Lana Beck und der tote Chefarzt - Talia Moritz - E-Book

Lana Beck und der tote Chefarzt E-Book

Talia Moritz

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Beschreibung

Der Chefarzt der Rehaklinik in Bad Reichling hängt kopfüber tot in seinem Aquarium. Ein Mord? Oder doch „nur“ ein tragischer Unfall? In ihrem zweiten Fall ermitteln die niederbayerisch-iranische Kriminalkommissarin Lana Beck und ihr bayerisch-bärbeißiger Kollege Tobi Reiter in Bad Reichling. Das Bild der beschaulichen oberbayerischen Provinz trügt allerdings: Hinter der gutbürgerlichen Fassade entdecken die beiden völlig unerwartete Abgründe, die die Ermittlungen immer wieder in neuem Licht erscheinen lassen.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 – Rückkehr

Kapitel 2 – Erster Arbeitstag

Kapitel 3 – Undercover

Kapitel 4 – Überraschende Begegnung

Kapitel 5 – Große Liebe

Kapitel 6 – Ein undurchsichtiger Ire

Kapitel 7 – Abgründe

Kapitel 8 – Klärendes Gespräch

Kapitel 9 – Drama um Bernie

Kapitel 10 – Schwierige Gespräche

Kapitel 11 – Sackgassen

Kapitel 12 – Der Wolf im Schafspelz

Kapitel 13 – Best Buddies

Kapitel 14 – Wer hätte das gedacht?

Kapitel 15 – Erste Hilfe

Kapitel 16 – Überredungskünste

Kapitel 17 – Erleichterung

Kapitel 18 – Dramatische Verwicklungen

Kapitel 19 – Freudige Überraschung

Kapitel 20 – Hilfestellung

Kapitel 21 – Schlechte Nachricht

Kapitel 22 – Zusammenprall

Kapitel 23 – Um Kopf und Kragen

Kapitel 24 – Spekulationen

Kapitel 25 – Neues Material

Kapitel 26 – Diverse Krisen

Kapitel 27 – Brisanter Brief

Lana Beck

und der tote Chefarzt

Ein Unterhaltungskrimi

von

Talia Moritz

Impressum

Lana Beck und der tote Chefarzt

2. Band der Reihe “Lana Beck” (1. Überarbeitete Version)

Texte: © Copyright by Talia Moritz Titelbild: © Copyright by Zhengtao Tang auf unsplash.com

Verfasser/Herausgeber zu erreichen über (ladungsfähige Anschrift): Munich Boutique Advisory, Ennemoserstraße 11, 81927 München

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigungen, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Mache niemanden zu deiner Priorität,

für den du nur eine Option bist.

Maya Angelou

Hinweis:

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und Ereignissen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1 – Rückkehr

Sonntag, 7. Oktober 2017 – nachmittags

Freudig drehe ich den Schlüssel im Schloss. Meine Wohnung empfängt mich sonnendurchflutet. Das ist schön und gibt mir ein warmes Gefühl des Willkommenseins, auch wenn es zu meinem Bedauern deutlich zeigt, wie staubig es in den letzten zehn Tagen geworden ist. Staubteilchen flirren durch die Luft und verteilen sich im Raum. Egal. Ich werfe meinen Koffer und den Rucksack aufs Bett. Home, sweet home.

Ich reiße neugierig die Balkontür auf. Meine Pflanzen haben mittels des Flaschentricks – eine gefüllte Wasserflasche mit Deckel, in den kleine Löcher gebohrt wurden, verkehrt herum in den Topf stecken – und der Notfallversorgung durch Raffael, meinen jungen, gutaussehenden Nachbarn, hervorragend überlebt. Eigentlich sehen sie sogar besser aus als vorher, was nicht unbedingt für meinen grünen Daumen spricht. Wahrscheinlich hat Raffael mit ihnen gesprochen oder sie sogar gedüngt, auf jeden Fall merkt man ihnen den Herbst noch nicht an.

Es ist so warm, dass ich beschließe, Koffer Koffer sein zu lassen und erst einmal einen Willkommensdrink mit mir allein auf dem Balkon zu nehmen. Der Alltagswahnsinn hat mich ab morgen wieder, heute ist noch Urlaub. Der Master of Desaster, mein Lieblingsweinglas, steht schon bereit und ich gönne mir ein Glas von dem eiskalten, leichten Riesling aus meinem Kühlschrank. Ich will mich ja nicht betrinken, ich will einfach nur genießen.

Entspannt lehne ich mich an die warme Hauswand und lege die Füße auf den zweiten Stuhl. Die Post liegt auf dem Mosaiktischchen, aber ich habe keine Lust, sie anzusehen. Nach einer Weile blättere ich sie doch durch – Rechnungen, Werbung und drei Postkarten. Ist das jetzt wieder in? Eine von meinen Eltern, die zum Segeln nach Kroatien gefahren sind, eine von Hannah, meiner Freundin aus Erding, die mich ganz herzlich aus Südfrankreich von einer Reise mit einer Freundin grüßt, und eine von Reiter, meinem Lieblings-Kollegen und Partner beim LKA, der in Dänemark war. Wenn die Schulferienzeit vorbei ist, sind auf einmal alle Singles und Leute ohne Kinder gleichzeitig unterwegs. So wie ich.

Ich hatte gerade eine wunderbare Zeit in einem Club auf Djerba. Ganz entspannt mit netten Menschen bei wunderbarem Wetter und bestem Essen einfach nur Urlaub machen, das musste nach dem ganzen Stress dringend sein. Seit langer Zeit war ich sogar wieder reiten, am Strand entlang und ins Hinterland, über Stock und Stein, zusammen mit drei weiteren tapferen Reitersleuten, von denen es einer, Alex, ein geschiedener Familienvater aus Sachsen, sehr gut konnte und der andere, Aufreiß-Sönke aus Köln, so lala bis gar nicht. Die flotte Sabine, die zweite Frau in unserer Runde, konnte fantastisch reiten. Sie hält eine Beteiligung an dem Reitstall. Wild und leidenschaftlich mit wehendem Lockenhaar ritt sie voran oder hinterher, aber auf jeden Fall immer in unserer Nähe, während sie erzählte und lauthals lachte. Hinter uns Tahir, ihr tunesischer Geschäftspartner, aufmerksam aufpassend, dass uns nichts passiert und wir Spaß haben. Das war sehr schön.

Als ich noch einen Schluck nehmen will, muss ich feststellen, dass mein Glas schon wieder leer ist. Ich stehe auf, um mir einen kleinen Nachschlag zu holen. In diesem Moment öffnet sich nebenan die Balkontür und ein fremder, glatzköpfiger Mann tritt heraus. Ich erschrecke fürchterlich.

Wo ist mein allerliebster Lieblingsnachbar, wo ist mein hübscher Raffael mit dem halblangen gelockten Blondhaar?

Der Fremde dreht sich zu mir um, grinst über das ganze Gesicht und sagt:

„Lana, du bist wieder da. Wie schön. Und gleich ein Glas Wein in der Hand – das lässt du dir nicht nehmen, gell?“

Ich bin so verblüfft, dass mir wohl der Mund vor Staunen offen stehenbleibt. Der Mann vor mir hat entfernte Ähnlichkeit mit Raffael. Die Figur und die Boxershorts, die kenne ich. Aber wo sind seine Haare? Der Typ vor mir ist kahl. Komplett. Kein einziges Härchen auf seinem zugegebenermaßen perfekt geformten Schädel.

Ich glaube, ich mache keinen besonders intelligenten Gesichtsausdruck, denn der Fremde, oder vielleicht doch Raffael, fängt schallend zu lachen an.

„Lana, Süße, geh rein, hol dir noch einen Wein und sei so lieb und bring dem armen Studenten next door auch einen mit, okay? Und ja, ich bin‘s, dein alter Freund Raffael, nur ohne Haare.“

Automatisch setze ich mich in Bewegung. Alte Muster, wie in diesem Fall die iranische Gastfreundschaft väterlicherseits, brechen sich Bahn und lassen mich sofort loslaufen, um den Wunsch zu erfüllen. Doch halt, stopp, das ist nicht mein Gast, das ist Raffael, mein alter Kumpel, mein Nachbar, der eine fulminante Veränderung seines Aussehens vollzogen hat.

Ich drehe mich noch einmal um.

„Raffael, bist du das? What the fuck ist passiert? Wo sind deine Haare hin?”, frage ich ernsthaft entrüstet.

Er lacht herzhaft.

„Tja, neue Rolle im Volkstheater. Cool, oder?“

Ich runzele die Stirn.

„Cool – ich weiß nicht. Jetzt kommt ja der Winter, ist das nicht fürchterlich kalt? Geht es dir gut damit?“

Raffael stutzt einen Moment. Dann lächelt er vorsichtig.

„Ach weißt du, die Verwandlung gehört für uns Schauspieler dazu, insofern mache ich mir da keine Gedanken. Aber es ist schon ungewohnt und fühlt sich merkwürdig nackt an, das muss ich zugeben.“

Ich beuge mich über das Balkongeländer zu ihm hinüber. Unsere Balkone sind nur Zentimeter voneinander entfernt.

„Darf ich mal anfassen?“, frage ich mit vorsichtigem Blick in sein Gesicht.

Er lächelt.

„Aber du doch immer, Lanalein. Tu dir keinen Zwang an.“

Sanft streiche ich über seine kahle Kopfhaut, die sich etwas stachelig anfühlt.

„Mensch, da musst du dich aber rasieren, das kommt schon mit Macht nach.“

Er ist mir ganz nahe und er riecht so gut, so vertraut, so raffaelesk. Außerdem schaut er mir tief in die Augen, der Drecks-Schauspieler, und nähert sich meinem Mund immer mehr. Ich gebe ihm einen kleinen Klaps auf den Kopf, küsse ihn auf die Stirn und sage:

„Na, dann hole ich uns Wein. Ich will alles wissen.“

Leicht errötet lasse ich ihn zurück. In der Wohnung habe ich das dringende Bedürfnis, einen Stopp vor dem Spiegel einzulegen, um mein Aussehen zu überprüfen.

Was war das denn gerade? Hätte ich es nicht besser gewusst, könnte man glauben, Raffael hätte mich angemacht. Meine schwarzen Haare sind wie immer zerzaust und nur locker zum Pferdeschwanz gebunden, meine Wangen sind gerötet und ich habe einen fetten Pickel am Kinn, der partout noch nicht bereit ist, sich ausdrücken zu lassen. Trotzdem, alles in allem kann ich mich sehen lassen – meine Haut ist sonnengeküsst, meine braunen Augen mit dem dichten schwarzen Wimpernkranz und den kräftigen Augenbrauen strahlen grün gesprenkelt und meine ausgeprägten B-Brüste werden perfekt durch mein buntes T-Shirt betont.

Hallo, was denke ich mir dabei nur? Bin ich so ausgehungert, dass ich mich Raffael an die muskulöse Brust werfen möchte?

Ich muss mich zusammenreißen. Immerhin bin ich immer noch in Trauer wegen Kilian, meinem Ex-Freund bzw. meiner Ex-Liebe, von dem ich seit unserem letzten dramatischen Telefonat im August nichts mehr gehört habe. Eine Ansichtskarte aus dem Urlaub hätte er mir schon schreiben können. Wobei, war er überhaupt im Urlaub? Ich glaube, er hatte nichts geplant, denn in seiner Anwaltskanzlei ist Urlaub nur ein unverbindlicher Vorschlag, der in der Regel aufgrund wichtiger Verhandlungen oder Terminabgaben nicht stattfindet. Selbst Hannah, meine beste Freundin und Kilians Schwester, hat sich standhaft geweigert, mir etwas über ihn zu erzählen.

Ich nehme ein weiteres Glas für Raffael aus dem Regal und schenke uns ein. Einen ganz kurzen Moment überfällt mich die Trauer wegen Kilian, dann reiße ich mich zusammen. Das ist kein Mann wert.

Raffael sitzt draußen und zupft auf seiner Gitarre. Er hat einen coolen Hut aufgesetzt, der ihm ausgezeichnet steht. Es ist bereits 17 Uhr und die Tage werden immer kürzer. Man muss die Gelegenheit nutzen, solange es noch hell und warm ist. Er legt die Gitarre zur Seite, nimmt das Glas in Empfang und mustert mich genau.

„Du schaust gut aus. Nach den Ereignissen vor deinem Urlaub sahst du echt fertig aus und ich habe mir ernsthaft Sorgen gemacht. Aber ich glaube, du hast das Schlimmste überstanden, oder?“

Ich lächele etwas schief.

„Danke. Ja, ich glaube, ich habe mich gut erholt. Ich weiß nicht so recht, ob man so etwas jemals richtig verdaut, aber ich gebe mir Mühe.“

Er schaut mich voller Mitgefühl an.

„Sag mal, soll ich nicht rüberkommen? Dann muss ich nicht so schreien.“

Ich muss grinsen. Unsere Balkone sind so nahe beieinander, dass das keinen großen Unterschied macht. Aber why not.

„Klar, komm rüber. Ich mach‘ dir die Tür auf.“

Er lacht. „Nicht nötig.“

Schon steigt er von seinem Balkon auf meinen über. Betont langsam quetscht er sich an mir vorbei auf den anderen zierlichen Stuhl neben dem Mosaiktischchen. Mein Balkon ist winzig, vielleicht drei m². Zwischenrein umarmt er mich.

„Hallo, liebste Nachbarin. Ich hab dich vermisst.“

Mein Herz klopft laut. Was ist hier los? Ist Raffael doch an mir interessiert? Ich fühle mich etwas verwirrt. Betont cool setzt er sich auf den Stuhl und legt die Füße auf die Balkonbrüstung.

„So“, sagt er zufrieden, „jetzt erzähl. Wie vielen Männern hast du im Club den Kopf verdreht?“

Empört grunzend schüttele ich mit dem Kopf.

„Hey, was denkst du denn von mir? Ich war im Club um mich zu entspannen und Sport zu machen und nicht, um jemanden aufzureißen. Außerdem bin ich halbe Iranerin, die würde sowas nie tun.“

Natürlich ist das Unsinn. Ich bin durch und durch deutsch erzogen. Ich trinke, habe früher geraucht und mein Vater hat nie etwas gesagt, wenn ich Freunde nach Hause mitgebracht habe. Außer dem exotischen Aussehen verbindet mich nichts mit dem Iran. Raffael schaut mich zweifelnd an.

„Das mag ja schon sein, dass das deine Intention war, aber in der Realität ist das dann doch immer ganz anders. Los komm schon, Lana, ich kenne dich mittlerweile ganz gut.“

Ich lache laut auf. Er hat dummerweise recht.

„Stimmt schon. Aber Aufreiß-Sönke aus Kölle war nicht so ganz meine Kragenweite. Und Poser-Tom aus Hamburg war mir zu, naja, zu posig. Segel-Wolf aus Berlin allerding wäre eine Sünde wert gewesen, das muss ich zugeben. Wir hatten ziemlich viel Spaß und er hat mich öfter auf dem Katamaran mitgenommen. Stell dir vor, da gab es sogar Delfine, die einfach so eine Weile mit uns mitgeschwommen sind. Traumhaft. Und die Strandparty war auch super. Ich wusste gar nicht, was für Gruppentänze es mittlerweile bei der Jugend so gibt, voll krass. Hat aber Spaß gemacht, das anzuschauen. Und das Essen – fantastisch, sag ich dir. Es gab jeden Tag einen Gourmetteller, der wahnsinnig gut geschmeckt hat. Ich muss gefühlt 100 kg zugenommen haben, denn ich habe mittags im Strandrestaurant immer recht viel gegessen und leider auch getrunken. Wir saßen oft bis zu drei Stunden beim Mittagessen und haben mehrere Flaschen Wein und Thibarine, so heißt der ortsübliche Schnaps zum ‚Desinfizieren‘, vernichtet.“

Ich patsche mir auf meine kleine Wampe.

„Und abends im Dance-Club war es auch oft so lustig, dass es schon hell wurde, wenn wir nach so fünf oder sechs lokalen Gin Tonics auf unser Zimmer getorkelt sind, alleine natürlich. Meine Güte, das hört sich an, als hätte ich eine Sauftour veranstaltet, so war es aber nicht. Ich war quasi nie richtig betrunken oder so, einfach nur gut gelaunt.“

Raffael grunzt gutmütig und ich fahre fort.

„Ach ja, da waren zwei Mädels, die ab und zu aufgetreten sind und wunderschön Gitarre gespielt und gesungen haben. Die haben dann nach dem Konzert noch ein spontanes Sit-In am Strand veranstaltet. Das war wirklich alles wunderschön. Und sicher hat Segel-Wolf versucht, bei mir zu landen. Doch ich war dann doch zu super kritisch diesmal, glaub ich.“

Ich seufze und lächle leicht wehmütig nach diesem enthusiastischen Redeschwall. Zur Wahrheit gehört auch, dass ich alle immer mit Kilian verglichen habe und keiner mithalten konnte.

Raffael tätschelt meine Hand, dann nimmt er sie in seine und hält sie einfach fest.

„Lana, was ist eigentlich mit dem großen Anwaltstypen mit dem komischen Namen passiert? Hat der sich nochmal gemeldet? Ihr wart doch so verliebt, oder?“

Mir schießen doch tatsächlich schon wieder die Tränen in die Augen. Das gibt’s doch nicht. Wir waren nicht lange zusammen, es gibt also keinen vernünftigen Grund, immer noch traurig darüber zu sein. War ja nur ein One-Night-Stand, wenn man ehrlich ist. Aber einer mit Potenzial, irgendwie.

Ich mache mich von ihm los und stehe schnell auf, damit er nicht merkt, was mit mir los ist.

„Papperlapapp. Verliebt. So ein Unsinn. Ich hole besser noch Nachschub“, sage ich betont munter. „Was meinst du, sollen wir uns eine Pizza bestellen?“

Es ist Sonntagabend und ich habe nichts zuhause.

Raffael steht nun auch auf und streckt sich.

„Nein, keine Pizza. Ich koche uns was Schönes. Komm doch in einer halben Stunde zu mir rüber, okay?“

Er klettert wieder zurück auf seinen Balkon und verschwindet geschäftig in seiner Wohnung.

Ich packe meinen Koffer aus und mache Wäschehäufchen, räume meine Schuhe weg und die Kosmetika wieder ins Bad. Dann sinke ich auf mein Bett und denke über meine persönliche Situation nach. Was tue ich, wenn Raffael mir Avancen macht? Soll ich Kilian noch einmal kontaktieren – schließlich war der Grund für unser Zerwürfnis ein Missverständnis? Irgendwie sollte man noch einmal miteinander reden, finde ich.

Es donnert an der Wand hinter mir und ich zucke zusammen. Das Essen ist fertig.

Wir verbringen einen lustigen Abend, unterhalten uns angeregt und trinken das eine oder andere Glas Wein, das ich zu unserem spontanen Abendessen beigesteuert habe. Raffael hat ein wunderbares Steinpilz-Risotto gezaubert und ich muss gestehen, dass ich von seinen Kochkünsten begeistert bin. Allerdings passe ich auf, dass ich nicht zu viel trinke, denn wenn ich das mache, lande ich mit ihm im Bett, das steht fest. Und das wäre fatal, schließlich will ich keine Probleme mit den Nachbarn.

Um 23 Uhr gähne ich laut und stehe auf, um mich zu verabschieden. Ich murmele etwas von Zeitunterschied und gerade erst zurückgekommen, aber Raffael unterbricht mich.

„Lana, Tunesien hat einen marginalen Zeitunterschied von einer Stunde und die Flugzeit ist auch sehr kurz, also keine Ausreden, bitte, nicht bei mir. Es tut mir leid, wenn du das Gefühl hattest, dass ich dich anmache, aber ich habe mich einfach nur gefreut dich zu sehen, nichts sonst. In Ordnung? Chill mal deine Base.“

Ich muss lachen. Das habe ich eine ganze Weile nicht mehr gehört.

„Okay, ich war vielleicht heute etwas sehr empfindlich, entschuldige bitte. Du bist und bleibst mein Lieblingsnachbar.“

Damit stehe ich auf, beuge mich zu ihm hinunter und küsse ihn leicht auf die Wange.

Er grinst lausbübisch und wirft mir einen schmachtenden Blick zu, den er offensichtlich nicht ernst meint.

„Sollen wir nicht doch mal …?“

Ich küsse ihn auf seinen neuen, kahlen Schädel und tätschele ihm die Schulter wie einem kranken Gaul.

„Verschwende deine Attraktivität nicht an mich, mein Lieber. Es wäre schade drum.“

Ich gehe, ohne mich umzudrehen.

Es wird Zeit, dass ich ins Bett komme, wer weiß, was mich morgen erwartet.

Kapitel 2 – Erster Arbeitstag

Montag, 8. Oktober 2017 – vormittags

Sanftes Wellenrauschen weckt mich. Doch halt, was ist das denn? Seit wann gibt es am Meer so viele Vögel? Ausgiebig strecke und recke ich mich, denn ich habe gut geschlafen. Nur das mit den Vögeln ist irgendwie komisch.

Mit einem Schlag bin ich hellwach – wie spät ist es? Ich schieße in die Höhe. 8:59 Uhr – oh je. Keine Chance mehr, pünktlich zum LKA zu kommen. Erster Arbeitstag nach dem Urlaub und ich bin gleich zu spät. Entrüstet schaue ich auf mein Handy, warum es mich nicht geweckt hat. Ich habe wohl vergessen,den Alarm zu aktivieren.

Ich springe schnell ins Bad und mache mich fertig. Eine ausgiebige Dusche muss bis morgen warten. Immerhin schaffe ich trotz der Hektik einen halbwegs ordentlichen Lidstrich, denn meine schwarz umrandeten Augen sind so eine Art Markenzeichen, genauso wie die beiden dünnen Haarreifen, mit denen ich mein dickes, schweres, iranisches Haar bändige.

Ein schneller Blick auf den Balkon bestätigt die Wettervorhersage. Es hat abgekühlt, leichte Nebelschwaden ziehen durch die Häuserschluchten Neuhausens. Kein Wetter für Flip Flops, soviel steht fest. Und für meine High-Heels ist es mir zu feucht, dafür waren sie zu teuer. Also entscheide ich mich für meine Lederjeans, Springerstiefel mit Plateau, eine wunderbare Erfindung für kleine Leute, mein altes NYPD-Sweatshirt und die speckige Lederjacke. Ich schaue eher punkig als offiziell kommissarig aus, fürchte ich, aber darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen.

Mit wehenden Fahnen laufe ich in unsere Abteilung im Kommissariat ein, ein fröhliches „Guten Morgen, mein liebes Reiterlein, wie habe ich dich vermisst“ auf den Lippen, doch mein Elan wird abrupt gebremst.

Kein Mensch da? Gähnende Leere? Was ist denn los?

Einsam und verlassen sitzt Magda Havleczka, die Sekretärin unseres obersten Bosses Dr. Achenbach, mit ihrer roten Mähne an ihrem Schreibtisch, wie ein Leuchtturm in der Nacht, und ist offensichtlich total vertieft in das, was sie tut, sonst hätte sie mich bestimmt schon zu sich gerufen. Ich eile auf sie zu und baue mich vor ihrem Schreibtisch auf.

„Einen wunderschönen guten Morgen, Frau Havleczka, wo sind denn alle hin?“

Sie schaut auf und es dauert einen Moment, bis sie mich erkennt und wieder weiß, wo sie ist.

„Mei, Frau Beck, jetzt haben Sie mich aber ganz schön erschreckt. Ich glaub, die sind alle zu einem Fall in Bad Reichling. In der dortigen Rehaklinik ist der Chefarzt tot aufgefunden worden.“

Ich bin verwirrt.

„Naja, tot aufgefunden, da muss doch nicht das LKA gleich anrücken oder wie?“

„Nun, wissen‘S, ich habe keine Ahnung. Ich glaube aber, dass die Auffinde-Situation nahelegt, dass er nicht von selbst verstorben ist. Außerdem gab es wohl noch einen zweiten Toten, einen Patienten der Klinik. Vielleicht fahren‘S Ihrem Kollegen mal hinterher. Er hat noch versucht, auf Sie zu warten, aber ist dann doch schon aufgebrochen. Sie sind auch nicht ans Telefon gegangen“, wirft sie noch vorwurfsvoll hinterher.

Super Start, Beck. Handywecker nicht nur nicht gestellt, sondern Handy auch lautlos gestellt – ganze Arbeit. Positiv betrachtet könnte man sagen, ich habe mich eindeutig erholt und kaum mehr an die Arbeit gedacht. Zu Magda Havleczka sage ich, während ich mein Handy checke und Google Maps aufrufe:

„Danke Frau Havleczka, dann weiß ich Bescheid. Welche Rehaklinik ist es denn – da gibt es jede Menge, wenn ich das richtig sehe.“

Sie guckt schnell im Computer nach.

„Ich glaub, das ist die Rhehaklinik am Ende vom Ort, wenn man rechts hochfährt.“

Ich winke ab.

„Ist okay, das finde ich. Ich habe ja Navi im Dienstwagen.“

Ich versuche, Reiter anzurufen. Er geht nicht dran und ich lege wieder auf. Er ist sicher beschäftigt und kann deshalb meinen Anruf nicht beantworten.

Fünf Minuten später klingelt mein Handy.

„Na Beck, oide Wurschthaut, hamma mal wieder verschlafen?“, begrüßt er mich so richtig Reiter-like, so dass ich nicht weiß, ob ich ihn schimpfen oder lachen soll.

„Mensch, Reiter, ich freue mich auch von dir zu hören. Wo bist du denn? Was ist los?“, frage ich, ohne auf seine Begrüßung einzugehen.

„Tja, nun, was soll ich sagen – wärst du pünktlich gewesen, hätten wir dich sehr gerne mitgenommen, vor allem ich. Schließlich musste ich zehn Tage auf meinen Partner verzichten.“

Ich grinse.

„Du warst aber doch auch im Urlaub, zumindest hast du mir eine Karte geschrieben. Wie war es in Dänemark?“

Er lacht gequält auf.

„Frag mich das jetzt nicht, wir haben hier alle Hände voll zu tun. Wann bist du da?“

Ich schaue auf mein Navi.

„Schätze in vierzig Minuten.“

„Dann sei so gut und ruf mich kurz bevor du ankommst an, dann treffen wir uns an der Schranke vor dem Parkplatz.“

„Kann ich nicht einfach vorfahren? Warum Parkplatz?“

„Ich muss mit dir in Ruhe reden, deshalb.“

„Alles klar, dann rufe ich dich an, sobald ich noch fünf Minuten auf der Uhr habe.“

Wir verabschieden uns und ich fahre nach Bad Reichling, um mich konspirativ mit Reiter auf dem Parkplatz der Klinik zu treffen.

Er steht schon an der Schranke, hält einen Chip vor einen Sensor und ich fahre durch, sobald sich die Schranke hebt. Er kommt hinter mir her geschlendert.

Gut schaut er aus in der hellen Jeans, dem hellblauen Jeanshemd und der Lederjacke. Ich glaube er hat etwas abgenommen. Außerdem ist er leicht gebräunt, was mich erstaunt, denn ich habe ein eher kühles Bild von Dänemark, in dem man nicht braun wird und in dem nie die Sonne scheint. Da habe ich wohl ein ziemliches Vorurteil.

Ich steige aus und wir umarmen uns herzlich. Er beugt sich zu mir runter und küsst mich auf den Scheitel.

„Beck, gut dich zu sehen. Schaust erholt aus. Und dermaßen wuzelbraun. Geht’s dir gut?“, sagt er trocken und schaut mich prüfend an.

„Alles in Ordnung, Reiter, alles gut. Ich bin fit und bereit. Sorry wegen heute Morgen, aber ich habe den Wecker gestellt, nur leider nicht eingeschaltet und mein Handy war noch lautlos, deshalb habe ich deinen Anruf nicht mitbekommen. Voll der Urlaubsmodus noch drin. Was ist denn los?“

„Also, um sechs Uhr morgens hat die Empfangsdame hier – und das sage ich bewusst, denn das ist nicht einfach nur eine Rezeptionistin, sondern eine veritable Rezeptionsdame – den Chefarzt der Rheumatologie, Herrn Prof. Dr. Werner Brinkmann – bevor du lachst, er heißt wirklich so – tot mit dem Kopf im Aquarium hängend gefunden. Laut Bernie, unserem lädierten Gerichtsmediziner, der gestern eindeutig zu tief ins Glas geschaut hat“, er lacht dreckig und wirft dazwischen ein: „Du solltest mal sehen, wie der ausschaut.“ Er schmunzelt noch einen Moment, dann fährt er fort. „Also der tote Chefarzt ist wahrscheinlich ertrunken. Er hat einige Hämatome und Abwehrverletzungen, die darauf schließen lassen, dass ihn jemand mit Gewalt unter Wasser gedrückt hat. Die Spurensicherung ist vor Ort. Aber jetzt wird es ganz wild – direkt hinter der Leiche im Aquarium auf dem Weg nach draußen auf die Terrasse liegt noch eine Leiche, wohl ein Patient der Klinik, der bekannt dafür war, dass er nachts öfter im Haus herumstreifte, weil er nicht schlafen konnte. Dieser Mann, Ottokar Pfingstheimer aus Cottbus, liegt nun dort auf dem Teppich und ist ohne ersichtlichen Grund tot. Kann eine natürliche Todesursache sein, kann aber auch sonst was sein, sehr verwirrend. Da müssen wir abwarten, was Bernie rausfindet, wenn er ihn auf dem Tisch hat.“

Ich muss lachen.

„O Mann, diese Szenerie will ich unbedingt sehen, das hört sich ja wild an. Wer ertränkt denn einen anderen in einem Aquarium? Gibt es noch weitere Opfer dort zu beklagen, also ich meine – haben die Fische das überlebt?“

Reiter schaut mich an, als hätte ich den Verstand verloren.

„Beck, also wirklich, du stellst manchmal schon merkwürdige Fragen. Merkste selber, oder?“, grummelt er.

Ich tätschele ihm den Arm.

„Jetzt komm schon, Spaß muss sein. Dann auf zum Tatort, oder?“

Er windet sich etwas.

„Also Beck, es ist so – wir haben uns überlegt, dass es sehr hilfreich sein könnte, jemanden undercover vor Ort zu haben. Da sie dich noch nicht gesehen haben und du heute mal wieder überhaupt nicht nach Polizei aussiehst“, dabei mustert er mich missbilligend von oben bis unten „können wir dich wunderbar da einschleusen. Christine ist auch schon gekommen und hat deinen Koffer dabei, außerdem haben wir alles mit dem Belegungsbüro geklärt. Ein befreundeter Arzt hat dich dort als dringenden Fall angemeldet – Burnout und Rheuma. Dann bist du in der richtigen Abteilung und kannst versuchen herausfinden, was da passiert ist. Okay?“

Ich bin etwas entrüstet.

„Ja sag amal, spinnst du komplett? Was soll denn das? Ich bin gerade erst zurückgekommen und soll schon wieder einwandern in den Rehaknast? Das könnt ihr nicht mit mir machen. Gibt es niemanden anderen? Bitte“, verlege ich mich aufs Betteln, denn Reiter schaut aus, als gäbe es da kein Entrinnen. Er schüttelt zu meinem großen Bedauern bedächtig den Kopf.

„Lana, stell dich nicht so an, das wird schon. Wir brauchen dich. Find was raus und du kannst wieder heim.“

„Drecksack“, ist alles, was mir dazu einfällt.

Christine, eine blonde Kommissaranwärterin, groß, langbeinig und kurzhaarig, also das komplette Gegenteil von mir, steigt aus einem Auto und kommt auf uns zu. Lächelnd drückt sie mir einen Koffer in die Hand.

„Hi Lana, welcome back. Toll, dass du das machst. Wenn einer etwas rausfinden kann, dann du, davon bin ich felsenfest überzeugt.“

Ich gestehe, dass mir das schmeichelt und ich deshalb die ganze Sache nicht mehr ganz so tragisch sehe.

„Wo kommen denn die Sachen her?“, frage ich misstrauisch.

„Ich hatte ein kleines Budget von Oberkommissar Reiter und das habe ich bei H&M auf den Kopf gehauen. Unterwäsche und Sportklamotten, mehr brauchst du hier ja eh nicht. Außerdem Zahnbürste und ein bisschen Schminkzeug vom Drogeriemarkt.“

„Okay“, winke ich ab. „Dann geht schon vor, ich komme gleich nach.“

Ich warte, bis sie außer Sicht sind, dann schließe ich mein Auto ab und gehe langsam mit meinem Köfferchen auf die Klinik zu. Ich war noch nie in einer Rehaklinik, keine Ahnung, was die da mit einem machen.

Ist bestimmt schrecklich.

Kapitel 3 – Undercover

Montag, 8. Oktober 2017 – Rest des Tages

Vor dem Eingangsbereich wuselt es von Beamten, die ich alle kenne und die mich brav ignorieren. Reiter hat gute Arbeit geleistet, jeder hier weiß, dass ich undercover unterwegs bin. Lediglich Bernie verplappert sich in seinem Diridari, indem er ein lautes „Ja geh weida, Lana, bist a mal wieda da?“ von sich gibt und sofort verstummt, weil ihm klar wird, dass er beinahe meine Deckung hätte auffliegen lassen.

„Mei, entschuldigen’S, gnädige Frau, ich hab Sie mit jemand anderem verwechselt.“

Er verbeugt sich höflich vor mir und ich muss mich sehr zusammenreißen, um nicht laut aufzulachen. Generös winke ich ab, zwinkere ihm dabei aber heimlich zu.

„Kein Problem, wirklich. So etwas kann passieren.“

Die anderen werfen Bernie böse Blicke zu, ich denke, der hat sich gerade einen ordentlichen Einlauf verdient.

Munter trete ich an die Rezeption.

„Grüß Gott, mein Name ist Edna Gürcan. Prof. Manderley hat mich angemeldet.“

Ich bete ich mein Sprüchlein herunter, so wie Reiter und Christine mich vorhin noch gebrieft haben, bevor sie gegangen sind. Die elegante Dame an der Rezeption im Dirndl und mit gepflegt onduliertem, blondem Haar begrüßt mich sehr freundlich. Ich würde sie auch nicht als Rezeptionistin bezeichnen, jetzt weiß ich, was Reiter vorhin meinte. Sie händigt mir sehr freundlich einen Zimmerschlüssel aus und erklärt mir anhand eines Übersichtsplans, wo sich alles befindet. Ich schnappe mir meinen neuen Koffer voller Sachen, die ich noch nie gesehen habe, und mache mich auf den Weg.

Ich soll mich in einem Glasgang bei der Schwester melden. Erst laufe ich an der Abzweigung vorbei, aber dann stehe ich vor der Tür und klopfe. Von drinnen dringt lautstarke Radiomusik an mein Ohr, die Damen hier haben wohl Spaß bei der Arbeit. Eine kleine blonde Schwester, die sich als Schwester Andrea vorstellt, begrüßt mich auf Türkisch, ich kann nur hoffen, dass das alles ist, was sie kann. Was für eine blöde Idee, mich hier als Türkin laufen zu lassen, vor allem, weil ich die Sprache nicht beherrsche.

Ich lächele sie entschuldigend an und sage:

„Wissen Sie, ich bin hier aufgewachsen und spreche eigentlich lieber Deutsch.“

Sie stockt, dann grinst sie schelmisch.

„Kein Problem, das war eh alles, was ich konnte. Dann kommen Sie bitte mit, ich bringe sie aufs Zimmer, das ist schon fertig.“

Ich folge ihr den Flur entlang und dann einige Treppenstufen hinauf. Sie fragt, ob ich trotz meines Rheumas Treppen steigen könne und ich bejahe. Das Zimmer ist riesig mit einem kleinen Balkon, leider zur Anlieferungszone gelegen. Das wird laut, das sehe ich jetzt schon. Ich hoffe, dass ich nicht länger als ein paar Tage bleiben muss. Die Leute, die hier drei oder vier Wochen ausharren müssen, tun mir leid.

Die Schwester bittet mich, um elf Uhr zum Messen und Wiegen sowie zur Blutabnahme zu kommen. Wenn ich meine Tarnung nicht aufgeben möchte, dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als zu diesem Termin zu gehen.

Ich werde also vermessen, gewogen und gepikst, um Blut abzugeben. Dann soll ich sofort zur Ärztin zum Aufnahmegespräch. Ich lasse in erster Linie sie reden und halte mich bedeckt. Sie verschreibt mir verschiedene Gymnastikstunden, Moorbäder, Physiotherapie, Schwimmen und MTT, also medizinische Trainingstherapie. Außerdem schlägt sie vor, dass ich mit der hauseigenen Psychologin spreche und beim Stressvermeidungsseminar mitmache. Ich füge mich und bin heilfroh, als ich den Raum wieder verlassen kann.

Zurück in meinem Zimmer ziehe ich den hellgrauen Anzug, den Christine für mich besorgt hat, an, eine Kreuzung aus Jogginganzug/Yogaoutfit und Schlafanzug. Die Hose hat einen bequemen Tunnelzug und Gott sei Dank ausgestellte Beine. Wenn man klein ist, sind diese Gummibändchen an den Jogginghosen eine absolute Katastrophe, da unvorteilhafte „Beinverkürzer“. Dazu hat sie mir ein hellgraues Hoodie eingepackt, das ich gar nicht so schlecht finde. So ausgestattet unterscheide ich mich kaum von den anderen Gestalten, die hier so herumlaufen. Christine steigt in meiner Achtung, denn sie hat mir Plateauturnschuhe in der richtigen Größe und Farbe mit eingepackt.

Ich mache mich auf den Weg und nähere mich dabei dem Tatort. Alles ist mit rot-weißem Band abgesperrt. Unauffällig mische ich mich unter die Neugierigen.

„Was ist denn hier los?“, frage ich einen korpulenten Mann in seinen Ende 50ern ganz unschuldig. „Ich bin gerade erst angekommen.“

Er dreht sich erst unwillig um, um mir eine unwirsche Antwort zu geben, aber bei meinem Anblick überlegt er es sich dann doch anders. Er charmiert plötzlich.

„Ach, das ist ja schön, dann herzlich willkommen. Ein bisschen junges Blut tut uns hier gut, sehr schön, sehr schön“, dabei mustert er ungeniert meine Brüste.

Was für ein alter Chauvi. Selbst nichts bieten, aber glauben, die scharfen Schnecken dieser Welt warten nur auf ihn und seine Bierwampe. Nicht, dass ich mich als scharfe Schnecke bezeichnen würde, aber der ist nun wirklich nicht meine Kragenweite, das sollte ihm eigentlich klar sein. Gut, wenn es der Sache dient.

„Ach wie nett“, sage ich „da habe ich wohl schon gleich den Richtigen hier erwischt. Sie wissen doch bestimmt …“

Er unterbricht mich. „Wir duzen uns hier, ich bin der Manfred.“

Ich seufze innerlich.

„Ach so, okay, also ich bin die La, ähm Edna. Also Manfred, du weißt doch bestimmt, was hier vorgefallen ist, oder?“

Er schaut geschmeichelt und legt sofort los.

„Ja, also, das da im Aquarium ist der Chefarzt, Prof. Dr. Brinkmann. Bitte nicht lachen, aber er heißt wirklich so. Ein totales Arschloch, so unter uns Pfarrerskindern. Ich habe vier Bandscheibenvorfälle und immer Schmerzen und er ist der Ansicht, ich sollte abnehmen und Sport treiben und wäre durchaus in der Lage, Vollzeit zu arbeiten. So ein Spackn. Der hat doch keine Ahnung. Aber das ist hier ja auch eine reine Klinik der Rentenversicherungsanstalt. Solange du da nicht mit den Beinen voraus aus der Einrichtung getragen wirst, bist du arbeitsfähig. Es gibt hier Leute, ich sag‘s dir, die sind mehr tot als lebendig und der Arsch verweigert ihnen eine entsprechende Beurteilung. Götter in Weiß – so ist es wirklich, zumindest hier. Die entscheiden über Rente oder Hartz IV, ist doch scheiße.“

„Ich verstehe. Glaubst du, das war ein Patient, der den Chefarzt ertränkt hat? Das war ja wohl kein Selbstmord, oder?“

Manfred schüttelt bedächtig seinen großen Kopf mit den vielen wild abstehenden, grauen Haaren.

„Hmm, nein, Selbstmord würde ich ausschließen. Du guckst wohl auch gerne Tatort und Krimis, was? Ich nämlich auch. Selbstmord schließe ich aus - wegen der Art und Weise. Das Aquarium war sein Ein und Alles, darum hat er sich hingebungsvoll gekümmert. Er hat immer die Fische gefüttert, bevor er nach Hause gegangen ist, und würde nie zulassen, dass seine Lieblinge einen Schock bekommen.“

Ich grinse ihn an.

„Vielleicht wollte er etwas zu genau nachschauen, wie es seinen Lieblingen geht und ist dabei aus Versehen ertrunken?“

Er lacht auf und auch die Umstehenden schmunzeln. Hier scheint keiner diesen Tod zu bedauern, das ist interessant.

„Seid ihr von der Polizei schon befragt worden?“, will ich dann wissen.

Alle nicken unisono mit dem Kopf.

„Wir haben ausgemacht, dass wir nichts sagen“, raunt mir eine ältere Dame mit kurzem Haar und einem Walle-Gewand zu. „Wir wollen keinen Ärger. Wir sind hier schließlich zur Erholung, da passt so ein merkwürdiger Mord nicht ins Bild. Und von uns hat sowieso niemand etwas gesehen, also, was könnten wir schon aussagen?“

Sie blickt beifallsheischend in die Runde und alle nicken ihr zustimmend zu.

Ich muss an mich halten, dass ich nicht sauer werde. So richtig gut bin ich auch nicht im Verstellen.

„Aber das ist doch eure Pflicht, den Polizisten bei der Aufklärung zu helfen, meint ihr nicht?“, versuche ich es. Ich ernte jedoch lediglich Abwinken und Schulterzucken.

Mein Reiterlein hat mal wieder den richtigen Riecher bewiesen. Undercover ist hier die einzige Methode.

„Und was ist mit dem anderen Toten?“, komme ich zurück auf den Fall. „War das der Mörder?“, stelle ich mich dumm.

Manfred lacht wieder.

„Nie im Leben war das der Mörder. Das war Ottokar Pfingstheimer, der hatte ein schwaches Herz und war sehr krank. Morbus Bechterew, Rheuma und herzkrank, da fällt man schon mal tot um. Wahrscheinlich hat er sich zu Tode erschrocken, das wäre wahrscheinlicher als dass er jemandem etwas tut.“

Die ältere gepflegte Dame mischt sich noch einmal ein.

„Aber Manfred, der Chefarzt hat ihm letzte Woche eröffnet, dass er nichts für ihn tun könne. Er solle einfach weiterarbeiten, seine Medikamente nehmen und darauf warten, dass es ihn erwischt. Er war stinksauer darüber, ich habe im Wartebereich vor dem Moorbad und anschließend beim Rapskneten mit ihm darüber gesprochen.“

Manfred wackelt mit dem Kopf.

„Trotzdem, Linda, das glaube ich nicht. Der mag sich geärgert haben, und wenn er mal sauer war, dann ordentlich, und vielleicht hat er sich ein bisschen zu oft gestritten, aber dass er ihn dann gleich im Aquarium versenkt, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.“

„Ich würde nichts ausschließen.“, sagt Linda abschließend und wendet sich wieder dem Geschehen zu.

Der Chefarzt wurde mittlerweile aus seiner misslichen Lage befreit und auch Ottokar Pfingstheimer ordnungsgemäß von Bernie freigegeben und verladen. Die Spurensicherung in ihren weißen Anzügen wuselt noch überall herum und nimmt Fingerabdrücke und sichert Spuren. Ich sehe Reiter, der verzweifelt versucht, aus den widerspenstigen Patienten etwas herauszubekommen. Ich mache ihm heimlich ein Zeichen und deute auf das Café, das gleich im Flur zum Speisesaal liegt und noch geöffnet hat.

Freundlich verabschiede ich mich von Manfred und Linda:

„Dann bis später, ich muss erst eine Runde laufen und mir alles anschauen.“

Manfred begibt sich sofort in die Startlöcher und wirft sich in seine zugegebenermaßen breite Brust.

„Soll ich dir alles zeigen, Edna? Mach ich gerne.“

Ich werfe gespielt die Hände in die Höhe.

„Um Gottes willen, ich möchte ja nicht, dass du dieses Schauspiel hier wegen mir verpasst. Guck nur weiter zu, wir sehen uns bestimmt noch.“

Er ist doch tatsächlich etwas erleichtert, der olle Manfred. So weit ist es dann mit dem „Unbedingt-haben-wollen“ auch nicht her.

Ich stelle mich am Kaffeeautomaten an und suche nach Kleingeld. Reiter kommt und ich frage ihn, ob er wechseln kann. Es sind kaum Leute im Café, fast alle sind am Tatort. Lediglich ein munteres Damen-Trio, keine unter 100 kg, strickt mit einem schönen Latte Macchiato und einem ordentlichen Stück Torte auf dem Tisch vor sich hin. Die Ladies sind so mit sich selbst beschäftigt, dass sie uns gar nicht richtig bemerken. Trotzdem flüstere ich Reiter zu:

„Versuch es nicht bei den Insassen dieser Anstalt, die sind renitent und haben sich abgesprochen, nichts zu sagen. Befragt ihr das Personal, die Patienten übernehme ich.“

„Danke für den Tipp. Kommst du klar? Ich denke, morgen kannst du wieder raus“, raunt er mir zu.

„Ich glaube schon. Wird schon nicht so schlimm werden“, werfe ich hinterher, obwohl mir klar ist, dass sich meine schlimmsten Erwartungen aller Voraussicht nach bestätigen werden. Aber wir müssen einen Fall aufklären und da spielen persönliche Befindlichkeiten keine Rolle.

Ich nicke Reiter zu und mache mit meinem Kaffeebecher einen kleinen Orientierungs-Rundgang. Wer immer das Nummerierungs-System in dieser Einrichtung implementiert hat, konnte entweder nicht zählen oder war hochgradig betrunken, vielleicht sogar beides. Ich irre umher in den unzähligen unterirdischen Gängen. Rapskneten, Heublumenbad, Moorbad und Moorpackung, Physiotherapie, Gruppenraum, MTT und Ärzteflur – alles unterschiedlich bezeichnet und ohne erkennbares System. Nach 600 kommt plötzlich 300 - wie soll man sich da zurechtfinden? Irgendwann habe ich mich so verfranst, dass ich nicht mehr aus dem Labyrinth finde. Auf meine Frage werde ich ausgesprochen freundlich in die richtige Richtung geleitet. Überhaupt sind die Leute hier sehr nett untereinander. Jeder grüßt und kaum einer ist schlecht gelaunt.

Bis ich zurück bin, hat sich der ganze Spuk rund um den Tatort aufgelöst. Die Polizei hat ihre Sachen zusammengepackt, selbst die Spurensicherung ist abgezogen. Der Tatort bleibt dennoch großräumig abgesperrt, was für Unmut bei den Insassen sorgt.

Von „Dann muss man ja immer über das Café rausgehen“ über „Das ist ja blöd“ bis zu „Wie bescheuert, das war bestimmt alles nur ein Unfall“ ist alles zu hören. Ich höre zu und schweige.

Zum Essen geht es in zwei Tranchen. Ich bin der zweiten Runde zugeordnet und darf erst um 12:30 Uhr den Speisesaal betreten. Vorher zu erscheinen ist streng verboten. Es gibt ein Buffet mit Selbstbedienung. Leider wird einem kein fester Platz zugewiesen, sondern man muss sich jedes Mal einen freien suchen. Müsste ich länger hierbleiben, fände ich das richtig blöd. Aber in meiner Situation ist es perfekt und eröffnet mir ungeahnte Möglichkeiten. Ich will mich gerade zu Linda und zwei weiteren Frauen mittleren Alters setzen, als Manfred von hinten angeschossen kommt.

„Sorry, Ladies, ich muss euch die Edna entführen.“

„Wie entführen?“, entfährt es mir spontan.

Als alle lachen erkenne ich erst den doppelten Sinn seiner Worte. Meine Güte, das Erlebnis mit dem durchgeknallten Damian Noll, der mich eine Weile in seiner Gewalt hatte, wirkt interessanterweise immer noch nach. Ich stimme mit einem gekünstelten Lachen in die allgemeine Heiterkeit ein.

„Manfred, das ist ja nett von dir, aber eigentlich wollte ich mich wirklich gerne zu Linda und ihren Damen setzen. Über meine Sitzungen musst du dir also keine Sorgen machen, das bekomme ich selbst hin.“

Er grölt schon wieder, weil er mich so extrem witzig findet. Ich rolle innerlich mit den Augen. Alle anderen amüsieren sich auch bestens, ich bin mir nicht ganz sicher, ob wegen meines Spruches oder wegen der Abfuhr für Manfred. Ich will es mir mit ihm nicht verderben, er könnte noch wichtig für mich sein, deshalb sage ich auch:

„Weißt du was, ich komme mit dem Nachtisch zu euch, okay?“

Dabei deute ich auf den Tisch hinten in der Ecke, an dem etliche mehr oder weniger attraktive Herren mit erwartungsvollem Gesichtsausdruck sitzen und zu uns herüberstarren, was mich messerscharf schließen lässt, dass Manfred dort sitzt. Damit gibt er sich zufrieden und eilt davon, um sich den Teller extrem voll zu laden. Der sollte doch mit seiner Figur bestimmt Reduktionskost essen, das wäre die andere Schlange … egal, das geht mich nichts an.

An meinem Tisch sitzen also Linda sowie Dagmar und Anna. Dagmar hat eine Autoimmunerkrankung und Anna Fibromyalgie. Das ist hier wohl so üblich, dass man sich mit seinen Krankheiten vorstellt bzw. sofort gefragt wird, was einem fehlt. Das Gute ist, wenn man Fragen stellt, plappern die Leute wie wild los und erzählen, so dass man sich selbst gut bedeckt halten kann. Ohne, dass ich nachfragen muss, fangen die Ladies am Tisch von dem Mord am Chefarzt an.

„Ich komme ja immer noch nicht darüber hinweg, dass jemand Dr. Brinkmann getötet hat“, sagt Dagmar und schaut betroffen. Sie ist ca. 45 Jahre alt und attraktiv. Groß, schlank mit vollen langen, blonden Haaren und faszinierend blauen Augen.

Anna lacht freudlos auf.

„Naja, also da würden mir ja allein drei Leute einfallen, die ihn umgebracht haben könnten.“

Anna ist höchstens dreißig, klein, hager und dunkelhaarig. Sie hat einen ganz besonders schönen, asymmetrischen Kurzhaarschnitt, der ihr sehr gut steht. Sie blitzt uns mit dunklen Augen an.

„Wieso, was meinst du?“, frage ich.

„Naja, er war ein Arschloch, sorry für den Ausdruck, und hat sich viele Feinde gemacht. Allein wie viele Patienten er schlecht behandelt und auch schlecht bewertet hat. Da hat er so viele Hoffnungen zerstört. Dann die Araber von nebenan, da habe ich, als ich vom Spaziergehen kam, gehört, wie er sich mit so einem Obermufti angelegt hat, weil die da immer rumstehen und rauchen und so laut sind und auch, weil sie ständig mit ihren Riesenkarren die kleine Straße zuparken. Über die Strafzettel können die nur lachen. Und last but not least – irgendeine seiner Frauen bzw. Geliebten. Vielleicht hat seine Frau sich gedacht, jetzt reicht‘s und hat ihn in seinem geliebten Aquarium ertränkt. Oder er wollte sich nicht trennen und deshalb hat ihn Schwester Beate ersäuft wie einen räudigen Kater. Who the hell knows.“

Ich höre ganz genau zu. Wunderbar, die Gute liefert mir hier jede Menge Stoff, das muss ich Reiter unbedingt alles weitergeben. Mein kurzer Aufenthalt hat sich bereits gelohnt.

„Wer ist denn Schwester Beate?“, frage ich neugierig.

Alle drei kichern.

„Die Geliebte vom Chef, Stationsschwester auf Station 6. Die ist heute noch nicht da, sonst hättest du sie sehen müssen.“

Interessant. Wir unterhalten uns eine ganze Weile weiter über den Chefarzt. Hört sich wirklich so an, als sei dieser Mensch ein schwieriger Zeitgenosse gewesen. Ich frage noch einmal nach, wo sich denn die ganzen Araber aufhalten würden und Anna erklärt mir den Weg dorthin. Vorher muss ich allerdings noch an den Tisch von Manfred.

Ich setze mich zu den drei Herren, die alle einen roten Kopf haben – akute Herzinfarkt- bzw. Schlaganfallgefahr, glaube ich. Manfred begrüßt mich jovial und stellt mich Walter und Siegfried vor. Alle haben Bechterew, denn, wie sie mir lang und breit erklären, diese Klinik sei besonders darauf spezialisiert. Walter, ein nur leicht gebeugter, relativ kleiner und drahtiger Typ, erzählt von seinen Erfahrungen mit Humira, einem speziellen Medikament, das er damals schon in der Testphase einnehmen durfte und das ihm hervorragend geholfen habe. Nach einer Weile lenke ich das Gespräch auf unseren Chefarzt und den anderen Patienten.

„Die Ladies am Tisch eben meinten, der Chefarzt hätte jede Menge Feinde gehabt. Glaubt ihr, das stimmt?“

Siegfried prustet belustigt los.

„Feinde hatte der mehr als Sand am Meer. Er hat halt klipp und klar seine Meinung gesagt. Ich kam immer gut mit ihm aus. Wenn er Bandscheibenvorfällen keine Empfehlung für Erwerbsminderungsrente ausstellen möchte, dann ist das sein gutes Recht, denn Bandscheibenvorfälle bekommt man meist wieder in den Griff, wenn man Sport treibt, abnimmt und sich bewegt. Wenn die in aller Ruhe vor der Glotze sitzen, Bier trinken und rauchen wollen, dann will er das nicht unterstützen und das finde ich gut.“

Alle außer Manfred nicken zustimmend. Der kneift die Augen zusammen und presst die Lippen aufeinander, um nichts zu sagen, denn er ist bekanntermaßen gänzlich anderer Ansicht. Allerdings sieht er sich einer Übermacht gegenüber und weiß, dass er auf verlorenem Posten steht. Von Einsicht keine Spur.

„Und was ist mit Ottokar Pfingstheimer? Was war der für einer?“

Ich versuche, so unbeteiligt gossipmäßig interessiert zu wirken wie möglich.

Manfred schüttelt mit dem Kopf.

„Ich hatte kaum etwas mit ihm zu tun. Keine Ahnung.“

Walter mischt sich ein.

„Ich kenne Otto schon seit Jahren, er konnte oft vor Schmerzen nicht schlafen und war nachts im Haus unterwegs. Das scheint ihm zum Verhängnis geworden zu sein. Hier wird so viel getratscht, eine von den blöden Weibern hat das Gerücht in die Welt gesetzt, dass Otto den Chefarzt getötet hat und dann von der Anstrengung tot umgefallen ist. So ein Unsinn. Ich weiß nämlich, dass ihm der Chefarzt helfen wollte, bei einer neuen Studie mitzumachen, auf die Otto sehr viele Hoffnungen gesetzt hat. Warum also sollte er den Mann, der ihm das ermöglichen wollte, töten? Das macht keinen Sinn.“

„Du weißt doch nicht, ob ihm der Chefarzt nicht bei ihrem Treffen eröffnet hat, dass es mit seiner Studie nichts wird, und dann ist er ausgerastet. War er denn eher ein friedlicher Typ?“

Ich schaue ihn neugierig an.

Siegfried, der etwas stiller als seine beiden Genossen ist, streicht sich über seinen nur noch spärlich bewachsenen Schädel, lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor der oberamtlichen Kugel, die er so mit sich herumschleppt.

„Nein, der war durch und durch Pazifist. Der konnte niemandem etwas zu leide tun, auch im höchsten Stress nicht. Ich mochte ihn, wir waren befreundet und hatten auch außerhalb der Reha Kontakt. Er hat eine ganz liebe, entzückende Frau, zwei Söhne, die nach ihm kommen, und eine wunderbare Tochter, die er abgöttisch geliebt hat“

Seine Stimme bricht und er erhebt sich abrupt.

„Ich muss los“, sagt er und ist verschwunden. Ich kann noch aus dem Augenwinkel sehen, wie er sich über die Augen wischt.

Walter und Manfred schweigen betroffen.

„Wusstest du das?“ fragt Manfred Walter.

Der schüttelt den Kopf.

„Nein, er hat nie etwas davon erzählt. Normalerweise hat er immer andere Essenszeiten, heute saß er das erste Mal mit uns zusammen“, erklärt er mir.

Ich nicke.

„Vielleicht wollte er nicht allein sein?“

Beide zucken resigniert die Achseln und so heben wir die Runde recht schnell auf.

Ich folge der Erklärung meiner Damen und gehe zur Terrassentür hinaus und durch den Park. Das Gelände ist hübsch gestaltet. Überall stehen Liegen, auf die man sich legen kann und in einem überdachten Unterstand liegen Polster bereit. Es ist relativ grau und trüb, deshalb ist wenig los. Nur zwei Liegen sind belegt, der Rest steht nackt und einsam auf dem Rasen. Hier und da trifft man einen Raucher auf dem Weg zur Raucherecke, die so weit wie möglich entfernt vom Gebäude eingerichtet ist.

Ich gehe weiter und stoße seitlich auf ein Tor, durch das man die Klinik verlassen kann. Und tatsächlich – da stehen einige dunkle Gestalten und reden laut, während sie rauchen. Die kleine Straße, die zwischen der Rehaklinik und dieser anderen Klinik entlangführt, ist eigentlich nur eine Sackgasse, aber sie ist mit Luxusautos jeglicher Art zugeparkt. Ich bin froh, dass ich kein Zimmer hier hinten raus habe, weil die Herren sehr laut und südländisch temperamentvoll sind.

Da ich weiß, dass die oft nur so laut und gefährlich tun, gehe ich auf sie zu, sage artig Grüß Gott und frage, ob sie mir eine Zigarette geben können. Ich rauche zwar nicht mehr, aber um etwas zu erfahren muss man auch mal ein Opfer bringen. Ein Junge von vielleicht sechzehn Jahren mit bandagierter Hand gibt mir eine und ein älterer Typ so um die dreißig zündet sie mir an. Es handelt sich eindeutig um Araber, einer aus der Gruppe trägt auch arabische Tracht, also das weiße Gewand mit gewickeltem Tuch auf dem Kopf.

„Vielen Dank“, sage ich, „spricht einer von euch Deutsch?“

Der traditionell Gekleidete antwortet in reinstem Hochdeutsch.

„Ja, ich. Wieso?“

Ich lächele ihn an. Das schaut schon schneidig aus, diese Glutaugen, der schwarze 3-Tage-Bart und dann die fremdländische Kleidung.

„Habt ihr mitbekommen, was da drüben passiert ist?“, frage ich ihn.

Er schüttelt mit dem Kopf und fragt seine Kumpanen in dieser gutturalen Sprache, die immer ein bisschen wie schimpfen klingt. Nachdem alle mit dem Kopfschütteln fertig sind, schaut er mich neugierig an:

„Nein, was ist denn passiert? Wir haben zwar Polizei und so gesehen, aber keine Ahnung.“

Einer aus der Gruppe sagt etwas auf Arabisch und alle brechen in lautes Gelächter aus. Da ich mittlerweile etwas Arabisch kann, weil ich auf Djerba auch einen Sprachkurs gemacht habe, habe ich ihn verstanden. Er sagte in etwa: „Hoffentlich hat es den alten Arsch erwischt“. Ich lasse mir natürlich nicht anmerken, dass ich ihn verstehen kann und schaue meinen Gesprächspartner fragend an. Der zuckt mit den Schultern und ist offensichtlich nicht gewillt, zu übersetzen. Kann ich verstehen.

„Der Chefarzt von drüben ist ermordet worden. Ich habe gehört, er hat euch das Leben schwer gemacht?“, frage ich vorsichtig.

Der Mann in dem langen weißen Gewand schaut undurchdringlich und dreht sich sehr beherrscht mit einem fragenden Blick zu seinen Kumpanen um. Die zucken mit den Schultern, dann sagt der von vorhin wieder auf Arabisch: „Ha, na gut, den sind wir los“, während der andere ihn zurechtweist und sagt, dass er die Klappe halten soll. Übersetzt sagt er in etwa: „Verschließe endlich deinen Mund, Rayhan, du Hurensohn, sonst reiße ich dir die Zunge heraus.“

Dann schaut er mich freundlich an und runzelt betroffen die Stirn.

„Nun, es ist sehr bedauerlich, was Prof. Brinkmann passiert ist, auch wenn wir öfter Diskussionen mit ihm hatten und er uns nicht wohlgesonnen war. Er störte sich an unserer Lebensfreude und unserem Reichtum. Wissen Sie, die Deutschen können sehr engstirnig und neidisch sein. Er hat uns beleidigt, aber wir haben ihm verziehen, eben weil er ein dummer Deutscher war.“

Idiot, denke ich, schaust so gut aus und redest solchen Unsinn. Oder hat er vielleicht ein bisschen recht?

„Ist es nicht so, dass man sich nicht beleidigen lässt als arabischer Mann? Zumindest ist das meine Erfahrung. Arabische Männer sind stolz und lassen sich nichts sagen.“

Er zögert.

„Ja, das stimmt, zumindest in unserer Heimat. Aber auch wir können uns anderen Gegebenheiten anpassen. Vielleicht nicht alle von uns, aber die meisten. Wir kommen ja hierher, weil wir medizinische Hilfe benötigen und die Kliniken in Deutschland hervorragend sind. Deshalb würden wir – falls Ihre Frage darauf abzielt – niemals einen deutschen Arzt töten. Niemals.“

Das sagt er mit so viel ernstem Nachdruck, dass ich fast gewillt bin ihm zu glauben. Ich nicke ihm zu und verabschiede mich höflich.

Den Nachmittag und Abend verbringe ich mit der verdeckten Befragung unterschiedlicher Personen vom Patienten bis zum Arzt. Der Tenor ist immer derselbe: Der Chefarzt war nicht sehr beliebt und so richtig wundern tut sich keiner, dass er tot ist. Zu bedauern scheint es allerdings auch niemand. So ein Abgang ist wirklich traurig.

Das Abendessen, das ich in langweiliger Gesellschaft verbringen muss, denn der Tisch von Linda und ihren Freundinnen ist bereits voll und zu Manfred zieht es mich nicht, ist sehr Brot-lastig. Da sollte man meinen, heutzutage würden die Regeln der gesunden Ernährung besonders in Reha-Einrichtungen beachtet und dann bekommt man abends Salat, Brot und Aufschnitt. Salat, den man nach modernen Ernährungsrichtlinien höchstens mittags essen sollte, weil er so schwer verdaulich ist. Wie aus der Zeit gefallen gibt es hier die typisch bayerische Brotzeit – Graubrot, verschiedene Wurst- und Käsesorten, Wurstsalat mit Mayonnaise. Keine Suppe, kein Gemüse oder ähnliches. Kommt mir als Niederbayerin natürlich entgegen, aber so grundsätzlich muss man sich schon wundern.

Ich seile mich nach einer Tasse Tee ab, weil mich das Essen irgendwie nicht anmacht und ich auch keine Lust mehr auf Ermitteln habe, indem ich mich mit den Leuten hier unterhalte. Deshalb gehe ich in die Kneipe, die gegenüber der Klinik liegt, um dort eine Suppe zu essen und mir ein Glas Wein zu gönnen. Ich bin ja schließlich kein richtiger Patient und wenn ich ehrlich bin, brauche ich jetzt Alkohol, mein erster Arbeitstag war einfach zu deprimierend. Ich hätte nicht erwartet, sofort in eine verdeckte Ermittlung zu geraten. Um 20 Uhr liege ich vor dem Fernseher und schaue eine Liebesschmonzette. Was für ein Tag.

Kapitel 4 – Überraschende Begegnung

Dienstag, 9. Oktober 2017 – morgens

Ich schlafe schlecht in dieser Nacht. Die Matratze ist viel zu hart für mich, ich vermute, die wird für all die übergewichtigen Patienten verwendet, die es hier in rauen Mengen gibt. Deutschland ist zu fett, eindeutig.

Um fünf Uhr geht es wie erwartet los mit LKWs, die an meinem Fenster vorbeifahren. Es geht zu wie in einer Großmarkthalle. Wie man sich da erholen soll, weiß ich auch nicht, wahrscheinlich schlafen die Patienten während des Tages. Es würde schon Sinn ergeben, dass einer nach so viel Schlafentzug irgendjemanden ermordet.

Okay, ich bin schlecht gelaunt, ich hasse es, wenn ich nicht schlafen kann.

Hätte ich früh aufstehen oder wenig schlafen wollen, wäre ich in meinem normalen Polizisten-Leben geblieben, verdammt. Da musste man sich immer wieder mal die eine oder andere Nacht beim Observieren oder im Schichtdienst um die Ohren hauen, aber beim LKA muss man das eigentlich nicht.

Ich dusche in dem eingebauten Plastikbad, das man auch von Motels kennt. Danach geht es mir schon etwas besser. Man hat mir gesagt, um die Ecke im Flur befände sich eine Art Teeküche für alle, in die mache ich mich auf, um mir wenigstens einen Tee zu kochen. Alles da außer Tassen. Super. Die hat mir Christine nicht eingepackt.

Grummelig mache ich mich auf den Weg nach unten, denn, wenn ich mich recht erinnere, gab es in der Cafeteria Kaffee am Automaten. Noch ist niemand unterwegs, ich vermute, das Leben beginnt hier so ab sechs Uhr und jetzt ist es erst 5:30 Uhr. Natürlich habe ich kein Kleingeld, mit dem ich mir Kaffee holen könnte, sondern nur zehn Euro. Also gehe ich wieder in den Flur und schaue mich suchend um. Gleich um die Ecke steht tatsächlich ein Geldwechselautomat. Meine Rettung. Begeistert stecke ich den Schein in den Schlitz, doch das Gerät funktioniert nicht. Kein Kaffee.

Was für ein beschissener Laden. Ich bin stinksauer.

Mir fällt siedend heiß ein, dass die Ärztin mir gesagt hatte, dass ich meinen Plan aus dem Postfach holen müsse. Also erledige ich das jetzt. Oh je, ich hätte gestern Nachmittag Einweisung beim Rapskneten und Aquagymnastik gehabt, das habe ich gleich schon verpasst. Heute 6:45 Uhr Massage? Bitte? 7:30 Uhr Frühstück, 8:30 Gymnastikgruppe, 9 Uhr Stressbewältigung, 10:30 Uhr MTT Einweisung, 11:30 Uhr Heublumenbad, 12:30 Uhr Mittagessen – echt jetzt? In dem Stil geht es nachmittags weiter. Soll ich all dies ernsthaft heute absolvieren? Ganz schön heftig. Andererseits lernt man dabei jede Menge Leute kennen und kann sie ein bisschen aushorchen. Vielleicht erfahre ich noch etwas Interessantes über den Chefarzt oder seinen Mit-Toten Ottokar.

Immerhin öffnet sich die Terrassentür von selbst und ist nicht verschlossen. Allerdings steht groß auf einem Schild, dass man nicht mehr reinkommt, wenn man rausgeht. Offizielle Zeiten sind von 7 Uhr bis 22 Uhr, da ist die Tür offen.

Die machen mich fertig.

Ratlos stehe ich an der Rezeption und schaue mich um. Ein groß gewachsener Mann geht in Richtung Kaffeemaschine und ich sause ihm hinterher. Vielleicht hat der ja zwei Euro für mich oder kann wechseln. Irgendwie kommt der mir vage bekannt vor, habe ich den gestern schon gesehen? Aber so groß war doch gestern keiner? Egal, ich spreche ihn von hinten an.

„Entschuldigung? Hast Du vielleicht zwei Euro oder kannst mir zehn wechseln?“

Der Mann zuckt zusammen, dreht sich um und erstarrt, genau wie ich.

---ENDE DER LESEPROBE---