Lady sings the Blues - Billie Holiday - E-Book

Lady sings the Blues E-Book

Billie Holiday

4,9

Beschreibung

Die Autobiografie der legendären Jazzsängerin Billie Holiday! "Man hat mir gesagt, dass niemand das Wort ›Hunger‹ so singt wie ich. Genauso das Wort ›Liebe‹. Vielleicht liegt das daran, dass ich weiß, was diese Worte bedeuten. Vielleicht liegt das daran, dass ich stolz genug bin, mich an all das erinnern zu wollen, an Baltimore und Welfare Island, das katholische Heim und das Jefferson-Gericht, an den Sheriff vor unserm Haus in Harlem und die Städte in ganz Amerika, wo ich meine Beulen und Narben abbekommen habe, Philadelphia und Alderson, Hollywood und San Francisco, an jede Kleinigkeit. Alle Cadillacs und Nerze der Welt - und ich hatte von beiden schon einige - können das nicht aufwiegen oder vergessen machen. Alles was ich je von den Menschen gelernt habe, liegt in diesen beiden Worten. Zuerst braucht man etwas zu essen und ein bisschen Liebe, bevor man sich die Predigt von irgendjemandem über richtiges Verhalten anhören kann. Alles, was ich bin und was ich vom Leben will, sagen diese beiden Wörter."

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 351

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,9 (23 Bewertungen)
21
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Billie Holiday

LADY SINGS THE BLUES

Autobiografie

Aufgezeichnet vonWilliam DuftyAus dem amerikanischen Englischund mit einem Nachwort versehenvon Frank Witzel

Billie Holiday (7. April 1915 – 17. Juli 1959), amerikanische Jazzsängerin, schreibt über ihr Leben und ihre Musik. Konfrontiert mit Rassismus, Gefängnis, Prostitution, Drogen und dem großen Musikbusiness, lebt sie ganz für ihre Hingabe an die Musik des schwarzen Amerika.

»Sie hatte wahnsinnig viel zu vergessen, und sie hinterließ eine Menge, was der Erinnerung wert ist.« (Mal Waldron)

Die Originalausgabe des vorliegenden Buches

erschien unter dem Titel Lady Sings the Blues,

by Billie Holiday with William Dufty,

© Doubleday & Co., New York 1956

Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg

Schützenstraße 49 a · D-22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus 1983

Deutsche Erstausgabe 1983

Umschlaggestaltung:

Maja Bechert, Hamburg

www.majabechert.de

unter Verwendung eines Fotos von

William P. Gottlieb

6., vom Übersetzer neu durchgesehene

und überarbeitete Auflage

ISBN 978-3-89401-781-1

Inhalt

1. Some Other Spring

2. Ghost of Yesterday

3. Painting the Town Red

4. If My Heart Could Only Talk

5. Getting Some Fun Out of Life

6. Things Are Looking Up

7. Good Morning, Heartache

8. Travellin’ Light

9. Sunny Side of the Street

10. The Moon Looks Down and Laughs

11. I Can’t Get Started

12. Mother’s Son-in-Law

13. One Never Knows

14. I’m Pulling Through

15. The Same Old Story

16. Too Hot For Words

17. Don’t Know If I’m Coming or Going

18. Travellin’ All Alone

19. I’ll Get By

20. No-Good Man

21. Where Is the Sun?

22. I Must Have That Man

23. Dream of Life

24. God Bless the Child

1. Some Other Spring

Meine Mutter und mein Vater waren noch Kinder, als sie heirateten. Er war achtzehn, sie war sechzehn, und ich war drei. Meine Mutter arbeitete als Mädchen bei einer weißen Familie, die sie sofort rausschmiss, als sie mitbekam, dass sie schwanger war. Auch die Familie von meinem Vater kriegte sich fast nicht mehr ein, als sie davon erfuhr. Es waren eben richtige Bürger, die nie davon gehört hatten, dass solche Dinge in ihrem Viertel von East Baltimore passierten.

Doch waren beide Kinder arm, und wenn man arm ist, wird man schnell erwachsen.

Es ist wirklich ein Wunder, dass meine Mutter nicht in einer Besserungsanstalt und ich in einem Waisenhaus landete. Aber Sadie Fagan liebte mich schon von dem Zeitpunkt an, als ich nichts weiter war als ein kurzer Rippenstoß, während sie den Fußboden putzte. Sie war zum Krankenhaus gegangen und hatte mit der Oberschwester ein Geschäft vereinbart. Sie hatte vorgeschlagen, den Fußboden zu putzen und die anderen Frauen, die dort lagen, um ihre Kinder zu bekommen, zu bedienen, sodass sie mich und sich durchbringen konnte. Und sie brachte uns durch. Sie war dreizehn an diesem Mittwoch, dem 7. April 1915, als ich zur Welt kam.

Mit der Zeit arbeitete sie ihre Schulden im Krankenhaus ab und nahm mich mit nach Hause zu ihrer Familie. Ich war damals schon so groß und aufgeweckt, dass ich aufrecht im Kinderwagen sitzen konnte. Mein Vater tat damals das, was alle Jungs taten: Zeitungen austragen, Botengänge erledigen und zur Schule gehen. Eines Tages kam er an meinem Kinderwagen vorbei, hob mich raus und fing an mit mir zu spielen. Aber schon kam seine Mutter angeschimpft. Sie zerrte ihn weg und rief: »Clarence, hör sofort auf, mit diesem Kind zu spielen. Die Leute werden noch denken, es wäre deins.«

»Aber es ist doch meins, Mutter«, sagte er. Als seine Mutter das hörte, fiel sie fast in Ohnmacht. Er war immerhin erst fünfzehn und trug noch kurze Hosen. Er nahm zwar schon Trompetenunterricht und hatte vor, Musiker zu werden, doch es sollte noch drei Jahre dauern, bis er für die Hochzeit lange Hosen bekam.

Nachdem sie eine Zeit lang verheiratet waren, zogen meine Eltern nach Baltimore in ein kleines altes Haus in der Durham Street. Meine Mutter hatte oben im Norden von New York und in Philadelphia als Dienstmädchen gearbeitet und all die reichen Leute mit Gasanschluss und elektrischem Licht gesehen. Also beschloss sie, sich auch so etwas anzuschaffen, und legte immer etwas von ihrem Lohn zur Seite. Als wir dann in Baltimore einzogen, waren wir die erste Familie der Umgebung, die Gas und Strom hatte.

Die Nachbarn wurden grün vor Neid: Meine Mutter ließ Gas installieren. Sie behaupteten, wenn man die Rohre legen würde, kämen die ganzen Ratten raus, und damit hatten sie auch recht, denn Baltimore ist berühmt für seine Ratten.

Mein Vater wollte immer Trompete spielen, kam aber nie dazu. Bevor er eine in die Hand bekam, schnappte ihn die Armee und verschiffte ihn nach Übersee. Es war typisch für ihn, dass er einer der wenigen war, die sich dort mit Giftgas die Lungen ruinierten. Hätte er Klavier gespielt, hätte man ihm wahrscheinlich in die Hand geschossen.

Die Gasvergiftung war das Ende seiner Hoffnungen als Trompeter und der Anfang einer erfolgreichen Karriere als Gitarrist. Er lernte in Paris Gitarre spielen, und das war auch sein Glück, denn es bewahrte ihn vor einem totalen Zusammenbruch, als er nach Baltimore zurückkam. Jetzt musste er eben Musiker sein. Er arbeitete bis zum Umfallen nach seiner Rückkehr und bekam schließlich einen Job bei den McKinney’s Cotton Pickers. Als er jedoch anfing, mit der Band auf Tournee zu gehen, war das der Anfang vom Ende unseres Familienlebens. Baltimore war für ihn jetzt nichts weiter als eine andere Tagesstation.

Als mein Vater in Europa im Krieg war, hatte meine Mutter in einer Fabrik gearbeitet, die Overalls und Uniformen für die Armee herstellte. Als er anfing zu reisen, gab es bei der Armee keine Arbeit mehr und meine Mutter dachte sich, dass es wohl besser wäre, wieder als Dienstmädchen in den Norden zu gehen. Sie ließ mich bei meinen Großeltern, die mit meiner Cousine Ida, ihren zwei kleinen Kindern, Henry und Elsie, und meiner Urgroßmutter in einem armseligen kleinen Haus wohnten.

Wir lebten in diesem winzigen Haus zusammengedrängt wie Ölsardinen. Ich schlief mit Henry und Elsie in einem Bett, und es machte mich verrückt, dass Henry es jede Nacht nass machte. Manchmal stand ich auf und saß bis zum Morgengrauen in einem Sessel. Am Morgen kam dann meine Cousine Ida rein, sah das Bett, hielt mich für die Schuldige und schlug auf mich ein. Wenn sie außer sich war, konnte sie ganz schön zuhauen, und das war dann nicht einfach ein Klaps auf den Po oder ein paar mit dem Lederriemen, nein, sie schlug mit ihren Fäusten oder einer Peitsche.

Sie verstand mich einfach nicht. Wenn andere Kinder etwas angestellt hatten, dann schwindelten sie sich einfach raus. Hatte ich hingegen etwas ausgefressen, dann erzählte ich es und gab alles zu. Sie bekam dann regelmäßig einen Anfall, nannte mich eine Sünderin und prophezeite, dass ich es nie zu etwas Ordentlichem bringen würde. Ohne Unterlass erzählte sie meiner Mutter, dass ich eines Tages wie sie mit einem Kind heimkäme und die verdammte Familie in Schmutz und Schande ziehen würde. Sie hielt den Ausdruck »Verdammt noch mal« für so verworfen, dass sie einmal einen Topf mit heißer Stärke nach mir warf, als ich es sagte. Zum Glück konnte ich mich noch ducken, sodass sie mich verfehlte.

Während alles, was ich machte, schlecht war, fand sie an Henry rein gar nichts auszusetzen. Er war ja schließlich ihr Sohn und konnte nichts Unrechtes tun. Als ich es schließlich überhatte, jeden Morgen eine Abreibung zu bekommen, nur weil er wieder mal ins Bett gemacht hatte, überredete ich Elsie eines Nachts, mit mir zusammen auf dem Boden zu schlafen. Es war kalt, und sie hatte Angst, dass wir frieren würden. »Und wenn schon«, sagte ich, »dann frieren wir eben, aber wenn wir morgen früh nicht erfroren sind, dann ist das Bett nass, und wir liegen nicht drin.«

Genauso war es dann auch am nächsten Morgen. Diesmal schlug mich Ida, weil ich aufsässig gewesen war. »Henry ist eben schwächlich«, sagte sie. Man konnte mit ihr einfach nicht über Henry reden.

Er hingegen machte uns das Leben zur Hölle und versuchte nachts, während wir schliefen, sogar etwas mit uns zu tun, was er »die Sache« nannte. Manchmal waren wir so erschöpft, dieses kleine Herzchen die ganze Nacht abzuwehren, dass wir am Morgen nicht rechtzeitig aufwachten, um in die Schule zu gehen. Weil ich genau wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit Ida darüber zu reden, nahm ich ihn einmal selbst ins Gebet. »Bei mir ist das nicht so schlimm, Henry«, sagte ich, »ich bin ja nur deine Cousine, aber Elsie ist deine Schwester, und außerdem ist sie krank.«

Henry wuchs auf, wurde Preisboxer und schließlich Geistlicher, doch was habe ich nicht alles mit ihm durchgemacht, als er klein war.

Einmal saß ich nach einem Baseballspiel auf dem Bordstein. Ich hatte damals Angst vor dem kleinsten Käfer, vor einfach allem, was krabbelte, und Henry wusste das. An diesem Tag kam er an, hielt eine von Baltimores fettesten Ratten am Schwanz und schwang sie vor meinem Gesicht hin und her.

»Bitte hör auf, Henry«, flehte ich ihn an.

»Was hast du denn? Du hast doch nicht etwa Angst?«, sagte er grinsend, während er immer näher kam.

»Alle Mädchen haben vor Ratten und Käfern Angst«, sagte ich.

Aber er hörte nicht auf. Schließlich schlug er mir mit der Ratte sogar ins Gesicht. Da griff ich nach einem Baseballschläger und verfrachtete ihn damit ins Johns-Hopkins-Krankenhaus.

Ich glaube nicht, dass meine Großmutter mich jemals verstanden hat, aber sie schlug mich zumindest nicht wie Ida, und das war schon ein Fortschritt. Wer mich liebte, das war mein Großvater. Er war ein Halbire und hatte denselben Namen wie sein Vater, Charles Fagan, der direkt aus Irland kam.

Ich jedoch mochte meine Urgroßmutter, die Mutter meines Großvaters, am liebsten. Sie liebte mich, und ich war verrückt nach ihr. Sie hatte als Sklavin auf einer großen Plantage in Virginia gearbeitet und erzählte mir oft davon. Sie hatte ihr eigenes kleines Haus am Ende der Plantage gehabt, während Charles Fagan, der stattliche Plantagenbesitzer, mit seiner Frau und seinen Kindern im großen Haus lebte. Sie bekam sechzehn Kinder von ihm, die außer Großvater schon alle tot waren.

Wir redeten über das Leben, und sie erzählte mir, was es heißt, eine Sklavin zu sein und mit Haut und Haar von einem weißen Mann besessen zu werden, der der Vater ihrer Kinder war. Sie konnte weder lesen noch schreiben, aber sie kannte die Bibel von vorne bis hinten auswendig und war immer bereit, mir eine Geschichte daraus zu erzählen.

Sie war damals sechsundneunzig oder siebenundneunzig und hatte die Wassersucht. Ich kümmerte mich jeden Tag nach der Schule um sie, denn den anderen war sie völlig gleichgültig. Ich umwickelte ihre Beine mit frischen Binden, während ich die alten stinkigen wusch, und manchmal badete ich sie auch.

Seit zehn Jahren schlief sie aufrecht im Sessel, weil ihr die Ärzte gesagt hatten, dass sie sterben würde, wenn sie sich hinlegte. Ich wusste nichts davon, und so kam es einmal, als ich die Binden an ihren Beinen gewechselt und sie mir eine Geschichte erzählt hatte, dass sie mich bat, sie hinzulegen, weil sie so müde sei. Erst wollte ich nicht, aber sie hörte nicht auf zu betteln, sodass ich schließlich Mitleid bekam, ein Handtuch auf dem Boden ausbreitete und ihr half, sich auszustrecken.

Dann wollte sie, dass ich mich neben sie legte, um mir noch eine Geschichte zu erzählen. Da ich am Morgen schon früh aufgestanden war, um die Treppen zu schrubben, war ich auch müde. Und so legte ich mich neben sie. Ich erinnere mich nicht mehr an die Geschichte, die sie mir erzählt hat, denn ich schlief sofort ein.

Vier bis fünf Stunden später wachte ich auf. Großmutters Arm war immer noch um meinen Hals geschlungen. Ich versuchte ihn zu bewegen, aber es gelang mir nicht. Ich versuchte es wieder und wieder, und schließlich bekam ich es mit der Angst zu tun. Ich wusste, dass sie tot war und fing an zu schreien. Die Nachbarn kamen angelaufen. Sie mussten Großmutters Arm brechen, um mich freizubekommen. Dann brachten sie mich ins Krankenhaus, wo ich etwa einen Monat blieb, um mich von dem zu erholen, was sie einen Schock nannten.

Als ich heimkam, machte Ida genau dort weiter, wo sie aufgehört hatte: Sie schlug mich. Diesmal dafür, dass ich Großmutter aus dem Stuhl gelassen hatte. Der Arzt versuchte, sie davon abzubringen, indem er ihr sagte, dass ich noch zu einem Nervenbündel würde, wenn sie so weitermachte. Aber sie machte weiter.

Mit sechzehn war ich eine Frau. Ich war groß für mein Alter, hatte große Brüste, schwere Knochen, alles in allem eine große, fette und gesunde Braut. So fing ich an zu arbeiten, vor und nach der Schule: Babysitting, Botengänge erledigen und in ganz Baltimore diese verdammten weißen Treppen schrubben.

Die Familien in der Nachbarschaft zahlten mir damals fünf Cent, wenn ich bei ihnen putzte. Da ich mehr Geld haben wollte, ließ ich mir etwas einfallen: Ich kaufte mir meine eigene Bürste, einen Eimer, einige Lumpen, Seife und eine große weiße Packung von diesem Zeug, dessen Namen ich nie mehr vergessen werde: Bon Ami.

Als ich das erste Mal auf einer weißen Türschwelle stand und der Hausfrau sagte, dass ich fünfzehn Cent für meine Arbeit haben wollte, traute sie ihren Ohren nicht. Aber ich erklärte ihr, dass der höhere Preis dadurch zustande käme, dass ich meine eigenen Utensilien mitbrächte. Ich glaube, dass sie mich für ein ganz schönes Früchtchen hielt, aber während sie noch überlegte, sagte ich, dass ich die Küche oder das Bad für denselben Preis mitaufwischen würde. Das gab den Ausschlag, und ich bekam den Job.

Diese Weiber waren alle faul. Das wusste ich, und damit köderte ich sie. Ihnen war es egal, wie verdreckt ihre verdammten Häuser innen waren, solange nur die weißen Treppen schön sauber blieben. Manchmal kam ich abends mit neunzig Cent heim, und einmal schaffte ich sogar zwei Dollar zehn Cent, das waren vierzehn Küchen oder Bäder und genauso viele Treppen.

Als ich als Putzfrau anfing, bedeutete das das Ende vom Radfahren, Rollschuhlaufen und Boxen. In der Schule hatten sie uns Mädchen Boxen beigebracht, und obwohl ich es mochte, hörte ich damit auf. Einmal schlug mir ein Mädchen auf die Nase, was mich beinahe ins Jenseits beförderte. Ich zog darauf meine Boxhandschuhe aus und schlug ihr die Hucke voll. Die Sportlehrerin war so sauer, dass ich mich danach nicht einmal in die Nähe der Turnhalle traute.

Aber egal ob ich Fahrrad fuhr oder das dreckige Badezimmer von irgendjemandem schrubbte, immer sang ich. Ich liebte Musik, und wenn es eine Möglichkeit gab, irgendwo Musik zu hören, dann ging ich hin.

Alice Dean hatte damals ein Bordell an der Ecke in unserer Nachbarschaft, und ich erledigte Botengänge für sie und die Mädchen. Damals war ich sehr materialistisch eingestellt: Unter fünf Cent erledigte ich keine Besorgung. Für Alice und die Mädchen machte ich alles, ich wusch die Waschbecken, legte die Seife und Handtücher raus, und wenn sie mich bezahlen wollten, sagte ich nur, dass sie ihr Geld behalten könnten, wenn ich mir im Salon Louis Armstrong und Bessie Smith auf dem Grammophon anhören dürfte.

Ein Grammophon war damals eine große Sache, und in der Gegend hatte niemand eins außer Alice. Ich verbrachte dort viele tolle Stunden damit, Pops und Bessie zuzuhören. Ich erinnere mich an Pops Aufnahme von »West End Blues«, und wie es mich jedesmal überlief. Es war das erste Mal, dass ich jemanden singen hörte, ohne dabei Worte zu benutzen. Ich wusste nicht, dass er einfach das sang, was ihm in den Kopf kam, wenn er den Text vergaß. Baba-ba-ba-ba-ba-ba und all die anderen Vokale hatten für mich eine tiefe Bedeutung, so wie die anderen Worte, die ich auch nicht alle verstand. Nur veränderte sich die Bedeutung zusammen mit meiner Stimmung. Manchmal machte mich die Platte so traurig, dass ich Rotz und Wasser heulte. Ein anderes Mal machte mich die Musik so glücklich, dass ich sogar vergaß, wie viel hart verdientes Geld mich dieses Konzert in der Eingangshalle kostete.

Meine Mutter sah es überhaupt nicht gern, dass ihre Tochter in diesem Haus an der Ecke ihre Zeit verbrachte. Und was sie am wenigsten verstand, war, dass ich keinen Cent heimbrachte. »Ich kenne Eleanora« – Eleanora ist der Name, auf den ich getauft bin –, sagte sie, »sie arbeitet für niemanden umsonst.« Als sie dann herausfand, dass ich mein hart verdientes Geld dazu verwendete, das Grammophon bei Alice zu mieten, um mir Jazz anzuhören, fiel sie fast in Ohnmacht.

Ich glaube, dass ich nicht die Einzige bin, die ihren ersten guten Jazz in einem Bordell gehört hat, aber darauf kam es mir nie an. Wenn ich Louis und Bessie bei einem Pfadfindertreffen gehört hätte, hätte ich die Musik genauso geliebt. Aber eine Menge Weißer hörte Jazz zuerst an Orten wie Alice Deans Bordell, und das verhalf dem Jazz auch zu seinem Namen »Bordellmusik«.

Man weiß heute nicht mehr, was das damals bedeutete: Ein Bordell war fast der einzige Ort, wo sich Weiße und Schwarze auf normale Art und Weise begegnen konnten. Nicht mal in den Kirchen saßen sie nebeneinander. Außerdem waren Häuser wie das von Alice in Baltimore die einzigen Orte, die ein Grammophon hatten und einfallsreich genug waren, die besten Platten aufzugabeln.

Eins weiß ich hundertprozentig sicher: Hätte ich Pops und Bessie aus dem Fenster eines Pfarrhauses gehört, so hätte ich für den Pfarrer die Botengänge umsonst erledigt. Damals gab es jedoch keine Geistlichen in Baltimore wie Norman O’Connor aus Boston, der Jazz liebt und der mittlerweile eine große Zuhörerschar hat, die sich seine Sendungen anhört. Die einzige andere Möglichkeit, damals Musik zu hören, war bei Tanzveranstaltungen. Ich besuchte also so viele wie möglich, nicht, um zu tanzen, sondern um der Musik zuzuhören. Natürlich konnte man nicht erwarten, dass meine Cousine Ida so etwas verstand. Sie warf mir vor, nur nicht zu tanzen und stattdessen am Rand zu stehen, weil ich so besser Kontakt mit Jungs aufnehmen konnte. Und natürlich bekam ich auch dafür meine Abreibung.

Über mein Verhältnis zu Jungs hatte sie sich sowieso schon immer Sorgen gemacht. Wir wohnten damals neben einem Altwarenhändler, der seinen Wagen immer vor der Tür parkte, nachdem er seine tägliche Runde absolviert hatte. Die Jungs aus der Nachbarschaft trafen sich an diesem Wagen, um zu würfeln oder mit Murmeln zu spielen. Ich ging auch hin, um dort meine Zeit zu verbringen. Ich spielte und raufte mit ihnen, aber das war auch schon alles. Eines Tages lehnte sich eine neugierige Alte aus einem Fenster im zweiten Stock und drohte mir mit dem Finger. Dann kam sie herunter, schimpfte und sagte, dass es eine Schande sei, was ich hier mit den Jungs machen würde.

Ich dachte damals noch überhaupt nicht an Sex und machte nichts weiter mit ihnen als das, was sie auch untereinander machten. Ich war eben eine von ihnen. Als mich dieses alte Weib nun so ankeifte, polterte ich einfach zurück: »Sie denken wohl, ich mach’s mit ihnen, he?«

Als sie mich so reden hörte, vergaß sie, weswegen sie eigentlich heruntergekommen war, und fing nun an, sich über meine Ausdrucksweise aufzuregen. Sie hielt es wahrscheinlich für unzumutbar, dass ich das aussprach, was sie gedacht hatte. Mir war es völlig egal, was sie oder sonst jemand dachte. Meine einzige Sorge war nur, dass sie meiner Mutter etwas davon erzählte, denn ich wusste genau, dass sie sich deswegen schon genug Sorgen machte.

»Du weißt, dass du keinen Vater hast«, sagte sie immer zu mir, »und du weißt auch, wie hart ich arbeiten muss. Mach um Himmels willen nicht den gleichen Fehler wie ich.«

Sie hatte ständig Angst, dass es noch einmal schlimm mit mir enden würde und sie mir dann nicht mehr helfen könnte. Doch geschlagen hat sie mich niemals, wenn sie dachte, dass ich etwas angestellt hatte. Sie fing nur an zu weinen, etwas, das ich überhaupt nicht ertragen konnte. Ich wollte ihr nicht wehtun, und ich tat ihr auch nie weh. Bis zu dem Zeitpunkt, als ich anfing, Drogen zu nehmen – drei Jahre vor ihrem Tod.

Die Jungs taten es natürlich trotzdem. Und sie waren auf der Suche nach einem Mädchen, mit dem sie es tun konnten. Ich konnte ihnen da genau sagen, wer dafür infrage kam. Diejenige, bei der man immer ankam, war das unschuldigste Mädchen aus unserem Block. Sie erzählte immer, dass sie einmal eine große Tänzerin werden wollte. Bis dahin trieb sie es mit allen Jungs, und nicht nur mit ihnen, sondern auch mit allen Ehemännern.

Trotzdem war sie immer so verflucht sauber und unschuldig, diese Evelyn, dass sie noch nicht einmal dann »Scheuerpulver« sagen würde, wenn sie den Mund voll damit hätte. Doch mir machten ständig alle, Ida nicht ausgeschlossen, die Hölle heiß, und nur, weil meine Mutter einmal einen Fehler gemacht hatte.

Vor ein paar Jahren, als ich im Royale Theatre auftrat, bin ich noch einmal nach Baltimore gekommen. Ich fuhr mit meinem weißen Cadillac vor das Haus, in dem Evelyn damals wohnte. Meinen Wagen parkte ich dort, wo früher immer der Wagen des Trödlers gestanden hatte. Dieses unschuldige Ding, das einmal eine große Tänzerin hatte werden wollen, lebte immer noch dort. Sie hatte inzwischen sechs Kinder, nicht zwei davon vom selben Vater, war aber immer noch genauso feige und aalglatt. Die Kinder kamen alle raus, und ich kaufte ihnen Eis und gab jedem fünfzig Cent, was für sie eine große Sache war, sodass sie mich für einen großen Star hielten.

Evelyn hatte immer einen jungen Kerl im Haus, so auch diesmal. Er war jung und braun und sah gut aus. Er lehnte sich aus dem Fenster, deutete auf eins der Kinder und sagte: »Das da ist meins.« Ich werde diesen Tag niemals vergessen. Das waren also die Leute, die sich über mich und meine Mutter aufgeregt und sich darum gekümmert hatten, dass wir ja nichts Schlimmes anstellten.

Es gab noch andere Dinge, auf die ich verzichten musste, als ich anfing, das Putzen als richtiges Gewerbe zu betreiben. Ich war nämlich immer in ein kleines Kaufhaus in Baltimore gegangen, um mir Hotdogs zu kaufen. Eigentlich bedienten sie dort keine Schwarzen, aber mir verkauften sie die Hotdogs, wenn gerade keiner hinsah. Wohl weil ich noch ein Kind war und sie außerdem das Geld ganz gut gebrauchen konnten. Erwischten sie mich allerdings dabei, wie ich anfing, meinen Hotdog zu essen, bevor ich draußen war, dann machten sie einen riesigen Aufstand, weil ich angeblich den ganzen Laden in Unordnung brachte.

Was ich außerdem noch mochte, waren weiße Seidenstrümpfe und natürlich schwarze Lackschuhe. Selbstverständlich konnte ich mir das alles nicht leisten, aber ich stürzte einfach in das Kaufhaus, nahm die weißen Strümpfe vom Ladentisch und lief, was das Zeug hielt. Warum auch nicht? Sie hätten sie mir ja doch nicht verkauft, selbst wenn ich das Geld gehabt hätte.

Ich lernte, durch den Hintereingang ins Kino zu kommen und so die fünfzig Cent zu sparen, die es vornerum kostete. Ich glaube nicht, dass ich einen einzigen Film von Billie Dove verpasst habe. Ich war geradezu verrückt nach ihr und versuchte, meine Haare genauso zu frisieren. Schließlich habe ich ihren Namen übernommen.

Mein eigener Name, Eleanora, war einfach zu lang. Außerdem habe ich ihn nie gemocht, besonders nicht, wenn meine Großmutter ihn abgekürzt als »Nora« von der Veranda nach mir rief. Mein Vater hat mich »Bill« genannt, weil ich so ein Wildfang gewesen war. Ich hatte nichts dagegen, aber ich wollte auch hübsch sein und einen hübschen Namen haben. So kam ich schließlich auf Billie und behielt ihn bei.

Als meine Mutter noch in Philadelphia und New York gearbeitet hatte, bekam ich von ihr immer die Kleider geschickt, die ihr die Weißen gaben, für die sie arbeitete. Natürlich waren es Sachen von der Stange, aber sie waren trotzdem hübsch, und wenn ich sie anzog, war ich immer das feinste Kind vom ganzen Block.

Meine Mutter wusste, dass ich es nicht sehr mochte, mit meinen Großeltern und meiner Cousine Ida zusammenzuleben, schließlich mochte sie es ja auch nicht. Das Einzige jedoch, was sie dagegen machen konnte, war, oben im Norden so hart zu arbeiten, wie sie nur konnte und jeden Cent zurückzulegen, was sie auch tat.

Nachdem mein Vater mit den McKinney’s Cotton Pickers auf Tour gegangen war, blieb er verschwunden. Später bekam er dann einen Job in der Band von Fletcher Henderson, immer jedoch war er unterwegs. Eines Tages hörten wir dann, dass er sich hatte scheiden lassen, um eine Frau aus der Karibik namens Fanny zu heiraten.

Als meine Mutter schließlich nach Baltimore zurückkam, hatte sie neunhundert Dollar gespart. Sie kaufte ein wahnsinnig tolles Haus in der Pennsylvania Avenue im Norden von Baltimore. Sie wollte dort ein paar Zimmer vermieten, während wir als richtige Ladys leben und alles zu einem glücklichen Ende kommen sollte.

Damals trugen alle hochkarätigen Huren große rote Samthüte mit Federn von Paradiesvögeln besteckt. Diese Hüte waren wirklich das Absolute. Unter fünfundzwanzig Dollar konntest du dir noch nicht mal einen angucken, und fünfundzwanzig Dollar waren in den Zwanzigern ein ganz schöner Batzen Geld. Ich hatte mir schon immer vorgestellt, dass meine Mutter auch so einen Hut haben sollte, und als sie schließlich genug Geld hatte, quengelte ich so lange rum, bis sie ihn vom Aufstehen bis zum Ins-Bett-Gehen trug. Wenn sie ohne diesen Hut aus dem Haus ging, machte ich eine Szene. Sie sah so wunderbar mit ihm aus, und ich dachte mir eben, dass sie einfach immer wunderbar aussehen sollte. Sie war gerade einen Meter fünfzig groß und wog keine vierzig Kilo, und mit ihrem roten Paradiesvogel-Samthut sah sie aus wie ein Püppchen.

Wenn sie in dieser Aufmachung ausging, sagte sie immer, dass sie einen reichen Mann suchen würde, damit wir beide aufhören könnten zu arbeiten. Das waren aber nur Worte, denn sie meinte es nie wirklich.

Einige Zeit nachdem mein Vater wieder geheiratet hatte, lernte meine Mutter Phil Gough kennen. Er war Hafenarbeiter in Baltimore, kam aber aus einer großbürgerlichen Familie. Seine Geschwister arbeiteten alle im Büro, und da sie alle nur blassbraun waren, hielten sie es für unverzeihlich, dass er sich mit meiner Mutter und mir abgab, denn wir waren ein, zwei Schattierungen dunkler.

Er hörte aber nicht auf das Gerede und heiratete meine Mutter vom Fleck weg. Solange er lebte, war er immer ein guter Stiefvater, allerdings lebte er nicht sehr lange.

Ich war glücklich, doch so klein dieses Glück auch war, es konnte nicht von Dauer sein.

Als ich eines Tages aus der Schule nach Hause kam, war Mutter gerade beim Friseur und niemand da außer Mister Dick, einer unserer Nachbarn. Er sagte mir, dass meine Mutter ihn gebeten hätte, auf mich zu warten, um mich ein paar Blocks weiter zu jemandem zu bringen, bei dem sie mich abholen würde.

Ohne dass ich weiter darüber nachdachte, ließ ich mich von ihm an die Hand nehmen und ging mit. Als wir zu dem Haus kamen, ließ uns eine Frau herein. Ich fragte nach meiner Mutter und bekam gesagt, dass sie jeden Augenblick kommen müsse. Angeblich hatte meine Mutter angerufen und ausgerichtet, dass sie sich etwas verspäten würde. Es wurde später und später, und ich wurde schläfrig. Mister Dick sah mich eindösen und brachte mich nach hinten in ein Schlafzimmer, damit ich mich hinlegen konnte. Ich war fast eingeschlafen, als Mister Dick zu mir krabbelte und das versuchte, was mein Cousin Henry auch immer versucht hatte. Ich fing an zu treten und schrie wie am Spieß. Daraufhin kam die Frau, die uns aufgemacht hatte, und versuchte, meinen Kopf und meine Arme auf das Bett zu drücken, damit er an mich rankonnte. Ich machte es ihnen nicht leicht und trat, kratzte und biss.

Plötzlich, als ich gerade nach Luft schnappte, hörte ich ein Poltern und Rufen. Als Nächstes wurde die Tür eingetreten, und meine Mutter und ein Polizist kamen herein. Ich werde diese Nacht niemals vergessen. Selbst eine Hure will nicht vergewaltigt werden. Sie kann jeden Tag stündlich hundert Kunden haben, und trotzdem will sie nicht von irgendjemandem vergewaltigt werden. Das ist das Schlimmste, was einer Frau passieren kann, und es passierte mir, als ich zehn war.

Ich hatte keine Ahnung, wie meine Mutter es fertiggebracht hatte, mich zu finden. Später erzählte sie mir, dass eine Freundin von Mister Dick, eine eifersüchtige Nutte, sie schon vor dem Haus erwartet hatte, als sie heimkam. Sie sagte meiner Mutter, sie solle mich gefälligst von ihrem Freund fernhalten.

Meine Mutter versuchte, sie loszuwerden und sagte, dass ich schließlich noch ein Kind sei und sie endlich mit ihrer dämlichen Eifersucht aufhören solle.

»Noch ein Kind?«, sagte die Hure und lachte. »Sie ist mit meinem Freund zusammen weggegangen und ist gerade in diesem Moment bei ihm. Und wenn du’s nicht glaubst, dann werde ich dir zeigen, wo du die beiden finden kannst.«

Meine Mutter verlor keine Zeit. Sie rief die Polizei, packte das eifersüchtige Weib am Arm und ließ sich zu dem Haus führen, wo sie mich festhielten.

Dass dieses Haus zu allem Überfluss noch einen gewissen Ruf hatte, war nicht das Schlimmste. Viel schlimmer war, dass uns die Bullen auch mitnahmen, als sie Dick zur Polizeiwache brachten, und das, obwohl ich heulend und blutend in den Armen meiner Mutter lag.

Als wir auf dem Revier ankamen, behandelten sie uns nicht gerade wie jemanden, der die Polizei um Hilfe gerufen hatte. Sie behandelten uns eher wie Schwerverbrecher. Meine Mutter durfte mich erst mal nicht wieder mit nach Hause nehmen. Mister Dick war vierzig, und ich war erst zehn, doch der Wachtmeister schien mein Alter von meinen Brüsten und meinem Körperbau oder was weiß ich abzulesen. Auf alle Fälle nahmen sie an, dass ich diesen alten Bock in das Bordell gelockt hatte oder so was Ähnliches. Auf alle Fälle steckten sie mich in eine Zelle. Meine Mutter schrie, heulte und bettelte, aber sie beförderten sie einfach nach draußen, während sie mich einer fetten weißen Aufseherin übergaben. Als die sah, dass ich immer noch blutete, bekam sie Mitleid mit mir und gab mir Milch zu trinken. Sonst tat keiner etwas für mich. Alle starrten sie mich nur an mit ihren schmierigen, dreckigen Augen und lachten in sich hinein.

Nach ein paar Tagen in der Zelle führten sie mich vor Gericht. Mister Dick wurde zu fünf Jahren verurteilt. Mich steckten sie in eine dieser katholischen Anstalten.

Ich werde diesen Ort niemals vergessen. Das Haus wurde von katholischen Schwestern geführt, und zwar diese Art von Schwestern, die das Heim nie verlassen. Wenn man dort eingeliefert wird, kriegt man eine blau-weiße Uniform und den Namen einer Heiligen. Ich erwischte den Namen der heiligen Theresa. Es waren ungefähr hundert Mädchen dort, die meisten wegen Diebstahl und Schuleschwänzen. Da alle wussten, dass ich wegen einem Mann dort war, betrachteten sie mich nahezu ehrfürchtig, wie einen Star.

Wenn man gegen die Anstaltsregeln verstieß, wurde man dort wenigstens nicht geschlagen, so wie bei meiner Cousine Ida. Die Bestrafung bestand hingegen darin, ein zerlumptes rotes Kleid zu tragen. Trug man dieses rote Kleid, durfte keins der anderen Mädchen mit einem sprechen oder sich einem auch nur nähern.

Ich werde niemals das erste Mädchen vergessen, das ich in diesem roten Kleid sah. Sie war ein wildes Ding und stand ganz allein im Hinterhof auf einer Schaukel. Sie schaukelte höher und höher, brüllte und lachte dabei, wobei sie immer höher kam. Sie schuftete wie eine Wilde, vor und zurück, während die anderen Kinder mit großen Augen um sie herumstanden.

Die Oberschwester versuchte, die Kinder zum Weitergehen zu bringen und den Haufen glotzender Mädchen aufzulösen. Aber das Mädchen in dem zerlumpten roten Kleid hörte nicht auf zu schaukeln und zu schreien. Ich glaube, sie dachte: Solange ich auf der Schaukel bin, kann mir niemand was tun. Die Oberschwester musterte sie, drehte sich dann zu uns und sagte: »Denkt immer daran: Gott wird sie bestrafen. Gott wird sie bestrafen.«

Nach ein paar Sekunden gab es einen furchtbaren Schlag. Als das Mädchen so hoch geschaukelt war, wie sie nur konnte, war der Sitz gebrochen und sie schreiend durch die Luft und über den Zaun geflogen. Man hörte einen Plumps und dann nichts mehr. Sie hatte sich das Genick gebrochen.

Das erste Mal, dass ich das rote Kleid trug, war an Ostern. Meine Mutter besuchte mich und brachte einen riesigen Korb mit zwei Brathähnchen, einem Dutzend gekochter Eier und allen möglichen anderen Sachen mit. Da ich das rote Kleid anhatte, gaben die Schwestern meinen Korb den anderen Kindern und ließen mich dabeisitzen und zuschauen, während sie aßen.

Doch damit war’s noch nicht genug. Sie ließen mich nicht mit den anderen Mädchen zurück in den Schlafsaal, sondern steckten mich für die Nacht in ein Vorzimmer, in dem ein anderes Mädchen, das gerade gestorben war, aufgebahrt war. Vielleicht war es das Mädchen, das sich auf der Schaukel das Genick gebrochen hatte, das weiß ich nicht mehr genau. Ich weiß jedoch sehr genau, dass ich seit dem Tod meiner Großmutter, als sie mich fest umklammert hielt, während sie starb, einfach nicht mehr in der Nähe von Toten sein kann. Ich konnte nicht schlafen und wurde fast wahnsinnig. Ich brüllte das ganze Haus zusammen und hämmerte so lange gegen die Tür, bis meine Hände bluteten.

Als meine Mutter mich das nächste Mal besuchte, sagte ich ihr, dass sie mich hier sofort rausholen musste, falls sie mich noch einmal lebend wiedersehen wollte. Ich glaube, sie verstand, dass ich es ernst meinte, und ich meinte es ernst. Auf jeden Fall besorgte sie sich mit meinem Großvater einen Anwalt. Ein paar reiche Weiße, für die meine Mutter arbeitete, halfen ihr mit dem Geld aus. Wäre es nach dem Richter gegangen, dann hätte ich in dem Heim versauern können, bis ich einundzwanzig oder tot gewesen wäre, aber schließlich bekamen sie mich doch irgendwie raus.

Als ich eine Geburtsurkunde für einen Reisepass brauchte, habe ich dieses Heim Jahre später noch einmal aufgesucht.

Ich ging allerdings auch hin, um die Oberschwester noch einmal zu sehen.

Ich hatte den Leuten auf dem Amt erzählt, dass ich in dem Krankenhaus von Baltimore geboren wurde, in dem meine Mutter dreizehn Jahre lang den Boden geschrubbt und Wassereimer ausgeleert hat, aber sie wollten es mir einfach nicht glauben. Also ging ich in das Heim und traf auf dieselbe Oberschwester, die auch schon vor dreißig Jahren dagewesen war. Ich sah den Ort, wo ich geschlafen hatte, wo ich getauft und gefirmt worden war und den Ort, wo ich mir meine Hände blutig geschlagen hatte, weil sie mich in ein verdammtes rotes Lumpenkleid gesteckt und zusammen mit einem toten Mädchen eingesperrt hatten.

2. Ghost of Yesterday

Im Sommer 1927 sprach alle Welt von Lindberghs Flug nach Paris, als ich es allein von Baltimore bis nach New York schaffte.

Nach meinem Rausschmiss aus dieser katholischen Anstalt hatten meine Mutter und ich von Baltimore die Nase voll. Außerdem wollten wir nach der Sache mit Mister Dick auch mit Untermietern nichts mehr zu tun haben, sodass meiner Mutter nichts anderes übrig blieb, als wieder irgendwo als Hausmädchen zu schuften. Da sie jedoch in Baltimore nicht mal die Hälfte von dem bekam, was sie im Norden verdient hatte, nahm ich meinen Eimer und den Schrubber und zog ebenfalls wieder von Haus zu Haus, um das fehlende Geld aufzutreiben, damit wir zusammenbleiben konnten.

Es war schon lange dunkel, als ich eines Nachts nach Hause kam. Ich hatte den ganzen Tag gearbeitet und nur neunzig Cent verdient. Meine Mutter sah mich an und fing mit einem Mal an zu weinen, so zerschlagen sah ich aus. Ich versuchte, sie zu trösten und sagte, dass es mir gutginge, aber sie hörte nicht auf, immer wieder vor sich hin zu sagen: »Es muss doch irgendwo etwas Besseres für uns geben.« Doch wenn es etwas Besseres gab, dann nicht hier in Baltimore, das wussten wir beide, sondern oben im Norden.

Also zog sie los, und ich ging zurück in das kleine Haus, um wieder mit Cousine Ida und ihrem Mann, Großvater und Großmutter und meinen kleinen Cousins Henry und Elsie zusammenzuleben und auf den Tag zu warten, wo meine Mutter mich nach New York holen würde.

Obwohl das Zusammenleben mit Ida genauso verlief wie früher und obwohl ich das Ende davon kaum erwarten konnte, fand ich die Art, wie es aufhörte, abscheulich. Sie war wirklich eins der schlimmsten schwarzen Weibsbilder, die je auf Gottes Erde gelebt haben, aber ihren Tod habe selbst ich ihr nicht gewünscht. In unserer Familie gab es die Veranlagung zum Kropf. Meine Mutter hatte auch einen, aber der von Ida war mit Abstand der Schlimmste. Ein furchtbar großes Ding, das ihr vom Kinn bis auf die Brust hing. Eines Tages hatte sie einen Erstickungsanfall, und der Einzige, der da war und ihr hätte helfen können, war ihr Mann, der sich jedoch halb bewusstlos gesoffen hatte. Sie fiel auf die Knie, japste nach Luft und verreckte schließlich wie ein Köter. Der Arzt sagte, dass es ausgereicht hätte, wenn ihr Mann sich aufgerafft hätte, um das Fenster zu öffnen und etwas frische Luft reinzulassen. Doch selbst dafür hatte er nicht mehr genug Kraft gehabt. So gemein sie auch war, diesen Tod hatte ich ihr nicht gewünscht.

Damals behielt man die Verstorbenen wegen der Totenwache und der anderen Trauerzeremonien immer noch für zwei Wochen im Haus. Ida und ihr Mann waren Baptisten und machten meiner Mutter und mir immer das Leben schwer, weil wir katholisch waren. Ständig rissen sie blöde Witze über meine Mutter mit ihren Kerzen und dem Herumgerutsche vor dem Altar. Als ich mich nun weigerte, Ida noch einmal aufgebahrt anzusehen, dachten alle, dass es etwas damit zu tun hätte. Sie ließen mich einfach nicht in Ruhe und schließlich, als ich mich immer noch nicht in die Nähe traute, wurde ich gepackt und einfach über den Sarg gehalten. Man zwang mich, sie anzusehen, und mir wurde speiübel.

Ida war gerade gestorben, und niemand kümmerte sich um Henry und Elsie, von mir ganz zu schweigen. Da schrieb meine Mutter, dass ich nach New York kommen sollte. Ich machte noch die fünfte Klasse fertig, und als ich nach dem letzten Schultag nach Hause kam, band mir mein Großvater eins von diesen riesigen Schildern um den Hals, auf denen steht, wie man heißt und wo man hin will, und Großmutter machte mir einen Korb mit Brathähnchen und gekochten Eiern zurecht. Es war so viel zu essen, dass Lindbergh damit spielend über den Atlantik gekommen wäre. Dann brachte mich Großvater zum Zug. Ich hatte eine Fahrkarte nach Long Branch, wo mich meine Mutter abholen wollte. Sobald ich jedoch im Zug saß, entschloss ich mich, Long Branch hin, Long Branch her, irgendwie nach Harlem zu kommen. Ich nahm also mein Erkennungsschild ab und beschloss, in New York auszusteigen, dort die U-Bahn nach Harlem zu nehmen, mich dort ein bisschen rumzutreiben und dann meine Mutter zu verständigen.

Ich war zwar erst dreizehn, aber schon mit allen Wassern gewaschen. Ich reiste zwar ohne Gepäck, von dem Fresskorb mal abgesehen, aber immerhin reiste ich. Als ich in New York an der Pennsylvania Station ausstieg, war ich mitten in der größten Stadt, die ich je gesehen hatte. Ich ließ mir Zeit, alles aufzusaugen, schlenderte umher und schaute mir die großen Gebäude an. Ich muss schon ein seltsames Bild abgegeben haben, wie ich so mit großen Augen herumtapste, meinen kleinen Koffer und den Korb mit den Esssachen immer dabei.

Es war schon dunkel, als mich eine Sozialarbeiterin entdeckte und sofort wusste, dass ich abgehauen war. Diese Frau von der Fürsorge war eine Weiße, aber sie war unbeschreiblich nett. Sie fragte mich, wo ich herkäme, wie ich hieß, wo ich hinwollte, wer meine Mutter wäre und all so ein Zeug. Ich aber sagte nichts, nicht mal meinen Namen. Niemand würde mich davon abhalten, nach Harlem zu kommen. Es stellte sich heraus, dass sie dem Kinderschutzbund angehörte. Sie wollte mich zu ihrem Vereinsgebäude mitnehmen, aber es war schon spät, und das Haus hatte schon geschlossen, was sich später als mein großes Glück herausstellen sollte. Sie nahm mich also mit, kaufte mir etwas zu essen, und dann brachte sie mich zu einem feinen Hotel, wo sie mir ein Zimmer mit einem eigenen Bett besorgte. Dieses Hotel haute mich um. Jahre später bin ich noch einmal zurückgekommen, um mir alles noch mal anzusehen, da musste ich allerdings feststellen, dass es nur ein CVJM-Heim war, während ich mich damals wie im Waldorf Astoria fühlte. Diese Frau war so nett, dass ich versuchte, einen Job bei ihr zu bekommen.

»Ich werde für Sie arbeiten«, sagte ich, »ich werde Ihr Haus sauber halten, die Treppen putzen und den Fußboden schrubben.« Als sie mich jedoch nach meinem Namen fragte, blieb ich weiterhin stumm. Sie machte einen sehr klugen Eindruck auf mich, denn sie lächelte mich nur an, als ich meinen Namen nicht sagen wollte und meinte: »Ich kenne dich. Du bist gerissen.«

Am nächsten Morgen nahm sie mich mit zum Kinderschutzbund. Es war schön dort. Es gab gutes Essen, und es waren viele Kinder da, die nichts anderes zu tun hatten als zu spielen. Hinter dem Haus lag ein eingezäunter riesiger Spielplatz mit Rutschbahnen und Schaukeln und allem Drum und Dran.

Ich muss dort einige Wochen verbracht haben, bevor meine Mutter herausbekam, wo ich mich aufhielt. Eines Morgens wurde ich runtergeholt, weil eine Frau gekommen war, um mich abzuholen. Es war jedoch nicht meine Mutter, sondern eine Frau namens Levy.

»Ich gehe nicht mit Ihnen«, sagte ich ihr geradeheraus. »Ich bleibe hier.«

»Warum denn?«, fragte sie mich. »Hast du einen bestimmten Grund?«

»Nein, keinen«, sagte ich, »mir gefällt es hier einfach.«

»Aber ich will dich doch zu deiner Mama bringen.«

Mir fiel auf, dass sie weder »Mutter« noch »Mami« gesagt hatte. Sie hatte »Mama« gesagt, und der Ton, in dem sie es gesagt hatte, brachte mich dazu, es mit ihr zu versuchen. Mrs Levy war die Frau, für die meine Mutter in Long Branch arbeitete. Sie erzählte mir, dass meine Mutter auf die Kinder aufpasste, während sie mit dem Auto runtergefahren war, um mich abzuholen.

Dass sie ein Auto hatte, gab den Ausschlag. Und als ich erst sah, was für ein tolles Auto das war, wäre ich überall mit hingekommen, nur allein wegen der Fahrt. Ich hatte noch nicht so oft in einem Auto gesessen, dass ich einfach eine Fahrt hätte ausschlagen können. Also fuhren wir von New York nach Long Branch.

Endlich sollten Sadie und ich wieder zusammen sein. Wir würden es schon schaffen. Meine Mutter hatte mir sogar eine Arbeit besorgt. Als Dienstmädchen natürlich. Als was auch sonst?