Lana Beck und der Tote im Maisfeld - Talia Moritz - E-Book

Lana Beck und der Tote im Maisfeld E-Book

Talia Moritz

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Beschreibung

Lana Beck ist 31 und arbeitet als Kommissarin beim LKA in München. Ihr Chef sagt, sie habe "ein untrügliches Gespür für die Abgründe des Menschlichen und einen guten Riecher für Spuren und Zusammenhänge". Als Niederbayerin mit persischen Wurzeln und einem Faible für High-Heels und Flip-Flops fühlt sie sich in München sehr wohl, was nicht zuletzt an Raffael, dem attraktiven Studenten der Theaterwissenschaften aus der Nachbarwohnung, liegt. Und natürlich auch an ihrem bärbeißig-bayerischen Kollegen Reiter, mit dem sie eine innige Hassliebe verbindet. Lana Becks erster Fall führt sie aus der Landeshauptstadt ins oberbayerische Land: In einem Maisfeld bei Erding wird die übel zugerichtete Leiche eines jungen Flüchtlings gefunden. Lana Beck und Reiter müssen den Fall übernehmen und sehen sich plötzlich mit Vorurteilen, unglücklicher Liebe und gefährlichen Situationen konfrontiert. Werden sie schnell genug sein, um die Katastrophe abzuwenden? Und dann taucht auch noch Kilian auf, der Bruder von Lanas bester Freundin, und zeigt Interesse an der schönen Kommissarin.

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Lana Beck und

der Tote im Maisfeld

 

Ein Unterhaltungskrimi

 

 

 

 

 

 

 

von

Talia Moritz

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Lana Beck und der Tote im Maisfeld

1. Band der Reihe Lana Beck (2. überarbeitete Version)

Texte: © Copyright by Talia MoritzTitelbild: © Copyright by Allef Vinicius auf unsplash.com 

 

Verfasser/Herausgeber zu erreichen über (ladungsfähige Anschrift):

Munich Boutique Advisory, Ennemoserstraße 11, 81927 München

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigungen, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich weiß wohl, vor wem ich fliehen soll, aber nicht zu wem.

Marcus Tullius Cicero

 

 

Hinweis: Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und Ereignissen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

INHALT

Kapitel 1 – Früher Tod

Kapitel 2 – Traurige Nachricht

Kapitel 3 – Erdinger Charme

Kapitel 4 – Verirrte Gefühle

Kapitel 5 – Besorgte Eltern

Kapitel 6 – Schwierige Zustände

Kapitel 7 – Perfektes Date

Kapitel 8 – Erste Spur

Kapitel 9 – Neue Erkenntnisse

Kapitel 10 – Schwere Selbstvorwürfe

Kapitel 11 – Überraschende Begegnung

Kapitel 12 – Alter Schwerenöter

Kapitel 13 – Und noch ein Todesfall

Kapitel 14 – Wer suchet, der findet

Kapitel 15 – Alte Liebe rostet nicht

Kapitel 16 – Identifizierung

Kapitel 17 – Gelungenes Straßenfest

Kapitel 18 – Unerwartete Eskalation

Kapitel 19 – Retter in der Not

Kapitel 20 – Nächtliche Aktivitäten

Kapitel 21 – Neuer Zeuge

Kapitel 22 – Hausdurchsuchung

Kapitel 23 – Deutliche Worte

Kapitel 24 – Befragungen

Kapitel 25 – Showdown

 

Kapitel 1 – Früher Tod

Mittwoch, 10. August 2017, morgens

Es ist noch früh. Erst viertel nach sechs. Ich sitze barfuß, zerzaust und ungewaschen bei schönstem Sommerwetter auf meinem kleinen Balkon und trinke einen frisch gebrühten Filterkaffee aus meiner Lieblingskaffeetasse. Nein, ich bin kein Frühaufsteher, eigentlich hasse ich es sogar, aber ich muss dringend vor der Arbeit joggen gehen, um mich fit zu halten. Ich bin Kommissarin beim LKA in München und da hängt sehr viel davon ab, dass ich körperlich und geistig auf der Höhe bin.

Nebenan öffnet sich die Tür und mein Nachbar Raffael kommt auf den Balkon, um seine Morgenzigarette zu rauchen. Er nickt mir freundlich zu und zwinkert, während ich mein altes Wacken-T-Shirt, das von einem verflossenen Liebhaber übriggeblieben ist, über die Knie ziehe und zurücklächele.

Raffael ist groß, blond und schlaksig, aber auf diese coole Art, die sich schwer beschreiben lässt. Heute trägt er ein lässiges weißes T-Shirt und eine blaue Boxershorts und ich kann seine durchtrainierten, sehnigen Beine durch die Gitterstäbe des Balkons sehen. Er ist Mitte zwanzig und studiert Theaterwissenschaften. Ich bin immer wieder erstaunt, welch körperliche Fitness dieser Beruf erfordert. In seinem letzten Engagement – er spielt nebenbei immer wieder kleinere Rollen am Münchner Volkstheater – musste er aus dem Stand auf einen Esstisch aus Holz springen, möglichst ohne dabei Lärm zu machen. Ich bin ins Theater gegangen, um mir das anzuschauen, und war sehr beeindruckt von der Kraft und Ausdauer, die ich seinem eher asketischen Körper nicht zugetraut hätte.

Es gibt eine stillschweigende Vereinbarung zwischen uns, dass ich morgens nicht angesprochen werden möchte, was er respektiert. Ich vermute, dass es ihm genauso geht und er froh ist, wenn er seine Ruhe hat.

Ich seufze wohlig und trinke noch einen großen Schluck von meinem Kaffee. Es stört mich nicht, dass Raffael nebenan sitzt und raucht, dazu mag ich ihn viel zu sehr. Er ist ein angenehmer Nachbar, einer, der einem nicht auf die Nerven geht. Ein bisschen wundere ich mich schon, dass er so früh auf den Beinen ist, aber er wird seine Gründe haben. Es ist auch nicht auszuschließen, dass er eben erst nach Hause gekommen ist.

Ich liebe meine Wohnung, auch wenn sie sehr klein ist. Die Lage im Stadtteil Neuhausen in München ist perfekt für mich, da das LKA, bei dem ich seit drei Monaten beschäftigt bin, sich gleich um die Ecke in der Maillingerstraße befindet. Zudem liegt die Wohnung sehr ruhig im Hinterhaus und der kleine, üppig bepflanzte Balkon zum Hof mit seinen beiden Stühlen und dem runden Mosaiktischchen in Blautönen ist einfach zauberhaft.

Manchmal habe ich sogar schon darüber nachgedacht, mich für eine der Staatsbediensteten-Wohnungen zu bewerben, denn München mit seinen abartig hohen Immobilienpreisen macht es nahezu unmöglich, auf normalem Weg eine bezahlbare 2-Zimmer-Wohnung zu finden. Andererseits will ich meine nette kleine 1-Zimmer-Studenten-Bude nicht ernsthaft aufgeben. Ich bin berufsbedingt kaum zuhause und so ist alles leicht und schnell sauber zu halten – natürlich vorausgesetzt, man rafft sich dann und wann zum Putzen auf.

Was aber wirklich entscheidend ist: Meine direkten Nachbarn sind alle sehr nett, obwohl wir in einem Häuserblock in der Großstadt leben. Lediglich die Hausmeisterin ist eine alte, neugierige Ratschn, der man besser aus dem Weg geht, da sie einen nur schwer wieder entkommen lässt. Ich glaube, sie ist einsam, seitdem ihr Mann gestorben ist, und froh, dass sie mit allen „von Amts wegen“ reden kann.

Gegenüber, in dem anderen Häuserblock am Ende des begrünten Innenhofes mit seinen drei Bäumen und fünf Büschen, wohnt ein älterer, feister Mann mit einem großen Bierbauch. Beim Blumengießen oder Rauchen starrt er in seinem weißen Feinripp-Unterhemd immer zu mir hinüber und wirkt dabei unangenehm und aufdringlich, auch wenn ich nicht sagen kann, woran sich das festmacht. Wenn „Fat Grumpy“, wie ich ihn nenne, auf seinen Balkon kommt, verziehe ich mich regelmäßig nach drinnen und warte, bis er weg ist. So ist halt das Stadtleben.

Es ist schon eine Weile her, dass ich aus meinem Heimatdorf in Niederbayern in die große Stadt gezogen bin. Ich habe München vom ersten Augenblick an geliebt und bin sehr froh, dass ich den Hauptteil meiner Ausbildung in dieser wunderbaren Stadt verbringen durfte. Das Studium war zwar anspruchsvoll, aber die Zeit in den diversen Polizeikommissariaten der einzelnen Stadtteile sowie der Einsatz am Flughafen gefielen mir gut. Mittlerweile bin ich 31 Jahre alt und „eine ausgezeichnete Kommissarin mit einem untrüglichen Gespür für die Abgründe des Menschlichen und einem hervorragenden Riecher für Spuren und Zusammenhänge“, wie mein Chef, Dr. Achenbach, gerne zu sagen pflegt.

Was für ein Schwätzer. Na ja, davon gibt es einige in der neuen Abteilung.

Ich stehe auf und hole mein Handy, um meiner Mutter zu schreiben, dass ich versuchen werde, am Samstag zur großen Geburtstagsfeier meines Vaters zu kommen. Sie hat mich schon vor zwei Wochen gefragt und ich habe es bis heute nicht geschafft, ihr zu antworten. In diesem Moment vibriert das Telefon in meiner Hand.

„Beck“, melde ich mich, ungehalten wegen der frühen Störung, die nichts Gutes bedeuten kann.

„Servus Beck, ich bin’s, Reiter. Es gibt eine Leiche in einem Maisfeld bei Erding. Ich bin in 15 Minuten bei dir und hol dich ab, okay?“

Tobias Reiter ist mein Partner, mit dem ich seit meiner Versetzung zum LKA München zusammenarbeite. Er ist ein erfahrener Kollege, Mitte vierzig, gutaussehend, wenn man diesen bodenständigen, bayerischen Typ mag. Auf seine spezielle Art ist er witzig und unterhaltsam. Allerdings kann er auch recht bärbeißig und schlecht gelaunt sein.

Ich mag ihn.

Nachdenklich nippe ich an meinem Kaffee.

„Alles klar. Kannst du mir schon irgendwas sagen? Alt, jung, männlich, weiblich?“

„Männliche Leiche, zwischen 16 und 20 Jahre alt, vielleicht ein Flüchtling. Könnte brisant sein, deshalb hat man uns gerufen. Die Kollegen in Erding haben grad einen großen Einsatz am Flughafen und die örtlichen Kollegen wollen sich einfach nicht die Finger verbrennen, glaub ich.“

„Hervorragend, also ein politisch heikler Fall auf dem Land. Das lieb ich, da muss man höllisch aufpassen, dass man niemandem auf die Füße tritt. Na gut, dann bis gleich.“

Ich trinke schnell meinen Kaffee aus, dann gehe ich ins Bad und mache mich fertig. Kurz geduscht, meine langen schwarzen Haare gekämmt, am Hinterkopf toupiert, lockeren, niedrigen Pferdeschwanz gebunden, Augen schwarz geschminkt, fertig. Mein Vater kommt ursprünglich aus dem Iran, deshalb entspreche ich nicht ganz dem gängigen deutschen Schönheitsideal. Ich habe dunkle Haut, tiefschwarzes Haar, eine stattliche, gerade Nase und braune Augen mit grünen Sprenkeln. So auszusehen war im erzkatholischen Niederbayern nicht einfach. Ich habe mir damit geholfen, dass ich in der Schule das gscherteste Niederbayerisch von allen sprach.

Ich springe in meine schwarzen Lieblings-Designer-High-Heels mit der roten Sohle, packe die Flip-Flops in die Handtasche, stecke meine Waffe in den Schulterholster und nehme gerade den Schlüssel in die Hand, als Reiter an der Tür klingelt.

Eilig mache ich mich auf den Weg nach unten. Zu dumm, wieder kein Joggen heute, wie soll ich mich bitte auf diese Art fit halten? Der nächste Test wird eine Katastrophe. Und bei meiner Größe – ich messe mit viel gutem Willen 165 cm – und meinem Appetit bin ich in Sekundenbruchteilen fett.

Reiter lümmelt vor meiner Haustür und raucht eine Zigarette. Er ist bestimmt ein bis zwei Köpfe größer als ich, vielleicht so um die 185 cm. Sein dunkles, kurz geschnittenes Haar durchziehen die ersten grauen Strähnen, vor allem an den Schläfen, was ihm sehr gut steht. Ein bisschen wie George Clooney, den ich sehr verehre. Ich hauche ihm einen Begrüßungskuss auf die Wange.

„Servus Reiter“

„Grias di, du persische Schönheit“

Ich muss lachen.

„Du bist so ein Depp. Aber ein charmanter. Sollen wir los? Rauchen ist schlecht für dich, das weißt du doch!“

Mit funkelnden blauen Augen grinst er mich an.

„Da spricht die Richtige. Ein Glas Prosecco und man muss auf seine Kippen aufpassen wie ein Luchs, so schnell rauchst du die einem weg! Von wegen Nichtraucher, dünnes Eis, Beck …“

Ich verpasse ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den Oberarm und marschiere mit einer auffordernden, wedelnden Handbewegung, dass er sich beeilen soll, zum Auto. Reiter schaut mir nach. Ich kann gut auf High-Heels laufen, das weiß ich. Ich bewege mich damit fort wie andere Leute in Turnschuhen, irgendwie muss ich ja meine mangelnde Körperhöhe ausgleichen. Reiter hat mich schon gefragt, ob ich überhaupt in Sportschuhen laufen kann oder ob ich meine Joggingrunden auch in High-Heels drehe. Wie witzig.

Er wirft seine halb geraucht Zigarette weg, tritt sie aus und folgt mir grinsend.

Wir fahren nach Tittenkofen, wo man mitten in einem Maisfeld am Ortsrand den Toten gefunden hat. Der Mais steht über zwei Meter hoch. Es riecht intensiv nach Land., eine Mischung aus frisch gemähtem Heu und Odel. Die Kollegen von der Spurensicherung sind bereits da. Der Fundort ist abgesperrt, die Schaulustigen stehen an der Absperrung und machen Fotos und Videos mit ihren Handys. Ein paar Jugendliche lachen und grölen, während sie immer wieder neue Aufstellungen für Selfies ausprobieren.

Ich bin erstaunt, dass sich so früh am Morgen schon so viele Menschen eingefunden haben, immerhin ist es noch nicht einmal acht Uhr. Vor allem Jugendliche, die in den Ferien sonst lange im Bett liegen, hier um diese Uhrzeit anzutreffen, finde ich irritierend. Da hat wohl einer etwas mitbekommen und dann seine Freunde informiert. Die Jungs scheinen sich köstlich zu amüsieren, dabei liegt da hinten ein Mensch, der gerade gestorben ist. Das scheinen sie völlig zu vergessen oder es ist ihnen egal, was noch schlimmer wäre.

Ich bin stinksauer.

Deshalb spreche ich einen sehr jungen, pausbäckigen Polizisten an, der neben der Absperrung steht. Erzürnt halte ich ihm meinen Ausweis unter die Nase.

„Servus, Lana Beck vom LKA. Sag mal, das gibt’s doch nicht. Kannst du bitte die blöden Kiddies wegschicken, zum Teufel. Das kann nicht euer Ernst sein, zuzulassen, dass die sich hier so pietätlos benehmen.“

Der junge Polizist zuckt erschrocken zusammen, wirft einen kurzen Blick auf die Horde und läuft vor Verlegenheit rot an.

„Ja, klar, sofort, mach ich!“

Die Jungs ziehen unter leisem Protest ab. Als LKA-Mitarbeiterin verfüge ich über einen besonderen Status und ich zögere nicht, das auszunutzen.

Mit meinen geländegängigen Flip-Flops, über die ich die üblichen weißen Plastiküberzieher gestülpt habe, folgen wir der Schneise im Maisfeld. Etwa 20 m vom Rand entfernt kommen wir zum Fundort der Leiche.

„Wer findet denn bitte mitten im Maisfeld einen Toten?“, frage ich verwundert, während ich versuche, die Plastiküberzieher mit meinen Flip-Flops, die grundsätzlich in unwegsamem Gelände anstelle der hohen Schuhe zum Einsatz kommen, in Einklang zu bringen, was nicht so einfach ist.

Reiter blättert in seinem Tablet.

„Ein junges Pärchen wollte heute Morgen auf dem Rückweg von einer Party in Landshut noch einen kleinen Abstecher machen, um sich bei dem schönen, warmen Wetter im Maisfeld zu amüsieren. Das fanden sie wohl romantisch. Um nicht gesehen zu werden, sind sie ein paar Meter ins Feld rein und dabei direkt über die Leiche gestolpert. Krass, oder? Was für ein Zufall. Der junge Mann scheint nämlich noch nicht so lange tot zu sein, vielleicht seit gestern. Normalerweise wäre er vor der Ernte nicht gefunden worden. Bis dahin hätten ihn vielleicht sogar die Viecher, die hier so rumlaufen, zamgefressen.“

„Na, dann hoffen wir, dass uns das auch was bringt. Was ist denn die Todesursache?“

„Das sagt uns bestimmt gleich der Bernie, ich hab seinen Wagen schon gesehen.“

Auf einer breiten, niedergetrampelten Fläche im Maisfeld wimmelt es von schwer beschäftigten Menschen. Polizei, Gerichtsmediziner, Polizei-Fotografen, alle sind schon da und ziehen immer weitere Kreise im Mais. Die Bestatter warten geduldig mit ihrer Zinkwanne darauf, dass die Polizei die Leiche zum Abtransport freigibt. Das ganze Chaos wird dem hiesigen Bauern nicht gefallen.

Im Zentrum des Geschehens liegt ein sehr junger, dunkelhäutiger Mann. Im ersten Moment sieht er von weitem aus, als würde er schlafen, aber beim genaueren Hinsehen kann man erkennen, dass sein Schädel eingeschlagen ist. Sein Gesichtsausdruck ist schmerzverzerrt, panisch und zutiefst entsetzt. Die Augen stehen vor Grauen weit offen, genauso wie der Mund, aus dem im Moment des Todes ein letzter Schrei ertönt sein muss. Jetzt entdecken wir auch die blutverkrusteten Wunden, auf denen sich bereits jede Menge Schmeißfliegen tummeln. Wir schauen uns entsetzt an, denn ihm fehlen der Penis und die Hoden. Seine Hose ist ein Stück hinuntergezogen und auf dem entsprechenden Areal sitzen Tausende von Schmeißfliegen, die ein Ekel erregendes Geräusch machen.

„Oh mein Gott, was ist denn hier passiert? Wer macht denn sowas? Igitt. Da war wohl jemand sehr wütend.“ Ich schüttele mich angewidert.

Reiter, der bei diesem Anblick sehr blass geworden ist, nickt nur. Wenn es um das Abschneiden von Penissen geht, sind Männer einfach empfindlicher als Frauen.

Ich schaue mich nach dem Gerichtsmediziner um, der eigentlich Bernhard Maria Graf heißt, aber von allen nur Bernie genannt wird. Bernie ist groß und schlaksig und trägt sein blondes, gewelltes Haar schulterlang, obwohl er die vierzig bestimmt schon seit einiger Zeit überschritten hat. Seine Jeans ist zerrissen, sein T-Shirt von AC-DC. Er bemüht sich sehr, jung, hipp und cool rüberzukommen, was allerdings misslingt, da er nicht mehr jung ist und das Hippe und Coole dadurch aufgesetzt wirkt. Er hat den Ruf, alles, was nicht bei drei auf dem Baum ist, anzumachen. Irgendwie entspricht er dem Klischee des bayerischen Stenzes, finde ich. Wenn er nicht im Dienst ist, spricht er ein wunderbares Oberbayerisch. Und auch wenn ich es manchmal grenzwertig finde, was er so mit der Damenwelt treibt, mag ich ihn trotzdem.

Bernie packt gerade seine Sachen zusammen, als er uns sieht.

„Ja grias di, Lana. Lang scho nimma gsehn. Geht’s guad? Servus Reiter.“

Er zwinkert mir zu und nickt in Richtung Reiter.

„Servus Bernie, passt scho. Sag mal, ich hoffe, die haben dem den Schwanz und die Eier erst nach seinem Tod abgeschnitten?“, frage ich bewusst emotionslos.

„Tja, ich fürchte, dass er da leider noch bei Bewusstsein war, denn schau her, diese Riesensauerei mit dem ganzen Blut, das er verloren hat, das wäre nicht so viel, wenn es posthum passiert wäre. Tja, armer Kerl. Womöglich ist er verblutet, er kann aber auch an einem Schädelbruch gestorben sein, denn wie du sehen kannst, hat er offensichtlich mehrere Schläge gegen den Kopf abbekommen. Schaut auch so aus, als wenn er gequält worden wäre, denn er hat Brand- und Stichwunden überall am Körper. Der Täter war zumindest mit einem Messer bewaffnet und ob das Opfer nur mit schweren Stiefeln oder einem Gegenstand gegen den Kopf geschlagen wurde, kann ich noch nicht sagen. Das war auf jeden Fall kein schöner Tod.“

Wenn es um berufliche Dinge geht, wechselt er in eine besser verständliche Sprache und bemüht sich um ein ordentliches Hochdeutsch, was manchmal verwirrend sein kann.

„Was denkst du, waren das mehrere oder ein Einzeltäter?“ Ich mustere ihn interessiert.

„Tja, Babe, das ist dann wohl deine Aufgabe, das rauszufinden. Ich kann dir nur was zu seinen Verletzungen sagen, die ich auf den ersten Blick erkennen kann. Genaueres erst, wenn ich ihn obduziert hab, okay? Frag morgen Nachmittag mal nach. Kommst vorbei, so gegen Viere, bis dahin müsst ich schon was wissen.“

„Passt, mach ma. Bis dann!“

Ich rufe ihm hinterher.

„Äh Bernie, was anderes – habt ihr die fehlenden Teile irgendwo gefunden?“

Dabei deute ich dezent auf den Fliegenbedeckten Unterleib der Leiche.

„Na, bisher noch ned. Die haben einen losgeschickt, sie zu suchen. Die können sonst wo sein, theoretisch auch im Magen von irgendeinem Viehzeug, das hier so rumläuft.“

Er winkt kurz und verschwindet dann zwischen den Maispflanzen.

Ich ziehe nachdenklich meine Handschuhe an, beuge mich über die Leiche und betrachte sie ganz genau. Das war gestern noch ein hübscher junger Mann, vielleicht Afghane, Syrer oder Marokkaner? Ich kann es nicht sagen, es ist schwer für mich, die Unterschiede auszumachen. Ich durchsuche seine Sachen. Er trägt eine neue Jeans und ein T-Shirt von Marco Polo. Alles sauber und ordentlich, auch die Turnschuhe sind neu, aber ziemlich verdreckt. Vermutlich ist er eine Weile durch die Gegend gelaufen, es hat gestern etwas geregnet und ist dadurch matschig, insofern ist es kein Wunder, dass seine Schuhe und der Rand seiner Jeans voller Schlammspritzer sind. Ist er vor jemandem geflüchtet? Aber vor was, vor wem? Oder ist das zu weit hergeholt?

„Haben wir eigentlich die Tatwaffe gefunden? Irgendwelche Ausweispapiere?“, frage ich, an niemand Besonderen gerichtet.

Eine junge Polizistin kommt auf mich zu und reicht mir zwei gefüllte Plastikbeutel.

„Keine Tatwaffe weit und breit. Und ja, ein Handy, I-Phone 5, relativ neu und Ausweispapiere. Demnach ist das Ahmad Malki, ein Flüchtling aus Syrien, 17 Jahre alt, allein unterwegs. Er ist seit letztem Jahr in Deutschland und lebt bei einer deutschen Pflegefamilie, den Moosgrubers aus Tittenkofen. Der optische Abgleich des Toten mit dem Foto auf dem Ausweis ergibt eine 100-Prozentige Übereinstimmung.“

„Wissen die Pflegeeltern schon Bescheid?“

„Keine Ahnung, von uns hat noch niemand mit denen gesprochen. Wir denken, das macht‘s ihr aus München. Aber das ist ein kleines Kaff hier, da spricht sich sowas schnell rum.“

„Ja gut, dann müssen wir mal mit den Moosbauers sprechen, vielleicht gibt es da Anhaltspunkte für uns.“

Ich gebe ihr die Plastikbeutel zurück.

„Moosgruber heißen die“, korrigiert mich die junge Polizistin leicht errötend, als sie von einem anderen Kollegen gerufen wird.

„Marei, geh weida, wir miasma los. Lass des die vom LKA macha.“

Ich drehe mich kurz in Richtung des Sprechers um. Die Stimme kommt mir vage bekannt vor. Schnell senke ich den Kopf und gebe vor, die Leiche, bei der ich knie, weiter zu untersuchen. Oh je, der Alois aus meinem Heimatdorf, was macht der denn hier? Dafür habe ich jetzt keinen Nerv, hoffentlich schaut er nicht genauer hin und erkennt mich. Erleichtert stelle ich fest, dass er schon wieder auf dem Weg zurück durchs Maisfeld ist. Immer noch attraktiv, konstatiere ich, während ich ihm hinterherschaue und seinen knackigen Hintern bewundere. Dann muss ich über mich selbst lachen und wende mich wieder der Leiche zu.

Ich untersuche die Taschen der Jeans, bisschen Kleingeld, ein Zettel, auf dem steht: „Demain, 17:00“, ein gebrauchtes Taschentuch. Hm, Morgen, 17 Uhr? Ein Tête-à-Tête? Wie gut, dass ich außer Niederbayerisch auch Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Persisch kann. Meine Eltern sprachen früher immer Farsi, wie man die Sprache im Iran nennt, damit mein kleiner Bruder Momo und ich sie nicht verstehen, doch ich habe das erstaunlich schnell gelernt, weil ich immer schon sehr, sehr neugierig war. Dabei ist mir dann auch klar geworden, dass das Lernen von Sprachen mir keine Schwierigkeiten bereitet, selbst wenn die Schrift eine andere ist.

Ich rieche an dem Taschentuch, ziemlich neutral, die Flecken könnten bisschen salzig sein, Tränen? Wahrscheinlich irrelevant, doch sollte es auf jeden Fall untersucht werden. Ich packe die beiden Sachen jeweils in Plastikbeutel, die ich immer bei mir habe, ziehe die Handschuhe aus und signalisiere den Bestattern, dass sie die Leiche nun mitnehmen können. Dann sehe ich mich nach Reiter um. Wo treibt sich der jetzt wieder rum?

Kapitel 2 – Traurige Nachricht

Mittwoch, 10. August 2017, vormittags

Reiter hat einen unorthodoxen Arbeitsstil. Er raucht gerne mal eine Zigarette mit den Schaulustigen, spricht mit allen und jedem, tut dabei ganz jovial und bayerisch kumpelig und erhält dadurch oft gute Hinweise, weil die Leute ihm vertrauen. Als ich aus dem Maisfeld komme, sehe ich ihn auch tatsächlich etwas abseits mit neugierigen Einheimischen stehen, in der Hand eine Zigarette, und ratschen, als wäre er auf einem Dorffest. Ich mache ihm ein Zeichen mit dem Kopf, woraufhin er im Gehen etwas zu seinen drei Zuhörern sagt, die daraufhin laut auflachen.

Mit schief gelegtem Kopf frage ich ihn:

„Na, wieder Witze auf meine Kosten gemacht?“

„Hab ich“, sagt er ungerührt, tritt seine Zigarette direkt auf dem Asphalt neben dem Wagen aus und setzt sich ans Steuer.

„Warum fährst eigentlich immer du? Das ist sowas von retro…“, maule ich.

„Weil ich es kann und weil ich in jeder Hinsicht älter bin als du, basta. Die Diskussion hatten wir doch schon.“

Ich seufze demonstrativ.

„Also gut, was hast du rausgefunden, schieß los.“

Auf der kurzen Fahrt zum Haus der Moosgrubers klärt Reiter mich auf. Die Personen, mit denen er gesprochen hat, kannten den Toten.

„Die Leute hier nehmen echt kein Blatt vor den Mund. ‚Ja, schon blöd, dass der Ahmad jetzt tot ist, aber der war komisch‘, meint einer. ‚Irgendwas war unheimlich an dem, der ist bestimmt ein IS-Kämpfer, irgendwann hätt der uns alle in die Luft gejagt‘ sagt ein anderer. Und die Dritte im Bunde spricht nur von dem ‚Scheiß Kanack halt‘ und ‚was der überhaupt bei uns will. Der ist ja nur wegen der Kohle hier‘, das hat die tatsächlich gesagt, dabei ist er doch bestimmt aus Syrien vor dem Krieg geflohen und gerade mal 17 Jahre alt. Unglaublich. Lauter so ein Schmarrn, das übliche unbedachte Bla Bla Bla, Gerüchte, Halbwissen, Vorurteile. Mitleid hat da keiner gehabt. Also früher, Mädel, ich sag‘s dir, da hätten die sich das nicht getraut, das so laut zu sagen. Die haben sich grad beinahe brutal in die Haare gekriegt, weil eine jüngere Frau Stellung bezogen und den Leuten gesagt hat, dass sie einen fürchterlichen Schmarrn daherreden. Mei o mei, das sind schwierige Zeiten.“

Ich ziehe die Überzieher zusammen mit meinen Flip-Flops aus. Zum Wandern und durch unwegsames Gelände bin ich im Sommer am liebsten mit meinen luftgepolsterten, schwarzen Flip-Flops unterwegs, was mir oft erstaunte Blicke einträgt. In Verbindung mit meinem exotischen Aussehen und meiner quirligen Art denken die Leute wahrscheinlich, sie hätten die dämlichste Touristin aller Zeiten vor sich. Doch ich weiß genau, was ich tue. Flip-Flops sind super und ich kann richtig gut darin laufen. Eigentlich bin ich am allerliebsten barfuß, schon als Kind habe ich mir immer Socken und Schuhe ausgezogen und damit meine Mutter in den Wahnsinn getrieben. Gleichzeitig liebe ich Designer-Schuhe, vor allem hohe von Louboutin, Manolo Blahnik oder Jimmy Choo. Dafür gebe ich auch viel Geld aus, denn Schuhe sind mein Hobby oder besser meine Leidenschaft. Meine schwarzen Louboutins liegen sicher im Kofferraum des dunkelblauen Dienstautos und warten auf den nächsten Einsatz. Ich lege meine nackten Füße vorne auf die Ablage und öffne das Fenster. Es ist heute sehr warm.

„Du hast recht“, nehme ich den Faden wieder auf „Da sind irgendwelche Schleusen geöffnet worden und plötzlich kommen all die braunen Gedanken wieder ans Tageslicht. Dieser Hass überall und dieser fürchterliche Neid, das macht mich echt fertig. Ich merk das immer wieder, dass mich die Leute komisch anschauen und erst einmal unsicher sind, ob ich ein Flüchtling bin oder so. Gut, dass ich Bayerisch kann und gute Schuhe trage.“

Ich muss lachen. Vor kurzem habe ich in der Pause im Park gesessen und gelesen, meinen Kaffeebecher neben mir auf der Parkbank, da hat doch tatsächlich jemand Geld in meinen teuren, noch fast vollen Becher geworfen. Wer bitte macht denn sowas? Das war im Zweifel gut gemeint, aber hey, in einen vollen Becher mit White Chocolat Mocha?

Selbstverständlich gibt es auch Flüchtlinge, die sich schlecht benehmen und Verbrecher sind. Immer wieder stoßen wir auf solche Fälle. Manchmal denke ich, mit dem deutschen Rechtssystem stimmt etwas nicht, weil es tatsächlich Typen gibt, die immer wieder auftauchen und die einen bei den Verhören offen auslachen, weil sie genau wissen, dass man sie nicht abschieben und oft auch nicht bestrafen kann. Das ist ausgesprochen frustrierend. Ab und zu wird zwar auch einer verurteilt oder abgeschoben, aber das sind mir, genau wie vielen Kollegen, oft zu wenige, vor allem, wenn sie dann irgendwann wieder vor einem sitzen, weil sie illegal zurückgekommen sind. Man muss halt differenzieren zwischen flüchtenden Menschen, die Hilfe brauchen und auch dankbar annehmen, und Menschen, die sich als Flüchtlinge ausgeben, dann aber unser System gnadenlos ausnutzen.

Reiter bremst.

„Aufwachen, Prinzessin, wir sind da. Da drüben ist das Haus der Moosgrubers. Wir gehen vor und überbringen die schlechte Nachricht und die Spusi soll noch so zehn Minuten warten, sagst du bitte schnell Bescheid?“

Der Wagen der Spurensicherung ist kurz hinter uns vorgefahren. Ich erledige meinen Auftrag und folge Reiter, der bereits an der Haustür klingelt.

Eine junge, offensichtlich türkischstämmige Frau mit langen dunklen Haaren und einem Baby auf dem Arm öffnet uns die Tür:

„Grüß Gott“, sagt sie und schaut uns erwartungsvoll und freundlich mit großen dunklen Augen an.

„Ähm, ja, grüß Gott. Frau Moosgruber?“, frage ich leicht irritiert. Aussehen und Sprache passen im ersten Moment nicht zusammen.

„Ja, die bin ich. Was kann ich für Sie tun? Ist was passiert? Ich kenne Sie nicht und Sie schauen so offiziell aus.“

Reiter ergreift die Initiative und zeigt seinen Ausweis. Ich tue es ihm nach.

„Frau Moosgruber, wir sind Tobias Reiter und Lana Beck vom LKA. Dürfen wir reinkommen?“

Die junge Frau lächelt verunsichert.

„Entschuldigen Sie, selbstverständlich. Bitte kommen Sie. Was ist denn passiert? Es ist doch nichts mit meinem Mann, oder?“

Sie sieht jetzt ernsthaft erschrocken aus. Ich beruhige sie.

„Nein, Frau Moosgruber, mit ihrem Mann ist nichts, oder zumindest ist uns nichts bekannt. Es geht um Ahmad Malki.“

Dilek Moosgruber macht uns ein Zeichen, ihr in die Küche zu folgen. Dort setzt sie das Baby in eine Wippe und dreht sich mit einem Stirnrunzeln zu uns um.

„Ach herrje, was hat er denn angestellt? Er ist normalerweise so ein netter Junge, das kann sich nur um einen Irrtum handeln, da bin ich sicher. Möchten Sie einen türkischen Tee, ich habe gerade einen aufgegossen.“

Sie fängt sofort an, nervös damit herumzuhantieren.

Das Haus der Moosgrubers liegt am Ortsrand und ist sehr groß. Bei der Einrichtung hat eindeutig das orientalische Flair über den oberbayerischen Chic gesiegt. An allen Ecken und Enden finden sich türkische Einflüsse. Wir nehmen am modernen Holzesstisch mit der goldenen Hängelampe Platz und warten schweigend ab, bis Frau Moosgruber alles hergerichtet hat.

„Also, was ist los?“, fragt sie beim Hinsetzen. „Was hat er falsch gemacht? Soll ich ihn holen?“

Ich schlucke. Das ist der unangenehmste Teil unserer Tätigkeit und ich hasse es, den Leuten sagen zu müssen, dass einer ihrer Liebsten einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Reiter nickt mir auffordernd zu, vielen Dank auch.

„Frau Moosgruber, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass wir heute Morgen einen Toten im Maisfeld aufgefunden haben, bei dem es sich höchstwahrscheinlich um Ahmad Malki handelt.“ Ich lege so viel Mitgefühl wie möglich in meinen Ton.

Dilek Moosgruber, die bei der schrecklichen Nachricht die Hand vor den Mund schlägt, schaut uns dermaßen entsetzt an, dass ich schon denke, sie bekommt einen Herzinfarkt. Dann springt sie plötzlich auf und läuft in den Keller, um sich selbst davon zu überzeugen, dass Ahmad nicht, wie sonst üblich um diese Zeit, im Bett liegt. Heftig schluchzend kommt sie die Treppe hoch. Da klingelt es auch schon. Ich stehe auf und gehe zur Tür.

„Frau Moosgruber, das ist die Spurensicherung, die sich das Zimmer von Ahmad anschauen müsste. Ich mache ihnen auf, okay?“

Dezent weise ich die beiden Kollegen mit den weißen Anzügen und den großen Koffern in die Richtung, aus der Dilek Moosgruber soeben wieder zurückkommt.

„Servus Kollegen, guckt mal bitte da unten. Frau Moosgruber, wo genau ist denn Ahmads Zimmer?“

Mit Tränen in den Augen sagt Dilek Moosgruber:

„Erste Tür rechts, ist nicht zu übersehen. Was ist denn eigentlich passiert? Das kann doch nicht sein. Der Ahmad ist ein lieber, netter Kerl. Die Leute hier sind halt etwas schwierig und es gab immer wieder Ärger, aber der Ahmad hat keiner Fliege was zu Leide getan.“

„Haben Sie denn eine Vorstellung, wer ihm was Böses hätte wollen können?“, fragt Reiter vorsichtig.

Dilek Moosgruber setzt sich wieder an den Esstisch und schüttelt resigniert den Kopf.

„Mei, wissen Sie, da gibt es viele, die ihn weghaben wollten. Da kann ich Ihnen jetzt nicht mal speziell jemanden nennen. Wir wurden auch angefeindet, dass wir „so einen“ aufgenommen haben. Die Leute vergessen, dass ich ja auch aus der Türkei stamme. Aber weil mein Mann so ein eingefleischter Oberbayer ist und ich jetzt auch Moosgruber heiße und perfekt bayerisch spreche, wettern die offen vor mir gegen das Gschwerl, das so ins Land kommt. Und wenn ich dann sage ‚also wart‘ a mal, ich bin ja auch Türkin, auch wenn ich in Deutschland geboren bin‘ dann sagen die immer ‚mei, das ist doch ganz was anderes. Du gehörst doch zu uns‘. Ist nicht so einfach im Moment.“

Ich nicke verständnisvoll.

„Ich weiß sehr gut, wovon Sie reden. Trotzdem, ist Ihnen irgendetwas aufgefallen in den letzten Tagen, gestern, irgendwas, was anders oder komisch war? Hat er etwas gesagt, eine Bemerkung gemacht?“

„Ich glaub, er hatte Liebeskummer wegen der Nachbarstochter, der Lisa. Sie hat sich ein bisschen mit ihm angefreundet, aber nachdem die anderen in ihrer Klasse sie blöd angemacht und auf Social-Media gedissed haben, hat sie sich wieder zurückgezogen. Ist ja auch schwer, sich mit 15 Jahren gegen die allgemeine Meinung zu stellen.“

Sie schluchzt laut auf, während ihr dicke Tränen übers Gesicht laufen. Verzweifelt versucht sie, sich zu fassen. Sie schnieft und putzt sich die Nase, dann nimmt sie ihren greinenden Sohn aus der Wippe.

„Entschuldigen Sie, ich müsste bitte den Leopold füttern“, sagt sie mit zitternder Stimme. „Er isst aber nicht, wenn Fremde da sind. Könnten Sie vielleicht in ein oder zwei Stunden wiederkommen? Ich muss auch meinem Mann Bescheid sagen und meine Mutter anrufen, dass sie kommt, vielleicht fällt denen mehr ein. Wissen Sie, ich kann mich im Moment nicht gut konzentrieren und bin total geschockt.“

Wir nicken verständnisvoll, stehen sofort auf und verabschieden uns. Der Kleine kann ja nun nichts dafür, außerdem ist es fast mittags und wir sind beide sehr hungrig. Deshalb verabreden wir ein weiteres Treffen für nachmittags.

Kapitel 3 – Erdinger Charme

Mittwoch, 10. August 2017, mittags

„Lass uns nach Erding fahren, das ist nicht weit. Da kriegen wir wahrscheinlich eher was Gscheit‘s zu essen als hier, oder was meinst du?“, frage ich und setze mich auf den Beifahrersitz.

Reite grummelt in seinen grau-melierten 5-Tage-Bart und fährt los.

„Ich brauch aber was Vegetarisches.“ Er ist offensichtlich missgestimmt.

„Mann Reiter, jetzt hör auf zu heulen. Du kriegst schon deinen vegetarischen Schmarrn, aber ich brauch was Ordentliches. Ich hab so einen Hunger, das ist der Wahnsinn. Wir gehen zum Weißbräu, da gibt es sowohl für dich als auch für mich was. Okay?“

Die Essensfrage ist ein Problem. Reiter ist ein waschechter Münchener, aber trotzdem Vegetarier, seit ihm sein Arzt etwas von schlechten Blutfettwerten erzählt hat. Alle im Dezernat hoffen, dass diese Phase wieder vorbeigeht, denn seine Laune ist seither oft nicht die beste. Ich dagegen bin ernährungstechnisch eine echte Niederbayerin, mir geht nichts über eine schöne Leberkässemmel mit süßem Senf, Weißwürste aus der Großmarkthalle, einen leckeren Schweinsbraten mit Krautsalat und Knödel oder einen selbstgemachten Obazdn. Ohne Butterbrezn zum Frühstück geht sowieso nichts und abends mag ich gerne einen gscheiten Wurstsalat oder so etwas. Reiter sieht mir immer fassungslos beim Essen zu, denn ich glaube, er kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, wo ich das alles hinstecke. Ich, ehrlich gesagt, auch nicht.

Wir machen uns auf den Weg nach Erding. Das sind nur gut sechs Kilometer, allerdings fahren wir über eine Landstraße, auf der gefühlte hundert Traktoren unterwegs sind, die sich schwer überholen lassen. Als wir endlich in Erding ankommen, haben wir bereits zwanzig Minuten verloren.

„Boah, das ist ja nervig. Ich würde da nicht jeden Tag unterwegs sein wollen. Furchtbar“, stöhne ich beim Aussteigen.

Wir bekommen tatsächlich einen Parkplatz mitten in der Stadt, direkt neben dem traditionellen Gasthof Zum Erdinger Weißbräu an der Langen Zeile, der Haupteinkaufsstraße von Erding. Ich mag die charmante kleine Stadt mit ihrem überschaubaren Zentrum. Man findet meist entspannt einen Parkplatz und es gibt nette Läden und gute Gastronomie. Reiter schließt das Auto ab und geht schnellen Schrittes Richtung Lokal. Er hat wohl Hunger, da interessiert ihn nichts anderes, außerdem haben wir nicht beliebig viel Zeit.

„Sag mal, was machst du da eigentlich?“, rufe ich ihm hinterher und deute auf die überall gut sichtbaren Parkautomaten.

„Ah geh, da passiert schon nichts. Wir sehen doch, wenn jemand kommt. In so einem Kaff werden die schon nicht so oft kontrollieren.“ Entschlossen dreht er sich wieder um.

Ich denke, er macht einen Fehler, zucke aber die Schultern und folge ihm. Seine Sache.

Meine Freundin Hannah, die in Erding lebt, hat mir schon oft erzählt, dass die Stadt eine ganze Armada von Parksünderjägern beschäftigt, die alles und jeden aufschreiben. Reiter ist gefahren, also ist es seine Verantwortung. Das will ich sehen, wie er sich da rausredet.

Wir haben Glück und finden einen schönen Platz auf der Terrasse, die eigentlich nur ein abgetrennter Bereich des Bürgersteigs vor dem Lokal ist. Das Erdinger Weißbräu, das einen guten Ruf genießt, ist der Wirtshausableger der Brauerei, die etwas außerhalb im Gewerbegebiet liegt und sich als eine der wenigen großen Brauereien in Deutschland noch in privater Hand befindet. Solange der alte Brombach lebt, wird die Brauerei wohl auch nicht an eines der Konsortien, die schon mit den Hufen scharren, verkauft werden. Bei einer Besichtigung der Brauerei mit Freunden im letzten Jahr habe ich tatsächlich den weißhaarigen Besitzer mit der großen Brille persönlich getroffen. Er war sehr zugewandt und freundlich.

Wir setzen uns. Der Holztisch ist für mich etwas zu hoch, deshalb bitte ich die Bedienung im Dirndl um ein Kissen. Die ältere Frau lächelt mich freundlich an und zwinkert.

„Ja, tut mir leid, unsere Bänke sind etwas hart, ich hol Ihnen am besten gleich zwei Kissen!“

Ich lache. „Danke, das ist sehr nett!“

Reiter schmunzelt hinter seiner Speisekarte.

„Tja, Beck, das ist hier halt für Normalwüchsige und nicht für so Zwerge wie dich. Wie du es überhaupt mit der Körpergröße ins Kommissariat geschafft hast, ist mir immer noch ein Rätsel.“

„Erste Regel: Blenden und Täuschen. Lauf mal allen bei der Aufnahmeprüfung auf zehn Zentimeter High-Heels davon, dann nehmen die dich überall und denken, du bist größer als du bist. Außerdem ist bei mir alles ins Hirn gegangen und es war von Anfang an klar, dass ich immer einen großen, kräftigen Kerl dabeihaben würde, der im Zweifel die Leute verhaftet. Abgesehen davon bin ich die beste Schützin im Kader und Kampfsportlerin, mit dem schwarzen Gürtel in Karate hol ich dir den größten Verbrecher von den Beinen. Also mach dir keine Sorgen, ich pass schon auf dich auf.“

Ich grinse dreckig.

Er lacht schallend. „Na, dann bin ich ja beruhigt. Dann kann mir nichts mehr passieren.“

„Doch. Du hast grad ‚nen Strafzettel gekriegt, da vorne läuft die Politesse.“

Reiter dreht sich um, dann flucht er lautstark und nicht jugendfrei. Er springt auf und ruft mir beim Lossprinten zu „Bestell mir die Kässpatzn und a Radler“ und weg ist er.

Ich studiere gerade die Karte, als mir plötzlich jemand von hinten die Augen zuhält.

„Mann Reiter“, will ich schon schimpfen, stocke dann aber. Das sind Frauenhände.

„Hannah?“, frage ich. Die Hände lösen sich und ein blonder Haarschopf beugt sich über mich und küsst mich auf die Wange.

„Hi Lana-Schätzchen, grüß dich. Du hier in Erding, ohne mir Bescheid zu sagen?“, fragt sie mich gespielt beleidigt, während sie sich hinsetzt.

Sie ist 178 cm hoch und sehr blond, also das komplette Gegenteil von mir. Mit einer anmutigen Geste streicht sie sich die Haare hinter die Ohren und strahlt mich an. Ich kenne keine Frau, die so große grüne Augen mit solch langen, schwarzen Wimpern, die zudem auch noch echt sind, hat. Sie setzt sich mir gegenüber und zupft den Saum ihres sehr eleganten Minikleides von Isma Berlin, einer jungen aufstrebenden Designerin, deren Kollektionen sehr begehrt und ständig ausverkauft sind, über ihren Knien zurecht. Dann steckt sie sich eine Zigarette zwischen ihre vollen Lippen, einem Erbe ihrer kroatischen Vorfahren, und zündet sie an. Selbst das Rauchen wirkt an ihr elegant und fein. Ich liebe Hannah Novak, sie ist eine meiner besten Freundinnen, gleichzeitig beneide ich sie glühend, weil sie so elegant ist, während ich eher hemdsärmelig unterwegs bin und immer etwas derangiert wirkte, selbst wenn ich mich mal aufbrezele.

Hannah deutet mit ihrer Zigarette Richtung Parkplatz.

„Uih, guck mal, da legt sich grad einer mit der Vroni an, der weiß wohl nicht, dass das sauteuer wird.“

Ich drehe mich um. Reiter gestikuliert wild und redet heftig auf eine kleine, sehr stämmige Person mit kurzen roten Haaren ein. Die sieht schon so aus, als würde sie gleich explodieren.

„Darf ich vorstellen, mein neuer Kollege beim LKA, Tobi Reiter.“

Hannah lacht.

„Armer Kerl. Du bist gemein, hast du ihn nicht gewarnt?“

„Nö, wieso, der ist doch schon groß. Außerdem ist immer der zuständig, der das Auto fährt, und da er das als sein angestammtes männliches Grundrecht betrachtet, finde ich das jetzt grad überhaupt nicht so schlimm.“

Wir grinsen und klatschen uns im besten Einvernehmen ab.

„Sag mal, was machst du eigentlich am helllichten Tag in Erding, Hannah? Du hast doch sonst immer jede Menge Termine in München?“

„Ach, ich habe heute meinen Erledigungstag, Arzt und so weiter. Ich muss nachher noch jede Menge Unterlagen für einen spektakulären Prozess übersetzen. Eigentlich wollte ich nur schnell meine Sonnenbrille richten lassen als ich dich gesehen hab. Und du, was machst du hier bei uns im beschaulichen Erding? Ist was passiert?“

„Wir ermitteln in der Nähe und sind grad in der Mittagspause.“

Ich will nicht darüber sprechen, schon gar nicht an so einem öffentlichen Ort, mal abgesehen davon, dass ich noch nichts weiß.

Hannah lächelt wissend.

„Du hast recht, falscher Ort, falsche Zeit. Lass uns endlich mal wieder in Ruhe ratschen. Warum kommst du nicht nach deinem Termin bei mir vorbei und wir trinken ein Fläschchen? Du könntest dich doch von deinem Kollegen absetzen lassen und dann mit der S-Bahn heimfahren.“

„Hm, das würde ich sehr gerne, aber dummerweise habe ich ausgerechnet heute Abend ein Date. Aber wer weiß, ob das überhaupt klappt. Falls was dazwischenkommt und die Verabredung platzt, komm ich gerne. Wir haben uns schon viel zu lange nicht mehr gesehen, finde ich. Kann ich dich später anrufen, falls sich was ändert? Bist du daheim?“

„Ja klar, ich bin heute da, kein Problem. Ein Date? Ich will alles wissen!“

Sie zwinkert mir zu, drückt ihre Zigarette im Aschenbecher aus und steht auf.

„Ruf mich an. Ich muss los, Süße.“

Sie dreht sich um und prallt dabei gegen Reiter, der gerade ausgesprochen wütend von seinem verlorenen Gefecht mit Vroni zurückkommt, als Zeichen seiner Niederlage einen zerknüllten Strafzettel in der Hand.

„Mensch, pass doch auf“, raunzt er Hannah ungehalten und sehr unfreundlich an, während er sich zu mir an den Tisch setzt.

„Freut mich auch, du Stiesl. Ciao, Lanalein.“

Hannah küsst mich noch einmal auf die Wange und geht mit wiegenden Schritten davon.

Reiter schaut ihr verblüfft hinterher.

„Ja Herrschaftszeiten, wer ist jetzt das schon wieder?“ Er kann den Blick nicht von ihrer eleganten Kehrseite abwenden. „Die schaut ja gut aus. Wer ist das?“

„Das ist meine Freundin Hannah, von der habe ich dir doch schon erzählt, erinnerst du dich? Die Simultandolmetscherin bei Gericht, die immer so krasse Fälle hat?“

„Ach was, die ist das? Die hatte ich mir ganz anders vorgestellt. Sehr attraktiv, mega Figur, super Augen und dieser sinnliche Mund.“

Er gerät direkt ins Schwärmen und seine blauen Augen blitzen.

Ich lache.

„Na Reiter, da würde ich sagen, das ist der perfekte Start für den Beginn einer wunderbaren Liebesgeschichte, oder? Vor allem, weil du sie als erstes ordentlich angepampt hast. Das kommt gut, das lieben wir Frauen.“

Er verzieht das Gesicht.

„Stimmt, das war nicht sehr charmant. Ich bin ein Depp. Aber ich hab mich über dieses ignorante Weibsstück da drüben grad so aufgeregt. Sagt die doch glatt zu mir, dass ihr das wurscht wäre, wer ich bin, und dass für mich keine anderen Regeln gelten täten als wie für die anderen. So eine depperte Kuh.“

„Sie hat recht und du bist ungerecht. Das weißt du auch ganz genau … Einmal den kleinen Schweinsbraten bitte und einmal die Kässpatzn“, sage ich an die Bedienung gerichtet, die plötzlich an unserem Tisch steht.

„Und zu trinken – ich nehme ein Radler, was magst du, Reiter?“

„Ich auch, merci!“

Wir genießen ein gemütliches Mittagessen unter den schattenspendenden Sonnenschirmen, denn es ist inzwischen sehr heiß. 32 Grad sollen es heute werden und es fühlt sich bereits wie 40 an, so schwül und warm ist es. Mit Bedauern verlassen wir nach dem Essen unseren schattigen Platz und steigen ins kochend heiße Auto, um nach Tittenkofen zurückzufahren. Ich lehne mich mit meinem ärmellosen Oberteil entspannt in den Sitz und kreische auf.

„Au, verdammt, diese Ledersitze sind ja die Hölle. Das brennt.“ Ich reibe mir die nackten Oberarme. Jetzt habe ich extra die Schuhe angelassen, weil ich mir die nackten Füße nicht auf der Ablage verbrennen will. Dass meine nackten Oberarme auf dem heißen Ledersitz das gleiche Schicksal ereilen würde, habe ich nicht bedacht.

Reiter lacht leicht schadenfroh.

„Stell dich nicht so an, du Memme.“

Ich hebe drohend die Hand, als wolle ich ihn schlagen. Vor Schreck duckt er sich tatsächlich weg. Als ob ich ihn jemals schlagen würde, also wirklich. Dann lache ich und sage nur liebevoll:

„Depp“.

 

Kapitel 4 – Verirrte Gefühle

Mittwoch, 10. August 2017, nachmittags

Wir klingeln pünktlich um 15 Uhr bei Familie Moosgruber. Ein großer, attraktiver Mann öffnet, er schaut etwas mitgenommen aus und gibt uns sehr höflich die Hand.

„Grüß Gott, Andreas Moosgruber mein Name, Sie müssen die Herrschaften von der Polizei sein. Kommen‘S bitte rein.“

Eine ältere Frau mit türkischem Aussehen läuft im Eingangsbereich mit Klein-Leopold auf dem Arm auf und ab. Sie nickt uns freundlich zu, deutet auf das Kind und hebt entschuldigend die Schultern.

Dilek Moosgruber schaut zerzaust und sehr verweint aus. Höflich bietet sie uns Tee an, der auf dem Samowar vor sich hin simmert.

„Wenn Sie lieber einen Espresso oder Cappuccino hätten, kein Problem, sagen Sie es einfach. Oder lieber etwas Kaltes?“

„Für mich gerne Espresso“, sage ich und Reiter schließt sich mir an.

Wir nutzen die Vorbereitungszeit und lassen uns von Andreas Moosgruber Ahmads Zimmer zeigen, nachdem die Spurensicherung durch ist und der Raum wieder freigegeben wurde. Wir schauen uns genau um, bevor wir wieder nach oben an den Esstisch zurückkehren, auf dem nun auch schon der Espresso auf uns wartet.

Im Haus ist es angenehm kühl. Draußen im großen Garten, der direkt ohne Zaun an ein Maisfeld grenzt, ist ein kleines Planschbecken für Leopold aufgebaut. Es ist sehr idyllisch und ich frage mich, ob Ahmad nicht unglaublich glücklich war, es so gut getroffen zu haben. Die Moosgrubers sind Mitte Dreißig, jung, modern, aufgeklärt und scheinen von echtem Idealismus erfüllt. Sie sind zutiefst betroffen davon, was ihrem Schützling passiert ist.

„Ich kann es immer noch nicht glauben“, sagt Andreas Moosgruber und streicht sich fahrig die dichten, lockigen Haare aus der Stirn. „Was ist da nur passiert? Gestern war alles noch ganz normal.“

„War es denn normal oder gibt es etwas Besonderes, was Ihnen an Ahmad aufgefallen ist?“, frage ich vorsichtig.

„Ach na ja, Teenager halt. Die sind doch immer mal so und mal so. Er war schon komisch die letzten Tage, aber wo ist jemand komisch ‚komisch‘ oder nur pubertär ‚komisch‘? Ich weiß nicht, ob man das so gut unterscheiden kann. Was ist denn eigentlich genau passiert? Es war demnach wohl kein Unfall, richtig?“

„Stimmt“, sagt Reiter, „er ist ermordet worden. Ich erspare Ihnen nähere Details. Fakt ist jedoch, dass wir eine Beziehungstat nicht ausschließen.“

„Eine Beziehungstat?“

Andreas Moosgruber kann mit dem Begriff offensichtlich nicht so viel anfangen.

„Sie meinen, es hat ihn jemand aus Leidenschaft oder so getötet?“

Ich nicke.

„Oder aus Hass, Habgier, Neid oder aus dem Affekt heraus – es gibt tausend Gründe für eine Beziehungstat. Im Prinzip sind die meisten Taten Beziehungstaten, es sei denn, jemand tötet nur um des Tötens Willen.“

Er vergräbt entsetzt sein Gesicht in den Händen. Seine Frau streichelt seinen Rücken.

„Ach Schatz, das ist alles so furchtbar“, seufzt sie und lehnt ihren Kopf an seinen muskulösen Oberarm. „Haben wir was falsch gemacht? Ich mache mir solche Vorwürfe. Waren wir zu leichtfertig? Ich wollte einfach einem jungen Menschen eine Chance geben. Gerade gestern habe ich erfahren, dass der Mann einer Kundin – ich betreibe einen Modeladen in Erding –“, erklärt sie uns, „ihn nach Abschluss der Schule in seiner Autowerkstatt aufnehmen wollte. Ahmad hat sich so gefreut, er war richtig happy. Das kann doch alles nicht wahr sein.“

Eine einsame Träne läuft ihr über das Gesicht und hinterlässt eine Spur der Trauer, die bewegender wirkt als die üblichen Sturzbäche, die ich in solchen Fällen meist erlebe.

Dilek Moosgruber seufzt.

Die ältere Frau kommt ins Zimmer und bringt den Kleinen, der seiner Mutter krähend die Ärmchen entgegenstreckt. Sie schnieft, wischt sich mit dem Ärmel ihrer Tunika über das Gesicht, dann lächelt sie ihren Sohn an und setzt ihn sich auf den Schoß, während die ältere Frau uns freundlich lächelnd die Hand gibt.

„Gülüzar Yildirim, Grüß Gott. Ich bin die Mutter von Dilek. Entschuldigen Sie bitte vorhin, aber ich hatte gehofft, ich bringe ihn zum Schlafen.“

Sie nimmt sich Tee und setzt sich mit an den Tisch. Gülüzar Yildirim ist an die 60 Jahre alt, spricht perfekt Deutsch und hat wilde dunkle Haare, die in alle Richtungen abstehen und von grauen Strähnen durchzogen sind.

„Haben Sie schon eine Spur?“, fragt sie geradeheraus, während sie uns mit ihren wachen, dunklen Augen fixiert.

Ich schüttele den Kopf.

„Nein, wir stehen ja noch am Anfang. Sie sind die Ersten, mit denen wir sprechen. Also, wenn ich zusammenfassen darf und bitte korrigieren Sie mich, wenn ich etwas falsch sage oder Ihnen etwas dazu einfällt: Ahmad war 17 Jahre alt und ein allein reisender Flüchtling aus Syrien, der über die Balkanroute nach Deutschland gekommen ist. Wissen Sie vielleicht, was mit seiner Familie ist?“

Andreas Moosgruber nickt ernst.

„Die sind alle tot. Der arme Kerl hat seine gesamte Familie im Krieg verloren und war ganz allein auf der Welt.“

Ihm schießen Tränen in die Augen, die er nur mit Mühe zurückhalten kann.

Reiter fragt: „Wie kam Ahmad eigentlich zu Ihnen?“

„Wir haben uns spontan vor fünf Monaten dazu entschlossen, ihn bei uns aufzunehmen. Er war ein sehr netter junger Mann, der höflich und freundlich war. Außerdem hatte er die Begeisterung für den Fitnesssport mit meinem Mann gemeinsam“, erklärt Dilek Moosgruber.

Ich nicke und fahre mit meiner Zusammenfassung fort:

„Also, Ahmad kam vor fünf Monaten zu Ihnen, verliebte sich in die Nachbarstochter und litt an Liebeskummer, weil sie ihn aufgrund des Drucks der anderen zurückgewiesen hatte. Er sollte eine Lehrstelle bekommen und konnte darauf hoffen, bald integriert zu sein. Ist das richtig?“

Beide nicken zustimmend. Reiter, der in der Zwischenzeit sein Handy studiert hat, um eine E-Mail mit Hintergrundinformationen zu überfliegen, klinkt sich ein.

„Ah, interessant, Sie haben ihn mal angezeigt, Herr Moosgruber?“

„Ja, das war, bevor wir ihn kannten. Er hat sich unter falschem Namen in das Fitness-Studio in Erding, in dem ich arbeite, eingeschlichen. Ich habe die Polizei gerufen, aber als ich ihn dann näher kennengelernt und seine Geschichte gehört habe, tat es mir sehr leid und ich habe die Anzeige wieder zurückgezogen. Im Gegenteil, ich habe ihn umsonst trainieren lassen, es war wohl wichtig für ihn, wenigstens körperlich gut trainiert zu sein, wenn seine Seele schon so angeschlagen war. Ich war begeistert, als Dilek ihn auch nett fand und vorschlug, dass wir ihn bei uns aufnehmen könnten. Naiverweise dachte ich, dass alle merken würden, wie nett er ist und auch wie arm dran, ich hatte auf mehr Mitleid bei den Leuten gehofft, aber die haben noch nicht mal zugehört. Na ja, gut, wir wohnen auch erst seit zwei Jahren hier, sind also selber Fremde …“ Er lacht freudlos.

Seine Frau legt ihm beruhigend die Hand auf den Unterarm.

„Ich glaube nicht, dass es jemand von hier war. Die Leute im Dorf sind eigentlich nett, vielleicht etwas vorsichtig und misstrauisch, aber keineswegs mörderisch. Eher war es einer seiner Kumpels aus dem Wohnheim in Dorfen, in dem er vorher war. Die hatten da immer Diskussionen und Streit. Einer hat sogar seinen Zimmernachbarn ermordet, mit zwanzig wütenden Messerstichen, nur weil der die Tür nachts offenstehen lassen wollte und der andere das ‚auf den Tod‘ nicht ausstehen konnte. Tja, da bekommt so ein Spruch doch gleich eine andere Dimension. Die Leute dort sind alle schwer traumatisiert, wer weiß, ob nicht einer neidisch war und sich dann hat hinreißen lassen. Vielleicht gibt es irgendeinen alten Streit, von dem wir nichts wissen? Besonders gesprächig war er ja nie, allein schon wegen der Sprachbarriere. Sein Deutsch war zwar okay, aber noch nicht richtig gut.“

Sie sieht uns traurig an.

„Wissen Sie, natürlich ist der Schmerz ein anderer, wenn man sich nur gut fünf Monate kannte, und natürlich war uns Ahmad noch fremd, aber trotzdem haben wir zusammen in diesem Haus gewohnt und der Verlust ist deutlich spürbar. Ich habe das Gefühl, er kommt jeden Moment die Treppe rauf, streicht sich verlegen die Haare aus der Stirn und sagt dann: ‚Ich kann bitte Butterbrot?‘. Ich hätte ihm eigentlich erklären können, dass er den Satz andersrum stellen muss, aber er war in diesen Momenten immer ganz besonders bezaubernd und ich habe es nicht übers Herz gebracht, seine sprachlichen Fähigkeiten zu kritisieren. Und wenn er mit Leo zusammen war, schien er kurzfristig zu vergessen, was er Schreckliches erlebt hat, und ging hinreißend liebevoll mit dem kleinen Baby um, spielte mit ihm, sang ihm in seiner Heimatsprache vor und brachte ihn zum Lachen.“

Dilek Moosgruber knetet die ganze Zeit ein Taschentuch, während sie spricht. Ich kann mir gut vorstellen, wie schrecklich das für die kleine Familie sein muss.

„Das mit dem Flüchtlingsheim ist ein guter Hinweis, Frau Moosgruber, vielen Dank, dem gehen wir mit Sicherheit nach. Eine andere Frage – wie ist Ahmad denn nach Erding ins Fitness-Studio gekommen, damals von Dorfen aus?“

Andreas Moosgruber antwortet.

„Meist mit einem Angestellten vom Flüchtlingsheim. Einige von denen wohnen in Erding, die haben ihn manchmal mitgenommen.

---ENDE DER LESEPROBE---