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Ich bin schwul, darf ich das empfinden? Was, wenn meine Eltern nicht unterstützen, dass ich trans*-identitär bin? Muss ich mich outen und wenn ja, wie? Sich selbst zu akzeptieren, so zu leben und zu lieben, wie man will, ist eine große Herausforderung. Labels und heteronormative Strukturen geben Schubladen vor und besonders junge Menschen müssen oft Mut aufbringen, wenn sie aufgrund ihrer Sexualität oder ihres Gender-Ausdrucks anecken. Lehrer und DragQueen Gracia Gracioso kennt diese Ängste und zeigt mit seinem Buch, dass "anders sein" nicht schlimm ist. Im Gegenteil – die Welt ist bunt und es lohnt sich immer, man selbst zu sein.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 289
Veröffentlichungsjahr: 2023
Gracia Gracioso
mit Ariane Novel
Das wichtigste, was du über LGBTQIA+ wissen musst – ein Mutmachbuch
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen
Originalausgabe
1. Auflage 2023
© 2023 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
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Redaktion: Annett Stütze
Umschlaggestaltung: Manuela Amode
Abbildungen: Thilo Stalbovs, shutterstock.com/Jo Best, Josie Elias, Julia Sanders, Kallyfactory, Michiru13, Sadie Mantell, Save nature and wildlife, Vector Archive, Vector bucket, vector illustration, VectorPlotnikoff
Layout: Katja Gluch
Satz: Satzwerk Huber, Germering
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-7423-2071-1
ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1838-8
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1839-5
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
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Good to know
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Für alle queeren Menschen und unsere Allys
Die einzige Entscheidung, die du treffen musst,ist, du selbst zu sein.
In Gedenken an alle queeren Menschen,
die von ihren Familien verstoßen oderdiskriminiert wurden und werden.
Willkommen in unserer queeren Community
1. Kapitel: Lerne deine sexuelle Orientierung kennen
Von aufregenden Boulevardmagazinen und Sandkastenbeziehungen
Was ist eigentlich Sexualität?
Und was genau ist sexuelle Orientierung?
Die verbotenen Briefe
Inneres Coming-out
Coming-out of the Closet
Schritt für Schritt
2. Kapitel: Lerne deine Geschlechtsidentität kennen
Rollenspiele
It’s a mad world
Der Prinzenball, der alles veränderte
Du bist mehr als die Summe aller Dinge
3. Kapitel: Verbünden wir uns
Welt: Hier bin ich!
Zusammen können wir viel erreichen
Wie ich über die Szene zu meine Gefühlen fand
How to Szene
Gracia in da house
Warum wir die Szene brauchen
4. Kapitel: Lerne deine Gefühle kennen
Wie ich die Liebe meines Lebens kennenlernte
Über Gefühle
Die Drei-Monats-Grenze
Beziehung – ja oder nein?
Liebe, wie du willst
5. Kapitel: Zeigen wir uns!
Meine innere Prinzessin
Ausdruck
Gracia erblickt das Licht der Welt
Drag the World
Highheels and Lipstick
Meine Berufung
Wie wir uns gegen Diskriminierungen stärken können
Von neugierigen Schüler*innen
Gracia erobert Social Media
Der Social-Media-Führerschein
Anhang
Danksagung
Quellenverzeichnis
Anlauf- und Beratungsstellen
Glossar
Liebe Leserschaft,
mein Name ist Gracia Gracioso, ich bin Dragqueen, männlich, schwul, Lehrer und Videocreator. Eine wilde Kombination aus Eigenschaften und Identitäten, die für unsere Gesellschaft oft widersprüchlich zu sein scheint. Ob und wie ein solches Leben funktioniert, erzähle ich in diesem Buch. Spoiler: Es war ein langer Weg, bis ich mutig genug war, zu meiner sexuellen Orientierung zu stehen und mich auch im schulischen Kontext zu outen.
Vielleicht bist auch du gerade dabei, dich mit deiner sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität auseinanderzusetzen, oder kennst eine Person, die du dabei unterstützen möchtest. Es kann ein schwieriger Weg sein, und vielleicht haderst du, weil du kein Verständnis von deinen Mitmenschen erfährst. Dieses Buch schreibe ich für dich. Ich will dir damit Mut machen und dir das Gefühl vermitteln, dass du deinen Weg finden wirst. Die Welt steht dir offen!
In diesem Buch erzähle ich auch, wie es mir gelungen ist, als queerer Mensch ein freies Leben zu führen, und welche Schritte für mich dazu nötig waren. Ich erzähle dir, was ich erlebt habe. Da ich in den 1980er- und 1990er-Jahren sozialisiert wurde, als es das Internet noch nicht gab, habe ich vermutlich eine etwas andere Kindheit und Jugend erlebt als du. Auch wenn sich unsere Erfahrungen unterscheiden werden – unsere Gefühle werden das vermutlich eher nicht. Ich möchte dich darin unterstützen, dein Ding durchzuziehen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Jeder Mensch hat es verdient, genauso zu sein, wie er sich fühlt.
Wenn ich in diesem Buch von queer spreche, meine ich die gesamte LGBTQIA+-Community. Das ist ein toller Schirmbegriff, um alle anzusprechen, die sich nicht in der heteronormativen Struktur[1] wiederfinden. So, was erwartet dich hier überhaupt?
Im ersten Kapitel gehen wir auf die Sexualität ein und stellen uns der Frage, was alles zur sexuellen Identität gehört und was sexuelle Orientierung ist. Ich erzähle dir, wie mein inneres und äußeres Coming-out abgelaufen ist. Welche Ängste mich begleiten haben und wie ich die Gespräche mit meiner Familie und meinem Umfeld erlebt habe.
Im zweiten Kapitel beleuchten wir das Geschlecht und die Geschlechtsidentität. Was ist eigentlich das biologische Geschlecht (sex) und was ist das soziale Geschlecht (gender)? Warum ist diese Unterscheidung wichtig? In diesem Kapitel erzähle ich auch, warum ich mit den Geschlechterrollen haderte und schon als Kind den Drang verspürte, meine weibliche Seite auszuleben.
Nachdem wir festgestellt haben, wie und womit wir uns identifizieren (Identität), können wir uns einer Gemeinschaft anschließen, die zu uns passt. Darum geht es im dritten Kapitel. Ich erzähle dir, wie ich den Einstieg in die Szene fand und warum sie für mich als Dragqueen so wichtig ist.
Wer sich selbst besser kennengelernt und mit Gleichgesinnten verbündet hat, der ist bereit für die nächste Stufe: Gefühle. Wir beschäftigen uns im vierten Kapitel mit dem Spektrum an romantischen Gefühlen und sexuellen Präferenzen und fragen uns, welche Beziehungsformen es alles gibt. In diesem Kapitel berichte ich, wie ich den Menschen meines Lebens kennengelernt habe.
Doch wie bin ich eigentlich zum Drag gekommen? Darum geht es im fünften Kapitel. Ich erzähle dir, wie wichtig der Ausdruck für jeden einzelnen Menschen ist – und damit meine ich, dass wir uns so anziehen und zeigen, wie wir sind. Leider spielt hier das Thema Diskriminierung auch eine große Rolle, denn wer sich zeigt, macht sich angreifbar. Ich möchte dich stärken und empowern, sodass du dich befähigt und ermächtigt fühlst, ganz du selbst zu sein.
Nach jedem Kapitel gibt es einen Journaling-Teil mit Fragen, denen du nachgehen kannst. Sie sollen dir helfen, dich selbst besser kennenzulernen. Mir geht es darum, dich in deinem Prozess zu begleiten, damit du dich wohlfühlst, so wie du bist.
Zeichen setzen
Alle Menschen sind eingeladen, dieses Buches zu lesen, auch nicht queere Menschen. Ich freue mich, dass du dieses Buch in den Händen hältst, damit sendest du ein Zeichen an deine queeren Mitmenschen, übernimmst Verantwortung und zeigst Aktivismus. Ich finde das bewundernswert.
Und jetzt wünsche ich dir viel Spaß beim Lesen!
DeineGracia
Ich bin auf dem Land groß geworden. In dem Dorf, wo ich mit meiner Familie lebte, gab es keine tausend Einwohner*innen und zu der Zeit auch kaum Computer, geschweige denn Internet. Okay, ich will dich nicht gleich am Anfang langweilen, aber damals hatten wir echt nur drei Fernsehprogramme und eine Kugel Eis kostete 50 Pfennige, das sind heute etwa 25 Cent. Und noch etwas: Erste Handys gab es zwar schon, die waren aber so groß wie ein zusammengerolltes Matheheft, und nur die reichsten Menschen konnten sich ein solches Teil leisten. Smartphones waren noch lange nicht erfunden! Deshalb spielte ich wie alle anderen Kinder in meinem Alter mit Lego und Playmobil, bin auf Hügel geklettert, schnitzte an Stöcken – und all das machte mir Spaß. Doch ich bemerkte früh, dass mit mir etwas anders war als bei den Jungs in der Nachbarschaft oder in meiner Klasse.
Ich weiß noch genau, dass ich im Kindergarten, als ich ungefähr vier oder fünf Jahre alt war, so gar keine Lust hatte, schön brav Mittagsschlaf zu halten, wie es eigentlich von uns verlangt wurde. Lieber verlor ich mich in Tagträumen. Meine Eltern hatten mir einen Arztkoffer geschenkt, mit Spritze, Stethoskop und Fieberthermometer, denn natürlich wollte ich wie mein Vater Arzt werden. In meiner Fantasie stellte ich mir vor, wie ich mit der Spritze spielte und Männern in den Popo piekste. Dieses Körperteil fand ich schon damals sehr faszinierend …
Wir sind schon vor der Geburt sexuelle Wesen; Sexualität gehört zum Menschsein dazu wie Apps zum Smartphone.
Das alles spielte sich ab, bevor ich anfing, über meine sexuelle Orientierung nachzudenken oder meine Sexualität bewusst auszuleben. Den Begriff »schwul« kannte ich lange nicht, und ich wusste nicht, dass ich in der Hinsicht anders war als die meisten meiner Schulfreund*innen, auch wenn ich das schon früh ahnte. Heute weiß ich, dass ich schon immer schwul war und das als Kind eher unbewusst auslebte.
An den Wochenenden hatte ich zum Beispiel immer ein besonderes Ritual: Ich stand morgens in aller Frühe, während alle noch schliefen, auf und düste rüber in die Arztpraxis meines Vaters, die mit einer Verbindungstür an unser Haus angegliedert war. Ich schlich mich ins Wartezimmer und wühlte mich durch die vielen Zeitschriften, die dort auslagen. Die Nachrichtenmagazine flogen schnell zur Seite. Besonders gerne mochte ich die bunten Boulevardmagazine, die etwas mehr Haut zeigten als die anderen Zeitschriften. Aufgeregt blätterte ich darin und freute mich darüber, so viele erwachsene Männer betrachten zu dürfen. Heute würde ich durch Instagram scrollen, aber damals musste ich mich mit echtem Papier auseinandersetzen. Es war halt ein anderes Jahrhundert. Heute bestelle ich Bücher, Kleidung und Küchenutensilien im Internet, doch früher gab es tatsächlich Kataloge, die alle Artikel abbildeten, die man bestellen konnte – darin sah ich zum ersten Mal halbnackte Männer und konnte mein Glück kaum fassen! Wenn ich die Fernsehzeitschrift meiner Oma oder die Brigitte meiner Mutter las, blieb ich beim Durchblättern manchmal länger hängen – immer, wenn ich Männer mit freiem Oberkörper entdeckte. Unsere Haushaltshilfe fand irgendwann heraus, dass ich heimlich in den Zeitschriften stöberte, und erzählte es meiner Mutter, die ganz panisch wurde – nicht, weil sie es schlimm fand, dass ich mir die Zeitschriften genommen hatte, sondern weil sie die Inhalte des ein oder anderen Magazins für einen Zehnjährigen nicht für angemessen hielt. Sie konnte ja nicht ahnen, dass ich mich genau dafür interessierte!
In meiner Kindheit schwärmte ich allerdings für Mädchen. Auf emotionaler Ebene waren es immer sie, für die ich Gefühle entwickelte. Im Kindergarten war da zum Beispiel Daniela. Wenn Daniela mal an einem Tag im Kindergarten fehlte, war ich bitter enttäuscht. In der dritten und vierten Klasse war ich in Kathrin verliebt. In ihrer Nähe war ich immer sehr aufgeregt und von so starker Sehnsucht erfüllt, dass ich möglichst viel Zeit mit ihr verbringen wollte. Wenn sie keine Zeit für mich hatte oder wir uns gerade erst getroffen hatten, fuhr ich trotzdem mit dem Fahrrad an ihrem Wohnhaus vorbei, vielleicht würde sie mich ja doch sehen und mit mir spielen.
Heute weiß ich, dass es kein Verliebtsein im eigentlichen Sinne war, sondern es sich eher um sehr innige Bindungen und Freundschaften zu einem anderen Menschen außerhalb der eigenen Familie handelte.
Ich verspürte sogar das Bedürfnis, Kathrin zu küssen. Als es dazu kam, erwischte uns ihre jüngere Schwester und lachte herzlich über uns. Die Situation – auch mit Kathrin – fühlte sich komisch an, und mir war gleich klar, dass ich sie nie mehr küssen würde. Derlei Gefühle für Jungs kamen erst Jahre später. Wenn ich mein erwachsenes Leben in Form von Tagträumen durchspielte, stellte ich es mir immer in etwa so vor: »Kathrin ist meine Freundin, die werde ich irgendwann heiraten!« Davon war ich fest überzeugt.
Was alles zu einer Beziehung oder Ehe gehört, davon hatte ich damals natürlich keine Vorstellungen – als Zehnjähriger ist das ja kein Wunder. Und von der Erkenntnis, dass ich nicht unbedingt ein Mädchen an meiner Seite brauche, um glücklich zu sein, war ich noch meilenweit entfernt.
Gracias Goldene Regel
Man geht im Leben sehr unterschiedliche Bindungen ein, die familiärer, romantischer, freundschaftlicher, partnerschaftlicher oder sexueller Natur sein können. Manchmal überschneiden sie sich, manchmal verlieren sie sich, manchmal verändern sie sich.
Woran ich mich gut erinnere, sind die Momente nach dem Schwimmunterricht beim DLRG, den ich im Alter von neun bis zwölf Jahren hatte. In den Sammelumkleiden der Jungen hatte ich die Möglichkeit, meinen Voyeurismus ausgiebig auszuleben – ich guckte, wer schon Intimhaare hatte, wer noch nicht? Männer, die welche hatten, fand ich viel interessanter. Erst mit 13, 14 entwickelte ich langsam das Bedürfnis, einen Jungen zu küssen, auch wenn ich mich nicht in sie verliebte.
Das erste peinliche Erlebnis in Bezug auf meine Sexualität – an das ich mich erinnern kann.
Mit 13 Jahren besuchten wir mit der Schule während eines Wandertags ein Museum, in dem es um die Geschichte des Altertums ging. Überall standen griechische Statuen – also männliche griechische Statuen –, die ich mir ganz genau ansah. Ich folgte einem natürlichen Impuls, den ich nicht weiter hinterfragt hatte. Plötzlich hörte ich hinter mir ein Lachen. Moment mal, das galt doch mir! Ein Junge hatte mich entdeckt, während ich eine Statue betrachtet hatte – besonders den hinteren Teil! »Till schaut sich den Hintern von ’nem Typen an!«, rief er dann auch noch laut, worauf natürlich die anderen ebenfalls in sein Gelächter einstimmten. Tja, meine Strategie – den interessierten Blick ganz »zufälligen« auf das Hinterteil zu lenken – war wohl nicht so erfolgreich. Großartig schlimm war das für mich zum Glück nicht. Eher fühlte ich mich peinlich berührt, so als hätte man mich beim Kekse klauen erwischt. Trotzdem hatte ich danach das Gefühl, dass ich in Zukunft mehr aufpassen musste.
Die Konsequenz war: Verstell dich, folge nicht dem, was dich interessiert und anspricht, sondern mach, was von dir erwartet wird.
Ich wollte nicht negativ auffallen, was bei Pubertierenden eine natürliche Reaktion ist. Man mag es kaum glauben, aber meine Devise lautete damals: Schwimm mit der großen Masse mit. Dabei fiel ich mit meinem Verhalten durchaus auf, was den Teufelskreis noch verstärkte: Ich wollte nicht auffallen, verstellte mich, fiel dadurch aber wiederum auf. Und so weiter.
Mit zwölf Jahren trennten sich meine Eltern, und ich zog mit meiner Mutter, meiner Schwester Inka und meinem Bruder Bernd nach Mainz. Plötzlich war die Quelle meines »erotischen Materials« versiegt – ich hatte keinen Zugang mehr zu den Zeitschriften aus der Arztpraxis meines Vaters. Also musste ich mir neue Quellen suchen, weshalb ich mich öfter in Tankstellen herumtrieb. Mit dem Fahrrad fuhr ich zu einer, die so weit entfernt lag, wie es nur ging – möglichst weit weg von meinem Zuhause.
Als Kind fühlte ich mich auf sozialer Ebene mit Mädchen verbunden, während ich jedoch bald bemerkte, dass ich auf körperlicher Ebene Männer interessanter fand. Ich brauchte einige Zeit, bis ich das erkannte und mir eingestehen konnte. Vielleicht kommt dir das bekannt vor. Zu welchem Geschlecht man sich hingezogen fühlt, ist ein Teil deiner Sexualität und gehört zu deiner sexuellen Identität. Doch was ist Sexualität genau? Viele meinen ja, dass Sexualität und Sex ungefähr das Gleiche sind – kommt dir der Gedanke bekannt vor?1 Das stimmt so nicht ganz, denn Sexualität ist etwas viel Umfassenderes als der geschlechtliche Akt. Sexualität gehört zu den Grundbedürfnissen aller Menschen und entwickelt sich beim Baby sogar schon vor der Geburt.
Sexualität gehört zu den physiologischen Bedürfnissen, weil sie die Erfahrung von körperlichen Berührungen, dem Identifizieren mit unserem körperlichen Geschlecht und dem Ausdruck davon ist. All das ist grundlegend wichtig für eine psychische, emotionale und körperlich gesunde Entwicklung. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschreibt Sexualität so:
Verschiedene Bedürfnisse
Hast du schon einmal von der Bedürfnispyramide gehört? Ein Psychologe namens Abraham Maslow (1908–1970) beobachtete die Menschen und stellte fest, dass es unterschiedliche Bedürfnisse2 gibt:
Physiologische Bedürfnisse: essen, trinken, schlafen, Berührungen, körperliches Wohlbefinden, ein Dach über dem Kopf haben
Sicherheitsbedürfnis: materielle Grundsicherung (= finanzielle Sicherheit), Familie (= soziale Sicherheit), Wohnung (= körperliche Sicherheit)
Soziale Bedürfnisse: kommunizieren, unterschiedliche Beziehungen eingehen, sich austauschen, sich zugehörig fühlen, sich gegenseitig unterstützen, sexuelle Intimität, Zuneigung, Liebe
Individualbedürfnisse: Vertrauen und Wertschätzung erfahren, Selbstbestätigung, Erfolg, Freiheit und Unabhängigkeit
Selbstverwirklichung: sich selbst ausdrücken, kreativ sein, Talente und Potenziale entfalten, das Leben aktiv gestalten und ihm einen Sinn geben
Ich stelle es mir ungefähr so vor: Unsere Aufgabe im Leben besteht darin, kontinuierlich dafür zu sorgen, dass unsere Bedürfnisse auf allen Ebenen befriedigt werden. Es ist okay, wenn mal eine Zeit lang ein Bedürfnis nicht befriedigt wird, weil gerade andere Vorrang haben. Sobald diese Bedürfnisse »abgearbeitet« sind, darf ein anderes in den Vordergrund rücken. Wer zum Beispiel eine neue Wohnung sucht und umzieht, muss erst sein Sicherheitsbedürfnis erfüllen, bevor er sich in der Einrichtung der Wohnung kreativ entfalten oder seine Karriere vorantreiben kann.
Deine Bedürfnisse sind so etwas wie eine unsichtbare To-do-Liste deines Körpers und deiner Psyche.
»Sexualität schließt das biologische Geschlecht, die Geschlechtsidentität, die Geschlechterrolle, sexuelle Orientierung, Lust, Erotik, Intimität und Fortpflanzung ein. Sie wird erfahren und drückt sich aus in Gedanken, Fantasien, Wünschen, Überzeugungen, Einstellungen, Werten, Verhaltensmustern, Praktiken, Rollen und Beziehungen. Sexualität wird beeinflusst durch das Zusammenwirken biologischer, psychologischer, sozialer, wirtschaftlicher, politischer, ethischer, rechtlicher, historischer, religiöser und spiritueller Faktoren.«3
Die sexuelle Orientierung ist so etwas wie die andere Seite der Medaille der Sexualität. Die sexuelle Orientierung bezieht sich auf das Geschlecht des Menschen, von dem man sich romantisch und/oder sexuell angezogen fühlt.4 Soweit man weiß, sind Gene, Hormone und Hirnstrukturen für ihre Entwicklung verantwortlich, wie sie aber genau ausgeprägt wird, ist wissenschaftlich nicht bekannt.5
Die sexuelle Orientierung und die Geschlechtsidentität – auf die wir später ausführlich eingehen werden – sind zwei unterschiedliche Dimensionen der Identität, und in der Regel ist es so, dass die sexuelle Orientierung bei Menschen gleich bleibt. Es kann auch sein, dass sie sich erst im Laufe des Lebens zeigt oder du erst spät erkennst, in wen du dich eigentlich verliebst und/oder von wem du dich sexuell angezogen fühlst.
Ich habe schon früh gemerkt, dass ich Männer toll finde. Gedanken habe ich mir darüber nicht gemacht. Meine Homosexualität ist kein Ergebnis von Erziehung oder einer bestimmten Entwicklung – ich bin so auf die Welt gekommen und sie ist ein Teil meiner Identität und Sexualität.
Vielleicht fühlst du dich durch die Flut an Möglichkeiten unter Druck gesetzt oder denkst, du müsstest auf Knopfdruck wissen, in welche Richtung es bei dir geht. Nein. Lass dir Zeit. Das habe ich auch getan. Ich kann dir versichern, dass du immer Mittel und Wege finden wirst, Sexualität zu erfahren – sodass es zu deinem Wesen und Körper passt. Die Reise dahin ist vielleicht nicht immer einfach, und im Folgenden kannst du lesen, wie auch ich umherirrte, bis ich mich gefunden habe. Lass dich nicht beirren, es wird alles gut. Irgendwann ist der Moment gekommen, an dem du sagen kannst: Jetzt fühlt es sich stimmig an.6
Sexualitäten
Die Sexualität ist sehr vielfältig, so vielfältig wie wir Menschen es sind. Derzeit gibt es folgende Sexualitäten: Vielleicht erkennst du dich in einer wieder?6
Heterosexualität: Menschen, die sich vom anderen Geschlecht angezogen fühlen.
Homosexualität: Menschen, die sich vom gleichen Geschlecht angezogen fühlen (auch genannt gay, lesbisch, schwul).
Bisexualität: Menschen, die sich vom gleichen und anderen Geschlecht angezogen fühlen. Wird vornehmlich im binären System verwendet.
Omnisexualität: Menschen, die sich von allen Geschlechtern angezogen fühlen. Sie haben keine Präferenz für ein bestimmtes Geschlecht.
Polysexualität: Menschen, die sich zu mehreren, aber nicht allen Geschlechtern hingezogen fühlen.
Ceterosexualität: Menschen, die sich zu trans und/oder nicht binären Personen hingezogen fühlen (dieses Label wird von manchen trans Personen kritisch gesehen, weil sie auf das Merkmal reduziert werden, trans zu sein).
Spectrasexualität: Menschen, die sich von Personen angezogen fühlen, die sich auf einem Spektrum befinden. Zum Beispiel Frauen und nicht binäre Personen.
Pansexualität: Menschen, die sich zu allen Geschlechtern angezogen fühlen, für sie basiert die Anziehung nicht auf dem Geschlecht einer Person.
Sexualität ist für viele Menschen ein sehr großer, wichtiger Aspekt. Das ist in Ordnung, das darf und soll auch so sein. Gerade wenn man erwachsen wird, ist es biologisch und hormonell bedingt, dass Sexualität im Vordergrund steht und du dich intensiv mit ihr auseinandersetzt. Im Laufe des Lebens kann dieser Aspekt in den Hintergrund rücken oder einfach so mitlaufen, als etwas, das zwar wichtig ist – aber come on, es gibt auch anderes im Leben.
Gracias Goldene Regel
In der Regel wirst du im Laufe deines Lebens kein rein sexueller Mensch sein. Die Sexualität wird nicht immer nur im Vordergrund stehen.
Als ich einen neuen Weg fand, mir die begehrten bunten Zeitschriften zu besorgen, entdeckte ich die Rubrik »Er sucht ihn«. Ich schaute mir die Inserate vor allem nach den Altersangaben an. Es war so spannend! Ob ich jemanden fand, der etwa in meinem Alter war? Diese Anzeigen ließen mich nicht los, und ich wollte unbedingt mehr herausfinden. Trotzdem traute ich mich nicht, auf ein Inserat zu antworten. Ich war so grün hinter den Ohren, ich wusste ja gar nichts! Wer steckte überhaupt hinter solchen Inseraten? Natürlich hatte ich Angst. Offensichtlich waren es erwachsene Männer, die diese Anzeigen geschaltet hatten. Ich brauchte also einen anderen Plan. Da mein Wunsch, jemanden kennenzulernen, so groß war, überwand ich mich und gab selbst eine Anzeige auf, mit gerade mal knapp 15. Der Text bestand nur aus wenigen Worte, da jeder einzelne Buchstabe Geld kostete. Angabe zu Alter, Größe und Gewicht waren bei allen Anzeigen üblich, ich gab noch den Wohnort an, und entschied, dass das Wort »diskret« drinstehen musste. Ich war ja ungeoutet.
Closeted (in the closet, deutsch: im Kleiderschrank) bedeutet, seine sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität zu verstecken. Eine Studie von 2019 belegt, dass weltweit 83 Prozent der queeren Menschen ihre sexuelle Orientierung nicht offenlegen.7 Schockierend, nicht wahr?
Bei meinem Alter musste ich schummeln, da man mit 15 noch keine Anzeige aufgeben durfte. Mich als 16 auszugeben, empfand ich als vertretbar … Die Sache war für mich insgesamt recht safe: Die Anzeige bekam eine Chiffre-Nummer und die Rückmeldungen wurden in der Redaktion gesammelt und an mich weitergeleitet. Mein Name und erst recht meine Adresse tauchten nirgends auf.
Das Inserat erschien zwar in der nächsten Ausgabe, ich musste dennoch knapp vier Wochen warten, bis genügend Antworten gesammelt worden waren. Als der erste Umschlag kam, enthielt er super viele Briefe, auch welche mit Bildern, die ich nicht unbedingt hätte sehen müssen: Da war ein älterer Herr, der sich in einer superhässlichen Unterhose auf dem Bett räkelte, einer trug gar keine Unterhose! Als ob es mir darum ging, wer den schönsten hat … Heute ist das noch viel extremer – kaum öffnet man eine Gay-App, schwupps, kann man von einem Genital überrascht werden. So war das damals noch nicht.
Gay-Apps sind Dating-Apps für homosexuelle Menschen. Heute gibt es zum Beispiel Grindr oder GayRomeo. Bei den Apps OkCupid, Bumble oder Tinder kann man seine sexuelle Orientierung und auch Geschlechts-identität im Profil hinterlegen, um passende Matches zu finden.
Als ich die Briefe sichtete, fiel mir ein Brief besonders auf – und zwar, weil er so herrlich gewöhnlich war. Ich fand auch gut, dass der Mann im Vergleich zu den anderen noch etwas »jünger« war, gerade mal Anfang 20. Er hieß Carsten und die Kontaktaufnahme war wirklich spannend! Ich habe ihm natürlich schnell geantwortet, und so kam es zu einem Austausch, und wir schickten uns Briefe hin und her. Es kann gut sein, dass ich ihn mal von einer Telefonzelle aus anrief, denn so einfach wie heute ging die Kommunikation damals noch nicht. Heute kann man über WhatsApp oder einem anderen Messenger-Dienst direkt an die auserwählte Person Nachrichten schreiben. Das war zu meiner Zeit als Teenager in den 1990er-Jahren viel komplizierter, weil man im Zweifel erst Mutter, Vater, Bruder oder Schwester an der Strippe hatte, bevor der Auserwählte ans Telefon kam – ich hatte jedes Mal einen halben Herzinfarkt vor lauter Aufregung. Jedenfalls hielten wir Kontakt, und nach ein paar Telefonaten kam es recht schnell zu einer Verabredung.
Sexuelle Belästigung
Wer ungefragt Bilder von seinen Geschlechtsteilen verschickt, macht sich strafbar. Falls dir so etwas passiert, kannst du den/die User*in blockieren und diese Straftat jederzeit bei der Polizei zur Anzeige bringen.
Wir trafen uns in der Mainzer Innenstadt, und ich hatte mich chic gemacht: Ich trug ein weißes Hemd mit weißen Jeans, helle Schuhe und stylte mir die Haare (ja, damals hatte ich noch Haare auf dem Kopf …). Ich war sehr nervös! Hinzu kam, dass ich keine Ahnung hatte, wie er aussah, es war ein richtiges Blind Date. Weil er genauso ängstlich war wie ich, hatte er mir gar nicht erst ein Bild geschickt.
Als wir uns dann auf einem gut besuchten, öffentlichen Platz erkannten, wir hatten uns auf ein Erkennungsmerkmal – eine Sonnenbrille im Knopfloch – geeinigt, waren wir beide super unsicher. Wir irrten ohne Plan durch die Stadt und suchten uns schließlich ein Café, das mitten in der Fußgängerzone lag – oh Mann, was war ich naiv! Und natürlich musste es so kommen, wie es kam: Während Carsten und ich anfingen, uns zu unterhalten, scannte ich immer wieder mein Umfeld ab und konnte kaum glauben, wen ich plötzlich erblickte! Meine Mutter. Wir wohnten zu der Zeit im Speckgürtel von Mainz und sie arbeitete auch nicht in der Stadt, dieses Szenario war also alles andere als erwartbar … Wieso musste sie ausgerechnet an diesem Tag in die Stadt fahren und genau in dem Moment an dem Café vorbeigehen, in dem ich mein allererstes Date mit einem schwulen Mann hatte? Natürlich hatte nicht nur ich sie entdeckt, nein, auch sie entdeckte mich. Sie winkte mir zu, kam zu uns – und setzte sich unaufgefordert mit an den Tisch. Mir ist das Herz in die Hose gerutscht, als wir anfingen, unverfänglich zu quatschen. Meine Mutter machte sich offensichtlich keine Gedanken darüber, welche Situation sie gerade gecrasht hatte. Nach ungefähr zehn Minuten zog sie von dannen und ging unbekümmert ihren weiteren Besorgungen nach.
Ich kann mich dafür umso besser daran erinnern, denn das war auch der Tag, an dem ich meine erste körperliche Erfahrung machte. Es passierte allerdings nicht in der Stadt oder auf irgendeiner Toilette. Nachdem wir ein bisschen gequatscht hatten und ich die Begegnung mit meiner Mutter verdaut hatte, beschlossen wir, mit Carstens Auto raus in die Felder zu fahren. Wir fühlten uns zwischen ein paar Bäumen und Sträuchern am Feldesrand unbeobachtet und küssten uns. Wir haben uns auch angefasst, aber weil ich so nervös war, ging bei mir körperlich nicht so viel – ich bekam keine Erektion. Ich konnte es zwar genießen, aber es war zu aufregend für mich und mein Herz klopfte bis zum Anschlag, was Carsten nicht entging. Er versuchte, mich mit Worten zu beruhigen, aber das brachte uns auch nicht weiter.
»Wo kommen denn diese Grasflecken her?«, fragte mich meine Mutter am Abend, als ich ziemlich aufgewühlt nach Hause kam. Oh shit! Meine weißen Jeans waren vom Gras ganz besudelt! »Ach ja, na ja, ich bin blöd hingefallen«, stotterte ich und wartete darauf, dass sie mich auf meine Begleitung aus dem Café ansprach. Doch nichts kam. »Das war übrigens Carsten in dem Café«, ergriff ich also die Initiative. »Unser Theaterlehrer! Wir haben uns zufällig in der Stadt getroffen.« Sie hörte mir zu und nickte nur. War es also in Ordnung für sie? Ahnte sie etwas? Wenn ich sie heute auf diese Situation anspreche, kann sie sich nicht einmal daran erinnern! Aus meiner heutigen Sicht als Lehrer würde ja nie privat mit einem/-r Schüler*in einen Kaffee trinken gehen, aber für meine Mutter schien das wohl in Ordnung gewesen zu sein, denn sie hinterfragte die Geschichte nicht weiter.
Das war mein erstes Aufeinandertreffen mit einem schwulen Mann. Für mich ist diese Episode insofern wichtig, als mir bewusst wurde, dass ich mich von meinen Brüdern und Freunden unterschied und ich diese Seite an mir ausleben wollte – aber ich hatte ziemliche Angst davor, dass es andere mitbekamen. Woher das kommt, ist sehr schwierig festzumachen, denn meine Mutter oder jemand anderes in meiner Familie hatte mir nie das Gefühl gegeben, ich müsste Angst davor haben, so zu sein, wie ich bin.
Mit Carsten hatte ich dann auch zum ersten Mal so etwas wie Sex, wir machten miteinander rum. Beim nächsten Mal holte er mich mit seinem Auto ab, und wir suchten uns im Wald ein nettes Plätzchen, wo uns garantiert keine Spaziergänger*innen hätte überraschen können. Das war sehr aufregend und schön, doch im Rückblick kann ich nicht genau sagen, ob ich die Situation an sich genossen hatte oder Carsten wirklich gut fand. Ich hatte ein Gefühl von Verliebtsein, und so ging unser Austausch weiter. Wir schrieben uns Briefe und Postkarten, die wir in Briefumschläge steckten, damit sie niemand lesen konnte – denn auch er war zu jenem Zeitpunkt nicht geoutet. Dann stand der Sommerurlaub vor der Tür und meine Großeltern nahmen meine Schwester und mich mit nach Ostdeutschland. Das war im Jahr 1995, ein paar Jahre nach der Wende, und ich war gerade 15. Wir ergriffen die Gelegenheit, die Gegend zu erkunden. Während wir also in einem Schloss in Oberkotzau wohnten und in Seen schwammen, tagträumte ich von Carsten und schrieb ihm weiter Briefe und Postkarten.
Als ich nach diesen zwei Wochen der Sehnsucht nach Hause kam, hatte ich erwartet, Antworten von Carsten vorzufinden – doch da war nichts. Gähnende Leere. Ich hatte ihn genau zwei Mal getroffen, und dann nie wieder (mal abgesehen von einem zufälligen Treffen zwanzig Jahre später auf einer Party).
Doch was am Tag der Heimkehr passierte, das hatte ich nicht erwartet: Es war ein zweiter Umschlag mit gesammelten Briefen als Antwort auf meine Kontaktanzeige angekommen. Diesmal kam es auch etwas anders als beim ersten Mal, denn meine Mutter hatte diesen für mich sehr wichtigen Umschlag abgefangen und geöffnet.
Deine Privatsphäre
Es gibt nicht ohne Grund das Briefgeheimnis: Es gehört zu den grundlegenden Rechten eines jeden Menschen, egal welchen Alters, dass seine privaten schriftlichen Mitteilungen geschützt werden. Und das gilt auch für Chatverläufe, E-Mails und Textnachrichten! Niemand hat das Recht, in fremde Privatsphären einzudringen.
Meine Mutter hatte dieses Recht nicht beachtet – und einen ordentlichen Schock bekommen: Neben Porträtbildern fand sie auch Nacktaufnahmen. Also erwartete mich nach der Rückkehr aus dem Urlaub keine Post von Carsten, sondern eine Ansage von meiner Mutter.
»Was ist das?«, fragte sie mich scharf, während sie mir die Briefe unter die Nase hielt und nach Worten rang. »Das sind keine Briefe für einen 15-jährigen Jungen und auch keine Bilder für einen 15-jährigen Jungen. Das ist nichts für dich. Wo kommt das her? Warum steht da dein Name auf dem Briefumschlag?«, bombardierte sie mich.
Ich hatte mir schon beim Aufgeben der Anzeige überlegt, wie ich in einem solchen Fall reagieren würde, trotzdem war ich aufgeregt. »Das muss jemand in meinem Namen gemacht haben«, stammelte ich. »Vielleicht ist das ein schlechter Scherz von ’nem Typen aus der Schule … Ich weiß von nichts … Ich habe keine Anzeige aufgegeben.« Der Blick meiner Mutter wurde weicher, und es war offensichtlich, dass sie meine Geschichte schluckte.
Die erste sexuelle Erfahrung, die ich mit einem Mann hatte, war mit unheimlich viel Herzklopfen, unheimlich viel Angst und unheimlich viel Panik verbunden, auch weil alles heimlich passieren musste. Die größte Angst, die mich begleitete, war, dass es irgendjemand rausbekam. Ich konnte mir nicht vorstellen, was passieren würde, wenn es durchgesickert wäre. Bewusst hatte niemand aus meiner Familie oder aus meinem engeren Freundeskreis diesbezüglich Druck aufgebaut. Es war eine innere Sache.
Und dann wurde ich auch noch geghostet! Dieses Wort gab es zu meiner Zeit natürlich noch nicht und darüber hinaus hatte ich ja keine Erfahrung. Ich wusste gar nicht, dass es möglich war, ohne ein Wort zu verlieren, abzutauchen!
Fails beim Dating
Beim Daten kann dir leider allerhand passieren, hier erkläre ich dir die wichtigsten Red Flags, auf die du achten solltest:
Ghosting: Der Mensch, den man gerade datet, verschwindet spurlos. Ohne erklärende oder verabschiedende Worte verschwindet er von der Bildfläche. Das ist oft sehr schmerzhaft und verletzend. Besser ist es, eine kurze Nachricht zu hinterlassen, dass man das Treffen schön fand, aber kein Interesse an einem weiteren Date hat.
Benching: Man wird quasi auf die Ersatzbank gesetzt: Das Date meldet sich immer mal wieder und schürt Hoffnung, dass sich etwas entwickeln könnte. Diese Absicht hat diese Person zwar nicht, doch es will sich die Option offenhalten, dass sich etwas entwickeln könnte.
Breadcrumbing: Hier werden immer wieder Brotkrumen gereicht, jedoch ohne echte Absicht dahinter, die Beziehung weiter zu vertiefen. Immer mal wieder eine liebe WhatsApp-Nachricht, Likes auf deinen Social-Media-Profilen, gut klingende Pläne, doch am Ende verpufft alle Hoffnung.
Mosting: Erst überschüttet dich dein Date mit Aufmerksamkeit, dann ghostet es dich.
Ich war davon überzeugt, dass Carsten etwas passiert sein musste. Es lief ein heftiges Kopfkino ab, und ich stellte mir alle möglichen Katastrophenszenarien vor: Hatte er einen Autounfall, war er krank, war ihm etwas anderes passiert? Damals kannte ich die schwule Szene noch nicht, vor allem wusste ich nicht, dass Schnelllebigkeit ein großes Thema ist. Wie sollte ich auch, ich war 15 Jahre alt und hatte gerade meine erste sexuelle Erfahrung gemacht. Ich hatte Gefühle und war davon ausgegangen, dass er auch mehr von mir wollte. Zwischen Körperlichem und Emotionalem konnte ich noch nicht unterscheiden und ich fragte mich immerzu, warum er sich nicht mehr meldete. Erst im Laufe der Zeit konnte ich meinen Frieden damit schließen. Nachdem ich weitere Erfahrungen gesammelt hatte, konnte ich mir zusammenreimen, dass er wahrscheinlich keinen Bock mehr gehabt oder jemand anderen kennengelernt hatte. Wie auch immer – es war nicht fair und hatte mich sehr verunsichert.
Im Nachhinein blicke ich mit gemischten Gefühlen auf dieses Erlebnis – da ich mich mit 15 juristisch gesehen im Schutzalter befand und er deutlich älter war, hätte es sogar juristische Konsequenzen für Carsten haben können. Für mich war es jedoch der einzige Weg gewesen, meine Sexualität zu erkunden und auszuprobieren, ob gleichgeschlechtlicher Sex das Richtige für mich war. Die Situation ist kompliziert. Trotzdem hätte ich es immer wieder genauso gemacht.
Zwanzig Jahre später ist er mir auf einer Schwulenparty in Mainz begegnet. Als ich ihn entdeckte, sprach ich ihn an. Etwas perplex musste ich feststellen, dass die Begegnung mit ihm ein wichtiges Erlebnis für mich war, während er sich bloß dunkel an mich erinnern konnte. Er war der erste Mann in meinem Leben, ich kam bloß als Randnotiz in seinem vor.