Lana Beck und der tote Künstler - Talia Moritz - E-Book

Lana Beck und der tote Künstler E-Book

Talia Moritz

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Beschreibung

In Lana Becks fünftem Fall geht die taffe niederbayerische Ermittlerin mit iranischen Wurzeln durch ein Wechselbad der Gefühle. Eigentlich wollte sie mit ihrem Lebenspartner Jonas, einem Galleristen aus München, in ein etwas ruhigeres familiäres Leben starten. Aber dann tritt Guiliano Farlone, den sie als Pater Julius kennengelernt hat, noch einmal spektakulär in ihr Leben. Und Jonas sitzt plötzlich unter Mordverdacht in Stadelheim in Untersuchungshaft. Ihr bayerisch-bärbeißiger Kollege Tobi Reiter hat alle Hände voll zu tun, den Mord aufzuklären und Lana aus den Ermittlungen rauszuhalten. Die Geschichte nimmt eine dramatische Wendung, als Lana beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln …

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 – Eine schwere Geburt

Kapitel 2 – Katastrophe

Kapitel 3 – Gentest

Kapitel 4 – Ruhe vor dem Sturm

Kapitel 5 – Verhaftung

Kapitel 6 – Freunde

Kapitel 7 – Überraschungen

Kapitel 8 – Undercover

Kapitel 9 – Großeltern

Kapitel 10 – Recherchen

Kapitel 11 – Wilde Mischung

Kapitel 12 – Vera von Kart

Kapitel 13 – Versöhnliche Töne

Kapitel 14 – Jonas

Kapitel 15 – Überraschendes Geständnis

Kapitel 16 – Tamara Voitowa

Kapitel 17 – Vorwürfe

Kapitel 18 – Pure Panik

Kapitel 19 – Zuflucht

Kapitel 20 – Falsche Entscheidung

Kapitel 21 – Reiter (Epilog)

Lana Beck

und der tote Künstler

Ein Unterhaltungskrimi

von

Talia Moritz

Impressum

Lana Beck und der tote Künstler

5. Band der Reihe “Lana Beck”

Texte: © Copyright by Talia Moritz Titelbild: © Copyright by Callum Wale on unsplash.com

Verfasser/Herausgeber zu erreichen über (ladungsfähige Anschrift): Munich Boutique Advisory, Ennemoserstr. 11, 81927 München

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigungen, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.

Karl Valentin

Hinweis:

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und tatsächlichen Ereignissen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1 – Eine schwere Geburt

Samstag, 3. August 2018 – vormittags

Mir ist schlecht und ich habe solche Rückenschmerzen, dass ich es kaum aushalte. Was habe ich bloß getan? Ich kann mich nicht erinnern, eine falsche Bewegung gemacht zu haben. Andererseits, ich bin 12 kg schwerer als normal und mein Bauch schaut aus, als hätte ich einen Medizinball verschluckt. Eigentlich wollte ich aufstehen und mich anziehen, aber ich entscheide mich anders und bleibe im Bett liegen. Am besten lässt es sich auf der Seite aushalten. Das Baby in mir ist ganz ruhig, was mich etwas irritiert, da es sonst sehr lebhaft ist und mich in den letzten Wochen ständig heftig getreten hat. Manchmal habe ich fasziniert meinen Bauch angestarrt, wenn hier und da eine Faust oder ein Fuß zu sehen war.

Jonas ist unterwegs, um etwas zum Frühstücken zu besorgen, und ich bin froh, dass er mein Gejammer nicht mitbekommt. Seit Monaten erträgt er stoisch meine hormonellen Stimmungsschwankungen. Ich bin immer noch sehr erstaunt, dass er bei mir geblieben ist und diesen spannenden Weg auch weiterhin mit mir gehen will. Wir haben uns sehr gut aufeinander eingestellt und im Laufe der Zeit entdeckt, dass wir in vielen Bereichen harmonieren, was das Leben einfacher macht. Er hat die richtige Mischung aus liebevoller Fürsorge und notwendiger Härte, um mit mir fertig zu werden. Ich neige dazu, den Leuten auf der Nase herumzutanzen, wenn sie mir kein Kontra geben, deshalb ist es wichtig, dass er sich gut abgrenzen kann. Wir lassen uns gegenseitig unsere Freiheit, sind aber füreinander da, wenn es nötig ist. Im Moment schwirrt er ständig um mich herum, das nervt. Ich kann zu viel Fürsorge schlecht ertragen.

Seit dem Mutterschutz verbringe ich mehr Zeit bei ihm. Wenn er tagsüber in seiner Galerie ist, gehe ich oft zurück in meine geliebte, kleine 1-Zimmer-Wohnung in der Münchener Elvirastraße, das gibt mir ein Gefühl von Eigenständigkeit und Freiheit. Hin und wieder treffe ich Freunde, gehe Einkaufen oder fahre in die Stadt. Dann laufe ich am Nachmittag zurück zu Jonas‘ entzückendem kleinen Hinterhaus in der Frundsbergstraße. Ein bisschen langweilig finde ich es zwar schon, so ganz ohne Arbeit, aber ich verstehe, dass es besser ist, die Wochen vor der Geburt langsam zu machen. Und die letzten Monate im Innendienst waren auch nicht so berauschend.

Wir sind heute zu einem Auftritt meines Bruders Momo und seiner Freundin Ela, die als Jazz-Duo erfolgreich sind, eingeladen. Ich freue mich schon so darauf, endlich wieder rauszukommen, vor allem, weil auch meine Eltern aus Niederbayern zu ihrem Auftritt kommen wollen. Das ist der erste Ausflug für meinen Vater nach seinem Schlaganfall im März. Gott sei Dank hat er sich vollständig erholt, er ist schon wieder ganz der Alte. Inzwischen haben sich meine Eltern auch mit der Berufswahl meines Bruders abgefunden. Er hat verschiedene Sachen probiert, wurde sogar an der renommierten Henri-Nannen-Schule für Journalismus in Hamburg angenommen, aber das war alles nicht das Richtige. Als er Ela in Hamburg kennengelernt hat, eine Musikerin und Sängerin mit einer besonderen, rauen Stimme, hat er die Liebe zu ihr und zur Musik entdeckt. Gemeinsam sind sie jetzt erfolgreich unterwegs. Mich wundert das nicht, mein Bruder ist ein echtes Schnuckelchen. Lange, schwarze, glatte Haare, Römernase, grüne Augen und ein athletischer Körperbau lassen die meisten Frauenherzen höher schlagen. Ich finde, er schaut ein bisschen wie Pierre Brice in seiner Rolle als Winnetou aus, aber das hört er nicht so gerne. Wenn man die Besucher ihrer Konzerte ansieht, erkennt man einen deutlichen Frauenüberschuss. Ela nimmt es gelassen, sie ist ausgesprochen selbstbewusst und lässt sich davon nicht weiter beeindrucken. Das bewundere ich sehr an ihr, ich weiß nicht, ob ich das so gut könnte.

Im Moment frage ich mich allerdings, wie ich es in diesem Zustand, in dem ich mich gerade befinde, eigentlich in die Unterfahrt, den hiesigen Jazzclub, schaffen soll. Jonas kommt zurück.

„Hey Süße, ich hab Marzipancroissants für dich bekommen“, ruft er munter nach oben und ich höre ihn mit Tüten rascheln. „Kommst du zum Frühstücken runter oder soll ich dir ein Tablett machen?“

Ich bin süchtig nach Marzipancroissants. Seit ich schwanger bin, vergeht kaum ein Tag, an dem ich keines esse. Der Bäcker bei uns um die Ecke macht die aber auch so dermaßen gut, dass ich einfach nicht widerstehen kann. Er hat seine Produktion erhöht und hält immer eines für mich bereit, seit er von meiner Leidenschaft weiß.

Jetzt vergrabe ich allerdings meinen Kopf im Kissen, denn ich habe eine üble Schmerzattacke. Sobald es wieder geht, rufe ich schwach:

„Tablett bitte, wenn möglich.“

Jonas sprintet von meiner Stimme alarmiert die Treppe hoch und steht besorgt vor unserem großen, grauen Boxspringbett. Vorsichtig lupft er die weiße Bettdecke, die ich mir über den Kopf gezogen habe, und schaut mich besorgt an, wie ich aus dem Augenwinkel wahrnehmen kann.

„Alles okay mit dir, Lana?“, fragt er sanft, während er sich zu mir aufs Bett setzt und mir zärtlich von hinten eine lange, dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht streift. Ich seufze innerlich, natürlich ist nichts okay, aber dann drehe ich mich zu ihm um und lächele ihn beruhigend an.

„Alles gut, ich hab nur ein bisschen Rücken, keine Ahnung, was ich gemacht habe.“

Leicht zweifelnd mustert Jonas mich und lässt seinen Blick vielsagend auf meinem Riesenbauch verweilen.

„Meinst du nicht, das hat etwas mit deiner Schwangerschaft zu tun? Es kann doch jetzt wirklich jeden Tag losgehen, warum also nicht heute?“

Ich kann gerade nicht antworten, weil eine Welle des Schmerzes meinen Körper überflutet. Verzweifelt versuche ich mich daran zu erinnern, was ich im Geburtsvorbereitungskurs über Atmung und Ruhigbleiben etc. gelernt habe. Es gelingt mir leider nur so mittelmäßig. Verdammte Scheiße, tut das weh. Mir tritt der Schweiß auf die Stirn. Ich habe mich wohl unweigerlich zusammengekrümmt, denn nun ist Jonas alarmiert.

„Sollten wir Anna anrufen und mal fragen, was sie meint?“ Ich höre seine Panik, auch wenn er versucht, ruhig und entspannt zu klingen.

Anna Maulleitner ist meine Hebamme. Ich kann mich sehr glücklich schätzen, dass sie mich angenommen hat, denn in München eine Hebamme zu finden, die Zeit hat, ist schier unmöglich. Hannah, meine beste Freundin, hat sie aufgetan, denn sie kennt sie schon seit frühester Jugend, die beiden waren zusammen in der Schule. So war es quasi ein Freundschaftsdienst, dass sie mich, obwohl sie eigentlich komplett ausgebucht ist, betreut. Ich bin sehr froh darüber, denn Anna ist bodenständig, witzig und empathisch, ohne dabei besonders emotional zu sein. Sie hat eine eher barocke Figur und kommt vielleicht manchmal etwas ruppig rüber, aber sie meint es gut und ist sehr erfahren. Ich vertraue ihr voll und ganz.

Jonas hat schon sein Handy in der Hand und reicht mir nach ein paar Worten das Gerät weiter.

„Hier, Süße, sie will mit dir sprechen.“

„Hallo Anna“, sage ich leicht gequält.

Sie lacht gutmütig.

„Servus Lana, wie geht’s dir? Was für Schmerzen hast du?“

Ich beschreibe ihr meine Rückenschmerzen.

„Okay, das hört sich schwer nach beginnenden Wehen an. Beobachte bitte genau, in welchen Abständen die Schmerzattacken auftreten, okay? Ich komme mal rüber.“

Anna wohnt ganz in der Nähe in der Dom-Pedro-Straße, noch so ein Glücksfall. Mit dem Rad ist sie in ein paar Minuten bei uns. Die Vorstellung, dass sie gleich kommt und mir sagt, was los ist und was ich jetzt tun soll, beruhigt mich etwas.

„Danke“, hauche ich in den Hörer und werfe ihn zur Seite. Jonas mustert mich besorgt. Dann setzt er sich wieder zu mir aufs Bett und nimmt meine Hand.

„Möchtest du denn jetzt überhaupt etwas essen oder trinken?“, fragt er hilflos und ich muss grinsen.

„Du, ne, lass mal. Ich glaube, ich gönne mir was, wenn das hier vorbei ist, ich habe das dumpfe Gefühl, dass das Kind tatsächlich heute kommt. Anna geht davon aus, dass das Wehen sind.“

Jonas bekommt tellergroße Augen.

„Echt? Oh Mann, hoffentlich geht alles gut.“

Ich schaue ihn erstaunt an.

„Entspann dich, ich bin zäh. Keine Sorge, das haben schon Millionen Frauen vor mir geschafft.“

Er grinst.

„Stimmt. Zäh bist du, das steht fest.“ Sanft küsst er mich auf die Stirn. „Ich gehe schnell runter und koche eine Kanne Tee, dann kann ich auch gleich Anna reinlassen.“

Am Treppenabgang dreht er sich noch einmal um.

„Deine Tasche ist ja fertig gepackt, oder soll da noch was rein?“

Mich überfällt gerade wieder eine heftige Schmerzwelle, deshalb recke ich nur den Daumen in die Höhe und winde mich unter der Decke, wobei ich mir mit zusammengepressten Augen den Bettzipfel in den Mund stecke, um nicht allzu laut zu stöhnen. Argh, einatmen, ausatmen, bewusst atmen, Schmerz weg atmen. Als ich wieder gucken kann, ist Jonas verschwunden.

Ich höre, wie Anna kommt und Jonas sie begeistert begrüßt. Er fühlt sich offensichtlich unwohl in der Situation, was ich ihm nicht verdenken kann, schließlich ist er wie die Jungfrau zum Kind gekommen. Er freut sich sehr auf den kleinen Murkel und hat schon tausend Pläne, was er alles mit ihm anstellen will. Ich glaube, er hat sogar schon bei seinen Eltern nach seiner alten Eisenbahn gefragt, was mich echt amüsiert hat. Es wird noch einige Zeit dauern, bis er die mit dem Kind spielen kann.

Ich war nicht so begeistert davon, dass es ein Sohn wird, eine Tochter wäre mir lieber gewesen, aber das Leben ist kein Wunschkonzert. Im Gegensatz zu anderen Müttern in meinem Geburtsvorbereitungskurs, die lieber überrascht wurden, wollte ich unbedingt wissen, was es wird. Ich muss gestehen, dass ich vor dem Hintergrund der ungeklärten Vaterschaft eine Tochter weniger schwierig gefunden hätte. Ich war sogar versucht, nach Österreich zu fahren, um einen pränatalen Vaterschaftstest zu machen, der in Deutschland verboten ist, aber als Beamtin wollte ich nichts bei uns Verbotenes tun. Ich kann es eh nicht ändern.

Jonas hat zwar versucht, mich zu beruhigen, aber ich bin dennoch nervös wegen Giuliano Farlone alias Pater Julius, dem irren, gutaussehenden Mafioso, dem ich mal kurzzeitig in verblendeter Leidenschaft verfallen war, als ich noch dachte, er sei ein attraktiver Pater. Sollte er etwas von meiner Schwangerschaft mitbekommen und Eins und Eins zusammenzählen, müsste ich wohl bald mit einem Besuch oder Schlimmerem rechnen, denn ich fürchte, er würde sich seinen Sohn nicht so einfach durch die Lappen gehen lassen wollen. Aber Jonas hat womöglich recht damit, dass Julius das nicht mitbekommt, nachdem er mir versprochen hat, mich nicht weiter zu belästigen.

Ich hoffe so sehr, dass das Kind von Kilian, meinem von dem verrückten Camorra-Pater ermordeten Freund, ist und habe mit der Klinik bereits besprochen, dass sie sofort einen Vaterschaftstest durchführen, sobald das Kind zur Welt gekommen ist. Hannah hat mir eine alte Haarbürste ihres Bruders gegeben, die nun, in eine Plastiktüte verpackt, in meiner Geburtstasche auf ihren Einsatz wartet. Sollte der Test positiv für Kilian ausfallen, wären all meine Probleme auf einen Schlag gelöst und ich meinen Fehltritt für immer los. Ich sende ein kurzes Stoßgebet gen Himmel, als mich schon die nächste Schmerzwelle erfasst.

Anna, die mit Jonas in der Zwischenzeit an mein Bett geeilt ist, wartet die Welle ab und untersucht mich dann.

„Mei, dein Muttermund ist bereits geöffnet, du hast Wehen, meine Liebe“, sagt sie trocken.

„Was heißt das?“, frage ich nervös.

„Das heißt, dass wir dich jetzt ins Krankenhaus bringen. Es ist ja nicht weit zum Dritten Orden. Ich bin wirklich erstaunt, dass der Muttermund schon so weit auf ist, das ist schnell für eine Erstgebärende. Kannst du aufstehen?“

Ich schaue sie zweifelnd an. Wie, um Himmelswillen, soll ich mich mit diesem Riesenbauch und den irren Rückenschmerzen in die Höhe wuchten? Jonas springt mir zur Seite.

„Ich helfe dir, Lana“, sagt er eifrig und hebt mich aus dem Bett, als würde ich nichts wiegen. Er macht seit einigen Monaten wieder mehr Muskeltraining in der Trainingsecke neben dem Bett und das kommt mir jetzt zugute. Vorsichtig stellt er mich auf die Beine, die sich wie Pudding anfühlen.

„Alles gut“, sage ich tapfer, „ich gehe mich anziehen.“

Vorsichtig watschele ich ins Bad, wobei ich mir stöhnend den Rücken halte, und werfe mir nach einer kurzen Katzenwäsche einen bunten Kaftan über. Das muss erst einmal reichen, zu mehr sehe ich mich gerade nicht in der Lage. Ich bürste meine langen, schwarzen Haare und binde sie zu einem lockeren, tiefen Pferdeschwanz. Ich bin blass und habe schwarze Augenringe, aber das ist mir gerade egal.

Ich bekomme ein Kind.

Jonas steht schon mit meiner seit Tagen gepackten Geburtstasche bereit. Anna reicht mir meine Handtasche. Ich schaue noch schnell nach, ob ich alles habe – Mutterpass, Geldbeutel, Handy, Ladegerät – alles da.

„Auf geht’s“, sage ich fröhlicher als ich mich fühle.

Es ist gar nicht so einfach, mich Walross die Treppe hinunterzubekommen. Gott sei Dank ist sie breit und hat niedrige Stufen, auf diese Weise schaffen mich Jonas und Anna mit Ziehen und Schieben relativ sanft hinunter. Jonas‘ komfortables Auto, ein fetter 5er BMW mit jeglichem Luxus, steht schon bereit und ich muss mich nur in den bequemen Ledersitz fallenlassen. Anna steigt hinten ein und Jonas nimmt sofort meine Hand in seine, sobald wir losgefahren sind. Das beruhigt mich. Ein Hoch auf das Automatikgetriebe.

Keine zehn Minuten später treffen wir auch schon im Klinikum Dritter Orden in der Menzinger Straße ein. Anna hat mir die Klinik empfohlen, sie soll sehr gut bei Geburten sein, weil sie für den Notfall über jegliches technisches Equipment verfügt. Als ich sie vor Monaten besichtigt habe, hatte ich einen guten Eindruck und habe mich gleich zur Geburt angemeldet. Es ist ein Wahnsinn, was man alles im Vorfeld organisieren muss, der bürokratische Aufwand beim Kinderkriegen war mir in diesem Ausmaß nicht bewusst.

Mühselig wälze ich mich aus dem Auto, wobei mich Anna mehr zieht als ich selbst etwas beisteuern kann, und plötzlich plätschert es laut und vernehmlich. Erstaunt schaue ich auf den Boden – oh je, das war ich. Die Fruchtblase ist geplatzt.

Anna kommt mit dem Rollstuhl an, während Jonas schnell die Tasche auslädt und mich solange festhält, bis ich sicher im Rollstuhl sitze. Dann steigt er wieder ein, um das Auto zu parken und verspricht mir hoch und heilig, sofort nachzukommen.

Da ich zur Geburt angemeldet bin, halten sich die Formalitäten in Grenzen. Ratzfatz liege ich auf einer Liege und eine junge, blonde Ärztin mit undefinierbarem Akzent kommt, um mich zu untersuchen. Sie tastet mich ab und schließt mich an den Wehenschreiber, das CTG, an.

„Oh“, sagt sie überrascht, „ich würde sagen, Sie sind von der schnellen Truppe. Der Muntermund ist schon 6 cm weit offen, wir verlegen Sie besser gleich in das Geburtszimmer.“

Anna schaut mich beruhigend an.

„Das ist gut, Lana, das ist sogar sehr gut. Dann musst du dich nicht so lange quälen.“

Ich grinse unbeholfen, denn inzwischen überfluten mich die Schmerzwellen immer öfter und heftiger. Alter, tut das weh! Wer hat sich denn so eine Scheiße einfallen lassen? Ich fluche, ich krümme mich, ich schimpfe. Ich bin stinksauer, auf Kilian, auf Julius, auf mich selbst. Wie blöd kann man nur sein, sich in so eine Lage zu bringen. Aua.

Jonas kommt, er ist ziemlich aufgeregt, versucht aber, es sich nicht anmerken zu lassen. Beruhigend redet er auf mich ein und ich lasse mich in seine wunderbare, tiefe, samtene Stimme fallen, zumindest in den kurzen Phasen zwischen den Schmerzattacken. Bei jeder Wehe presse ich seine Hand zu Brei. Er versucht sich zu befreien, aber ich entwickele im Schmerz eine erstaunliche Kraft.

Schließlich hieven sie mich in eine warme Badewanne. Oh, ist das herrlich, wenn der Schmerz nachlässt. Halleluja. Das warme Wasser entspannt die verkrampfte Muskulatur und die Wehen lassen etwas nach. Ist das jetzt gut oder nicht? Ich fühle mich so hilflos, weil ich überhaupt nicht einschätzen kann, ob das, was passiert, normal ist oder nicht. Anna streicht mir eine Strähne, die nass an meiner Backe klebt, aus dem Gesicht.

„Du machst das sehr gut, Lana“, sagt sie und grinst. „Willst du immer noch eine Wassergeburt?“

Ich nicke und presse die Zähne zusammen, weil gerade wieder eine Wehe kommt. Dann sage ich:

„Ja, es fühlt sich gut an, im Wasser zu sein. Weniger schmerzhaft als außerhalb.“

„Und du bist sicher, dass du keine PDA willst?“

Ich nicke. „Ganz sicher, ich habe Angst davor, eine Spritze in den Rücken zu bekommen. Wenn die daneben stechen …“

Sie schaut mich zweifelnd an.

„Lana, die sind hier sehr erfahren. Ich hoffe, du bereust das nicht. Jetzt wäre eine gute Gelegenheit, danach ist es zu spät und du musst es so durchziehen“, doch ich schüttele entschlossen den Kopf. Pah, so ein Weichei bin ich nicht.

Ein junger Arzt kommt ins Zimmer gerauscht und bittet mich, aus der Wanne zu steigen. Er ist sehr groß und sehr hager mit einer spitzen, langen Nase. Ich mag ihn nicht, weil er hektisch wirkt, was mich stresst. Er will mich wieder an das CTG anschließen und untersuchen. Ich verlasse die Wanne ausgesprochen ungern, aber es bleibt mir gerade nichts anderes übrig. Kurz angebunden scheucht er mich auf die Liege.

„Hopp, hopp, wir haben heute schon fünf Gebärende, da muss ich mich ranhalten“, sagt er leicht genervt.

Ich schaue ihn entrüstet an.

„Was denken Sie eigentlich, was ich hier mache? Ihre Zeit stehlen? Das ist nicht meine Absicht. Versetzen Sie sich bitte mal in meine Lage und überlegen Sie, wie das, was Sie sagen, ankommt. Ich bekomme gerade ein Kind und das ist kein Vergnügen, AAAUUUUAAA“

Ich weiß gar nicht, woher ich die Energie nehme, um so viele Sätze hintereinander zu sagen, aber ich habe Schmerzen und bin stinksauer. Er schaut mich betroffen an.

„Entschuldigen Sie, es ist einfach extrem viel los und ich bin allein auf Station. Meine Kollegin hat bis eben noch ausgeholfen, aber nach der Nachtschicht konnte sie nicht mehr länger bleiben.“

Ich winke ab. Der Arzt schließt mich an das CTG an, schaut sich die Werte an, stutzt, schaut noch einmal und runzelt die Stirn.

„Was ist los?“, frage ich alarmiert und krümme mich seitlich zusammen. Auf dem Rücken zu liegen ist die Hölle.

„Ich mache einen Ultraschall“, sagt er ruhig und dreht mich wieder zurück auf den Rücken. Er schmiert jede Menge kaltes Gel auf meinen Bauch und fährt mit dem Ultraschallkopf darüber. Da ich auf dem Bildschirm nichts erkennen würde, mustere ich angespannt sein Gesicht. Es gefällt mir nicht, was ich da sehe.

Dr. Aljanovic, das steht zumindest auf dem Schild an seinem Kittel, wendet sich an Schwester Theresa, eine erfahrene Krankenschwester, die ich schon von der Besichtigung kenne und die ihn begleitet hat.

„Messen Sie bitte den Blutdruck?“

Versiert legt sie mir die Manschette an und pumpt Luft hinein. „140/80“ sagt sie und Anna wechselt einen beredten Blick mit Dr. Aljanovic.

„Denken Sie an eine Schwangerschaftsvergiftung?“, fragt Anna neugierig. Er zuckt mit den Schultern.

„Nein, nicht unbedingt, ich will nur alle Möglichkeiten überprüfen. Der Blutdruck ist nicht übertrieben hoch, das passt schon. Allerdings befürchte ich, dass sich der Kopf nicht ganz richtig in den Geburtskanal gedreht hat. Könnten Sie sich vielleicht darum kümmern, Frau Maulleitner? Trauen Sie sich das zu? Ich habe leider gleich einen Not-Kaiserschnitt.“

Anna nickt und der Arzt eilt davon. Ich verstehe nur Bahnhof, mit mir redet hier keiner. Jonas schaltet sich ein.

„Was bedeutet das? Gibt es Komplikationen?“, fragt er nervös. Anna legt ihm die Hand auf den Arm.

„Nein, alles gut, Lana macht das super. Das Baby hat sein Köpfchen nicht weit genug auf die Brust gedrückt, jetzt ist es etwas ungünstig im Geburtskanal, aber das bekommen wir hin. Kein Problem.“

Ich bin beunruhigt.

„Heißt das, er muss mit der Saugglocke geholt werden?“, frage ich verängstigt.

„Nein, nur im Notfall, ich versuche es jetzt erst einmal so. Ich werde das Köpfchen etwas runterdrücken, Lana. Das ist schmerzhaft, aber es muss sein. Also beiß die Zähne zusammen.“

Ginge es mir nicht so schlecht, würde ich lachen. Schmerzhaft, pah, es kann kaum noch schlimmer werden, denke ich. So kann man sich täuschen. Der Schmerz, als sie diese Prozedur durchführt, ist noch schlimmer als alles zuvor, zumindest kommt es mir so vor. Ich stoße einen lauten Schrei aus und verkrampfe mich.

„Lass locker, Lana“, befiehlt Anna. Die ist lustig, lass locker, was denkt die sich. Ich mag nicht mehr.

Jonas nimmt meine Hand.

„Los Süße, konzentrier dich auf deinen Atem. Das hast du doch bis zum Erbrechen in der Schwangerschaftsgymnastik gemacht. Und loslassen, nicht verkrampfen.“

Ich höre ihm zu und atme. Man übt das so oft, dass es einem in Fleisch und Blut übergeht und es hilft tatsächlich. Es ist ein Phänomen, aber Schmerz lässt sich tatsächlich ausblenden, wenn man sich stark auf etwas anderes konzentriert. Plötzlich jubelt Anna.

„Super Lana, geschafft, Kind ist in der Poleposition und ready for Take-off.”

Sehr witzig.

“Kann ich wieder in die Wanne?”, frage ich zaghaft.

„Warte bitte noch einen Moment, ich möchte gerne noch schauen, was das CTG jetzt sagt.“

Nach einer Weile nimmt sie mir das Gerät ab.

„Läuft alles prima, du kannst in die Wanne.“

Jonas hilft mir von der Liege und nimmt mich auf die Arme, um mich sanft ins warme Wasser gleiten zu lassen. Oh mein Gott, ist das herrlich. Ich bin richtig glücklich, denn die Wehen fühlen sich im warmen Wasser nicht so schlimm an. Allerdings kommen die Schmerzattacken jetzt in immer kürzeren Abständen.

Gegen 14 Uhr ist es endlich so weit.

„Ich hab die Schnauze voll“, rufe ich stinksauer und zutiefst erschöpft von all den schrecklichen Schmerzen. „Ich kann nicht mehr, mir reicht‘s. Ich geh jetzt heim, macht euren Scheiß doch allein. Ich will eine PDA, sofort und auf der Stelle.“

Anna lacht dreckig. „Das ist ein gutes Zeichen. Wenn du denkst, es geht nicht mehr, ist es bald vorbei.“

„Ich will eine Betäubung, jetzt, sofort“, rufe ich erneut, doch Anna schüttelt den Kopf.

„Ich habe es dir gesagt, vorhin wolltest du sie nicht, jetzt ist es zu spät. Das schaffst du doch so, komm schon, du bist doch ein tough cookie.“

Nach drei überaus heftigen und schmerzhaften Presswehen wimmere ich nur noch:

„Lieber Gott, bitte hilf mir. Ich glaube, ich platze gleich, es zerreißt mich, ich kann nicht mehr, sowas kann man doch nicht überleben, aua…“

Ich brülle nur noch wie ein verzweifeltes Tier kurz vor der Verendung. Anna ruft laut:

„Pressen, Lana, pressen.“

Also funktioniere ich und presse, was das Zeug hält. Hier gibt es nur eine Richtung, nämlich vorwärts. Anders kann ich mich aus dieser Situation nicht befreien.

„Ich sehe das Köpfchen, Lana, jede Menge Haare, gleich hast du es geschafft“, ruft Anna begeistert aus.

Jonas will schon gucken gehen, aber ich halte ihn fest.

„Das schaust du dir nicht an. Ich will das nicht“, keuche ich.

Er mustert mich erstaunt, akzeptiert aber meinen Wunsch. Ich will nicht, dass er meinen Intimbereich so verwüstet sieht, das hat schon ganz andere Männer traumatisiert.

Noch eine überaus heftige und schmerzhafte Presswehe und mein Sohn flutscht aus mir raus ins warme Wasser. Anna fischt ihn aus der Wanne und ein lauter, kräftiger, empörter Schrei ertönt.

Oh ja, das ist mein Sohn, eindeutig.

Anna legt mir das Baby auf die Brust. Meine Haare schwimmen strähnig im Wasser, ich schaue bestimmt fix und fertig aus, bin aber so beseelt von diesem Gefühl des kleinen Wesens auf meiner Brust, dass alle Schmerzen vergessen sind und ich von einem Gefühl bedingungsloser Liebe überflutet werde.

Ich mustere meinen neugeborenen Sohn ganz genau – wie wunderschön er ist. Er hat tatsächlich bereits jede Menge Haare, meine stattliche Nase und diese unglaublich perfekten, kleinen Hände und Füße mit den winzigen Nägeln. Es ist alles dran, er ist vollkommen.

Verzückt schaut Jonas das kleine Wesen an.

„Wow Lana, das ist unglaublich, was du da geleistet hast. Schau doch nur, wie er den Mund verzieht, oh wie süß.“

Dr. Aljanovic kommt herbeigeeilt.

„Ah, gut Frau Beck, sehr gut gemacht. Was ist mit der Nachgeburt, Frau Maulleitner?“, fragt er.

Anna schaut ihn für ihre Verhältnisse sehr ernst an, das bekomme ich aus dem Augenwinkel mit.

„Noch nichts, das macht mir Sorgen. Es kam nur ein bisschen was, ich fürchte, da haben wir womöglich ein Problem. Ich wollte Sie gerade rufen.“

Ich höre zwar, was sie sagen, bin aber so im Glücksrausch der Hormone, dass ich mir keine weiteren Gedanken darüber mache. Alles ist gut, mein wunderbares Kind ist auf der Welt.

„Lana“, sagt Anna sanft, „wir müssen den Kleinen jetzt abnabeln. Gibst du ihn mir bitte?“

Sie formuliert es als Frage, aber natürlich ist es ein Befehl. Artig und sehr ungern lasse ich zu, dass sie mir Kian von der Brust nimmt.

Spontan habe ich beschlossen, dass mein Sohn Kian heißen soll. Lange war das Baby in mir ein Magnus, aber jetzt, wo er auf der Welt ist, ist er so klein, da passt Magnus nicht. Kian Beck, das klingt doch gut. Mein Vater, der ursprünglich aus dem Iran stammt, heißt so und gleichzeitig ist der Name eine Reminiszenz an Kilian, von dem ich immer noch inbrünstig hoffe, dass er der Vater ist. Außerdem soll er noch Malik heißen, das kommt aus dem Arabischen und bedeutet König und dieses Kind ist jetzt schon mein persönlicher, kleiner König.

Kian Malik Beck, willkommen auf dieser Welt.

Er wird abgenabelt, sauber gemacht, gemessen und gewogen. Beim Apgar-Test erreicht er volle Punktzahl und ich bin sehr stolz darauf, wie gut er die Geburt überstanden hat. Er ist ja auch schnell wie Speedy Gonzalez auf die Welt gekommen und hat sich nicht lange aufgehalten.

Ich will gerade aus der Wanne steigen, als mir auffällt, dass das Wasser bereits blutrot ist und sich immer röter färbt.

„Ups“, sage ich erschrocken, „das tut mir jetzt leid, was für eine Schweinerei. Ist das normal? Ich würde ja gerne aufstehen, aber mir ist gerade etwas schwindlig.“

Dr. Aljanovic, der gerade Kian untersucht, dreht sich bei meinen Worten sofort alarmiert um.

„Oh verdammt“, sagt er nur und Anna stößt einen erschrockenen Laut aus.

„Ich habe es befürchtet“, murmelt sie.

Jonas schaut aus, als würde er gleich umkippen.

„Herr Bergmann, bitte warten Sie draußen“, sagt Dr. Aljanovic entschieden und ich kann gar nicht so schnell schauen, wie sie mich aus der Wanne gehoben und auf die Liege gelegt haben. Der Arzt untersucht mich.

„Frau Beck, Sie haben heftige Blutungen, die Plazenta hat sich nicht vollständig gelöst. Wir müssen Sie operieren. Schwester Theresa, bitte kümmern Sie sich um alles.“

Jetzt wird es hektisch. Ich bekomme eine Infusion und werde betäubt. Keiner redet mit mir, die machen einfach nur.

Verdammt, verdammt, verdammt.

Kapitel 2 – Katastrophe

Samstag, 3. August 2018 - abends

Langsam komme ich wieder zu mir. Ich liege in einem Krankenhausbett mit gelber Bettwäsche, Jonas sitzt neben mir und hält meine Hand. Ich habe solchen Durst, mein Mund fühlt sich ausgetrocknet an.

„Wasser“, murmele ich und Jonas fährt auf.

„Lana, Gott sei Dank, da bist du ja wieder“, sagt er erleichtert und reicht mir eine Schnabeltasse mit kaltem Tee. Meine Lippen fühlen sich spröde und rissig an, mein Kopf tut weh und der Rest sowieso.

„Wo ist Kian?“, frage ich schwach und Jonas braucht einen Moment um zu verstehen.

„Ach Kian, heißt er jetzt so?“, fragt er und grinst.

Ich nicke schwach.

„Ja, ich finde, er muss Kian Malik heißen. Was meinst du?“, fällt mir noch ein, ihn zu fragen, damit er sich nicht ausgeschlossen fühlt. Er nickt.

„Finde ich gut, gefällt mir. Kian Malik Beck, das hört sich irgendwie passend an.“

Dann holt er tief Luft.

„Und Kian Malik Bergmann geht auch.“

Ich hebe erstaunt den Blick.

„Wie jetzt?“, frage ich ratlos. Er grinst.

„Naja, falls wir heiraten und ich ihn adoptiere, dann passt das auch“, sagt er trocken.

„So weit sind wir noch lange nicht“, murmele ich erschöpft und mache die Augen zu.

Jonas streichelt mir sanft übers Gesicht.

„Schlaf noch ein bisschen, Süße. Kian ist auf der Station, die Schwestern kümmern sich um ihn, bis du wieder fit bist.“

Das beruhigt mich und ich lasse mich in die Müdigkeit fallen. Hat mir Jonas eigentlich gerade eine Art Antrag gemacht? Ich muss ihn das dringend nachher fragen.

Als ich erneut wach werde, geht es mir schon etwas besser. Die Schwestern bringen mir Kian und legen ihn an. Aua, das ziept, aber trotzdem ist es ein wunderbares Gefühl, ihn im Arm zu halten und ihm zuzuschauen, wie er immer frecher wird. Er hat Hunger, der kleine Kerl. Jonas beobachtet uns fasziniert und nachdem Kian sich satt getrunken hat, gebe ich den Kleinen an ihn weiter. Jonas nimmt ihn ehrfürchtig in die Arme und mustert ihn genau.

„Hast du diese perfekten Finger- und Zehennägel gesehen?“, fragt er nach einer Weile und strahlt mich an. Ich lächele. Wie süß er ist. Ich bin ziemlich erledigt, ich glaube, ich muss noch etwas schlafen.

Ich döse immer wieder weg, dann bringen sie mir Kian, ich füttere ihn, was immer besser funktioniert, dann schlafe ich wieder. Jonas ist die ganze Zeit bei mir, obwohl ich immer nur kurz wach bin.

In der Nacht werde ich zutiefst beunruhigt wach. Nach einem Blick auf die Uhr stelle ich fest, dass es 3 Uhr morgens ist. Ich habe das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt.

Jonas ist nach Hause gefahren und ich liege mit einer anderen Frau im Zimmer, die ihr Baby in einer kleinen Wiege neben ihrem Bett stehen hat. Das ist mir vorher gar nicht aufgefallen. Haben sie die ins Zimmer geschoben, als ich geschlafen habe? Wahrscheinlich. Beide schlafen tief und fest und ich nehme einen Schluck aus meiner Teetasse.

Soll ich läuten? Aber was soll ich sagen? Es geht mir nicht schlecht, die Schmerzmittel wirken und die Nachwirkungen der Narkose habe ich weggeschlafen. Ich will mich nicht lächerlich machen und vor allem will ich die beiden in meinem Zimmer nicht aufwecken.

Vorsichtig versuche ich aufzustehen, um nach Kian zu sehen, den sie für die Nacht auf die Neugeborenen-Station gebracht haben, bis ich mich erholt habe, aber keine Chance. Ich bin noch ziemlich geschwächt und würde wohl nicht sehr weit kommen. Ich versuche, die warnende Stimme in meinem Inneren zu ignorieren und lege mich wieder hin.

Was soll schon sein, Kian ist in besten Händen. Bis morgen habe ich mich erholt und dann kann ich mich um ihn kümmern. Wenn er Durst haben sollte, werden die Schwestern ihn mir bringen, wie gestern am späten Abend, wo ich ihn im Halbschlaf gestillt habe. Das beruhigt mich und ich schlafe wieder ein.

Als ich am Morgen wach werde, sitzt Jonas kreidebleich an meinem Bett und knetet nervös seine Hände. Ich schieße voller Panik in die Höhe.

„Aua“, entfährt es mir, denn ruckhafte Bewegungen tun noch weh. „Was ist los? Ist was mit Kian?“, frage ich zutiefst alarmiert vom Ausdruck in Jonas‘ Augen.

Er senkt den Blick und mustert seine Hände.

Oh Gott, oh Gott, mich überfällt nackte Panik.

Nein, ich will es nicht hören, nein, nein, nein.

„Lana, es tut mir so leid, Kian ist heute Nacht verstorben. Plötzlicher Kindstod, sie haben ihn heute Morgen leblos in seinem Bettchen gefunden“, flüstert er und wagt nicht, mich dabei anzusehen.

Ich stoße einen unmenschlichen Schrei aus. Der Schmerz ist so immens, dass ich ihn schier nicht aushalten kann. Es ist mir egal, dass die Frau bei mir im Zimmer erschrocken zusammenfährt und ihr Baby laut zu schreien anfängt. Jonas nimmt mich in den Arm und ich schluchze haltlos an seiner Brust. Nachdem ich mich etwas beruhigt habe, mache ich mich los und wimmere nur noch.

„Ich will ihn sehen. Kannst du mich zu ihm bringen?“

Jonas, der froh ist, dass er etwas tun kann, organisiert einen Rollstuhl. Damit fährt er mich zu den Schwestern.

„Schwester Theresa“, flüstere ich, denn mir kommen ständig die Tränen und ich habe das Gefühl, dass ich sofort zu weinen anfange, wenn ich die Worte laut ausspreche. „Ich will meinen Sohn sehen. Wo ist er?“

Die ältere, kräftige Schwester, die bestimmt schon so einiges erlebt hat, dreht sich um und schaut mich voller Mitgefühl an.

„Ach Frau Beck, guten Morgen. Es tut mir so leid, was passiert ist. Wir bringen ihn selbstverständlich in Ihr Zimmer. Herr Bergmann, könnten Sie Frau Beck wieder zurückbegleiten? Wir verlegen Frau Paulsen in ein anderes Zimmer, damit Sie in Ruhe Abschied nehmen können.“

Als wir zurückkommen, wird Frau Paulsen samt Kind schon aus dem Zimmer geschoben. Sie nickt mir freundlich zu.

„Es tut mir sehr leid“, sagt sie leise und ich danke ihr murmelnd. Eine halbe Stunde später bringen sie mir die Leiche meines Kindes. Der Anblick des in ein Leintuch gehüllten, toten, kleinen Körpers macht mich völlig fertig. Will ich mir das wirklich antun? Vielleicht behalte ich ihn besser lebendig in Erinnerung?

Ich nehme das Bündel ganz vorsichtig entgegen und es dauert einen Moment, bis ich mich traue, das Tuch zur Seite zu schlagen. Tränen tropfen auf den kalten, starren Körper in meinen Armen. Jonas reicht mir ein Taschentuch und wirft einen Blick auf das tote Baby. Er stutzt etwas, wirkt irritiert.

„Was ist?“, frage ich.

Er schüttelt den Kopf.

„Ich weiß nicht, ich finde, er schaut ganz anders aus. Aber das kann natürlich auch daran liegen, dass er nicht mehr lebt.“ Er vermeidet bewusst das Wort „tot“, glaube ich.

Daraufhin mustere ich das Baby in meinen Armen ganz genau, denn vor lauter Tränen habe ich es gar nicht richtig sehen können.

„Du hast völlig recht, Jonas, das ist nicht Kian“, sage ich nach ein paar Minuten aufgeregt. Das Baby hat zwar ein Bändchen mit dem Namen Kian Beck, geboren am 3.8.2018, 14:15 Uhr, aber Kian hat eindeutig meine stattliche Nase geerbt, wie ich gestern festgestellt habe. Das tote Kind vor mir hat jedoch eine zarte Stupsnase und viel weniger Haare. Jonas schaut mich verwirrt an.

„Was meinst du?“, fragt er ratlos.

„Das ist nicht Kian“, sage ich nun fest. „Dieses Kind ist nicht mein Kind. Es hat eine völlig andere Nase und“, ich hebe die Decke an und suche nach dem kleinen Muttermal direkt unter dem Rippenbogen, das mir gestern aufgefallen ist, „das Muttermal ist auch nicht da. Außerdem hatte Kian eine echte Matte, das hat dieses Kind nicht. Das ist ein völlig anderes Baby.“

Ich bin jetzt total aufgeregt. Meine Emotionen fahren mit mir Schlitten und katapultieren mich wie bei einer Achterbahnfahrt hinauf und hinunter. Eben war ich noch zutiefst am Boden zerstört, schon schieße ich in schwindelerregende Höhen der Hoffnung. Besorgt mustert mich Jonas.

„Ist das jetzt sowas wie postnataler Wahn, ausgelöst durch den Verlust? Das kann doch gar nicht sein, wir täuschen uns bestimmt“, sagt er ratlos und betätigt den Klingelknopf.

Schwester Theresa kommt.

„Soll ich ihn wieder mitnehmen?“, fragt sie sanft.

„Das ist nicht Kian“, sage ich mit gebrochener Stimme zu ihr. Sie mustert mich mitleidig.

„Frau Beck, es hilft alles nichts, Sie müssen akzeptieren, dass Ihr Kind tot ist.“

„Nein, hören Sie mir zu, das ist nicht Kian.“ Meine Stimme wird etwas lauter und klingt eindringlich. „Dieses Baby hier hat eine ganz andere Nase, weniger Haare und das Muttermal fehlt. Machen Sie einen Test, Sie werden feststellen, dass das nicht Kian ist.“

Nun ist sie doch etwas verunsichert und schaut immer wieder von mir zu dem toten Baby und zurück. Sie funkt den Arzt an. Dr. Aljanovic, der schon wieder Dienst hat, mustert mich wie zuvor Schwester Theresa voller Mitgefühl, als er das Zimmer betritt.

„Frau Beck, ich kann gut verstehen, dass Sie nicht wahrhaben wollen, was passiert ist, aber lassen Sie uns bei den Fakten bleiben. Wir haben hier ein totes Baby, das den Namen Kian Beck trägt. Also müssen wir davon ausgehen, dass das tote Baby Ihr Sohn ist, richtig?“

Ich schüttele entschieden den Kopf, dass mein Pferdeschwanz fliegt.

„Nein, das ist ein anderes Baby“, beharre ich.

Es macht mich verrückt, dass die Leute hier nicht das Wesentliche sehen und mir nicht glauben. Jonas schaltet sich ein.

„Frau Beck hat recht, ich finde auch, dass dieses Baby hier ganz anders aussieht. Sie können doch einen Test machen, oder? Dann haben wir Sicherheit.“

Ich werfe ihm einen dankbaren Blick zu, denn mir fehlt nach der anstrengenden Geburt und dem folgenden Auf und Ab der Emotionen die Kraft, um das allein durchzufechten. Dr. Aljanovic schaut mich verwirrt an.

„Glauben Sie ernsthaft, jemand hat Ihr Kind vertauscht und Ihnen ein anderes, totes Kind untergeschoben? Wir hatten gestern fünf Geburten, davon waren drei Mädchen, die damit qua Geschlecht bereits ausfallen, und zwei Jungen, Ihren und noch einen anderen. Ich bringe Sie gerne auf die Neugeborenen-Station, da können Sie überprüfen, ob der andere Junge womöglich Ihr Kind ist. Einverstanden?“

Ich glaube, der sagt das nur, um seine hysterische Patientin zu beschäftigen. Schwester Theresa nimmt mir sanft das tote Baby aus dem Arm und eilt davon. Jonas hilft mir in den Rollstuhl. Auf der Neugeborenen-Station ist einiges los. Dr. Aljanovic zeigt mir den anderen Jungen, der auch gestern geboren wurde. Allerdings hat der gar keine Haare und ist sehr hellhäutig.

„Aber wie kann das sein?“, frage ich ratlos und auch enttäuscht, denn ich hatte tatsächlich erwartet, gleich meinen Sohn in den Armen zu halten.

„Ich habe den Gentest bereits veranlasst“, sagt Dr. Aljanovic, „wir haben ja die Vergleichsprobe von dem von Ihnen gewünschten Vaterschaftstest. Wenn wir also hypothetisch annehmen würden, dass das tote Kind nicht Ihres ist, wo ist aber dann bitte Ihr Sohn? So ein Baby verschwindet doch nicht so einfach.“

Ich zucke hilflos mit den Schultern.

„Woher soll ich das wissen? Das ist so ein Wahnsinn.“

„Wer sollte denn bitte ein Interesse daran haben, Ihren Sohn zu entführen und Ihnen ein fremdes, totes Kind unterzuschieben?“, fragt er ratlos beim Blick auf die friedlichen Babys in ihren Bettchen vor uns und ich erstarre. Entsetzt schaue ich Jonas an und wir sagen beide wie aus einem Mund:

„Giuliano Farlone, verdammt.“

Nun schaut Dr. Aljanovic noch verwirrter als vorher.

„Was soll das heißen?“, fragt er beunruhigt.

Ich hole tief Luft.

„Das heißt, dass Giuliano Farlone mein Kind entführt hat, weil er denkt, dass es seines ist.“

„Wer ist denn Giuliano Farlone?“, fragt Schwester Theresa, die gerade dazu kommt, verwirrt.

„Einer von zwei möglichen Vätern für Kian“, sagt Jonas trocken, „und ein wichtiges Mitglied einer Untergruppe der Camorra in Neapel.“

Beide starren uns dermaßen konsterniert an, dass man lachen könnte, wenn die Lage nicht so ernst wäre. Wir schweigen alle einen Moment betroffen, dann kommt Bewegung in Schwester Theresa.

„Ich bringe Sie jetzt wieder zurück auf Ihr Zimmer. Dann werde ich mich bei den Nachtschwestern erkundigen, ob ihnen etwas aufgefallen ist. Außerdem können wir die Videoüberwachung auf dem Gang vor der Neugeborenen-Station kontrollieren. Wir finden heraus, was da passiert ist, Frau Beck. Keine Sorge.“

Der Arzt verabschiedet sich eilig und Jonas und ich bleiben allein zurück im Zimmer, nachdem Schwester Theresa mir eine Beruhigungspille gegeben hat. Ich bin extrem wütend und sehr besorgt, außerdem heule ich schon wieder.

„Der ist bestimmt schon über alle Berge“, schluchze ich.

„Ich will gar nicht wissen, wo er die Babyleiche her hat“, murmelt Jonas, immer noch entsetzt über die Erkenntnis, dass wir womöglich Opfer eines abscheulichen Verbrechens wurden. „Aber eines muss man sagen, clever wäre das schon. Durch den Austausch der Kinder hätte er Zeit gewonnen, um sich aus dem Staub zu machen.“

Ich nicke und putze mir laut schnaubend die Nase. Diese Heulerei kann ich mir für später aufheben.

„Trotzdem. Er bekommt mein Kind nicht. Wir müssen Kian zurückholen, Jonas. Sobald ich wieder bei Kräften bin, werde ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um meinen Sohn wieder zu bekommen.“

Entschlossen greife ich zu meinem Handy.

„Tobi? Hallo, hier ist Lana.“

„Lana, was ist los?“, fragt mein lieber Kollege Reiter, seit einiger Zeit mein Partner beim LKA und inzwischen ein guter Freund, alarmiert. Er kennt mich so gut, dass er an meinem Ton hört, wenn etwas nicht in Ordnung ist.

„Ich fürchte, Giuliano Farlone hat meinen Sohn entführt. Wir müssen ihn zurückholen“, schluchze ich. Schweigen am anderen Ende der Leitung.

„Wiederhol‘ das bitte nochmal, ich bin mir nicht sicher, ob ich das richtig verstanden habe“, sagt Reiter gepresst und ich wiederhole den Satz noch einmal laut und deutlich.

„Ich habe gestern entbunden, es gab Komplikationen, ich wurde operiert, der Kleine war auf der Neugeborenen-Station und heute Morgen wollte man mir weismachen, dass mein Kind dem plötzlichen Kindstod erlegen sei. Das Baby, das man mir gebracht hat, war aber definitiv nicht meines, ich habe mir nämlich meinen wunderbaren Sohn gestern nach der Geburt ganz genau angeschaut, Gott sei Dank“, ergänze ich zum besseren Verständnis.

„Ja, aber, wie kommst du jetzt darauf, dass ausgerechnet Giuliano Farlone deinen Sohn entführt haben soll? Ist das nicht etwas abwegig?“, fragt er ratlos.

„Wir haben alle männlichen Babys überprüft, keines davon ist meines. Ich wüsste nicht, welche Erklärung es sonst dafür geben könnte. Immerhin hat sich jemand die Mühe gemacht, ein totes Kind anstelle meines Sohnes in das Bettchen der Neugeborenen-Station zu legen. Wenn eine Mutter im Hormonrausch mein Kind entführt hätte, hätte sie doch kein totes Kind dahin gelegt, sondern hätte sich Kian gegriffen und wäre verschwunden. Das tote Baby gehört hier niemandem. Das ist Giulianos Handschrift.“

„Ja Herrschaftszeiten“, entfährt es ihm und ich spüre durch die Leitung, wie wütend er ist. „Das gibt’s doch nicht, dieser verdammte Drecksack hat dich die ganze Zeit beobachten lassen und wir haben nichts davon bemerkt. Ich fass‘ es nicht.“

„So schaut‘s aus. Dabei kann er gar nicht wissen, ob das Kind von ihm ist. Stell‘ dir vor, er findet heraus, dass es nicht seines, sondern das von Kilian ist – was macht er dann damit? So, wie der drauf ist, bringt er ihn um oder so.“ Ich schluchze haltlos bei dem Gedanken.

„Jetzt beruhige dich mal, so schnell geht das alles nicht. Hat das Krankenhaus keinen Gentest gemacht?“

„Doch, aber ich habe noch kein Ergebnis. Ich muss den Arzt nachher fragen“, hickse ich.

„Okay Lana, ich versuche herauszufinden, was passiert ist. Ich bin gleich da.“

Er legt auf und ich putze mir die Nase. Ich bin erleichtert. Wenn Reiter mir hilft, werden wir Kian schon finden. Jonas tigert seit unserer Entdeckung unruhig auf und ab.

„Wenn ich den Dreckskerl erwische, mache ich Hackfleisch aus ihm“, stößt er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor und schaut dabei sehr gefährlich aus. Seine dunklen Haare, die er in den letzten Monaten hat wachsen lassen, hängen ihm wild in die Stirn und der Ausdruck in seinen dunkelblauen Augen wirkt mörderisch. So habe ich ihn noch nie erlebt und ich mustere ihn einen Moment irritiert. Uiuiui, mit dem will man sich nicht anlegen, er macht nicht den Eindruck, als ob er sich viel gefallen ließe.

Kurze Zeit später kommt Reiter hereingerauscht, gefolgt von Hannah, meiner besten Freundin, die auch gleichzeitig die Schwester meines ermordeten Ex-Freundes und vielleicht die Tante von Kian ist. Die beiden sind im Juli in München zusammengezogen, wobei Hannah ihre schöne Wohnung in Erding aufgeben musste. Aber sie haben eine fantastische und vor allem erschwingliche Wohnung im Stadtteil Giesing gefunden, was einem Wunder gleichkommt. Schließlich ist die Lage auf dem Münchner Wohnungsmarkt katastrophal und wenn man nicht einen kennt, der einen kennt, geht da normalerweise gar nichts. Aber die beiden hatten Glück und ein Kollege hat sie als Nachmieter ins Gespräch gebracht. Die 3-Zimmer-Wohnung war nie offiziell auf dem Markt, so läuft das in München.

Ehrlich gesagt hätte ich nie gedacht, dass Hannah ihre Wohnung in Erding aufgeben würde, aber sie meinte, für sie sei es sowieso besser, in München zu wohnen, weil die meisten Gerichtstermine für ihre Dolmetschertätigkeit hier stattfänden. Reiter hat sie seinerzeit über mich kennen- und lieben gelernt, was mich sehr freut. Nach dem Mord an Kilian hat er sie liebevoll unterstützt und ich glaube, er konnte ihr über den Verlust etwas hinweghelfen, trotzdem vermisst sie ihn nach wie vor sehr, genau wie ich.

Manchmal denke ich, sie ist mir vielleicht böse, weil ich so schnell nach dem Tod ihres Bruders, an dem ich nicht ganz unschuldig war, mit Jonas zusammen gekommen bin. Doch sie bestätigt mir immer wieder, dass sie sehr froh für mich ist, weil es mir geholfen hat, besser mit dem Verlust und der Schuld fertig zu werden. Außerdem versteht sie sich hervorragend mit Jonas, genau wie Reiter, und beide sind froh, dass ich mit dem Kind und allem nicht allein bin.

Der Einzige, der wohl sehr unglücklich über meine Beziehung zu Jonas ist und den ich seitdem kaum mehr sehe, ist Raffael, mein attraktiver Nachbar und bester Freund aus der Elvirastraße. Ich weiß einfach nicht, wie ich mit ihm umgehen soll, nachdem er mir gestanden hat, dass er sich in mich verliebt hat. Aber das ist eine andere Geschichte.

Hannah eilt völlig aufgelöst an mein Bett und greift nach meiner Hand.

„Lana, um Himmelswillen, das gibt es doch alles nicht. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“

Sie schaut so traurig und erschrocken, dass ich mich bemüßigt fühle, sie zu trösten, obwohl es mir selbst alles andere als gut geht. Reiter hält sich nicht lange auf, er drückt mir einen liebevollen Schmatzer auf die Stirn, dann macht er sich auf den Weg, die Stationsschwestern zu befragen und die Videoaufzeichnung zu checken. Ich rate ihm, sich mit Schwester Theresa zusammenzutun.

Kaum ist er verschwunden, klopft es erneut und plötzlich steht meine Familie versammelt in der weit geöffneten Tür. Jonas hat gestern Momo informiert, dass Kian zur Welt gekommen ist, da ich aber nicht so fit war, wollten sie mich heute besuchen. In der ganzen Aufregung hat er vergessen, ihnen Bescheid zu sagen, deshalb sind nun alle hier. Leider sind sie bester Laune mit Blumen und Luftballons angerückt und das lässt mich schon wieder in Tränen ausbrechen. Es ist lieb gemeint und sie wussten es nicht besser, trotzdem macht mich das fertig. Jonas hebt die Hände.

„Leute, es tut mir sehr leid, ich habe vergessen, euch Bescheid zu sagen. Kian ist wahrscheinlich entführt worden, wir wissen nicht, ob er noch lebt …“ Seine Stimme bricht.

Daraufhin herrscht im ersten Moment betretenes Schweigen. Dann wird es sehr laut und chaotisch im Zimmer, weil alle durcheinander reden und wissen wollen, was genau passiert ist. Der arme Jonas muss ihnen alles bis ins Detail erzählen und ich wünschte, ich könnte weg von hier. Das ist mir alles zu viel. Irgendwann kommt Dr. Aljanovic, von dem Lärm angelockt, ins Zimmer geschossen.

„Was ist denn hier los?“, fragt er aufgebracht. „Frau Beck braucht absolute Ruhe, bitte gehen Sie.“

Er schaut streng in die Runde, was zu erschrockenem Schweigen führt.

„Selbstverständlich, entschuldigen Sie bitte, wie gedankenlos von uns“, sagt mein Vater nach einem kurzen Blick auf mein blasses Gesicht, küsst mich sanft und scheucht die anderen zur Tür hinaus. Meine Mutter drückt mich fest und Momo gibt mir ein Bussi auf den Scheitel.

„Das wird schon werden, Schwesterherz, keine Sorge. Reiter findet den Dreckskerl und bringt dir den Kleinen zurück, ganz bestimmt“, sagt er zuversichtlich und ich nicke nur stumm.

„Leute“, sage ich erschöpft zu Hannah und Jonas, die geblieben sind. „Könntet ihr mir bitte einen kleinen Moment Ruhe gönnen? Ich bin total fertig.“

Die beiden küssen mich kurz und gehen ohne Protest aus dem Zimmer. Dr. Aljanovic untersucht mich.

„Ich gebe Ihnen noch eine Infusion, Frau Beck. Möchten Sie etwas zur Beruhigung?“, fragt er sanft.

Ich schüttele den Kopf.

„Nein, ich muss bei klarem Verstand bleiben, das ist wichtig. Vielen Dank, Dr. Aljanovic.“

Er schaut mich zweifelnd an.

„Frau Beck, das ist wirklich eine wilde Geschichte und wenn sich herausstellt, dass es möglich war, die Babys auszutauschen, dann müssen wir dringend unsere Sicherheitsmaßnahmen verstärken. Es tut mir sehr, sehr leid, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“

Er wirkt ernsthaft geknickt und ich lächele ihn tapfer an.

„Sie können doch gar nichts dafür. Wenn dieser Typ was will, dann bekommt er das auch, weil er notfalls über Leichen geht. Insofern ist es gut gelaufen, denn niemand wurde verletzt oder getötet. Ich muss mich entschuldigen, dass ich diese Möglichkeit nicht ernsthaft in Betracht gezogen und die Situation unterschätzt habe.“ Mir fällt noch etwas ein. „Haben Sie denn mittlerweile das Ergebnis vom Gentest?“, frage ich und halte die Luft an. Soviel hängt davon ab.

Er schüttelt den Kopf.

„Nein, noch nicht, leider ist Sonntag und die Abteilung normalerweise nicht besetzt. Wir haben aber den zuständigen Kollegen aus dem Wochenende geholt, allein schon wegen des toten Babys. Sie müssen sich bitte noch bis heute Nachmittag gedulden.“

„Okay“, sage ich enttäuscht. „Wann, denken Sie, haben Sie das Ergebnis?“

„Ich schätze so gegen 15 Uhr. Ich sage Ihnen sofort Bescheid, sobald ich es weiß, Sie können sich darauf verlassen.“ Er geht zur Tür. „Was für eine Räuberpistole“, murmelt er kopfschüttelnd und verlässt mein Zimmer.

Ich lege mich zurück und denke nach.

Julius bzw. Giuliano hat Kian mit Sicherheit nach Neapel gebracht. Dort wird er einen Gentest durchführen lassen und sobald er das Ergebnis hat und es nicht so ausfällt, wie er das möchte, wird es gefährlich. Das bedeutet, unser Zeitfenster, um ihn und Kian zu finden, ist sehr eng und begrenzt. Dazu noch grenzüberschreitend, das bedeutet jede Menge bürokratischer Hürden. Und da wir es mit der Camorra zu tun haben, ist es zu allem Überfluss auch noch sehr gefährlich.

Reiter kommt ins Zimmer. Er ist im Moment der Einzige, den ich sehen will. Wir arbeiten schon eine ganze Weile beim LKA zusammen und ich habe es sehr bedauert, in den letzten Monaten im Büro sitzen zu müssen, während er mit verschiedenen Kollegen unterwegs war, aber schwanger durfte ich nicht mehr mit ihm in den Außendienst. Er schaut gut aus. Seine Jeans sitzt nicht mehr so eng und sein in verschiedenen Blautönen gemustertes T-Shirt passt hervorragend zu seinen blauen Augen. Seine Haare sind wieder kürzer geschnitten, wodurch die grauen Strähnen stärker zum Vorschein kommen, und den Hipster-Bart, den er eine ganze Weile getragen hat, hat er in einen 5-Tage-Bart verwandelt. Er schaut wieder ein bisschen aus wie George Clooney. Mein Reiterlein. Er setzt sich mit ernstem, aber entschlossenem Gesichtsausdruck an mein Bett.

„Also Beck“, so nennt er mich immer, wenn es beruflich wird, „pass auf. Es war tatsächlich ein Mann mit einer großen Tasche heute Nacht in der Nähe der Kinderstation. Die Nachtschwester sagte, er hätte ihr gesagt, dass er Sachen für eine Gebärende dabeihätte, sie habe das nicht in Frage gestellt. Sie hat den Mann so beschrieben: groß, blond mit halblangen Haaren, gut aussehend, teure Klamotten.“

Er macht eine Pause und ich nicke.

„Krass, Julius war selbst da“.

Giuliano kommt mir manchmal immer noch schwer über die Lippen, immerhin habe ich ihn damals als Pater Julius kennengelernt. Reiter nicht zustimmend.

„Genau. Ich bin überrascht, dass er das selbst macht und nicht einen schickt, der den Job für ihn erledigt.“

„Naja, das ergibt insofern Sinn, als er vielleicht das Kind sofort sehen wollte, um festzustellen, ob es etwas von ihm hat. Meinst du nicht?“

„Offensichtlich scheint er zu der Erkenntnis gekommen zu sein, dass das Kind von ihm sein könnte, sonst hätte er es nicht mitgenommen. Auf der Videoüberwachung ist er ganz klar zu erkennen, was ich schon fast frech finde. Er hat sich noch nicht einmal die Mühe gemacht zu verbergen, wer er ist. Man sieht, wie er in die Neugeborenen-Station hineingeht und wieder herauskommt, allerdings ist auf dem Rückweg die Tasche zur Hälfte geöffnet, wenn man genau hinschaut. Wir müssen also in der Tat davon ausgehen, dass er die Kinder ausgetauscht hat.“ Er schweigt einen Moment.

„Wann war das?“, frage ich neugierig.

„3 Uhr nachts, ziemlich genau.“

„Das war die Zeit, als ich wach wurde und so unruhig war. Hätte ich nur geklingelt und nachgeschaut, dann hätten wir es vielleicht verhindern können.“

Reiter schüttelt vehement den Kopf.

„Hätte, hätte, Fahrradkette – was für ein Unsinn. Du wärst ihm womöglich in die Quere gekommen, aufhalten hättest du ihn nicht können, du kennst ihn doch. Der ist irre und geht über Leichen, mit dem willst du dich in so einer Situation nicht anlegen.“

Ich nicke. „Inzwischen hoffe ich fast, dass Kian von ihm ist, damit wir mehr Zeit haben, um ihn zu finden und zurückzuholen.“

„Wenn das sein Sohn ist, wirst du dein Kind nie mehr wiedersehen, Lana. Tut mir leid, wenn ich dir das so deutlich sagen muss.“ Er schaut mich ernst an.

Mir schießen die Tränen in die Augen. Die Vorstellung, dass ich Kian, den ich jetzt schon mehr als mein Leben liebe, womöglich nicht mehr wiedersehen könnte, erschüttert mich zutiefst. Außerdem schmerzen meine Brüste, es wäre wieder Zeit zu stillen. Was macht Julius mit Kian, wenn er schreit, weil er Hunger hat? Ich komme um vor Sorge. Schwester Theresa kommt mit einer Milchpumpe. Kann die Gedanken lesen?

---ENDE DER LESEPROBE---