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Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. Unterricht entwickelt sich. Gesellschaftliche und mediale Veränderungen haben dazu geführt, dass seine Ziele und Methoden heute andere sind als vor 20 oder 40 Jahren. In diesem Buch finden Lehrpersonen und andere Interessierte Hinweise, wie guter Unterricht heute gestaltet werden kann: Er fühlt sich für alle Beteiligten sinnvoll an. Lernende merken, dass sie vorankommen und wichtige Kompetenzen erarbeiten. Lehrende begleiten diese Entwicklung und gestalten Umgebungen, in denen Kinder und Jugendliche aktiv und fokussiert lernen können. Die Lernenden stehen im Zentrum, ohne sie gibt es keine Demokratisierung, keine Partizipation, keine Differenzierung. Ihre Bedürfnisse und Fähigkeiten in den Mittelpunkt des Unterrichts zu stellen, ist daher entscheidend für eine effektive und inklusive Lernumgebung.
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Seitenzahl: 136
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Philippe Wampfler
L’école, c’est moi
Schüler:innen im Zentrum zeitgemäßen Unterrichts
ISBN Print: 978-3-0355-2676-9
ISBN E-Book: 978-3-0355-2677-6
1. Auflage 2024
Alle Rechte vorbehalten
© 2024 hep Verlag AG, Bern
hep-verlag.ch
Einleitung
Wir brauchen Schulen ohne Gehorsam
Lernkultur
Das Lernen der Schüler:innen als Magnet
Das Problem des «Studenting»
Was Lernen möglich macht
Agile Didaktik
Die Bedeutung der Präsenz
Ein Beispiel: Das Weglass-Spiel
Das Problem der Ausbildung von Lehrenden
Erste Schritte hin zur agilen Didaktik
Agiles Mindset
Asynchrone Lernphasen
Frontalunterricht als falsches Problem
Asynchrone Kommunikation
Zwei Herausforderungen – Verbindlichkeit und Lernumgebungen
Feedback und Reflexion
Digitale Plattformen und Lernmanagementsysteme
Vielfalt als Bereicherung
Schule in einer postmigrantischen Gesellschaft
Kulturelles Lernen
Erfahrung als Expertise
Der Umgang mit Rassismus
Diverse und multiprofessionelle Teams
Postdigitale Infrastruktur
Was auf das Kasernenmodell folgen muss: Raum für Teams
Architektur und Lernkultur hängen zusammen
Digitalität, Lernkultur und Raumkonzepte
Gute Ausstattung als Basis für die Transformation von Schulen
Wissen, Kompetenzen und Entwicklung
Entwicklungsorientierung
Dialogisches Lernen als Umsetzung der entwicklungsorientierten Bildung
Aufgabenformate
Demokratische Schulhauskultur
Der Whole School Approach
Adultismus als Hemmnis
Warum losen und diskutieren demokratischer sind als wählen und abstimmen
Partizipation als Erzählung
Individualisierung und gerechte Chancen
Was die Diskussion über Individualisierung schwierig macht
Was bedeutet Individualisierung? Das Churermodell
Ungleichheitssensible Förderung
Wege zu einem gerechten Bildungssystem
Die Arbeit mit Lernprodukten
Lernprodukte als authentische Leistungen
Aufgabenkultur und Lernkultur
Kritik an Kompetenzorientierung und eine Reaktion darauf
Soziale Erlebnisse
Soziales Lernen
Ein Beispiel: Friedensverhandlungen
Soziale Erlebnisse erzeugen Sinnerlebnisse
Ausblick
Dank
Literatur
Als ich im Sommer 2024 die letzten Abschnitte für dieses Buch schrieb, berichteten Zeitungen über zwei Standpunkte zur schulischen Bildung in der Schweiz: Der Sekschüler Liam Mitrovic wandte sich in einem Brief an die Bildungsdirektorin des Kantons Zürich und forderte verschiedene Reformen – unter anderem eine Abschaffung von Noten in der Grundschule, mehr spielerischen und individualisierten Unterricht, wirksame Maßnahmen gegen Mobbing und Diskriminierung sowie eine Stärkung der aus seiner Sicht relevanten Fächer. Fast gleichzeitig äußerte sich der Präsident der FDP, Thierry Burkart. Auch er forderte eine große Reform – die aber in die gegensätzliche Richtung gehen soll: Weniger Möglichkeiten zur Individualisierung, Unterbringung von schwächeren oder fremdsprachigen Schüler:innen in Sonderklassen, Festhalten an Noten und eine Stärkung der «Grundkompetenzen».
Kritik an der Schule hat Konjunktur. Die Resonanz auf die beiden Standpunkte ist Ausdruck einer breiten Unzufriedenheit. Schulen erfüllen die Erwartungen vieler Menschen nicht. Dieses Buch versucht dieser Kritik eine positive Vision entgegenzusetzen. Eine einfache, aber kraftvolle Einsicht soll dabei helfen, sinnvolle Haltungen wie die Forderung nach für Schüler:innen relevantem Unterricht von problematischen und irreführenden Ansichten wie dem Ausschluss von bestimmten Kindern zu unterscheiden. Die Einsicht lautet: Eine gute Schule ist eine Schule, die für Schüler:innen gemacht ist. Der Titel L’école, c’est moi ist subversiv gemeint, weil der Ausspruch von Lernenden ausgeht. Mit dem Satz bestehen sie nicht auf einer Autorität, wie das der absolutistische Herrscher Louis XIV gemacht hat («L’État, c’est moi»), vielmehr fordern sie eine Beteiligung an dem ein, was an Schulen geschieht; sie bestehen auf ihrem Recht, Schule mitzugestalten, statt beschult zu werden. Letztlich handelt es sich um eine Gegenposition zur Vorstellung einer Schule, in denen Erwachsene Kinder und Jugendliche formen wollen.
«L’école, c’est moi» wäre in einer guten Schule kein Bekenntnis, das Schüler:innen ablegen müssten – es wäre ein Grundgefühl, das alle trägt. Sie würden spüren, dass sie tatsächlich im Mittelpunkt stehen, dass sie mit ihren Persönlichkeiten und Bedürfnissen das sind, worum es an Schulen geht.
Die Vision einer Schule, die in allen Aspekten an einer positiven Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ausgerichtet ist, entfaltet eine magnetische Wirkung. Wer sie verstanden hat, blickt auf viele Fragen mit einem neuen Blick. Wie sich Schulen entwickeln sollen, wie guter Unterricht aussieht, was in der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften entscheidend ist und worauf beim Bau neuer Schulhäuser geachtet werden muss, kann ausgehend von der Grundeinsicht so beantwortet werden, dass unnötige Konflikte und Ablenkungen verschwinden.
Das ist deshalb wichtig, weil wir eine Transformation der Schule erleben. Gesellschaftliche und mediale Veränderungen haben dazu geführt, dass ihre Ziele und Methoden heute andere sind als vor 20 oder 40 Jahren. Diese Transformationen betreffen Schule auf mehrfache Weise: Sie haben Vorstellungen gewandelt, wie Menschen miteinander umgehen, wie sie Autorität und Macht einsetzen. Die Wahrnehmung unterschiedlicher und individueller Bedürfnisse hat an Bedeutung gewonnen, starre gesellschaftliche Erwartungen und Normen haben weniger Gewicht erhalten. Gleichzeitig hat das zu veränderten Vorstellungen von Lernprozessen geführt, auch von Können. Das betrifft neben der Schule auch die Berufswelt: Wer zufrieden und erfolgreich arbeiten will, muss bereit sein, on the job zu lernen, Veränderungen als Chance zu sehen und weniger als Problem. Darauf müssen Schüler:innen vorbereitet sein und werden. Diese Vorbereitung findet mit einer Fülle an Inhalten statt: Dank dem Zugriff auf digitale Informationen beschränkt sich schulisches Wissen nicht mehr auf das, was Lehrbücher zugänglich machen. Problemstellungen werden in ihrer ganzen Breite und Komplexität verfügbar; Lernende müssen diejenigen auswählen, die für sie besonders wichtig sind, und Lehrende diejenigen, die dabei helfen können, dass Kinder und Jugendliche die Welt besser verstehen und in ihr handeln können. Dabei können nicht alle alles wissen oder alle Aufgaben bewältigen: auch so findet eine Individualisierung statt, die Berufswelt und Schule gleichermaßen betrifft.
Die hier umrissenen Veränderungen nehmen wir immer dann besonders deutlich wahr, wenn die nostalgische Sehnsucht nach einer Schule auftaucht, wie sie früher war. Diese beschwört das Bild einer Schule herauf, in der vor allem männliche Lehrkräfte Schüler:innen autoritär formen mussten und konnten – indem sie sich an einem einheitlichen Menschenbild orientierten, dem die Menschen zu entsprechen hatten, wenn sie ein gutes Leben führen wollten. Verbreitet ist auch der Wunsch nach einer Schule, in der klar umrissene Themen bearbeitet wurden und alle dasselbe Niveau erreichen sollten, was dann wiederum über Noten zu einer Bewertung führte, die für die schulische und berufliche Zukunft aussagekräftig war. Die oben beschriebene Transformation hat viele dieser Sicherheiten und Gewissheiten aufgelöst. Einheitliche und starre Lösungen führen in der Welt und Gesellschaft, in der Kinder und Jugendliche heute leben, zu Benachteiligungen, zu Defiziten und zu Problemen (wahrscheinlich war das auch früher der Fall). Wer die Vorstellung attraktiv findet, solche Lehr- und Lernformen auch heute umzusetzen, blendet das aus und bildet sich ein, die damit verbundenen Probleme hätten einen positiven Effekt gehabt. Viele Menschen verklären das Leiden an schlechten Schulen und schematischem Unterricht und bilden sich ein, ihre Lebenszufriedenheit hätten sie nicht trotz, sondern wegen solcher Belastungen erreicht.
Wie kann wirksamer Unterricht heute gestaltet werden? Diese Frage beantworten die folgenden Kapitel. Dabei bleibt «guter Unterricht» kein Schlagwort, keine leere Phrase, sondern wird ganz konkret verwendet: Guter Unterricht fühlt sich für alle Beteiligten sinnvoll an. Lernende merken, dass sie als Menschen vorankommen und dabei wichtige Kompetenzen erarbeiten. Lehrende begleiten diese Entwicklung und gestalten Umgebungen, in denen Kinder und Jugendliche aktiv und fokussiert lernen können. Lernende und Lehrende sind beteiligt; sie verantworten Unterricht gemeinsam.
Debatten, die in den letzten Jahren Bildungsdiskussionen geprägt haben, treten aus dieser Perspektive in den Hintergrund: Digitalisierung des Unterrichts, Integration oder Kompetenzorientierung sind nicht die entscheidenden Handlungsfelder, die zu gutem Unterricht beitragen. Die in den einzelnen Kapiteln entwickelten Visionen machen deutlich, was die zentralen Aspekte dieser emotionalen Debatten sind, und schaffen so eine Orientierung, mit deren Hilfe erschöpfende Aushandlungsprozesse abgekürzt werden können.
In diesem Buch wird auch die Angst relativiert, dass Jugendliche weniger können als früher oder von Problemen belastet werden, die ihre Entwicklung grundsätzlich gefährden. Natürlich wachsen Jugendliche heute in einer Welt auf, die sie vor Herausforderungen stellt und sie zuweilen verunsichert. Nicht alle nutzen die Möglichkeiten digitaler Plattformen so, dass das mit einer gesunden Lebensweise vereinbar ist. Einige sind sehr skeptisch, was ihre Zukunft betrifft. Aber daraus sollten Erwachsene nicht eine generelle Kritik ableiten, nicht den uralten Eindruck gewinnen, mit den heutigen Jugendlichen stimme so viel nicht, dass man sich Sorgen um ihre Entwicklung machen müsse. Vielmehr sollten Erwachsene Jugendliche ernst nehmen, ihnen zuhören und mit ihnen zusammen Lerngelegenheiten schaffen, die Jugendlichen helfen, an dem zu arbeiten, was für sie heute und morgen wesentlich ist.
Guter Unterricht kann sich nur entfalten, wenn gute Bedingungen geschaffen werden. Das ist eine politische Aufgabe. Lehrkräfte brauchen ausreichend Zeit und die passenden Qualifikationen, um Lernende fördern zu können. Schulen müssen attraktive, offene Orte sein, an denen es nicht darum geht, Schüler:innen effizient zu beschäftigen oder zu betreuen, sondern an denen sie individuell lernen können. Solange diese Bedingungen nicht vorhanden sind, sind viele Visionen für guten Unterricht Irrlichter. Wer 25 Stunden pro Woche 25 Schüler:innen in einem Raum beschäftigen muss, kann mit der Forderung, Vielfalt als Chance zu sehen oder demokratische Strukturen zu schaffen, wenig anfangen – weil das zusätzliche Belastungen sind.
Mittlerweile habe ich eine Reihe von Büchern geschrieben – dies ist mein wichtigstes, weil es meine Grundüberzeugungen versammelt. Lange war ich überzeugt, dass ein Verständnis für Digitalität und die damit verbundene Kultur der Zusammenarbeit, des Teilens und des kritischen Nachdenkens Schulen wandeln würde. Ich hatte mich getäuscht: Die Orientierung an Prüfungen, traditionellen Lernformen und Übergängen hat die digitale Transformation so gebremst und zum Entgleisen gebracht, dass an Schulen nur das ankam, was in den Rahmen passt – nicht das, was ihn gesprengt hätte. Schulen sind Orte, an denen «thinking outside the box» gepredigt wird; gelebt wird aber Unterricht im engen Rahmen des Stundenplans und im Takt der Prüfungen.
Deshalb denke ich seit einigen Jahren stärker über Prüfungskultur nach. Auch in diesem Bereich verhallen viele Argumente: Die Verantwortlichen wissen, dass der mit Prüfungen verbundene Druck Schüler:innen lähmt und belastet. Sie wissen, dass Prüfungsvorbereitung keine nachhaltigen Lernprozesse erlaubt. Und doch können sie nichts ändern, was eine wirksame Verbesserung zur Folge hätte. Einige Schulleitungen halten zwar Lehrkräfte an, den Stress zu reduzieren und weniger (hart) zu prüfen – doch diese Appelle verpuffen, sie sind für Schüler:innen kaum spürbar. Weiterhin sitzen sie Schulstunden ab und resignieren immer stärker; sie erleben Schule als etwas, was sie über sich ergehen lassen müssen.
Ich will nicht resignieren. Deshalb habe ich dieses Buch geschrieben, weil ich Wege suchen möchte, um eine spürbare Veränderung zu erzeugen und einen Sog zu generieren, der andere mitzieht. Das ist auf dem Weg der Digitalität nicht gelungen und auch die Kritik an der etablierten Prüfungskultur bewegt Schulen für mein Gefühl zu wenig und zu langsam. In diesem Buch dokumentiere ich eine Zielvorstellung, eine positive Vision von Schule. Ich möchte damit Menschen Mut machen, Schulen zu gestalten, insbesondere Lehrkräfte und Schulleitungen, aber auch Eltern und Bildungspolitiker:innen. Am Ende jedes Kapitels steht, was sie sofort tun können.
Dafür müssen sie ihren erlernten Gehorsam auf die Seite legen. Mit meinen Klassen setze ich seit ein paar Jahren das um, wovon ich überzeugt bin. Ich halte mich nicht an Normen und setze mich über problematische Vorgaben hinweg, wenn sie uns einschränken. Ich orientiere mich an wissenschaftlichen Einsichten und an pädagogischen Grundhaltungen, mit denen junge Menschen sich gesund entwickeln können. Gehorsam hingegen ist das Einhalten von eingebildeten oder realen Vorschriften. Welby Ings hat «disobedient teaching» wie folgt beschrieben:
«Lehren ohne Gehorsam ist das, was passiert, wenn du die Tür zu deinem Schulzimmer oder Büro schließt und unkonventionelle Dinge ausprobierst, weil dir dein professioneller Kompass zeigt, was richtig ist. Du wartest nicht auf Erlaubnis. Du verstehst, wie Systeme funktionieren, und bist passioniert und stark genug, um Risiken auf dich zu nehmen, mit denen die Dinge besser werden. Du ordnest dich Systemen nicht unter, sondern änderst sie. Du bleibst nicht konform, um in Hierarchien aufzusteigen. Lehren ohne Gehorsam wurzelt in der Überzeugung, dass du hier und heute eine Veränderung bewirken kannst.» (Übersetzung Ph. W.)
Wir brauchen Schulen, an denen diese Grundhaltung die Grundlage der Kultur darstellt, in denen viele Menschen so handeln und das Jugendlichen vorleben. Gehorsam darf Lernende wie Lehrende nicht daran hindern, etwas zu tun. Gehorchen müssen Menschen in autoritären Systemen – eine gute Schule ist kein autoritäres System. Vielmehr eröffnet sie Raum für Kreativität, ermutigt Menschen, Verantwortung für ihre Handeln zu übernehmen und Lernerfahrungen zu gestalten, ohne Vorgaben einhalten oder überschreiten zu müssen.
Unterricht kann man von außen und von innen sehen. Von außen hat er eine gesellschaftliche, demokratisch legitimierte Aufgabe: Er soll Schüler:innen qualifizieren, berufliche und private Aufgaben zu übernehmen. Im Lehrplan 21, der für viele Kantone der Schweiz maßgeblich ist, steht zum Bildungsauftrag etwa Folgendes (Art. 3, Grundbildung):
«In der obligatorischen Schule erwerben und entwickeln alle Schülerinnen und Schüler grundlegende Kenntnisse und Kompetenzen sowie kulturelle Identität, die es ihnen erlauben, lebenslang zu lernen und ihren Platz in der Gesellschaft und im Berufsleben zu finden.
Die Schülerinnen und Schüler werden in ihrer Entwicklung zu eigenständigen Persönlichkeiten, beim Erwerb sozialer Kompetenzen sowie auf dem Weg zu verantwortungsvollem Handeln gegenüber Mitmenschen und Umwelt unterstützt.»
Dieser von außen an Schulen herangetragene Bildungsauftrag ist ein wesentlicher Orientierungspunkt für die Gestaltung und Entwicklung von Unterricht. Er orientiert sich an einem Ideal, an einer Art Maximalforderung. Nicht alle Schüler:innen schaffen es, einen Platz im Berufsleben und in der Gesellschaft zu finden, der ihren Bedürfnissen entspricht. Nicht alle Schüler:innen handeln verantwortungsvoll oder werden das später tun. Nicht alle Schüler:innen betreiben lebenslanges Lernen.
Im Alltag wird der Bildungsauftrag nicht nur aus diesen Gründen oft vergessen, sondern auch deshalb, weil Lehrkräfte Unterricht von innen so gestalten, wie sie das in ihrer Ausbildung gelernt haben und wie es an Schulen von ihnen erwartet wird. Sie übernehmen Praktiken von erfahrenen Lehrkräften oder reproduzieren Muster, die sie selbst als Schüler:innen in der Schule eingeübt haben. Sie lösen didaktische und pädagogische Probleme, indem sie bestimmte Formen der Interaktion mit Schüler:innen einüben. Sie orientieren sich an Erwartungen von Kolleg:innen, von Eltern, von Schulleitungen und auch an ihren eigenen Grundsätzen.
Sowohl von außen als auch von innen vermischen sich in den an Schulen herangetragenen Erwartungen Professionalisierung und subjektive Theorien: Lehrkräfte entwickeln von innen den Wunsch, berufliche Expertise aufzubauen, um Problemen begegnen zu können, orientieren sich dabei aber auch an Erfahrungen und Verhaltensweisen, die einer rationalen Prüfung nicht standhalten, aber starke Überzeugungen ausbilden können. Dasselbe gilt für die Außenperspektive, aus der die Bildungspolitik teilweise unseriöse und den Erkenntnissen der Erziehungswissenschaft direkt widersprechende Vorgaben macht, andererseits aber auch professionelle Standards etabliert.
Aus beiden Perspektiven gibt es verschiedene Leitvorstellungen und Normen, die sich ergänzen, aber teilweise auch widersprechen. Ein paar Beispiele:
Alle Schüler:innen sollten nach einer Schulstufe die richtige Anschlussausbildung absolvieren.
Unterricht sollte störungsfrei ablaufen.
Alle Schüler:innen sollten bestimmte Verfahren beherrschen und bestimmte Wissensbestände erwerben.
Alle Schüler:innen sollten sich an einer Schule wohlfühlen.
Die Lernzeit an der Schule sollte möglichst effizient genutzt werden.
Schüler:innen sollten neben fachlichen Kenntnissen auch überfachliche Kompetenzen erwerben und das lernen, was ihnen im Leben weiterhilft.
Die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen verläuft nicht immer gleich (schnell).
Im Unterricht sollten Schüler:innen gefordert werden, aber nicht überfordert.
Der Schulstoff sollte relevant sein und dem aktuellen Stand der Erkenntnis entsprechen, gleichzeitig sollte er aber so vereinfacht werden, dass Schüler:innen Zusammenhänge verstehen können.
Lehrkräfte müssen auf ihre eigene psychische und physische Gesundheit achten; das bedeutet zuweilen, bestimmten Problemen aus dem Weg zu gehen und mit der eigenen Arbeitszeit ökonomisch umzugehen.
Wer Unterricht verantwortet, muss sich an diesen unterschiedlichen, teilweise widersprüchlichen Vorgaben und Erwartungen orientieren. In der Liste stehen nur wenige Beispiele. In der Realität gibt es viel mehr Vorstellungen, die abhängig sind von der Lernbiografie einer Lehrkraft, der Schulkultur sowie der gesellschaftlichen und institutionellen Einbettung einer Schule.
Zusammengefasst gibt es also einen idealen Bildungsauftrag, der von außen an Schulen herangetragen wird, sowie einen Mix aus widersprüchlichen Normen, die die Unterrichtsrealität von innen prägen. Wer an Schulen Unterricht entwickelt, kann unmöglich all diese Anforderungen erfüllen. Woran sich die verantwortlichen Menschen orientieren, ist zuweilen etwas zufällig: Kann sein, dass es ganz dringende Probleme gibt, die gelöst werden müssen, damit eine Art Normalität möglich ist. Dann kreist die gesamte Schulentwicklung um diese Probleme. Alles andere wird zurückgestellt. Es ist auch denkbar, dass eine Schule sich ein spezifisches Profil gibt und daran arbeitet, wahrnehmbare Stärken in einem Bereich zu entwickeln. Sie sieht Schulentwicklung dann als ein Querschnittthema, dem sich viele wichtige Aufgaben zuordnen lassen. Und möglich ist ebenfalls, dass alle ungefähr das weiterführen, was sie schon immer gemacht haben – und dabei in guter Absicht viele Kompromisse eingehen.