Lakeview Stories 4 - Noch fünf Tage und du hättest mich geliebt - Sarah Dessen - E-Book

Lakeview Stories 4 - Noch fünf Tage und du hättest mich geliebt E-Book

Sarah Dessen

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Beschreibung

Lakeview Stories: Liebe und mehr! Lakeview Stories‹ sind eindrucksvolle, süchtigmachende, erfrischende, aufwühlende und starke Liebesgeschichten in Episodenform. Die Handlung spielt im kleinen beschaulichen Lakeview. Die Serie besteht aus 26 Einzelteilen. Remy hat die Hoffnung auf die Liebe eigentlich bereits komplett verloren. Ihr Liebesplan: Maximal 6 Wochen ist sie mit den Jungs zusammen, danach macht sie Schluss. Nach ihrem Schulabschluss möchte sie nur weg aus Lakeview, Party, Alkohol und viele Typen klarmachen. Auch Dexter ist für sie nur eine weitere Sommeraffäre. Jedoch fällt es ihr bei ihm unglaublich schwer, ihr gewohntes Programm durchzuziehen. Warum nur? Was hat Dexter, was die anderen nicht hatten? Gibt es ein Happy End? Wie geht es weiter? Zu spät merkt Remy,  dass sie ihren wahren Gefühlen nicht ewig ausweichen kann. Zu spät???   Die aufwühlende Liebesgeschichte von Remy und Dexter erstreckt sich auf die ersten vier Teile der ›Lakeview Stories‹ und ist bereits erschienen unter dem Titel ›Zu cool für dich‹.

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Seitenzahl: 132

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Sarah Dessen

Lakeview Stories 4 - Noch fünf Tage und du hättest mich geliebt

Roman

Aus dem Amerikanischen von Gabriele Kosack

dtv

Kapitel Dreizehn

Remy, Schätzchen, kommst du bitte mal?«, ertönte Lolas lautes Organ.

Ich legte die Rechnungen für Körperlotion, die ich gerade zählte, auf meiner Empfangstheke ab, und ging in die Kabine für Maniküre/Pediküre, wo Amanda, unsere Nagelexpertin, die Arbeitsflächen abwischte. Hinter ihr klopfte Lola mit der Haarschneideschere auf ihre flache Hand.

»Was ist los?« Augenblicklich hatte ich ein ungutes Gefühl.

»Setz dich«, sagte Amanda. Und bevor ich wusste, wie mir geschah, saß ich. Denn Talinga hatte sich von hinten angeschlichen, drückte mich an den Schultern auf einen Stuhl, warf mir mit energischem Schwung ein Frisiercape um und hakte es im Nacken zusammen.

»Moment mal«, protestierte ich, doch Amanda packte bereits meine Hände und legte sie blitzschnell auf das Arbeitstischchen zwischen uns. Sie spreizte meine Finger und begann professionell und beinahe angriffslustig meine Nägel zu feilen, wobei sie sich konzentriert auf die Lippen biss.

»Nur eine kleine Überarbeitung der Gesamterscheinung«, meinte Lola sanft, stellte sich hinter mich und hob mein Haar an beiden Seiten hoch. »Ein bisschen Maniküre, ein kleiner Haarschnitt, etwas Make-up …«

»Auf gar keinen Fall.« Ich entwand mich ihrem Griff.

»Meine Haare fasst du nicht an.«

»Nur die Spitzen!«, erwiderte sie und riss mich wieder zurück. »Sei nicht undankbar, Mädchen! Die meisten Frauen greifen für so was tief in die Tasche. Du bekommst es umsonst!«

»Garantiert nicht«, grummelte ich, worüber die drei sich herzlich amüsierten. »Wo ist der Haken?«

»Kein Haken«, lautete Lolas lapidare Antwort.

»Halt die Hände still oder ich entferne mehr als bloß Nagelhaut«, mahnte Amanda.

Ich sog scharf die Luft ein, als ich metallisches Klappern an meinem Hinterkopf hörte. Hilfe! Lola schnitt mir tatsächlich die Haare. »Nur ein kleines Bonusprogramm«, meinte sie.

Ich sah Talinga an, die verschiedene Lippenstifte auf ihrem Handrücken ausprobierte und dabei immer wieder zu mir rüberschaute, um die Farben mit meinem Teint abzugleichen. »Bonusprogramm?«

»Ja, eine Prämie. Alles gratis!« Lola lachte ihr tiefes, lautes Lola-Lachen. »Ein besonderes Geschenk für unsere kleine Remy.«

»Ein Geschenk«, wiederholte ich argwöhnisch.

»Worum geht’s hier eigentlich?«

»Rate mal.« Während sie begann, roten Lack auf meine Nägel aufzutragen, lächelte Amanda mich kurz an.

»Ist es größer als eine Handtasche?«, fragte ich.

»Das wollen wir doch schwer hoffen«, antwortete Lola, worauf die drei in einen Lachkrampf verfielen, als wäre das die witzigste Bemerkung aller Zeiten gewesen.

»Ihr verratet mir sofort, was los ist«, verlangte ich streng, »oder ich gehe. Ich meine es ernst!«

Sie versuchten vergeblich, das Gekicher abzustellen. Schließlich schaffte Talinga es, tief Luft zu holen und zu antworten: »Meine liebe Remy, wir haben einen Mann für dich.«

»Ach so. Und ich dachte schon, ich bekäme was Nützliches. Etwas, das ich brauchen kann. Kosmetik oder so.«

»Du brauchst einen Mann.« Amanda nahm sich den nächsten Nagel vor.

»Nein«, meinte Talinga. »Ich brauche einen Mann.

Remy braucht einen hübschen Jungen.«

»Einen hübschen, netten Jungen«, sagte Lola. »Und heute ist dein Glückstag, denn wir haben ihn für dich gefunden.«

»Vergiss es«, sagte ich zu ihr. Nichtsdestotrotz beugte sich Talinga über mich und fuchtelte mir mit einem Make-up-Schwämmchen im Gesicht rum. »Geht es um denselben, mit dem du mich schon mal verkuppeln wolltest? Der mit den schönen Händen? Der zweisprachig aufgewachsen ist?«

Lola ignorierte meine Frage. »Er wird um sechs hier sein, heißt Paul, ist neunzehn und denkt, er würde vorbeikommen, um etwas für seine Mutter abzuholen. Stattdessen wird er dich sehen, mit deiner schönen neuen Frisur …«

»… deinem Make-up«, fügte Talinga hinzu.

»… und deinen Fingernägeln«, meinte Amanda.

»Wenn du endlich aufhörst hier rumzuzappeln.«

»Und er wird absolut entzückt von dir sein«, sagte Lola abschließend. Sie schnipselte noch einmal hier und einmal da und fuhr anschließend mit den Fingern durch meine Haare, um ihr Werk zu begutachten. »Deine Spitzen hatten es wirklich nötig. So ein Gestrüpp.«

»Wie kommt ihr bloß darauf, dass ich den Zirkus mitmache?«, fragte ich gedehnt.

»Weil er gut aussieht«, antwortete Talinga.

»Weil du es tun solltest«, ergänzte Amanda.

Schwungvoll zog Lola das Cape weg. »Weil du es tun wirst.«

 

Ich muss zugeben, dass Lola Recht hatte. Paul sah tatsächlich gut aus. Außerdem war er witzig, sprach meinen Namen korrekt aus, hatte einen festen Händedruck (und schöne Hände, ja doch). Und er schien die eher aufdringliche Tatsache, dass wir verkuppelt werden sollten, mit Humor zu nehmen; er zwinkerte mir zu, als Lola plötzlich »rein zufällig« einen Geschenkgutschein für ein Essen beim Mexikaner übrig hatte.

»Hast du auch das Gefühl, dass wir in der ganzen Sache sowieso nichts zu melden haben?«, fragte Paul mich.

»Ja. Aber zumindest kriegen wir eine Mahlzeit für lau.«

»Stimmt. Ein gutes Argument dafür. Trotzdem, fühl dich bitte nicht verpflichtet mit mir essen zu gehen, wenn du nicht willst.«

»Du auch nicht«, erwiderte ich.

Wir wechselten einen raschen Blick, während Lola, Talinga und Amanda im Nachbarraum so mucksmäuschenstill waren, dass ich hören konnte, wie einer von ihnen der Magen knurrte.

»Komm, wir machen’s«, sagte ich, »dann sind sie glücklich.«

»Okay.« Er lächelte mich an. »Ich hol dich um sieben ab.«

Ich schrieb meine Adresse auf die Rückseite einer Joie-Visitenkarte und sah ihm nach, während er zu seinem Auto ging. Er war echt nicht übel. Und schließlich war ich Single. Seit Dexters und meiner Trennung waren fast drei Wochen vergangen. Ich kam nicht nur gut damit klar – wir hatten sogar das fast Unmögliche hingekriegt: eine Freundschaft. Und da tauchte dieser nette Typ auf. Neues Spiel, neues Glück. Warum sollte ich die Chance nicht ergreifen, wenn sie sich mir schon bot?

Eine der möglichen Antworten auf diese Frage erschien, höchstpersönlich, vor meinen Augen, als ich auf dem Weg zum Auto in meiner Handtasche rumwühlte, um Autoschlüssel und Sonnenbrille zu finden. Deshalb achtete ich weder darauf, wo ich hinging, noch darauf, was in meiner Umgebung passierte. Bis ich ein lautes Klick hörte, aufblickte und Dexter mit einer Wegwerfkamera vor mir stehen sah.

»Hi!« Er spulte den Film mit dem Daumen weiter, hielt die Kamera erneut vors Auge und neigte sich leicht zurück, um mich aus einem anderen Winkel zu erfassen. »Wow, du siehst toll aus. Heißes Date oder was?« Ich zögerte. Er knipste. Klick. »Äh … eigentlich …«, antwortete ich.

Einen Augenblick lang rührte er sich nicht, spulte weder den Film weiter noch tat sonst irgendwas. Sah mich nur durch die Linse an. Dann nahm er die Kamera vom Auge, schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn und meinte: »Mist. Tut mir Leid. Peinlichkeits-Alarm! Sorry.«

»Nur ein Blinddate«, sagte ich schnell. »Lola will mich unbedingt verkuppeln.«

»Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen.« Er spulte den Film weiter, klick klick klick. »Das weißt du.«

Und dann geschah es. Ein Schweigen entstand, das immer länger wurde, länger als jede normale Gesprächspause. Schließlich durchbrach ich es und sagte: »Okay. Also dann …«

»Mann, es wird immer peinlicher. Ein Peinlichkeits-Highlight.« Er zuckte die Achseln, ruckartig, als wollte er ein unangenehmes Gefühl abschütteln, und fuhr fort:

»Ist okay. Eine Herausforderung. So was gehört dazu. Wir wussten, dass es nicht immer leicht sein würde, stimmt’s?«

Ich warf einen Blick in meine Handtasche, weil ich meinen Schlüssel immer noch nicht gefunden hatte – wobei mir im selben Moment klar wurde, wo der Schlüssel steckte. In meiner hinteren Jeanstasche. Ich zog ihn raus, war froh, etwas zu tun zu haben. Irgendeine banale Beschäftigung, egal was. Hauptsache Ablenkung.

»Und wer ist der Kerl?«, fragte er lässig, hielt die Kamera über meinen Kopf hinweg und machte ein Bild des Eingangs von Joie Salon.

»Echt, Dexter!«

»Aber über so was reden Freunde doch. Ist nur eine Frage. Als würden wir übers Wetter plaudern.«

Ich überlegte. Wir hatten gewusst, worauf wir uns einließen. Schließlich war es auch nicht gerade einfach, zehn Bananen zu essen. »Der Sohn einer Kundin von Lola. Ich hab ihn erst vor zwanzig Minuten kennen gelernt.«

Er wippte auf seinen Fersen vor und zurück. »Ah ja.

Schwarzer Honda?« Ich nickte.

»Ja, hab ihn gesehen.« Er spulte den Film weiter.

»Sah nett aus. Anständig.«

Anständig, dachte ich. Als wäre Paul der ideale Schülersprecher. Oder würde alten Damen über die Straße helfen. »Wir gehen bloß essen«, sagte ich. Dexter machte noch ein Bild von mir – unverständlicherweise von meinen Füßen. »Was soll eigentlich die Knipserei?«

»Die Kamera stammt aus seiner defekten Lieferung«, antwortete er. »Irgendwer in der Zentrale hat einen Karton Wegwerfkameras in der Sonne stehen lassen, deswegen sind die Filme gewellt und das Plastik verbogen. Unser Manager hat gemeint, wir können sie nehmen, wenn wir wollen. Das ist wie mit den Mandarinen. Zeug, das es umsonst gibt, lehnt keiner von uns ab.«

»Aber aus den Fotos kann doch gar nichts werden«, sagte ich. Jetzt fiel mir auch auf, dass die Kamera krumm und schief war; wie die Videokassette, die ich im letzten Sommer mal aus Versehen auf der Ablage meines Autos hatte liegen lassen. Die Kamera sah aus, als würde man den Film nicht mal mehr rausfummeln können, geschweige denn entwickeln.

»Keine Ahnung.« Er machte noch ein Foto. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«

»Die Fotos werden garantiert nichts«, sagte ich. »Filme halten Hitze nicht aus.«

»Wer weiß, möglicherweise doch.« Er hielt die Kamera am ausgestreckten Arm von sich weg, grinste breit und knipste sich selbst. »Wir werden es erst wissen, wenn die Filme entwickelt sind.«

»Wahrscheinlich ist es pure Zeitverschwendung«, erwiderte ich. »Also, warum tust du es überhaupt?«

Er ließ die Kamera sinken und sah mich an. Sah mich offen und direkt an, nicht durch die Linse, nicht von der Seite. Nur er und ich, nichts dazwischen. »Das ist die große Frage, nicht wahr? Warum tut man etwas? Ich glaube, die Fotos werden was. Vielleicht nicht perfekt. Vielleicht sind sie verwackelt oder in der Mitte abgeschnitten. Ich finde trotzdem, die Mühe lohnt sich. Aber so bin ich. Andere Menschen denken anders.«

Ich blinzelte ein paarmal, schweigend, als er mich noch einmal fotografierte. Ich sah ihn direkt und unverwandt an, während es Klick machte. Ich hatte seine kleine Metapher begriffen. »Ich muss los«, meinte ich.

»Klar.« Er lächelte mich an. »Bis dann.«

Er schob die Kamera in seine hintere Jeanstasche und ging zwischen den parkenden Autos hindurch zu Flash Camera zurück. Vielleicht würde auf den Fotos nach dem Entwickeln tatsächlich etwas erkennbar sein: mein Gesicht, meine Füße, Joie Salon hinter mir. Aber vielleicht war der Film auch einfach bloß schwarz. Kein Licht, nichts zu sehen, nicht einmal die Umrisse eines Gesichts, einer Gestalt. Und genau hier lag unser Problem. Ich würde meine Zeit nie mit Spielereien verschwenden, deren Ergebnis völlig unabsehbar war. Dexter hingegen stürzte sich förmlich drauf. Menschen wie Dexter gingen mit Risiken so um, wie ein Hund seiner Nase folgt, wenn er etwas gerochen hat: Er denkt begierig nur daran, was ihn am Ziel womöglich Fantastisches erwartet. Und nie logisch drüber nach, was aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich dort ist. Es war gut, dass wir Freunde waren, und zwar nur Freunde. Falls wir das überhaupt waren. Auf Dauer wäre das mit uns beiden nichts geworden. Nie im Leben.

 

Meine kleine Szene mit Don war mittlerweile zwei Tage her. Bis jetzt hatte ich es geschafft, ihm komplett aus dem Weg zu gehen, indem ich die Küche – den einzigen Ort, wo wir uns begegnen konnten – nur dann betrat, wenn ich wusste, dass er entweder weg oder unter der Dusche war. Mit meiner Mutter war es sowieso unkompliziert. Sie war völlig in ihrem Roman versunken, ratterte die letzten hundert Seiten in halsbrecherischem Tempo runter. Nichts konnte sie zurzeit von Melanie, Brock Dobbin und ihrer aussichtslosen Liebe wegreißen. Sie wäre vermutlich höchstens vom Schreibtisch aufgestanden, wenn in unserem Wohnzimmer eine Bombe explodiert wäre. Und auch das nur ungern.

Deshalb wunderte ich mich, dass ich sie – als ich nach Hause kam, um mich für mein Kuppel-Date mit Paul zu stylen – am Küchentisch entdeckte, wo sie vor einem Kaffeebecher saß und, den Kopf auf eine Hand gestützt, Dons Gemälde mit der nackten Dame anstarrte. Sie war so in Gedanken, dass sie zusammenfuhr, als ich sie an der Schulter berührte.

Dennoch lächelte sie, wobei sie eine Hand an ihre Schläfe presste. »Ach, du bist das, Remy. Du hast mich erschreckt.«

»Entschuldige.« Ich zog einen Stuhl ran, setzte mich ihr gegenüber und legte meinen Schlüsselbund auf den Tisch. »Was machst du hier?«

»Ich warte auf Don.« Sie zupfte ordnend an ihrer Frisur rum. »Heute Abend gehen wir mit ein paar wichtigen Menschen von Toyota essen und er ist jetzt schon mit den Nerven am Ende. Er hat Angst, dass man sein Händler-Incentive-Programm beschneidet, falls wir keinen guten Eindruck hinterlassen.«

»Sein was?«

»Keine Ahnung.« Sie seufzte. »Irgendein Fachbegriff aus der Autohändlersprache. Heute Abend wird nichts anderes geredet als Autohändlersprache. Dabei sitzen Melanie und Brock gerade in einem Brüsseler Straßencafé, während Melanies Ehemann im Anmarsch ist. Das Letzte, womit ich mich momentan beschäftigen möchte, sind Verkaufszahlen und Ratenfinanzierungsmodelle.« Sie warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Schreibmaschine in ihrem Arbeitszimmer – als würde sie von einer mächtigen, unsichtbaren Kraft dorthin gezogen.

»Wünschst du dir nicht auch manchmal, du hättest zwei Leben gleichzeitig?«

Aus irgendeinem unerklärlichen Grund – oder vielleicht war er auch gar nicht so unerklärlich – kam mir plötzlich Dexter in den Sinn. Wie er mich durch eine verbogene Kamera anschaute. Klick. Schnell schüttelte ich das Bild wieder ab. »Kann schon sein. Ja, manchmal.«

»Barbara!«, brüllte Don. Ich konnte ihn zwar nicht sehen, aber durchaus hören. Offenbar hatte er die Tür zum Neuen Flügel geöffnet und stand jetzt im Durchgang, während er weiterbellte: »Hast du meinen roten Schlips gesehen?«

»Deinen was, Liebling?«, rief sie zurück.

»Meinen roten Schlips, den ich neulich bei der Verkaufsausstellung anhatte. Hast du ihn irgendwo gesehen?«

Sie wandte sich auf ihrem Stuhl um. »Ich fürchte nicht, Liebling. Aber vielleicht siehst du mal …«

»Schon gut, nehm ich eben den grünen.« Die Tür wurde zugeschlagen.

Meine Mutter lächelte mich entschuldigend an, als wäre Don wirklich ein ganz besonderer Fall. Dann streckte sie die Hand aus und streichelte meine. »Genug von mir. Wie geht es dir?«

»Lola hat ein Blinddate für mich arrangiert«, antwortete ich.

»Ein Blinddate?« Sie sah mich fragend, fast skeptisch an.

»Ich habe ihn schon kennen gelernt, im Salon. Er scheint echt nett zu sein. Und wir gehen nur essen.«

»Ach, nur essen.« Sie nickte. »Als ob zwischen einer Flasche Wein und drei Gängen nichts passieren könnte.« Sie verharrte plötzlich und blinzelte. »Gar nicht schlecht«, meinte sie. »Wirklich, das sollte ich mir notieren.«

Sie griff nach einem Stück Papier – eine alte Stromrechnung – und einem Stift. Drei Gänge – nur essen gehen – als ob nichts passieren könnte kritzelte sie auf die Rückseite, setzte ein großes Ausrufezeichen dahinter und schob den Umschlag unter die Zuckerdose, wo er vermutlich liegen bleiben würde. Vergessen und verloren. Bis sie eines Tages beim Schreiben eine ihrer üblichen Blockaden hatte und ihn wiederentdeckte. Diese Art von hastigen Notizen lag überall bei uns im Haus verstreut: zusammengefaltet in irgendwelchen Ecken, hinten auf Regalen, als Lesezeichen in Büchern. Einmal fand ich eine Notiz über Seehunde, deren Inhalt sich später als entscheidender dramatischer Wendepunkt in ihrem Roman Erinnerungen an Truro entpuppte, in einer Tamponschachtel unter meinem Waschbecken. Man wusste beim Schreiben eben nie genau, wann die nächste wesentliche Eingebung zuschlagen würde.

»Wir gehen ins LaBrea«, sagte ich. »Es gibt vermutlich sowieso nur einen Gang. Die Chancen, dass was daraus wird, stehen also noch schlechter.«

Sie lächelte mich an. »So was weiß man nie im Vorhinein, Remy. Liebe ist unberechenbar. Manchmal kennt man einen Menschen schon seit Jahren. Und plötzlich funkt es! Weil man ihn auf einmal in einem anderen Licht sieht. Und manchmal geschieht es beim ersten Treffen, gleich im allerersten Moment. Das macht ja gerade den Reiz aus.«

»Ich habe nicht vor mich in ihn zu verlieben. Es ist bloß ein Date«, sagte ich.

»Barbara!«, brüllte Don. »Was hast du mit meinen Manschettenknöpfen gemacht?«

Wieder drehte sie sich auf ihrem Stuhl um. »Ich habe deine Manschettenknöpfe nicht angerührt, Liebling.« Sie wartete eine Sekunde, aber weil er nicht weitersprach, wandte sie sich achselzuckend wieder zu mir um.