Lana Beck und der tote Wandergeselle - Talia Moritz - E-Book

Lana Beck und der tote Wandergeselle E-Book

Talia Moritz

0,0
6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In "Lana Beck und der tote Wandergeselle" begibt sich die erfahrene LKA-Kommissarin Lana Beck nach einem schmerzlichen Schicksalsschlag in die geheimnisvolle Welt der Wandergesellen. Seite an Seite mit ihrem jungen Kollegen Marlon Brandner steht sie vor einem rätselhaften Mordfall: Ein junger Wandergeselle wurde im idyllischen Frauenkircherl von Erding hinterrücks erschlagen. Während Lana versucht, sich in den mysteriösen Traditionen der Walz zurechtzufinden, stößt sie auf eine Vielzahl von Ungereimtheiten – von undurchsichtigen WandergesellInnen über ein unkonventionelles Bauprojekt nahe Erding bis hin zur Familie eines AfD-Politikers. Zwischen den Ermittlungen und ihrem chaotischen Familienleben muss Lana die Fäden entwirren, um die Wahrheit hinter dem gewaltsamen Tod des Wandergesellen zu enthüllen. Und die lange geplante Hochzeitsfeier von Lana und Jonas erfährt eine kurzfristige Änderung, als Lanas Schwiegereltern eine Entscheidung von ihrem Sohn verlangen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 – Böses Erwachen

Kapitel 2 – Neuer Fall

Kapitel 3 – Pfarrer und Bürgermeister

Kapitel 4 – Treffen im Frauenkircherl

Kapitel 5 – Trauernde Eltern

Kapitel 6 – Brautkleid

Kapitel 7 – Der Hanseat

Kapitel 8 – Ausflug nach Adlhausen

Kapitel 9 – Fehlendes Alibi

Kapitel 10 – Aufschlussreiche Befragung

Kapitel 11 – Erste Zeugenhinweise

Kapitel 12 – Schlimmer Verdacht

Kapitel 13 – Verrückte Zeiten

Kapitel 14 – Junge Liebe

Kapitel 15 – Ausflug in den Bayerischen Wald

Kapitel 16 – Neues Familienmitglied

Kapitel 17 – Alter Bekannter

Kapitel 18 – Pubertier-Befragung

Kapitel 19 – Findet Timo

Kapitel 20 – Erdinger Idylle

Kapitel 21 – Spontaner Glücksfall

Kapitel 22 – Schnitzeljagd am Chiemsee

Kapitel 23 – Aus Mangel an Beweisen?

Kapitel 24 – Die Schlinge zieht sich zu

Kapitel 25 – Endgültiger Abschied

Kapitel 26 – Überraschende Trennung

Kapitel 27 – Verräterische Blutspuren

Kapitel 28 – Finale Lösung

Danksagung

Lana Beck

und der tote Wandergeselle

Ein Unterhaltungskrimi

von

Talia Moritz

Impressum

Lana Beck und der tote Wandergeselle

8. Band der Reihe “Lana Beck”

Texte: © Copyright by Talia Moritz Titelbild: © Copyright by iMattSmart on unsplash.com

Verfasser/Herausgeber zu erreichen über (ladungsfähige Anschrift): Munich Boutique Advisory, Ennemoserstr. 11, 81927 München

E-Mail: [email protected]

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigungen, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Kein Weg ist lang mit einem Freund an der Seite

Japanische Weisheit

Hinweis:

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und tatsächlichen Ereignissen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1 – Böses Erwachen

Freitag, 15. Oktober 2021 – morgens

Ich stehe im Bad und bürste ausgiebig meine schwarzen Haare, die endlich wieder bis zur Brust reichen. Als ich vor drei Jahren angeschossen im Koma lag, wurden sie mir radikal abgeschnitten. Interessanterweise beschäftigte mich diese Tatsache nach meiner Rückkehr ins Leben mehr, als dass ich mich kaum bewegen konnte und alles neu erlernen musste. Dazu muss man wissen: Meine Haare sind mir heilig. Ich kann mich nur schwer damit abfinden, dass es so lange dauert, bis sie wieder die vorherige Hüftlänge erreicht haben.

Okay, ich gebe es zu, Geduld war noch nie eine meiner hervorstechendsten Eigenschaften. Und meine Probleme sind, objektiv betrachtet, lächerlich und oberflächlich. Ich sollte dankbar sein, dass ich überlebt habe und es mir wieder so gut geht. Schließlich bin ich glücklich verheiratet und habe einen zauberhaften Sohn.

Wie ein kleines Mädchen strecke ich meinem Spiegelbild die Zunge raus und denke:

„Du hast echt Probleme, Lana.“

Die LEDs am Spiegel leuchten mein müdes, abgespanntes Gesicht aus. Vielleicht sollte ich doch etwas kürzertreten? So eine Schwangerschaft ist immerhin eine heftige Umstellung für den Körper. Wie fahl meine ansonsten so schön gebräunte Haut aussieht. Durch meine iranischen Gene habe ich immer einen sanft getönten Teint und so blass kenne ich mich gar nicht. Ich kneife in meine Wangen, um mehr Farbe hineinzubringen, denn ich muss gleich zur Arbeit.

Während ich meine Morgenroutine absolviere, denke ich darüber nach, was an diesem Tag ansteht. Ich sollte dringend zwei Berichte schreiben, die bereits angemahnt wurden. Marlon Brandner, mein junger Kollege und aktueller Partner, hat mehrere Befragungen angesetzt und wir müssen dafür bis in den Münchner Süden fahren. Wir haben im Moment viel zu tun.

Außerdem bin ich mit meinem ehemaligen Partner und guten Freund Tobi Reiter zum Mittagessen verabredet. Darauf freue ich mich schon sehr, denn wir haben uns eine ganze Weile nicht mehr allein gesehen. Ich vermisse ihn und würde mir wünschen, dass er nicht mehr unterrichtet und wieder in den Dienst zurückkehrt, um mit mir zusammenzuarbeiten. Wir waren immer ein hervorragendes Team. Aber seit er meine beste Freundin Hannah geheiratet und ein Kind mit ihr bekommen hat, ist er sehr auf seine Sicherheit bedacht. Er will sich nicht mehr von irgendwelchen Idioten bedrohen, beschimpfen und gefährden lassen. Die um sich greifende Respektlosigkeit in allen Schichten der Bevölkerung macht uns das Leben als Staatsbedienstete immer schwerer.

Plötzlich fährt mir ein schmerzhafter Stich in den Unterleib. Es fühlt sich an, als würde jemand ein Messer hineinrammen. Ich zucke erschrocken zusammen, denn nun setzen auch noch Bauchkrämpfe ein. Beunruhigt starre ich auf mein Minibäuchlein, das sich in den letzten Wochen gebildet hat. Ich bin in der 8. Woche schwanger, das kann alles sein. Aber was, wenn …

Oh Gott, oh Gott, oh Gott, bitte nicht.

Ich fange an zu beten. In Notsituationen brechen sich die neun Jahre in der katholischen Klosterschule in Niederbayern Bahn, sonst bin ich nicht sehr gläubig oder religiös.

Als die Krämpfe schlimmer werden, setze ich mich vorsichtshalber auf die Toilette. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich nicht besser hinlegen sollte. Während ich noch damit hadere, was ich tun soll, passiert es. Das Geräusch, als der Zellklumpen, der einmal ein Geschwisterkind für Kian werden sollte, in die Schüssel plumpst, wird mich wohl für immer verfolgen.

Es ist ein fürchterliches Geräusch.

Ohrenbetäubend. Grässlich. Zukunftsvernichtend.

Ich drehe mich um und schaue vorsichtig hin. Wir haben eine Toilettenschüssel, in der nicht alles sofort verschwindet. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es im Moment anders nicht besser fände. Will ich das wirklich sehen?

Erschrocken betätige ich die Spülung und schlage panisch den Deckel zu. Dann setze ich mich auf den geschlossenen Sitz.

Was zum Teufel war das? Eine Fehlgeburt?

Das kann doch nicht sein. Nicht mein Kind, unser Kind, Jonas‘ Kind? Ich versuche, Hoffnung zu empfinden, doch etwas in mir ist sicher, dass die Lage hoffnungslos ist.

Jonas! Ich erschrecke. Wie soll ich ihm das nur beibringen? Das schaffe ich nicht. In diesem Moment klopft er auch schon an die Tür.

„Schatz, ich muss los. Kian ist bei Mechthild, lass dir Zeit. Bis heute Abend.“

„Gut. Einen schönen Tag“, krächze ich und bin erschrocken, wie wenig ich mich im Griff habe und wie schrecklich ich klinge. Hoffentlich merkt er nichts. Ich lausche angestrengt, aber er scheint schon weg zu sein.

Verzweifelt lasse ich den Kopf sinken und starre den Holzboden an. Es ist kein echter Fußboden, sondern Laminat, das sich auch für Nassräume eignet. Wirklich schön. Fühlt sich wie Holz an, ist aber keines. Ich fahre vorsichtig mit dem nackten, großen Zeh über die Oberfläche. Leicht rau. Wie merkwürdig, dass mir das in dieser Situation auffällt, aber ich stehe ganz offensichtlich unter Schock.

Was mache ich denn jetzt?

Ich nehme mein Handy vom Waschtisch und rufe bei meiner neuen Frauenärztin an. Mein alter Frauenarzt, Dr. Frankheimer, hat sich inzwischen zur Ruhe gesetzt und sie hat die Praxis samt Personal übernommen. Die nette Sprechstundenhilfe fordert mich auf, umgehend in die Praxis zu kommen, sie würde dafür sorgen, dass ich nicht warten muss.

Ich will nicht. Ich ertrage es nicht, wenn sie mir sagt, dass ich nicht mehr schwanger bin.

Erst war ich alles andere als begeistert über diese plötzliche Schwangerschaft, die für mich zu früh kam, aber dann, als Jonas sich so sehr darüber gefreut hat, habe ich es mir auch gewünscht. Nächste Woche wäre der erste Ultraschalltermin gewesen.

Erstaunlicherweise weine ich nicht. Ich glaube, ich bin zu schockiert, damit habe ich nicht gerechnet. So etwas passiert doch immer nur den anderen.

Wie ferngesteuert ziehe ich die Kleidung vom Vortag an, putze meine Zähne und wasche mein Gesicht, Dinge, die ich zum Teil bereits vor dem Vorfall getan habe. Die Routine hilft mir, mich zu beruhigen.

Dann steige ich nach kurzer Überlegung aufs Rad und fahre ganz langsam und vorsichtig in die Praxis, denn das ist die schnellste und effektivste Methode dorthin zu gelangen, ohne sich lange mit der Parkplatzsuche aufhalten zu müssen.

Unsere Kinderfrau war ziemlich verwundert, als ich ihr erklärt habe, dass ich schnell etwas besorgen müsste und dann wiederkäme, statt wie geplant zur Arbeit zu fahren. Sie hat nur genickt und mir ganz ruhig und unaufgeregt versichert, dass Kian bei ihr in den besten Händen sei und ich mir Zeit lassen solle. Sie wäre so oder so mit meinem Sohn allein gewesen. Keine Nachfragen. Mechthild ist ein wunderbarer Mensch und Glücksfall für unsere kleine Familie. Ich war kurz davor, mich ihr an den Hals zu werfen, konnte mich aber gerade noch bremsen.

Davor habe ich sogar noch daran gedacht, mich bei meinem Kollegen Marlon krankzumelden. Eigentlich wollte ich Magda Havleczka, die Sekretärin von unserem Chef Achenbach, anrufen, aber es ist zu früh und sie noch nicht im Büro. Von Marlon habe ich immerhin die Handynummer.

„Alles okay mit dir, Lana? Du klingst schrecklich. Was ist denn los?“

„Passt schon. Nix Schlimmes. Ich gehe kurz zum Arzt, glaube aber nicht, dass ich heute kommen kann. Sagst du bitte der Havleczka Bescheid? Bis Montag ist bestimmt alles wieder gut.“

Ich glaube mir selbst nicht, hoffe aber, dass ich, egal was passiert, bis Montag wieder mein altes Ich wiederhabe. Schließlich schicke ich Reiter aus dem Wartezimmer eine Nachricht, dass ich unser gemeinsames Mittagessen heute leider absagen muss. Ich nenne keine Gründe. Was soll ich auch sagen?

Frau Dr. Vonderau ist sehr liebevoll. Sie schaut mir nach der Untersuchung offen ins Gesicht.

„Frau Beck, es tut mir sehr leid, aber Sie haben den Embryo verloren. Das passiert häufig in den ersten Schwangerschaftswochen. Oft wissen die Frauen nicht einmal, dass sie schwanger waren. Ich denke, in Ihrem Fall müssen wir auch nichts weiter unternehmen, das regelt sich alles ganz natürlich. Wie geht es Ihnen?“

„Gut,“, sage ich emotionslos und bin erstaunt über mich selbst, „alles in Ordnung. Ich habe schon öfter davon gehört, dass so etwas geschehen kann, aber nicht damit gerechnet, dass es ausgerechnet mir passiert. Es fühlt sich irgendwie“, ich mache eine Pause und ringe um die richtigen Worte, „unwirklich an.“

Sie lächelt warm.

„Sie stehen unter Schock. Gehen Sie nach Hause, reden Sie mit Ihrem Mann und trauern Sie gemeinsam. Sprechen Sie bitte darüber. Das hilft, glauben Sie mir.“

Ich nicke mechanisch und stehe auf. Die hat Nerven.

„Danke, Frau Doktor.“

Daheim erkläre ich Mechthild, dass ich mich hinlegen muss, weil ich Kopfschmerzen habe. Sie nickt verständnisvoll und ich verkrieche mich in meine Höhle unter der Bettdecke. Ich muss das erst einmal mit mir allein ausmachen, bevor ich mit Jonas oder jemand anderem darüber sprechen kann. Ich drücke mir die heiße Wärmflasche auf den Bauch und bin traurig. Erstaunlicherweise fließen noch immer keine Tränen, obwohl ich sonst bei jeder emotionalen Gelegenheit weinen kann.

Ich muss eingeschlafen sein, denn plötzlich patscht mir jemand ins Gesicht. Mein kleiner, 3-jähriger Sohn steht vor meinem Bett und versucht mich wachzubekommen.

„Mama, steh auf, ist Tag und hell. Kian will spielen.“

Ich öffne ein Auge.

„Nein Kian, Mama ist krank. Geh zu Mechthild, bitte.“

Er schaut mich einen Moment erschrocken an.

„Mama ist krank?“

„Ja Kian, Mama ist ganz doll krank.“

Ich kann jetzt nicht pädagogisch sein. Ich will einfach nur meine Ruhe. Mechthild erscheint hinter Kian.

„Oh Lana, das tut mir leid, er ist mir entwischt.“

Sie stockt, als sie mich sieht. Einen Moment mustert sie mich, sieht die Wärmflasche und zählt eins und eins zusammen.

„Oh nein.“

Ich sehe in ihren Augen, dass sie Bescheid weiß, und nicke müde.

„Ich will schlafen.“

Mechthild lenkt Kian ab und nimmt ihn mit sich. Dann schließt sie die Tür zum Schlafzimmer, sehr leise, aber mit Nachdruck.

Irgendwann starre ich an die Decke. Was haben wir uns nicht alles vorgestellt. Sogar über Namen haben wir gestritten. Das zweite Kinderzimmer sollte erst hergerichtet werden, wenn wir wissen, was es wird. Ich wollte eine Tochter, Jonas einen Sohn. Jetzt haben wir nur einen Zellhaufen bekommen, den ich die Toilette hinuntergespült habe.

Ich rolle mich wieder zusammen. Gut, dass wir niemandem außer unseren besten Freunden Hannah und Reiter Bescheid gesagt haben. Wenn man erst einmal einen Abgang erlitten hat, ergibt die Warnung, die ersten Wochen abzuwarten, bis man es allen erzählt, hochgradig Sinn.

Ich zucke erschrocken zusammen.

Bedauerlicherweise habe ich es gerade erst gestern Anton, meinem Kompagnon in der Privatdetektei, die wir letztes Jahr zusammen gegründet haben, erzählt. Er war erleichtert, weil er sich sowieso verändern will, vor allem, seit er eine Freundin hat und ich wieder beim LKA arbeite.

Egal. Was macht das schon.

Das Leben ist eine gigantische Riesenscheiße.

Die Tür öffnet sich leise. Ich habe keine Ahnung, wieviel Zeit verstrichen ist. Jonas schleicht ins Zimmer und blickt besorgt auf mich herab. Ich kneife fest die Augen zusammen. Nein, noch nicht. Ich will es nicht aussprechen, ich will seinen Traum nicht zerstören.

„Lana“, flüstert er, „Lana, sprich mit mir. Was ist los? Ist was mit dem Baby?“

Baby sagt er, Baby. Ich denke an das klumpige, schleimige Etwas in der Toilette. Das war kein Baby. Oder doch?

Ich schlage die Augen auf und schaue ihn traurig an.

„Es gibt kein Baby mehr.“

Keine Ahnung, ob Mechthild ihn vorgewarnt hat, er wirkt auf jeden Fall erstaunlich gefasst. Sanft legt er sich zu mir aufs Bett und nimmt mich in den Arm.

„Alles ist gut, Lana, alles ist gut. Sowas passiert. Wir versuchen es irgendwann nochmal. Es ist nicht schlimm.“

Nun öffnen sich endlich die Schleusen.

„Doch, es ist schlimm.“

Der Schock, die Anspannung, die Enttäuschung – alles bricht aus mir heraus. Jonas hält mich und lässt mich weinen, bis ich mich wieder etwas beruhigt habe. Als ich mich zu ihm umdrehe, sehe ich, dass auch seine Augen nass sind. Ich streiche ihm sanft übers Gesicht.

„Es tut mir so leid, Jonas. Es tut mir so leid.“

Er schüttelt den Kopf.

„Was für ein Unsinn. Du kannst doch nichts dafür.“

„Doch. Vielleicht hätte ich mehr Ruhe geben sollen? Mehr auf mich achten, mich besser ernähren? Nicht mehr arbeiten? Vielleicht habe ich irgendwas falsch gemacht.“

Die Tränen strömen schon wieder. Mein ganzer Körper bebt, so verzweifelt bin ich. Er streicht mir zart eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Vergiss es, Lana. Dafür kann niemand etwas. Die Natur hat es so eingerichtet. Wenn es nicht passt, dann geht es ab. Punkt.“

„Ich kann nicht mal schwanger bleiben“, heule ich verzweifelt auf, denn ich fühle mich wie eine nutzlose Versagerin.

„Ach Schatz, wir haben doch schon einen wunderbaren Sohn. Und wenn es an der Zeit ist, bekommen wir noch ein Kind. Du hast bereits bewiesen, dass du es kannst. Also mach dich nicht selbst fertig.“

Ich lasse seine Worte auf mein System einwirken. Er hat recht. Kian ist wundervoll gelungen, trotz aller widrigen Umstände, warum sollte es also nicht noch einmal funktionieren? Auch wenn Jonas nicht Kians leiblicher Vater ist, so habe ich doch bereits ein gesundes Kind zur Welt gebracht. Also gibt es keinen triftigen Grund zu glauben, dass mir dies nicht noch einmal gelingt. Und ich liege hier herum und heule, während mein kleiner Sohn mich braucht. Doch bevor ich in der Lage bin, wieder zurück zur Tagesordnung zu gehen, will ich mich noch an Jonas kuscheln. Er ist so groß und warm und beruhigend. Es tröstet mich, den Schmerz mit ihm zu teilen, denn auch er hat eine Hoffnung verloren. Seine Brust hebt sich regelmäßig, nur ab und zu seufzt er leise. Ich fühle mich schuldig, weil ich ihm dieses Kind nicht schenken kann. Morgen steht wieder Kian im Mittelpunkt, doch heute habe ich eine Menge Träume die Toilette hinuntergespült, von denen ich mich gemeinsam mit meinem Mann verabschieden muss. Wenn wir das zusammen gut durchstehen, dann können wir alles meistern. Zumindest will ich das glauben. Ich bin erleichtert, dass wir jemanden haben, der uns in dieser schwierigen Situation den Rücken freihält. Wir können sicher sein, dass unser Sohn liebevoll und zuverlässig betreut wird, und dürfen uns einen kurzen Moment ganz unserem Schmerz hingeben.

Eine Weile liegen wir eng umschlungen und ohne Worte auf dem Bett. Ich spüre seine Tränen und kann meine nicht zurückhalten. Doch unsere Trauer ist nicht mehr so laut und heftig, so einsam, so lebenszerstörend, sondern in ihrer Verbundenheit ganz leise und zart, sogar auf eine verwirrende Art schön. Die Ärztin hatte wohl doch recht damit, dass wir gemeinsam trauern sollen.

Jonas steht irgendwann auf und holt uns einen Becher Trost-Eis mit zwei Löffeln.

„Kian?“, frage ich, als er zurückkommt.

„Alles bestens, der hat Spaß mit Mechthild. Sie hat uns bis morgen freigegeben.“

Dann schaut er mir tief in die Augen, während er seinen Löffel mit Himbeereis abschleckt.

„War es schlimm?“

Ich nicke stumm.

„Willst du es mir erzählen?“

Mein Kopf wandert ruckartig hin und her und ich lasse schnell die Haare über meinen entsetzten Gesichtsausdruck fallen.

„Nein, auf gar keinen Fall. Glaub mir, du willst es nicht wissen.“

Er nickt nur und insistiert nicht weiter.

What a man.

Kapitel 2 – Neuer Fall

Dienstag, 7. Juni 2022 – 8 Monate später

Marlon legt den Hörer auf.

„Wir müssen los.“

Ich war gerade dabei, hochkonzentriert einen Bericht über unseren letzten Fall zu schreiben. Deshalb brauche ich einen Moment, bis ich mich von Mord- und Totschlag lösen kann. Ein Mann hatte bei einem Amoklauf seine Frau und zwei seiner drei Kinder erschossen. Unsere Ermittlungen ergaben, dass er über die Coronajahre immer tiefer in Verschwörungskreise geraten war und den wildesten Theorien anhing. Die ganze negative Energie, die auf Facebook und in seiner Social-Media-Blase auf ihn einströmte, trieb ihn schließlich in den Wahnsinn. Er entwickelte Panikattacken und Ängste und glitt in eine Depression. Eigentlich wollte er sich selbst auch töten, wurde dann aber von der Polizei, die von aufmerksamen Nachbarn beim ersten Schuss bereits gerufen worden war, gestoppt. Er konnte mit seinem 2-jährigen Sohn auf dem Arm in den Wald fliehen, verfolgt von den Polizisten. Man hatte uns zur Deeskalation hinzugezogen. Es waren aufregende Stunden, da wir nur knapp verhindern konnten, dass er völlig durchdrehte. Es gelang uns aber auch nicht, ihn zur Aufgabe zu bewegen. Selbst der psychologische Dienst konnte nichts ausrichten. Schließlich blieb uns nichts anderes übrig, als den finalen Rettungsschuss abzugeben. Er zielte mit der Pistole auf den Jungen, der auf dem Boden saß und seinen Teddy fest an seine Brust drückte, und wir konnten nicht sicher sein, dass er nicht plötzlich abdrücken würde. Das verstörte Kind wurde danach dem psychologischen Dienst übergeben. Armer kleiner Kerl.

Neugierig hebe ich den Kopf und mustere meinen Kollegen.

„Lass hören. Was gibt’s?“

„Der Anruf kam gerade von der Marei Müller aus Erding. Sie haben einen toten Wandergesellen in der Kirche gefunden. Gleichzeitig haben sie aber noch eine andere große Ermittlung, die alle Kräfte bindet. Wir sollen unterstützen. Es schaut nach einem Kapitalverbrechen aus. Das Opfer kommt wohl nicht aus Erding, sondern irgendwo aus dem Norden.“

„Ach, die Marei? Die kenn ich, die hat einen alten Schulfreund von mir geheiratet, den Loisl. Ja gut, dann fahren wir halt nach Erding und schauen uns die Sache mal an, oder? Ich habe eh keine Lust mehr auf den Bericht.“

Marlon grinst und springt in die Höhe.

„Sehr gut. Aber ich fahre.“

Ich werfe ihm den Schlüssel zu.

„Ausnahmsweise!“

Auf der Fahrt schweigen wir und hören Musik. Ich vermisse Reiter. Mit ihm war es wesentlich unterhaltsamer.

Nach meiner Fehlgeburt vor acht Monaten mussten wir am nächsten Tag Hannah und Reiter einweihen. Sie waren sehr betroffen. Mein alter Freund und Kollege nahm mich ohne viele Worte einfach nur fest in den Arm. Dann hat er sich mit Jonas mehrere Biere ins Gesicht gestellt, während ich mit meiner besten Freundin zwei Flaschen Prosecco vernichtet habe, obwohl ich das Zeug nicht mehr gut vertrage. Immerhin war ich nicht mehr schwanger, es gab also auch keinen Grund, nicht zu trinken. Manchmal ist Alkohol doch eine Lösung.

Zum Glück hatte sich Mechthild bereit erklärt, auf Kian und Artur, Hannahs und Reiters Sohn, aufzupassen, damit wir in Ruhe über die Sache sprechen konnten. Sie war uns eine große Hilfe in dieser schweren Zeit. Ruhig und gelassen hat sie mir Kian immer dann abgenommen, wenn es mir wieder schlecht ging, weil ich mich an die Fehlgeburt erinnert habe. Mit wissenden Augen hat sie immer nur gesagt:

„Lass es raus, Lana, lass es raus. Irgendwann ist es gut.“

Und sie hatte recht. Irgendwann habe ich mich geschüttelt und am Riemen gerissen. Jetzt geht es wieder.

Ein paar Wochen nach der Fehlgeburt habe ich Jonas gebeten, dass wir mit einem neuen Versuch bis nach der Hochzeit im September dieses Jahres auf Mallorca warten. Dieses Ereignis war so traumatisierend für mich, dass ich Angst vor einer erneuten Schwangerschaft habe. Ich habe mein Urvertrauen in meine Fähigkeiten als Frau verloren. Mit Sicherheit werde ich die Zeit vor einer Geburt als sehr stressig empfinden, denn die Angst, wieder einen Abgang zu erleiden, wird mich ab nun immer begleiten.

Jonas war einverstanden, auch wenn ich glaube, dass es ihm nicht ganz recht war. Ich weiß, dass er so schnell wie möglich Vater werden will und rechne es ihm hoch an, dass er mir zuliebe vorerst darauf verzichtet. Manchmal bin ich immer noch überrascht, dass so ein wundervoller Mann sich für mich entschieden hat.

Ich halte mich selbst für reichlich kompliziert, allein schon wegen meines Jobs, meiner Herkunft, meiner Wurzeln, die unbewusst an mir ziehen. Keine Ahnung, wieviel das iranische Blut in mir ausmacht. Da ist diese latente Sehnsucht, die ich nicht benennen kann. Und dann wieder fühle ich mich als Niederbayerin durch und durch, vor allem, wenn ich eine Leberkässemmel oder ein paar Weißwürste zu fassen bekomme. Ich vermute, das ist nicht immer einfach für einen Mann. Aber Jonas trägt mich auf Händen, trotz alledem, oder vielleicht auch gerade deswegen. Er ist mein bester Freund. Ein leidenschaftlicher Liebhaber. Der perfekte Ersatz-Papa für Kian. Und wir können miteinander lachen, das ist das Wichtigste. Unser gemeinsamer Verlust hat uns einander noch nähergebracht. Deshalb ist mir diese große Hochzeitsfeier mit all unseren Freunden und Verwandten auf Mallorca so wichtig.

Jonas‘ Eltern leben schon seit Jahren in einer großen Finca auf Mallorca. Außerdem besitzen Sie eine Stadtwohnung mit einer riesigen Dachterrasse in Palma, wo Jonas auch seine Galerie hat. Der Blick von da oben ist atemberaubend, die Ausstattung luxuriös. Sie sind reich, deshalb haben sie vorgeschlagen, die Hochzeit auszurichten.

Im ersten Moment war ich nicht so begeistert, aber es ist ihnen gelungen, meine Bedenken zu zerstreuen. Nachdem die Einladungen verschickt waren, haben sie ihren Kurs jedoch geändert. Nun bringen sie sich voll ein, ein bisschen so, als sei das Ganze ihr Event und nicht unsere Hochzeit. Ich finde es übergriffig, aber da sie alles bezahlen, wollen sie natürlich die Kontrolle. Es fällt mir schwer, Tom und Nora Bergmann die Stirn zu bieten, das muss ich ehrlich zugeben. Ich bin so geschwächt. Die Ereignisse der letzten Jahre haben mir zugesetzt, ich habe mich verändert. Ich wünschte, ich hätte noch mehr von meinem alten Ich. Mehr Power. Mehr Durchsetzungskraft. Ich muss mich mehr wehren.

In meine Gedanken platzt Marlon, der mich fragt, ob ich weiß, wo das Frauenkircherl in Erding sei. Ich hatte mal einen Fall ganz in der Nähe, deshalb kenne ich die Stelle direkt in der Stadtmitte am Schrannenplatz ganz gut. Ich lotse ihn dorthin.

Wir halten vor dem Erdinger Weißbräu und bahnen uns mit unseren Ausweisen den Weg durch das weiträumig abgesperrte Areal auf dem zentralen Platz. Da höre ich schon jemanden laut rufen.

„Servus Lana, da herüben, da liegt die Leich.“

Polizeiobermeister Alois Müller, mein Schulfreund Loisl aus Niederbayern, steht an der Tür des Gebäudes mit dem markanten Turm und winkt mir aufgeregt von weitem zu. Ich winke zurück. Marlon schaut irritiert.

„Wer ist das denn?“

„Das ist Polizeiobermeister Alois Müller, der Loisl. Ich habe doch bestimmt schon öfter von ihm erzählt. Der Mann von der Marei Müller, die uns informiert hat.“

Mein Kollege nickt amüsiert und streicht sich die vorwitzige Strähne, die sich immer aus seinem Zopf löst, zurück. Für ihn als Hesse ist der niederbayerische Dialekt von Loisl sicher schwer zu verstehen, aber das Problem hat er in Bayern an jeder Ecke. Je weiter entfernt von der Stadt wir ermitteln, umso heftiger der Dialekt. Im bayerischen Wald oder in der Oberpfalz versteht er vermutlich keinen Ton. Langsam folgt er mir in den Ausstellungsraum der ehemaligen Kirche.

Ein junger Mann liegt kurz nach dem Durchgang auf dem Steinboden. Jemand hat den dunkelgrünen Schlafsack, mit dem er bedeckt war, aufgeklappt, damit man ihn besser sehen kann. Sein Hinterkopf ist eingeschlagen, seine blonden Locken blutverschmiert, überall im Raum finden sich Blutspritzer. Er liegt merkwürdig verkrümmt da, als sei er im Knien oder Bücken niedergeschlagen worden, denn man sieht einen Tuchzipfel unter ihm hervorschauen und es wirkt, als läge er auf etwas.

„Hat der hier übernachtet?“, frage ich an niemand besonderen gerichtet.

Loisl nickt eifrig.

„Ja, hat er. Der Pfarrer und der Bürgermeister erlauben den Wanderburschen imma, hier unterzuschlüpfen, weil die ja anständig san, woast?“

Er bemüht sich, sein Niederbayerisch in Zaum zu halten, was nur so halb gelingt. Es ist immer schwer mit jemandem aus der Heimat nicht in den alten Dialekt zu verfallen, egal, wie lange man von dort bereits fort ist. Da muss ich mich auch immer sehr konzentrieren.

Ich lächle. Der Loisl.

„Fragen die dann auch immer, ob sie sich da hinlegen dürfen?“ Marlon schaut ihn neugierig an.

Er zuckt mit den Schultern.

„Mei, des woas i jetzt ned. Du?“, fragt er seinen Nebenmann, der ziemlich hilflos in der Gegend herumsteht und ratlos mit den Schultern zuckt.

„Also gut“, sage ich, „dann sollten wir auf jeden Fall mit dem Bürgermeister und dem Pfarrer sprechen. Aber vorher noch was anderes – Gerichtsmedizin, Spurensicherung?“

Loisl nickt eifrig.

„Ja freilich, alle scho aufm Weg. Ihr wart‘s diesmal schneller, muas i sagn.“

„Wer hat ihn denn gefunden? Lag der so da, als ihr gekommen seid? Ist das die Auffindesituation?“

Er schüttelt den Kopf.

„Nein, da war der Hamit Ataseven, der wollte seine Ausstellung herrichten und da lag ein Bündel im Vorraum. Er hat gedacht, das sei ein Penner und war ned begeistert. Als der ned reagiert hat, wie er ihn mehrfach laut angsprochen hat, da hat er ihn mit dem Fuß angestupst. Als der sich dann immer noch ned gerührt hat, hat er den Schlafsack hochgehoben. Er ist saumäßig erschrocken, als er die brutal zugerichtete Leich gsehen hat und hat uns gerufen.“

„Wo ist der Ham… wie war das nochmal?“

„Boah Lana, kennst du den Hamit Ataseven ned? Den Meisterschüler vom Rudolf L. Reiter? Künstler?“

Ich zucke mit den Schultern und schaue Marlon an. Der hat auch noch nichts von ihm gehört.

„Egal. Der soll die Auffindesituation wieder herstellen.“

Loisl zieht los und kommt mit einem großen, gebräunten Mann mit langen schwarzen Haaren, die er zu einem Zopf gebunden hat, und einem dichten, schwarzen Mongolenbart wieder. Er trägt eine Mütze in der Hand und wirkt betroffen. Seine Augen wandern nervös über die Szenerie.

„Herr Ataseven“, sagt Marlon, nachdem er uns vorgestellt hat, „würden Sie bitte die Auffindesituation wieder herstellen? Haben Sie etwas berührt? Verändert?“

Er schüttelt den Kopf.

„Nein, habe ich nicht. Ich habe nur den Schlafsack umgeklappt, weil ich sehen wollte, was da los ist. Der lag so über seinem Kopf.“

Er zieht den Daunenschlafsack wie ein Leichentuch über den jungen Mann mit dem eingeschlagenen Schädel. Dann betrachtet er die Szene, zupft hier und dort, schließlich nickt er zufrieden.

„So lag er da.“

Ich mache Bilder mit dem Handy, weil die Spurensicherung noch nicht vor Ort ist. Man könnte wirklich glauben, da schlafe jemand. Erst wenn man es weiß, fallen einem die Blutspritzer und die merkwürdige Haltung auf.

In diesem Moment erscheint das Team und flutet geschäftig den Tatort. Es werden Leuchten aufgebaut, Männer und Frauen in weißen Anzügen und Plastiküberziehern wuseln hin und her. Wir werden fürs erste aus dem Vorraum verwiesen, bis die Kollegen so weit sind.

„Raus mit euch, ich glaub, ich spinn. Ihr versaut’s mir den Tatort“, bellt ein Kollege, den ich noch nie gesehen habe. Wir nehmen Hamit Ataseven mit nach draußen. Dort bedanken wir uns bei ihm.

„Meine Ausstellung?“, fragt er zaghaft.

Ich zucke mit den Schultern.

„Keine Ahnung, leider. Wir melden uns und sagen Bescheid, wenn die Tatortreiniger durch sind und das Frauenkircherl wieder freigegeben ist.“

Er nickt nachdenklich.

„Ich glaube, ich muss das irgendwie verarbeiten. Ich geh malen“, murmelt er und eilt davon.

Wir stehen auf dem Schrannenplatz und warten, dass die Kollegen fertig sind. Loisl zieht los und holt Kaffee, den wir im Stehen trinken.

„Was anderes – habt ihr eine Tatwaffe gefunden?“

Ich schaue meinen alten Schulfreund erwartungsvoll an, doch ernte nur ratloses Kopfschütteln und einen entsprechenden Blick. Schließlich kommt der schlecht gelaunte Mensch von vorhin und erlaubt uns, den Vorraum zu betreten.

Wir haben uns inzwischen mit Gummihandschuhen und Plastiküberziehern für die Schuhe präpariert. Der Vorraum ist durch die Lampen hell erleuchtet. Es handelt sich um einen schmucklosen Raum, in dem lediglich links ein schmaler Tisch an der Wand steht, auf dem vereinzelt Flyer von Veranstaltungen liegen. Die Leiche befindet sich kurz nach dem Durchgang zum Ausstellungsraum, einem hellen, lichtdurchfluteten Raum und vielen Säulen, an die man vermutlich Gemälde hängen kann, links an der Wand.

Gerade ist noch ein junger Mann mit einem Scanner-Gerät unterwegs, um den Tatort samt dem Toten in 3D aufzunehmen, dann nickt er uns ernst zu und geht.

Vorsichtig ziehe ich den Schlafsack komplett zur Seite und betrachte den Toten. Es handelt sich bei dem Opfer um einen Wandergesellen, einen Zimmermann, bekleidet mit einem weißen Hemd mit Biesen, in das Blut von der Kopfwunde in den Kragen gelaufen ist und sich dann in einem hässlichen Fleck auf seinem linken Ärmel ausgebreitet hat. Dazu eine schwarze, dicke Cordhose mit Schlag. Über dem Hemd trägt er eine Weste mit Perlmuttknöpfen. Auf dem kleinen Tisch im Vorraum liegen ein schwarzer Schlapphut und der Wanderstab auf den Flyern. Ich betrachte den jungen Mann. Er sieht überrascht aus, finde ich.

Hat ihn der oder die TäterIn nach vollbrachter Tat mit dem Schlafsack zugedeckt?

Aber warum?

Wer bringt denn einen Wandergesellen um?

Ich bitte Marlon, mir zu helfen und die Leiche umzudrehen, denn ich möchte wissen, auf was er liegt. Er ist auf sein Werkzeug und seine Ersatzkleidung gefallen, die in ein Tuch eingewickelt waren. Er hatte das Tuch aufgeknotet und wollte wohl gerade etwas daraus entnehmen. An der linken Wand liegt eine Decke fein säuberlich ausgebreitet auf dem Boden, ein zusammengerolltes Unterhemd als Kopfkissen bereits vorbereitet. Der junge Mann wollte vermutlich gerade schlafen gehen. Ratlos richte ich mich auf und schaue mich um.

„Ist hier jemand, der mir was über Wanderburschen erzählen kann?“, frage ich in die Runde, ernte aber nur Schweigen und weiteres hilfloses Achselzucken.

Schließlich räuspert sich Loisl.

„Du, i hab vorhin zwoa gsehen, die san ins Weißbräu ganga. Vielleicht fragst die amal?“

„Was? Das sagst du mir erst jetzt? Die könnten doch was mit der Sache hier zu tun haben. Also wirklich, Loisl, manchmal frag ich mich schon.“

Er hat den Anstand, wenigstens zu erröten.

„Aber des sind ganz ehrbare Leut, die bringa nemand um“, versucht er sich rauszureden.

Ich schnaube und drehe mich zu Marlon um.

„Auf geht’s, dann sprechen wir mal mit denen. Hoffentlich finden wir sie noch.“

Dabei werfe ich Loisl einen vernichtenden Blick zu. Ich hasse Inkompetenz.

Als wir uns im Gastraum umsehen, entdecke ich die beiden nicht gleich. Doch Marlon, der größer ist als ich, macht mir ein aufgeregtes Zeichen.

„Da hinten, Lana, komm.“

An einem Tisch sitzen zwei Wandergesellen mit einem älteren Paar, das ihnen offensichtlich ein Weißwurstfrühstück ausgegeben hat. Vor jedem Wanderburschen steht ein Teller mit zwei Weißwürsten und einem Weißbier. Beide haben sich reichlich süßen Senf aufgetan. Bei näherem Hinsehen erkenne ich, dass einer von den beiden Burschen gar kein Bursche, sondern ein Mädel ist. Ich bin erstaunt. Soweit ich wusste, dürfen doch nur ledige Männer unter dreißig auf die Walz gehen?

Wir treten auf den Tisch zu und die Gruppe schaut irritiert auf.

„Grüß Gott, Lana Beck und Marlon Brandner vom LKA in München. Dürften wir Ihnen ein paar Fragen stellen?“

Ich spreche die beiden Wandergesellen an. Das ältere Paar wirft sich einen irritierten Blick zu.

„Ähm, brauchen Sie auch was von uns oder können wir gehen? Wir müssten noch einkaufen und wollten eigentlich grad los“, fragt der beleibte Mann mit rotblonden Haaren, der mit Lederhose und kariertem Hemd trachtig gekleidet ist. Er steht schon halb und auch seine Frau, eine ältere vollbusige Person, die ihre Auslage in einem roten Dirndl wirkungsvoll in Szene gesetzt hat, erhebt sich jetzt. Nachdem wir ihnen bestätigt haben, dass wir an sie keine Fragen haben, wendet die Frau sich an das junge Paar, das nicht recht weiß, ob es weiteressen darf.

„Lasstses euch schmecken, Kinder, gell. Wir zahlen, könnts noch ein Weißbier trinken und noch a Brezn essen. Machtses guad und kemmts guad weida.“

Sie nickt ihnen freundlich zu und die beiden bedanken sich höflich.

Marlon und ich nehmen auf den frei gewordenen Stühlen Platz, während die Handwerker sich auf unsere Aufforderung hin weiter den Weißwürsten widmen.

„Darf ich Sie nach Ihren Namen fragen?“

„Ich bin Pauline Ritter und das ist Timo Wendt. Moin.“

„Wir haben gleich hier um die Ecke einen Ihrer Kollegen tot aufgefunden, wissen Sie etwas darüber?“

Pauline wird blass. Sie hat kurze schwarze Haare zu einem hübschen Gesicht, ist aber eher burschikos. Bei unseren Worten haben sich ihre braunen Augen verdunkelt und sind jetzt fast wie zwei schwarze Löcher. Sie zieht nervös die Nase hoch.

„Wie jetzt, echt? Einer unserer Brüder ist tot? Das gibt’s doch nicht. Alter, die Welt ist verrückt geworden.“

Timo Wendt, der die ganze Zeit stoisch seine Würste gegessen hat, nimmt einen Schluck Weißbier. Seine Ohren leuchten rot.

„Davon wissen wir nichts.“

Er macht einen abweisenden Eindruck. Offensichtlich fürchtet er, in die Sache hineingezogen zu werden. Dann beugt er sich zu Pauline Ritter vor.

„Meinst du, das war der Freireisende, den wir vor kurzem in München getroffen haben, Paule?“

Pauline nickt eifrig.

„Ja, komischer Typ. Hatte keine Ehrbarkeit und was ausgefressen, gell? Kein Wunder, dass so jemand Probleme bekommt. Mannomann.“

Timo Wendt lehnt sich auf dem Stuhl zurück und verzieht bei ihren Worten missbilligend das Gesicht.

„Ich weiß nicht, was du hast. Wir haben doch auch keine Ehrbarkeit, warum reitest du so darauf herum? Er war bei den Freireisenden, die sind genauso viel wert wie wir.“

„Ist ja gut, so war das doch gar nicht gemeint. Aber der war nicht okay. Jemand hat mir erzählt, dass der vorher bei den Rolandsbrüdern war und ein Handy besaß oder ohne Genehmigung benutzt hat, irgendwie so. Deswegen ist er jetzt bei den Freireisenden.“

„Du redest zu viel dummes Zeug. Man glaubt nicht alles, was Leute einem erzählen.“

Sein strenger Ton und sein verkniffener Mund scheinen Pauline nicht weiter zu beeindrucken, offensichtlich ist ihr Begleiter öfter so zu ihr. Verwirrt schauen wir uns an.

„Entschuldigen Sie bitte, wenn wir stören, aber könnten Sie uns bitte mit auf die Reise nehmen?“

Ich gucke streng. Pauline zuckt zusammen, während Timo träge aufschaut.

„Verzeihung. Fachsprache. Wir haben den Kameruden, der vermutlich getötet wurde“, er spricht es mit langem e und tatsächlich mit u, das scheint auch so ein Spezialausdruck zu sein, „vor kurzem in München getroffen. Er hat uns bei einem Schnack in der Kneipe erzählt, dass er aus einem kleinen Kaff bei Lübeck oder Wismar kommt, irgendwo da ganz im Norden. Er ist bei den Fremden Freireisenden, einem weniger traditionellen Schacht, auch wenn es ihn schon länger gibt. Angeblich“, dabei sieht er Pauline streng an, „war er vorher ein fremdgeschriebener Rolandsbruder und hat den Fehler gemacht, ein Handy zu benutzen, ohne vorher zu fragen. Das geht nicht, wissen Sie? Man geht auf Wanderschaft und verpflichtet sich, kein Handy oder ein anderes elektronisches Gerät mitzuführen und sich immer ehrbar zu verhalten. Wer dagegen verstößt, wird ausgestoßen. Das sind harte Regeln. Ich denke allerdings, dass Paule ein schlimmes Klatschweib ist.“

Er nimmt einen Schluck von seinem Weißbier, lehnt sich zurück und setzt sich wieder den schwarzen Hut mit der Krempe auf die langen, blonden Haare, die zu einem dünnen Zopf zusammengebunden sind. Sein ungepflegter, löchriger Zauselbart ist unterschiedlich lang und seine Haut ist schlecht. Aber wenn er mit weißen Zähnen lacht, dann wirkt er sehr gewinnend.

Pauline hängt an seinen Lippen. Wir sind allerdings nicht sehr viel schlauer als zuvor. Er bemerkt unseren ratlosen Blick.

„Und die Ehrbahrkeit ist das Tuch, das als Erkennungszeichen des Schachts dient. Wir beide, zum Beispiel, sind bei einem toleranten Schacht, bei Axt und Kelle, bei dem es keine Ehrbarkeit gibt. Aber wir tragen wie alle anderen Schächte die übliche Handwerkerkluft mit Staude, Charlie und Stenz. Axt und Kelle ist einer der wenigen Schächte, bei dem auch Frauen zugelassen sind, was man unschwer daran erkennen kann, dass Paule eine Frau ist.“

Er macht einen Scherz, verzieht aber keine Miene. Dafür zeigt Pauline auf sich und lacht. Es scheint ihr egal zu sein, dass Timo sie kritisiert hat. Sie hat sich nun auch den Hut wieder aufgesetzt, einen schwarzen Schlapphut. An ihrem Ohrläppchen baumelt genauso wie bei ihrem Kollegen ein langer, großer Ohrring, der die Zugehörigkeit zu ihrem Schacht verkörpert und eine Axt und eine Kelle zeigt. Um ihren Hals hat sie ein blaues Tuch gebunden.

„Und was ist eine Staude, ein Charlie und ein Stenz?“, frage ich ratlos.

„Na Leude, die Staude ist das weiße Biesenhemd, Charlie, also Charlottenburger, ist das Tuch, in das wir unser Werkzeug und Ersatzklamotten einwickeln, und der Stenz der gewundene Wanderstab.“

Pauline klingt, als seien wir etwas begriffsstutzig, aber mit Verlaub, woher sollen wir das wissen?

Marlon wendet sich ihr zu.

„Für welches Gewerk sind Sie denn unterwegs?“

Sie lächelt ihn freundlich an.

„Du darfst ruhig du sagen. Und ich bin Bootsbauerin.“

Er schaut überrascht, genau wie ich.

„Bootsbauerin? Hier in Erding?“

Sie lächelt und zeigt dabei eine Reihe perfekter Zähne.

„Eigentlich wollte ich Timo nur nach Adlhausen begleiten und mir das mal anschauen, vielleicht kann ich auch was beitragen. Und Leude, ich sachs euch, als Bootsbauerin bin ich echt jut mit Holz. Eigentlich wollte ich weiter zum Chiemsee, aber vielleicht bleibe ich auch und helfe bei dem Projekt mit. Unser Schacht engagiert sich nämlich stark ehrenamtlich.“

Ich schaue nun noch mehr verwirrt.

„Welches Projekt? Adlhausen, was ist das?“

Nun kommt Leben in Timo Wendt. Er setzt sich auf und drückt den Rücken durch.

„Das ist ein gemeinnütziges Projekt, dass der Bauer Matthias Moser in Adlhausen ins Leben gerufen hat. Er macht da spannende Sachen, will andere Lebensräume schaffen und hat zum Beispiel ganz neue Pflanzen hier angesiedelt.“ Er runzelt die Stirn. „Naja, kein Wunder, dass das alles inzwischen bei uns wächst, ist wohl auch eine Folge des Klimawandels. Aber das nur nebenbei, sorry. Also, der Moser macht das alles mit ehrenamtlichen, freiwilligen Helfern. Da wir mit unserer Gesinnung gerne der Gesellschaft etwas zurückgeben wollen, helfen wir zünftigen Gesellen immer wieder mal gegen Kost und Logis auf dem Hof aus. Er will seine Scheune herrichten und es gab einen Rundschnack, dass wir ihn dabei unterstützen wollen. Wenn Sie also mehrere Handwerksgesellen in dieser Gegend sehen, dann liegt es unter anderem an dem Aufruf, nach Adlhausen zu kommen und zu helfen. Außerdem wird eine Einheimischwerdung gefeiert, was bedeutet, dass sich noch mehr auf den Weg machen werden.“

Das erklärt einiges. Ich frage jetzt mal nicht nach, was eine Einheimischwerdung ist. Dafür interessiert mich ein anderer Aspekt.

„Aber sagen Sie mal, so unterwegs, da redet man doch bestimmt viel mit anderen Gesellen oder Gesellinnen, wenn man aufeinandertrifft. Sie wissen doch bestimmt mehr über das Opfer, als Sie zugeben? Sie müssen sich keine Gedanken machen, wir befragen Sie als Zeugen, es entstehen Ihnen keine Nachteile, wenn Sie uns die Wahrheit sagen, falls das der Grund Ihres Schweigens ist.“

Pauline zuckt mit den Schultern.

„Ach Leude, auf Tippelei lernt man so viele Menschen kennen, wenn man sich da alles merken würde, hätte man viel zu tun.“

Das glaube ich ihr nicht. Wäre der Tote keiner ihrer „Kameruden“ gewesen, könnte sie damit durchkommen, aber so? Ich frage mich nebenbei, ob es eigentlich auch Kamerudinnen gibt, verwerfe den Gedanken aber schnell.

Ihr Kollege schweigt eisern. Irgendwie werde ich den Verdacht nicht los, dass er mehr weiß.

„Wissen Sie vielleicht seinen Namen?“, frage ich neugierig und schaue ihn dabei gezielt an. Er fühlt sich unbehaglich, das sieht man ihm an. „Sie werden doch mehr miteinander geredet haben, als Sie uns jetzt weismachen wollen.“

Timo sieht mich einen Moment überrascht an, dann wirft er einen Seitenblick auf Pauline, die die Stirn runzelt. Schließlich nickt er langsam und gibt seinen Widerstand auf.

„Dominik, glaub ich. Kommt, wie gesagt aus dem Norden, irgendein Kaff mit wenig Einwohnern. In der Nähe von“, er überlegt, „Grevesmühlen oder so. Moment, ich hab‘s gleich, denn eigentlich hat er es mir erzählt.“

Er schließt die Augen und denkt nach.

„Ha, Hoikendorf. Das Kaff hieß Hoikendorf. Seine Eltern haben da eine Ferienpension, traumhaft schön gelegen, er hat mir Bilder gezeigt.“ Er wird nachdenklich. „Das war wie aus dem Bilderbuch da. Er wollte Reetdächer bauen und restaurieren, wenn er zurück von der Tippelei ist.“ Nach einem tiefen Schluck prostet er imaginär jemandem zu.

„Wieder einer weniger, der das kann.“

In diesem Moment klingelt mein Handy. Man informiert uns, dass die Spurensicherung das Wanderbuch des Toten sichergestellt hat. Es handelt sich um Dominik Martini, 25 Jahre alt, ledig, keine Schulden, wie bei Handwerksgesellen, die auf der Wanderschaft sind, üblich. Seine Eltern leben in der ehemaligen Dorfschule in Hoikendorf und sind noch nicht verständigt. Man bittet uns, das zu übernehmen.

Na toll, das ist das andere Ende von Deutschland.

„Können Sie vorerst in Erding bleiben?“, fragt Marlon gerade, als ich das Gespräch beende. „Es kann sein, dass wir noch Fragen haben.“

Timo und Pauline sehen sich an. Sie nicken.

„Ja. Allerdings müssen wir erst beim Bürgermeister oder Pfarrer fragen, ob wir unseren alten Schlafplatz behalten können, falls wir so schnell keine Arbeit finden.“

„War denn das Frauenkircherl ein offizieller Schlafplatz der Stadt für euch Tippelbrüder?“

Marlon scheint ernsthaft interessiert zu sein und beugt sich neugierig nach vorne. Doch Timo zieht schmerzhaft berührt die Augenbrauen zusammen, während Pauline die Augen verdreht.

„Bitte nicht diesen Ausdruck, das kommt einer Beleidigung gleich, da könnten Sie auch gleich Penner zu mir sagen. Wir gehen zwar auf Tippelei und sind Brüder, doch wollen wir nicht Tippelbrüder genannt werden. Höchstens untereinander nennen wir uns spaßeshalber so. Wir arbeiten ja. Wir reisen, um zu arbeiten und wir arbeiten, um zu reisen. Das ist Tippelei. Das hat nichts mit Betteln oder Ähnlichem zu tun.“

Mein junger Kollege zuckt zusammen.

„Sorry, das wusste ich nicht. Das sollte keineswegs…“

„Lass man stecken“, fährt er dazwischen. „Nicht schlimm. Und was Ihre Frage anbelangt – keine Ahnung, nicht, dass ich wüsste.“

„Mal ganz was anderes – warum hat eure Hose jetzt eigentlich so einen Schlag? Ich habe zwei Theorien gehört – damit die Sägespäne nicht in die Schuhe fallen oder weil ihr auch öfter mal durch Pfützen waten müsst und deshalb die Hose hochziehen können müsst?“

Ich schaue Marlon streng von der Seite an, denn das hat nun nichts mit den Ermittlungen zu tun. Pauline kichert jetzt hemmungslos und zieht die Hutkrempe ins Gesicht, um es zu verbergen. Timos Miene bleibt stoisch freundlich.

„Die Kluft kommt ursprünglich aus Hamburg durch die Schiffszimmerleute. Ich denke mal, das stimmt beides, irgendwie. Wenn man ins Wasser fällt, möchte man die schwere Hose loswerden und mit Schlag kommt man mit den Schuhen leichter aus der Hose. Aber natürlich verhindert die weite Hose auch, dass Sägespäne in die Schuhe fallen. Und durch Pfützen kann man mit und ohne Schlag waten.“

Jetzt wissen wir auch nicht mehr. Ich unterbreche den neugierigen Diskurs, der uns hier nicht weiterbringt.

„Nochmal zurück zu Dominik Martini, so hieß er nämlich mit vollem Namen. Wisst ihr denn, wo er hinwollte? War er allein unterwegs?“

Pauline starrt mich einen Moment nachdenklich an.

„Jetzt, wo du den vollen Namen sagst, Frau Kommissarin, fällt mir ein, da war noch einer, mit dem er eigentlich eine ganze Weile getippelt ist. Ich habe die schon mal getroffen, bevor ich mit Timo unterwegs war. Der andere war ein Rolandsbruder und die kannten sich von früher, glaub ich. Netter Kerl, den kennt eigentlich jeder bei uns – Franz oder Hans oder so. Wir nennen ihn immer den Hanseaten, weil er aus Hamburg stammt und so steif nordisch spricht.“

Ich frage neugierig, woher sie denn ursprünglich komme.

Sie erzählt uns munter, dass sie aus dem Bergischen Land stamme und sich wie ein echtes „kölsches Mädche“ fühlen würde. Karneval sei ihre Lieblingsjahreszeit. Dann erklärt sie nach einer kurzen Pause reichlich unvermittelt, dass es für sie erstaunlich gewesen sei, dass Dominik mit dem Hanseaten unterwegs gewesen sei, da die beiden in ihren Augen nicht zusammengepasst hätten.

„Ich glaube ja, der Hanseat kommt aus so einer typischen Familie, weißt du, so einer superreichen.“

Sie hat einen faszinierten Gesichtsausdruck. Findet sie diesen Hanseaten gut? Im Moment interessiert mich allerdings viel mehr, etwas über Dominik Martini zu erfahren. Ich schaue leicht hilfesuchend zu ihrem Begleiter, der mit hochgezogener Augenbraue Paulines augenscheinliche Begeisterung für den Hanseaten wahrnimmt und leicht die Stirn runzelt. Dann hat er sich wieder unter Kontrolle und zuckt mit den Schultern.

„Wissen Sie, Dominik kam aus ganz einfachen Verhältnissen, ohne viel Schnick und Schnack Der war auch eher einfach gestrickt, hat sich nix aus Büchern oder so gemacht. Manche von uns schreiben ihre Erlebnisse so ein bisschen auf, aber das mochte er nicht, hat er mir erzählt.“

„Schade“ sagt Marlon trocken und ich muss lachen.

„Das stimmt allerdings, dann könnten wir seine letzten Stunden besser rekonstruieren. Aber das bekommen wir sicher auch so hin, da bin ich ganz zuversichtlich.“

„Sind Sie das?“, fragt Timo mich.

Er lächelt freundlich, doch seine Augen sind voller Zweifel.

Ich frage nochmal nach, ob die beiden nicht noch weitere, womöglich relevante Informationen für uns haben, doch sie verneinen. Sie müssten dann auch los, damit sie bei ihren künftigen Arbeitgebern vorsprechen können, wie sie erklären.

„Wie Arbeitgeber?“, fragt Marlon verwirrt und auch ich schaue nicht besonders intelligent drein.

„Wir werden für die Zeit, wo wir uns hier aufhalten, ganz normal angestellt, mit allem Pipapo. Wenn wir jetzt wegen der Ermittlungen nicht nach Adlhausen können, arbeiten wir vorerst bei einem Handwerker hier in Erding, der Leute sucht.“

„Und wie lange planen Sie zu bleiben?“

Timo hebt eine Augenbraue.

„Bis Sie sagen, dass wir aufbrechen können.“

Dann frage ich Pauline, ob sie bereits eine Adresse am Chiemsee hat. Sie schüttelt den Kopf.

„Nein, ich muss erst vorsprechen, aber das wird schon. Wie gesagt, ich will erst einmal zum Moserhof. Kann ich denn dorthin oder muss ich auch hierbleiben?“

Wir schauen uns an. Marlon nickt zu meinem unausgesprochenen Gedanken. Ich lächle die jungen Leute an.

„Wissen Sie was, Sie sind ja in Adlhausen auf dem Moserhof zu erreichen, oder? Geben Sie uns einfach Ihr Ehrenwort, dass Sie sich bis auf Weiteres dort aufhalten und uns mitteilen, wenn Sie weiterziehen, dann brauchen Sie nicht weiter in Erding zu bleiben.“

Ich überreiche beiden meine Karte. Timo stößt erleichtert die Luft aus.

„Oh, dat is man jut. Danke. Wir geben unser Ehrenwort, Hand drauf.“

Pauline nickt dazu und beide versprechen uns in die Hand, dass sie vorerst in Adlhausen bleiben werden.

„Wie lange wollen Sie denn bei diesem Projekt mitmachen?“, frage ich neugierig.

Pauline lacht.

„Wenn uns der Nachbar grüßt und der Hund nicht mehr anbellt, dann ist es Zeit zu gehen.“

Ein schönes Bild.

„Nicht länger als drei Wochen“, ergänzt Timo.

„Bis dahin haben wir den Mörder.“

Ich klinge überzeugter als ich bin, aber das werde ich ihm nicht verraten.

„Na, wenn Sie das glauben.“

Er klingt skeptisch. Ich schaue ihn streng an.

„Warum sagen Sie das?“

„Weil es schwer werden wird, herauszufinden, was da passiert ist. Wir zünftigen Gesellen sind viel unterwegs, heute hier, morgen dort. Wenige Leute, die einen kennen, die etwas von einem wissen. Ich zum Beispiel kann mir beim besten Willen nicht erklären, wie so etwas passieren kann. Ich habe mich auf Tippelei immer sicher gefühlt. Das ist jetzt vorbei. Und das ist schade.“

Das ältere, alteingesessene Erdinger Paar hat die Rechnung tatsächlich vollständig beglichen, denn der Wirt stellt den beiden Wandergesellen noch einen Schnaps hin und sagt: „Brauchts nix zahlen, is alles erledigt. Prost.“

Wir begleiten die jungen Leute nach draußen. Sie schultern ihren Charlie und nehmen den Stenz in die Hand. Das ist eine eigene, faszinierende Welt mit besonderen Regeln und Ritualen. Zum Abschied schaue ich sie streng an.

„Warum haben Sie eigentlich nicht gleich gesagt, dass Sie Dominik Martini kannten?“

„Ach weißt du, Frau Kommissarin“ Pauline lacht dabei, was ich unpassend finde, „man will ja nicht in sowas reingezogen werden. Also halten wir uns lieber erstmal bedeckt, verstehste doch sicher, oder?“

Sie klingt nicht sehr betroffen.

„Na denn man tau.“

Timo tippt sich an die Hutkrempe.

„Tschüssi“, ruft Pauline und winkt.

Dann drehen sie sich um, die gewundenen Wanderstäbe in der Hand und ziehen gemächlich von dannen. Wir schauen uns an.

„Merkwürdige Welt“, fasst Marlon meine Gedanken in Worte. Ich nicke zustimmend.

„Ja, echt schräg. Damit werden wir uns wohl beschäftigen müssen. Aber als erstes sollten wir mit dem Bürgermeister und dem Pfarrer sprechen, vielleicht können die uns weiterhelfen.“

„Erst Pfarrer, dann Bürgermeister.“

Kapitel 3 – Pfarrer und Bürgermeister

Dienstag, 7. Juni 2022 - mittags

Der Pfarrer starrt in seine Kaffeetasse und schüttelt immer wieder ungläubig den Kopf. Er ist sehr sanft und freundlich, spricht mit leiser Stimme. Seine filigrane Statur lässt einen eher feingeistigen Menschen vermuten. Hellbraun gelocktes Haar legt sich wie ein Heiligenschein um sein Gesicht. Er wirkt fast feminin. Mit hellen Augen schaut er uns offen an.

„Das ist so unglaublich. Wer tut denn sowas? Also wirklich. So ein netter junger Mann.“

Ich rutsche auf meinem harten Holzstuhl, der an einem runden Tisch steht, nach vorne. Der Pfarrer hat uns in sein Besucherzimmer gebeten, das sowohl mit zwei großen braunen Ledersofas als auch einer Sitzecke mit Tisch und drei Stühlen ausgestattet ist. Drei Stühle finde ich merkwürdig, aber vielleicht ist einer kaputt gegangen. Durch ein großes Sprossenfenster dringt Sonnenschein in den Raum und lässt Staubteilchen in der Luft tanzen. In der Nachbarschaft mäht jemand Rasen. Der Lärm dringt nervtötend durch das geöffnete Fenster. Der Pfarrer springt auf und schließt es schnell. Ich verstehe nicht, warum die Leute immer noch mit umweltschädlichen, Benzinbetriebenen Rasenmähern operieren, wo es doch bereits gute elektrische Alternativen gibt, die weit weniger Lärmbelästigung bedeuten.

„Haben Sie denn persönlich mit Dominik Martini gesprochen?“

Ich schaue ihn fragend an und nehme einen Schluck Kaffee aus der Tasse mit dem altmodischen Blümchenmuster. Er hebt den Kopf und zwinkert hinter seiner Brille mit dem dunklen Rand.

„Wissen Sie, unsere Bürgermeister haben im Moment so viel zu tun, da nehme ich ihnen diese Christenpflicht mit Freuden ab. Freilich habe ich mit dem jungen Mann persönlich gesprochen. Ich habe ihm den Platz gezeigt, wo er unterkommen kann. Manchmal nehme ich auch welche ins Pfarrhaus auf, aber das ging gestern nicht. Leider.“ Er seufzt tief. „Sonst wäre er womöglich noch am Leben. Gottes Wege sind unergründlich.“

Er verschränkt die Hände und schweigt andächtig. Betet er?

„Ist Ihnen noch jemand anderes aufgefallen? War Dominik Martini allein unterwegs?“

Der Pfarrer nickt eifrig.

„Als ich mit ihm gesprochen habe, war er allein. Allerdings habe ich dann heute Morgen ein Pärchen gesehen, das auch auf der Walz ist.“ Er beugt sich vertraulich zu uns vor. „Da sieht man oft monatelang niemanden und plötzlich kommt täglich ein anderer vorbei. Seit ein paar Tagen ist hier ein Kommen und Gehen, wie im Taubenschlag.“

Ich horche auf. Das hört sich interessant an.

„Wissen Sie vielleicht, warum das so ist?“

Er zuckt mit den Schultern.

„Nein, keine Ahnung. Aber vielleicht finden ja Sie was heraus?“

Er erklärt uns dann noch, dass er sich nicht viel mit ihm unterhalten habe, deshalb wisse er auch nicht mehr. Er habe sich nicht einmischen und auch nicht neugierig sein wollen. Für ihn sei das ein Zeichen des Respekts. Er reibt sich die Stirn, als hätte er Kopfweh.

„Wenn ich jetzt so überlege, fällt mir ein, dass fast alle Wanderburschen der letzten Tage vom Moses gesprochen haben. Da habe ich als Kirchenmann natürlich aufgehorcht.“ Er macht eine nachdenkliche Pause. Dann nickt er entschieden. „Ja genau. Moses. Sie sind dem Ruf des Moses gefolgt. Allerdings ist es mir ein Rätsel, was damit gemeint sein könnte.“

Als ich ihn frage, ob er sich vorstellen könne, dass das Projekt auf dem Moserhof in Adlhausen der Grund sein könnte, überlegt er kurz. Dann nickt er langsam.

„Oh mein Gott, ich glaube, da haben Sie recht. Ich habe bei den Wandergesellen diesen Namen, der wohl ein Spitzname eines ihrer Kameraden ist, im Zusammenhang mit dem Projekt in Adlhausen schon gehört.“ Er schlägt sich an die Stirn. „Dass ich da nicht selbst drauf gekommen bin.“

Ungläubig schüttelt er den Kopf, erschüttert über seine eigene Unfähigkeit. Wir sprechen noch kurz über die weiteren Abläufe, denn der Herr Pfarrer fragt neugierig nach. Ich bin mir nicht sicher, ob das Frauenkircherl trotz des Namens überhaupt ein kirchlicher Ort ist oder ob da eher der Bürgermeister zuständig ist, weil inzwischen Ausstellungsort, aber egal. Schließlich verabschieden wir uns.

„Halten Sie mich bitte auf dem Laufenden“, ruft er uns nach und schließt die Tür des Pfarrhauses.

Anschließend sprechen wir bei der Gemeinde vor. Ursprünglich hatte Erding mal ein schönes altes Rathaus mit sehr viel Charme, nun gibt es aber direkt auf der anderen Straßenseite einen Neubau, der meiner Meinung nach nicht sehr hübsch ist Er wird wohl funktional sein. Trotzdem schade, ich bilde mir ein, das hätte man besser lösen können. Aber gut, das ist natürlich Geschmacksache und es geht mich als eingefleischte Münchnerin auch überhaupt nichts an. Es muss den Erdingern gefallen, nicht mir.

Die nette Dame vom Empfang ist sehr freundlich und hilfsbereit. Sie telefoniert herum und sucht jemandem, der zuständig ist und uns weiterhelfen kann, denn der Oberbürgermeister ist gerade unterwegs. Sie fragt sich bis zum 3. Bürgermeister durch, der sie schließlich an einen Kollegen verweist, der sich in den letzten Tagen um die Wandergesellen gekümmert habe. Leider finde er jedoch nur kurz Zeit, da er zu einem Volksfest in der Umgebung müsse. Deshalb wäre er dankbar, wenn wir kurz bei ihm vorbeikämen, ob das okay sei. Wir notieren die Adresse und sind nun mit Hilfe von Google Maps auf dem Weg. Dabei kommen wir ein Stück durch den Stadtpark. Ich schaue mich neugierig um und bewundere das Ambiente mit den sauberen Wegen und dem idyllischen, leise dahinplätschernden Fluss, auf dem etliche Enten gemächlich ihre Kreise ziehen, immer auf der Suche nach jemandem, der sie füttert. An verschiedenen Stellen kann man Kunstwerke entdecken und ich staune über die Gestaltung der Spielplätze und des Streichelzoos mit den großen Volieren. Da würde ich gerne sowohl mit Kian zum Spielen herkommen als auch im Alter direkt am Park leben wollen. Es sind etliche Jogger unterwegs und sämtliche Fitnessgeräte für den Outdoor-Sport sind belegt. Zwei alte Männer spielen Schach. Über allem liegt allerdings ein beängstigendes und sehr lautstarkes Krähen und Krächzen, das stark anschwillt, wenn sich die Tiere gestört fühlen, was ständig der Fall zu sein scheint. Ich blicke nervös in den Himmel und auf die mit Nestern übersäten Baumwipfel.

„Boah, gibt es hier viele Krähen. Oder sind das eher Raben? Das ist ja wie bei Hitchcock. Da fühl ich mich gleich unwohl.“

Marlon lacht.

„Stell dich nicht so an. So schlimm ist es auch wieder nicht. Und es sind Krähen, das sieht man doch. Raben sind viel größer und lauter.“

Ich schweige. Krähen oder Raben – egal. Der Mann hat keine Ahnung, was alles passieren kann. Was, wenn die plötzlich beschließen, sich zusammenzutun und uns anzugreifen? Wie kann man denn sicher sein, dass nur wir Menschen durchdrehen? Das ist bei Tieren bestimmt auch möglich, wenn man überlegt, dass wir ihren Lebensraum zerstören. Ich schüttele mich. Vermutlich traue ich ihnen mehr Verstand zu als sie haben. Andererseits – was wissen wir schon? Intuitiv müssen sie begreifen, dass sich ihr Umfeld ändert. Als Rabe oder von mir aus auch Krähe würde ich den Menschen als Feind begreifen. Und sind Raben und Krähen nicht unfassbar schlau? Besorgt schaue ich immer wieder in die Baumwipfel, die sich über uns leicht im Wind wiegen.

„Wusstest du, dass die Monika Gruber hier irgendwo wohnt?“, fragt Marlon, als wir fast da sind.

Vermutlich will er mich von den Vögeln ablenken, denn die Gruberin ist mit Sicherheit nicht sein bevorzugtes Thema. Ich könnte mir vorstellen, dass er als Hesse ihr Bayerisch zum Teil noch nicht mal richtig versteht.

„Was, echt, die wohnt hier?“

Er nickt, ganz stolz, dass er auch mal etwas Gossipmäßiges beitragen kann. Dann muss er allerdings zugeben, dass er nicht genau weiß, welche der prachtvollen Villen die ihre ist. Ich winke ab.

„Das ist jetzt wurscht, denn eigentlich interessiert mich die Frau nicht besonders. Mir haben ihre früheren Sachen besser gefallen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ihr die Pandemie leider nicht gut bekommen ist. Aber hey, was weiß ich schon. Hauptsache du hast einen Plan, wo wir hinmüssen.“

Schließlich finden wir das Haus. Es ist gut gesichert.

Ich starre den hohen Zaun, die Kamera und das Tor an. Früher stellten Lokalpolitiker hoch angesehene Mitglieder der Gesellschaft dar. Man hatte Respekt vor ihnen, sie waren die Weisen oder Schlauen in der Gemeinde.

---ENDE DER LESEPROBE---