurologe.“

2.1.1 Allgemeine Voraussetzungen der Anamneseerhebung

Allgemein – und nicht nur für die Anamnese neurologischer Krankheiten – gilt, dass der Patient zum befragenden Arzt Vertrauen haben sollte. Als Arzt sollte man sich dem Patienten zunächst immer vorstellen und die Anamnese an einem Ort durchführen, wo die nötige private Atmosphäre, Diskretion und Ruhe gewährleistet sind. Sofern der Patient dazu in der Lage ist, sollte er bequem sitzen, aber das ist z.B. bei Notfall- oder Rückenschmerzpatienten nicht immer möglich oder nicht die für den Patienten beste bzw. angenehmste Option. Weitere anwesende Personen, z.B. Studierende, sollten ebenfalls vorgestellt werden und der Patient sollte mit deren Anwesenheit einverstanden sein. Die Anamnese sollte aber führend nur von einer Person durchgeführt werden, eventuelle „Drittpersonen“ sollten sich deshalb eher zurückhalten. Die Anamnese sollte nach Möglichkeit detailliert, vollständig und ohne Zeitdruck erhoben werden.

2.1.2 Allgemeine Prinzipien der Gesprächsführung

Während der Anamnese sollten folgende Grundsätze berücksichtigt werden:

Der Patient sollte am Anfang so viel wie möglich reden, der Arzt hingegen möglichst wenig.

Eine systematische und präzise Erfragung aller anamnestischen Daten sollte erst dann mit der erforderlichen Behutsamkeit begonnen werden, wenn der Patient seine eigene Schilderung abgeschlossen hat.

Bei weitschweifigen oder unpräzisen Patienten sollte man seine Ungeduld oder Gereiztheit nie zeigen.

Als Arzt darf man andererseits nie darauf verzichten, durch hartnäckiges Nachfragen die Angaben des Patienten zu präzisieren und zu ergänzen, um sich schlussendlich ein genaues Bild vom Krankheitsgeschehen machen zu können.

Von den Patienten angebotene eigene Deutungen ihrer Symptome sollten niemals primär abgelehnt werden, auch wenn sie dem Arzt unwahrscheinlich oder gar absurd erscheinen. Dies könnte den Arzt als spöttischen Besserwisser erscheinen lassen und würde das Vertrauen des Patienten und die Kommunikation beeinträchtigen.

2.1.3 Umgang mit dem Patienten

Jeder Patient hat grundsätzlich das Recht, dass man ihm höflich und mit Takt begegnet. Er darf vom Arzt während einer angemessenen Zeitspanne uneingeschränkte Zuwendung erwarten. Nach aufmerksamer Anhörung und ergänzender Befragung sollte er sorgfältig untersucht werden. Er hat Anspruch auf eine umfassende Darlegung der vom Arzt erhobenen Befunde und auf eine medizinische Deutung des Krankheitsbildes. Diese hat wahrheitsgemäß zu erfolgen, in einer für den Patienten verständlichen Sprache und mit Rücksicht auf dessen Gefühle. Es ist oft nicht leicht, den Weg zwischen Wahrhaftigkeit und Schonung zu finden.

Ist der Patient in Begleitung, so ist dennoch stets der Patient die Hauptperson, auch im Falle von Jugendlichen, Kindern oder Patienten mit kognitiven Störungen. Der Arzt sollte primär mit dem Patienten kommunizieren, eventuell müssen Teile der Besprechung und der Untersuchung ohne die Begleitperson durchgeführt werden. Deren Bedürfnisse sind jedoch auch angemessen zu berücksichtigen – nicht zuletzt im Hinblick auf die spätere Phase der Pflege und Therapie, in der Bezugspersonen möglicherweise eine wichtige Rolle spielen. Takt und Achtung vor dem Patienten als Mitmenschen, spürbare Respektierung seiner Würde, echtes Verständnis und Mitgefühl sind Grundlage der Vertrauensbildung zwischen Arzt und Patient und damit wichtige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Therapie.

2.1.4 Anamnese und klinische Untersuchung

Auch wenn Anamneseerhebung und klinische Untersuchung zwei verschiedene Mittel zur Analyse eines Krankheitsgeschehens darstellen, sind sie gleichberechtigte Teile der klinischen Diagnostik. Beide sollten sich ergänzen und bis zu einem gewissen Grade parallel ablaufen: So wird der Erfahrene durch die anamnestischen Schilderungen schon auf zu erwartende Untersuchungsbefunde hingewiesen. Andererseits wird er anhand von späteren Auffälligkeiten bei der Untersuchung die Anamnese nachträglich durch Zusatzfragen ergänzen. Im Idealfall sollte der Arzt nach Beendigung von Anamnese und Untersuchung bereits eine Diagnose oder mindestens eine Verdachtsdiagnose stellen können.

2.2 Spezielle Aspekte der Anamneseerhebung

Key Point

Die „klassische“ Anamnese besteht aus mehreren Teilen ( ▶ Tab. 2.1 ) und verfolgt das Ziel, ein umfassendes Bild der aktuellen Beschwerden des Patienten, seiner Vorgeschichte, seiner Persönlichkeit sowie seines Lebensumfeldes zu vermitteln.

2.2.1 Aktuelle Krankengeschichte

Beim Erheben der Anamnese soll der Patient immer die Möglichkeit haben, zunächst über seine aktuellen Beschwerden und den Grund für die ärztliche Konsultation zu reden. Erst danach schließt sich die systematische Befragung durch den Arzt an. Diese Befragung erfolgt in allen Teilgebieten der Medizin nach einem ähnlichen Schema ( ▶ Tab. 2.1 ). Darüber hinaus sind die für das jeweilige Spezialgebiet besonders häufigen oder relevanten Aspekte zu berücksichtigen und ausdrücklich zu erfragen. Die für eine neurologische Erkrankung besonders wichtigen Aspekte sind in ▶ Tab. 2.2  zusammengefasst.

Tab. 2.1 

Grundsätze der anamnestischen Befragung eines Patienten.

Inhalt, Anamnese-Form

Details

aktuelle Anamnese

der Patient schildert spontan seine aktuellen Beschwerden

gezieltes Nachfragen durch den Arzt zur Präzisierung

systematische Analyse der aktuellen Beschwerden siehe ▶ Tab. 2.2 

persönliche Anamnese (frühere Erkrankungen)

spontane Äußerungen des Patienten

gezieltes Nachfragen durch den Arzt, insb. im Hinblick auf die aktuellen Beschwerden

evtl. Geburtsanamnese und frühkindliche Entwicklung

Krankheiten in der Familie

Lebensgewohnheiten

Medikamente

Alkohol, Drogen

Bewegung, Sport, Ernährung

vaskuläre Risikofaktoren

vegetative Anamnese

Schlaf

Verdauung

Miktion

Sexualfunktion

Persönlichkeit und soziale Situation

Angaben über das persönliche und soziale Umfeld des Patienten (Bildung, Beruf, familiäre/gesellschaftliche/finanzielle Position, aktuelle Konfliktsituationen oder Schwierigkeiten) erlauben es dem Arzt abzuschätzen, welche Faktoren den Patienten im Umgang mit seinen Gesundheitsproblemen entlasten oder zusätzlich belasten können.

Das Verhalten des Patienten, verbale Ausdrucksweise, Gestik, Mimik, Emotionalität sowie die Reaktionsweise auf Fragen etc. vermitteln einen Eindruck von der Gesamtpersönlichkeit des Patienten.

Tab. 2.2 

Aktuelle Anamnese.

Fragenbereich

wichtige Aspekte

Hauptsymptome

spontane Schilderung des Patienten, durch Nachfragen präzisieren

Seit wann bestehen die Beschwerden? Wo sind sie lokalisiert?

Wie setzten sie ein: plötzlich, allmählich, gab es einen konkreten Auslöser?

Wie entwickeln sich die Beschwerden seither: konstant, zu- oder abnehmend, fluktuierend?

Was beeinflusst die Beschwerden: lindernde bzw. verstärkende Einflüsse, Einfluss von Medikamenten?

Auswirkungen – wie intensiv ist das aktuelle Beschwerdebild: Auswirkungen auf Alltag, Beruf und Psyche; erforderliche Gegenmaßnahmen und Therapien?

aktuelle Begleitsymptome

Gerade hier müssen die Spontanangaben der Patienten durch gezielte Fragen ergänzt werden. Diese Fragen ergeben sich für den erfahrenen Arzt aufgrund der Krankheiten, die differenzialdiagnostisch zu erwägen sind.

relevante Aspekte derVorgeschichte

Waren bereits frühere Symptome vorhanden, die mit dem aktuellen Krankheitsbild in Zusammenhang stehen (z.B. frühere neurologische Symptome bei Verdacht auf Multiple Sklerose)?

Gibt es in der Vorgeschichte des Patienten prädisponierende Faktoren für die Genese des jetzigen Leidens (z.B. Diabetes mellitus bei Verdacht auf Polyneuropathie)?

relevante Aspekte derFamilienanamnese

Sie können zur Bestätigung einer Verdachtsdiagnose beitragen, so z.B. gleichartige Gehstörung bei Verwandten eines Patienten mit mutmaßlicher spastischer Spinalparalyse.

2.2.2 Vorgeschichte, Familien- und Sozialanamnese

Erst wenn man ein umfassendes Bild der aktuellen Beschwerden eines Patienten erhalten hat, wird man durch zunächst allgemeine Fragen nach früheren Beschwerden und Krankheiten forschen. Man wird v.a. nach Symptomen fragen, die kausal mit dem jetzigen Leiden zusammenhängen könnten – so sind z.B. bei einem Schlaganfall eine vorbestehende arterielle Hypertonie, eine Herzerkrankung oder ein Nikotinabusus von Interesse. Man ergänzt das Bild durch Fragen nach der Familie, insbesondere nach Erbkrankheiten und neurologischen Erkrankungen. Schließlich sollten auch die gegenwärtige familiäre und soziale Situation zur Sprache kommen: Partnerschaft, Beruf sowie eventuelle Probleme und Konflikte. In diesem Zusammenhang mache man sich auch ein Bild darüber, in welchem Ausmaß die aktuellen – oder früheren – Beschwerden den Patienten in seinem privaten und beruflichen Alltag beeinträchtigen. Dies sollte jedoch möglichst unaufdringlich und gewissermaßen nebenbei geschehen, damit der Patient nicht den Eindruck erhält, man führe sein Leiden primär auf psychische Mechanismen zurück. Sollten nach Abschluss von Anamnese, Untersuchung und Diagnostik positive Hinweise auf eine psychogene Genese des Krankheitsbildes bestehen, muss dies natürlich mit dem Patienten offen besprochen werden.

Anhand der Anamnese sollte es dem Erfahrenen gelingen, schon vor der eigentlichen Untersuchung eine Verdachtsdiagnose oder wenigstens eine Hypothese zu generieren, welche Strukturen des Nervensystems betroffen sind. Dies wird seine Aufmerksamkeit bei der Untersuchung für gewisse Symptome besonders schärfen. Die im Voraus bereits vorhandenen Erwartungen dürfen allerdings nie zu einer sturen Voreingenommenheit und dadurch zur Blindheit für Symptome und Zeichen führen, die vom Erwarteten abweichen. Jede diagnostische Vermutung ist grundsätzlich vorläufig. Der gute Arzt muss jederzeit bereit sein, Informationen oder Befunde, die nicht seinen Erwartungen entsprechen, wahrzunehmen und seine diagnostischen Annahmen zu revidieren.

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3 Die neurologische Untersuchung

3.1 Grundsätzliches zum Erheben des Neurostatus

Key Point

Die Diagnose eines neurologischen Syndroms oder einer neurologischen Krankheit lässt sich häufig bereits anhand einer sorgfältig erhobenen Anamnese in Kombination mit dem klinischen Untersuchungsbefund stellen. Um die Vollständigkeit der Untersuchung zu gewährleisten, sollte man nach einem stets gleichbleibenden Schema vorgehen.

Entweder sind die einzelnen Komponenten des Neurostatus (Hirnnerven, Reflexe, Motorik, Sensibilität, vegetatives Nervensystem, Kognition, Verhalten) in einer bestimmten Reihenfolge zu prüfen, oder man orientiert sich an topografischen Gesichtspunkten (Untersuchung des Kopfes, der Arme, des Rumpfes und der Beine). In der Anamnese hat der Arzt bereits Hinweise auf Störungen von Kognition und Verhalten bekommen. Dies ist bei der somatischen Untersuchung zu berücksichtigen. Unter Umständen ist es sinnvoll, als Erstes eine vertiefte ▶ neuropsychologische Testung durchzuführen.

In diesem Kapitel erfolgt die Auflistung der Untersuchungsschritte nach Körperregionen (topografisch orientierter Neurostatus).

Die meisten neurologischen Erkrankungen spielen sich im Nervensystem allein ab. Erkrankungen anderer Organe oder systemische Erkrankungen können sich jedoch gleichfalls durch ▶ neurologische Symptome bemerkbar machen. Deshalb muss die klinisch-neurologische Untersuchung immer auch einen allgemeinen internistischen Status umfassen.

Der Neurologe wird zwar den Schwerpunkt der klinischen Untersuchung zu Gunsten des Neurostatus verlagern, den internistischen Befund aber nie außer Acht lassen.

Bei der Untersuchung sind folgende Grundprinzipien zu berücksichtigen:

Man sollte mit dem Patienten sprechen und ihm gelegentlich einzelne Untersuchungsschritte erklären. Hierbei ergibt sich auch die Gelegenheit, einzelne wichtige Punkte der Anamnese gezielt zu ergänzen.

Merke

Beim ambulanten Patienten bewährt sich folgende Reihenfolge der Untersuchung:

Beurteilung von Kognition und Verhalten in der Anamnese

Stand- und Ganguntersuchungen, Romberg-Test, Motorik der Arme und Hände sowie axialer Tonus im Stehen

danach im Sitzen Untersuchung der Hirnnerven, der Eigenreflexe sowie Kraft der Arm- und Handmuskeln

anschließend im Liegen Prüfung von Sensibilität, Muskeltonus, Babinski-Zeichen sowie Kraft der Bein- und Fußmuskeln

wenn nötig vertiefte neuropsychologische Testung

Die neurologische Untersuchung soll im Prinzip immer vollständig sein und in einer vom Untersucher frei wählbaren, jedoch möglichst gleichbleibenden Reihenfolge vorgenommen werden. Die einzelnen zu untersuchenden Elemente sind in ▶ Tab. 3.1  zusammengefasst. Nur ausnahmsweise oder für Kontrolluntersuchungen mag der Erfahrene lediglich eine Teiluntersuchung durchführen. Davor sei aber allgemein gewarnt. Auch der Erfahrene wird bei einer bloßen Teiluntersuchung einmal etwas Wichtiges verpassen. Darüber hinaus trägt die Gründlichkeit der Untersuchung dazu bei, beim Patienten das Vertrauen in die Sorgfalt und Zuwendung seines Arztes zu stärken.

Zur Untersuchung muss sich der Patient ausziehen. Man sollte ihm klare Instruktionen über das Ausmaß des Entkleidens geben, in der Regel bis auf die Unterwäsche und Büstenhalter. Ein anbehaltenes Oberteil macht die Untersuchung der Wirbelsäule unmöglich, anbehaltene Socken behindern die sorgfältige Untersuchung der Sensibilität oder des Babinski-Reflexes.

Trotz der grundsätzlich anzustrebenden Systematik und Vollständigkeit der Untersuchung wird man aufgrund der durch die Anamnese geweckten Vermutungen den Untersuchungsgang in die eine oder andere Richtung vertiefen und gewissen Aspekten ganz besondere Aufmerksamkeit widmen. Das sture und mechanische Durchexerzieren des Neurostatus ist nicht sinnvoll.

Unter Umständen ist aus psychologischen Gründen auch einmal ein Abweichen von der üblichen Reihenfolge zu wählen. So wird man z.B. bei schwerpunktmäßig in den unteren Extremitäten oder im Rücken geäußerten Beschwerden mit der Untersuchung der Wirbelsäule beginnen.

Anschließend müssen die Untersuchungsbefunde schriftlich festgehalten werden. Globalhinweise wie „Neurostatus normal“ sagen nicht aus, was tatsächlich untersucht wurde. Die Ergebnisse können z.B. in einem Schema wie in ▶ Tab. 3.1  zusammengefasst werden. Eine schriftliche Dokumentation dient vor allem dazu, die Entwicklung eines Krankheitsbildes bei späteren Untersuchungen beurteilen zu können. Sie hat auch juristische Bedeutung.

Häufig ist eine Quantifizierung der einzelnen Befunde nötig, z.B. in Bezug auf die Kraft ( ▶ Tab. 3.5 ) oder die Bradykinesie beim Parkinson-Syndrom. Auch die Sensibilitätsstörungen sollten topografisch genau und in ihrem Ausmaß präzise festgehalten werden.

Tab. 3.1 

Neurostatus.

Region

Befunde

allgemein

Blutdruck, Puls

Temperatur

Gewicht, Größe

Herz

Lunge

Lymphknoten nicht vergrößert

periphere Pulse kräftig palpabel

Kognition und Verhalten

Bewusstsein (wach, somnolent, soporös, komatös)

Verhalten (normal, abnorm)

Stimmung (normal, depressiv, gehoben)

Orientierung (Tag, Monat, Jahr, Ort)

Händigkeit (rechts, links)

Sprache

Sprachproduktion (normal, aphasisch, dysarthrisch, heiser)

Sprachverständnis

Repetition

Benennen, Wortfindung

Gedächtnis

Anamnese (präzise, erschwert, unmöglich)

Merkfähigkeit (Zahlenreihe vorwärts, rückwärts, Wörter)

Praxie (Zähneputzen, Kämmen, Hämmern)

Neglect (keiner, visuell, sensibel, motorisch)

Kopf und Hirnnerven

Kopf frei beweglich, kein Meningismus

Supra- und Infraorbitalpunkte sowie Okzipitalpunkte indolent

Karotiden bds. gut pulsierend, auskultatorisch unauffällig

Temporalarterien bds. pulsierend, indolent

auskultatorisch kein pulssynchrones Geräusch hörbar

periorale Reflexe nicht gesteigert

N. olfactorius (N. I)

Kaffeegeruch spontan erkannt (rechts, links) oder erst auf Vorschlag von Gerüchen

N. opticus (N. II)

Fernvisus (korrigiert) rechts/links

Gesichtsfeld bei Fingerprüfung intakt

Papillen bds. unauffällig

N. oculomotorius (N. III), N. trochlearis (N. IV), N. abducens (N. VI)

Augenmotorik frei und koordiniert

Augenstellung parallel, Cover-Test normal

kein pathologischer Nystagmus

Pupillen rund, isokor, mittelweit, symmetrisch

Pupillen reagieren prompt auf Licht und Konvergenz

N. trigeminus (N. V)

Sensibilität im Gesicht und Wangenschleimhaut intakt

Kornealreflexe seitengleich auslösbar

Masseter bds. kräftig

N. facialis (N. VII)

spontane Mimik unauffällig

willkürliche Gesichtsinnervation normal

N. vestibulocochlearis (N. VIII)

Gehör subjektiv normal

Fingerreiben bds. gehört

Weber nicht lateralisiert

Kopfimpulstest bds. normal

VOR-Suppressionstest normal

Lagerungsprobe nach Hallpike normal

N. glossopharyngeus (N. IX), N. vagus (N. X)

Gaumensegel symmetrisch, bds. gleich innerviert

Schlucken subjektiv unbehindert, Würgreflex auslösbar

N. accessorius (N. XI)

M. sternocleidomastoideus trophisch normal und kräftig

M. trapezius trophisch normal und kräftig

N. hypoglossus (N. XII)

Zunge symmetrisch, trophisch normal, gerade herausgestreckt, Bewegungen frei, keine Faszikulationen

obere Extremitäten

Trophik bds. unauffällig, keine Faszikulationen

Tonus bds. unauffällig

Motilität nicht eingeschränkt

rohe Kraft bds. gut (falls reduziert, einzelne Funktionen beschreiben und Parese gemäß Skala der ▶ Tab. 3.5  gradieren)

Positionsversuch/Armvorhalteversuch bds. ohne Absinken

Diadochokinese bds. flüssig

Armrolltest rasch und symmetrisch

Reboundphänomen bds. negativ

Fingertapping

FNV (Finger-Nase-Versuch) bds. zielsicher, kein Intentionstremor

kein Hand- oder Fingertremor

Reflexe:

Bizepssehnenreflex (BSR) symmetrisch, mittellebhaft

Trizepssehnenreflex (TSR) symmetrisch, mittellebhaft

Radiusperiostreflex (RPR) symmetrisch, mittellebhaft

Mayer-Reflex bds. auslösbar

Knips- und Trömner-Reflex bds. nicht gesteigert

Sensibilität für Berührung bds. unauffällig

Schmerzempfindung bds. unauffällig

Temperatursinn bds. unauffällig

Zwei-Punkte-Diskrimination bds. < 5 mm

Lagesinn der Finger bds. unauffällig

Vibrationssinn bds. unauffällig

Münzenerkennen, Stereognosie bds. prompt und sicher

Rumpf

Wirbelsäule unauffällig, nirgends klopfdolent, normale Haltung

Sensibilität intakt; Sensibilität der „Reithose“ unauffällig

Reflexe:

Bauchhautreflex (BHR) symmetrisch, lebhaft

Männer: Kremasterreflex bds. vorhanden

kleiner Schober-Index in cm

Finger-Boden-Abstand in cm

untere Extremitäten

Trophik bds. unauffällig, keine Faszikulationen

Tonus bds. unauffällig

Motilität nicht eingeschränkt

rohe Kraft bds. gut (falls reduziert, einzelne Funktionen beschreiben und Parese gemäß Skala der ▶ Tab. 3.5  gradieren)

Lasègue bds. negativ

Nervenstämme nicht druckdolent

Positionsversuch in Rückenlage bds. ohne Absinken

Knie-Hacke-Versuch bds. zielsicher

Reflexe:

Patellarsehnenreflex (PSR) symmetrisch, mittellebhaft

Achillessehnenreflex (ASR) symmetrisch, mittellebhaft

Babinski bds. negativ

Gordon bds. negativ

Oppenheim bds. negativ

Sensibilität für Berührung bds. unauffällig

Schmerzempfindung bds. unauffällig

Temperatursinn bds. unauffällig

Vibrationssinn bds. unauffällig

Lagesinn der Zehen bds. unauffällig

Zahlenerkennen am Unterschenkel bds. sicher

Stehen und Gehen

Aufstehen aus Sitzen unauffällig

Körperhaltung aufrecht

axialer Tonus unauffällig

Romberg auch bei verschiedenen Kopfstellungen negativ

Einbeinstand rechts/links > 5 Sek. gut möglich

Gang unauffällig, mit seitengleich normalen Mitbewegungen der Arme

Schrittlänge normal

Wendeschrittzahl (für 180°-Drehung)

Fersengang bds. gut möglich

Fußspitzengang bds. gut möglich

Strichgang (Tandemgang) sicher

Einbeinhüpfen unauffällig

posturale Stabilität normal

kein Richtungsabweichen im Blindgang

Nur mit einem × oder einem + versehene Punkte gelten als untersucht

Kursiv gedruckte Punkte sollen in der Regel immer untersucht werden. Nur der Erfahrene soll sich auf punktuelle Statuserhebung beschränken.

3.2 Stehen und Gehen

Key Point

Stehen und Gehen untersucht man systematisch am bis auf die Unterwäsche entkleideten und barfüßigen Patienten. Bereits die bloße Betrachtung des stehenden Patienten in Ruhehaltung kann erste Hinweise auf einen krankhaften Prozess vermitteln. Es schließt sich die Beurteilung des Gangbildes an, in der Regel unter Einbeziehung spezieller Geh- und Gleichgewichtsuntersuchungen.

3.2.1 Allgemeine Beurteilung von Stehen und Gehen

Obwohl in ▶ Tab. 3.1  das Gehen und Stehen am Schluss der Liste aufgeführt sind, empfiehlt es sich, diese Funktionen am entkleideten Patienten am Anfang zu prüfen.

Bei der Betrachtung des stehenden Patienten können z.B. Muskelatrophien, Deformationen der Wirbelsäule oder eine Scapula alata erkennbar sein. Die Ruhehaltung kann auffällig sein, so z.B. das ausgeprägte Hohlkreuz des Muskeldystrophie-Patienten (vgl. ▶ Abb. 15.5) oder die vornüber geneigte starre Haltung des Parkinson-Kranken (vgl. ▶ Abb. 6.62 und ▶ Abb. 6.66 ). Nicht selten ergeben sich bei den Stand- und Ganguntersuchungen schon wichtige Hinweise auf die Art des vorliegenden Krankheitsbildes. Der Ablauf der Tests wird in ▶ Abb. 3.1 dargestellt.

Merke

Bei der Beurteilung des Standes und Ganges ist es wichtig, auf folgende Dinge zu achten:

Ist der Gang flüssig, symmetrisch und ohne Hinken? Hinkt der Patient, dann ist die kürzer belastete Seite die pathologische.

Wie ist die Länge der Schritte und wie werden die Füße aufgesetzt und abgerollt?

Wie werden die Arme mitbewegt?

Charakteristische Normabweichungen bei der Gehprobe sind in ▶ Tab. 3.2  beschrieben.

Abb. 3.1Stand- und Ganguntersuchungen sowie Gleichgewichtstests. a Normalgang: zu beachten sind das Mitschwingen der Arme und die Schrittlänge. b Fußspitzengang. c Fersen- oder Hackengang. d Strichgang: ein Fuß wird bündig und exakt vor den anderen gesetzt. e Romberg-Test: mit geschlossenen Augen, kombiniert mit dem Positionsversuch der Arme. f Unterberger-Tretversuch: auf der Stelle treten mit geschlossenen Augen. g Sterngang nach Babinski-Weil: jeweils zwei Schritte vorwärts und zwei Schritte zurück mit geschlossenen Augen. h Tandemstand: Stehen mit zwei exakt voreinander gestellten Füßen. Interpretation siehe Text.

Tab. 3.2 

Charakteristische Gangstörungen.

Bezeichnung

Gangbild

Ursachen, Bemerkungen

spastischer Gang( ▶ Abb. 3.2)

verlangsamt, steif, hörbares Schleifen der Fußsohlen

beidseitige Pyramidenbahnläsion

ataktischer Gang( ▶ Abb. 3.2)

unkoordiniert, stampfend; unsicher, von der Geraden unsystematisch abweichend, Strichgang unmöglich

Kleinhirnerkrankungen, Hinterstrangaffektionen, Polyneuropathien

spastisch-ataktischer Gang( ▶ Abb. 3.2)

Kombination der zwei oben genannten Störungen; ruckartig, steifes, unharmonisches Gangbild

z.B. bei Multipler Sklerose oder einigen Kleinhirndegenerationen

dystones Gangbild

regellose Zusatzbewegungen, die mit dem üblichen Ablauf des Ganges interferieren

Basalganglien-Erkrankungen mit choreatischen oder dystonen Bewegungen

hypokinetischer Gang( ▶ Abb. 3.2 und ▶ Abb. 6.62)

verlangsamt; vornübergebeugte, steife Haltung; kurze Schritte, fehlende Mitbewegungen der Arme, Wenden mit zahlreichen kleinen Schritten

charakteristisch für Parkinson-Syndrom

kleinschrittiger (Greisen-)Gang