Längst nicht mehr koscher - Claudia Erdheim - E-Book

Längst nicht mehr koscher E-Book

Claudia Erdheim

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Beschreibung

Galizien, das östlichste Kronland der Monarchie. Moses Hersch und Esther haben fünf Söhne. Sie sind fromme, aber aufgeklärte Juden. In ihrer Heimatstadt Boryslaw gibt es Erdöl, es herrscht Manchester-Kapitalismus. Die Familie ist sehr wohlhabend, sie besitzt Gruben, eine Erdölraffinerie und eine Brauerei. Doch ihr Schicksal und das der nachfolgenden Generationen wird vom Lauf der Geschichte bestimmt. Drei Söhne ziehen Ende des 19. Jahrhunderts nach Wien, zwei bleiben in Galizien. Die Tochter des zweiten Sohnes ist mit einem Widerstandskämpfer liiert, den die Gestapo einsperrt. Eine Familie, die in Galizien geblieben ist, überlebt auf wundersame Weise, die andere verbrennt im Ghetto von Drohobycz, der Sohn kommt im Nebenlager Melk um. Die Familie in Wien überlebt und der Widerstandskämpfer wird in der provisorischen Regierung Unterstaatssekretär.

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Seitenzahl: 642

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Claudia Erdheim

LÄNGSTNICHT MEHR KOSCHER

Die Geschichte einer Familie

ROMAN

Claudia Erdheim

LÄNGSTNICHT MEHR KOSCHER

Die Geschichte einer Familie

Roman

Czernin Verlag, Wien

Erdheim, Claudia: Längst nicht mehr koscher – Die Geschichte einer Familie / Claudia Erdheim Wien: Czernin Verlag, 2015 ISBN: 978-3-7076-0513-6

© 2015 by Czernin Verlags GmbH, Wien Lektorat: Florian Huber Satz: Burghard List Produktion: www.nakadake.at ISBN E-Book: 978-3-7076-0513-6 ISBN Print: 978-3-7076-0480-1

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien

Inhalt

Das macht ein jüdisches Kind nicht

Wie schmeckt Schweinefleisch?

Höchste Zeit zum Heiraten

Der Kaiser hat gerufen

Hakenkreuzler auf den Straßen

Es wird ein böses Ende nehmen

Danksagung

Glossar

Das macht ein jüdisches Kind nicht

1. Kapitel

1

Moses Hersch macht sich auf den Weg zu seinen Gruben. Er spannt den Fabrikwagen ein und fährt mit Chaim Alter, dem Sohn Israel Gottesmanns, seines Kompagnons, los. Sie fahren nach Wolanka, um ihre Erdwachsgruben zu inspizieren. Die Straße ist voller Kot und Schlamm. So weit wie möglich fahren sie an die Gruben heran. Auf den Fichtenbrettern, die als Trottoire dienen und auf denen man sich vor lauter Menschen kaum fortbewegen kann, geht Moses Hersch in die eine Richtung, Chaim Alter in die andere. Über den Gruben sind Baracken aus Holz errichtet. Es sieht aus wie ein Zigeunerlager. Moses Hersch geht in eine der Baracken hinein. Es ist sehr dunkel und riecht penetrant nach Erdöl. Der Geruch bereitet ihm leichte Übelkeit. Er schaut kurz der Arbeiterin zu, die mit dem Handventilator der Grube Luft zuführt, fragt den Aufseher: Alles in Ordnung? sagt, bis heute abend bei der Auszahlung, und geht. Moses Hersch geht zur nächsten Grube und weiter zu einer Grube ohne Baracke. Aus der Grube hört man es läuten. Die Arbeiter ziehen an einem Seil. Moses Hersch schaut in die Grube. Nach drei Minuten taucht ein Kübel auf. In dem Kübel ist eine Leiche. Haut und Gewand sind noch erhalten, das Gesicht entstellt, aber noch erkennbar. Niemand sagt etwas. Es läutet wieder. Die Arbeiter werfen die Leiche aus dem Kübel und lassen den Kübel in die Grube hinunter. Wieder ziehen sie an dem Seil. Ein Arbeiter kommt aus der Grube heraus. Weiß jemand, wer die Leiche ist, fragt Moses Hersch. Die jüdischen Arbeiter schweigen. Der Tote ist kein Jude. Janko Hryzyn ist vor zwei Jahren verschwunden, sagt der Arbeiter, der aus der Grube gekommen ist.

– Ist er das?

– Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht. Roman Mnich ist vor einem Jahr veschwunden.

– Ist er das?

– Vielleicht. Man muß seine Frau fragen.

– Man muß die Gendarmerie holen.

Die Leiche kann auch erst ein paar Monate, vielleicht sogar erst ein paar Tage in der Grube gelegen sein. Es ist das erste Mal, daß in Moses Herschs Gruben jemand tödlich verunglückt ist. Es wird Unannehmlichkeiten geben, denkt Moses Hersch. Vielleicht war es Unvorsichtigkeit, vielleicht ist die Sicherheitslampe erloschen, weil zu viel Gas in der Grube war, und der Mann ist erstickt, vielleicht ist ein Seil gerissen und der Aufseher hat es nicht gemeldet, dann ist er schuldig. Vielleicht war es ein Unfall und der Mann ist in der Dunkelheit oder betrunken in die Grube gefallen, dann ist er auch schuldig. Die Grube ist seit einiger Zeit unbedeckt. Die Bedeckung ist gestohlen und nicht erneuert worden. Noch vor ein paar Jahren hätte man die Leiche einfach liegengelassen. Niemand hätte gewußt, wer der Besitzer der Grube ist. Es gab keine Grundbücher. Heute ist das anders. Es wird eine Gerichtsverhandlung geben. Er wird Strafe zahlen müssen.

Vor acht Jahren, im Jahre 1866, kaufte Moses Hersch Erdheim in Borysław von einem ruthenischen Bauern zusammen mit anderen um einen Spottpreis ein Stück Grund. So erwarb er einige Anteile an Gruben. Und kam zu Geld. Damals war es noch Erdöl, das aus den Gruben förmlich herausbrach. Die Bauern wußten nicht, wie wertvoll ihre Felder waren. Borysław – ein kleines, verschlafenes, ruthenisches Dorf am Fuße der Karpaten, im Osten Galiziens, des ärmsten Kronlands der Monarchie. Bis die Goldgräber kamen. Juden, die über Nacht reich wurden. Über dem ganzen Dorf hängt der Geruch von Erdöl. Die Straßen sind schlammig, ölgetränkt, ein gelber morastartiger Kot. Schmale Bretterstege dienen als Fußweg. Die Häuser sind aus Holz, nebeneinander oder auseinander gestreut auf einer kleinen Anhöhe. Auf den Straßen tummeln sich Wasserträger, Lepträger, jüdische und ruthenische Arbeiter in schmierigen, zerschlissenen Gewändern und mit Öl beschmierten Gesichtern, die Ruthenen meist barfuß, die Juden mit Pejes und im Kaftan, Händlerinnen, die Zwiebeln und Heringe verkaufen, Juden, die ihre Waren feilbieten, Schnitt- Ton- und Eßwaren, Kinder, die schwere Säcke schleppen, Luftmenschen, Menschen in Lumpen, die keine Arbeit haben und Betrunkene. Leute mit Säcken auf dem Rücken, die sie mit einem Zipfel über die Schulter halten, stehen herum und warten darauf, unbemerkt den Schutt aus ihren Säcken heimlich auf die Straße oder in einen Hof ausschütten zu können. Danach laufen sie schnell davon. Stellenweise versinkt man knietief im Kot. Irgendwo hockt jemand bei einem Zaun und verrichtet sein Geschäft, weil es keine Aborte gibt. Zisternenwagen rattern durch die Straßen. Vor dem Bethaus steht eine Frau mit ihrem Kram. Sie verkauft Gebetbücher, Gebetfäden und Erzählungen auf Jiddisch. Heftchen über Wunderrabbis und verhexte Prinzessinnen. An einer Straßenecke ruft eine zerlumpte und verschmierte Jüdin: Kauft Schüsseln, heiß und voll, 3 Kreuzer, 4 Kreuzer, 6 Kreuzer eine Portion! Braune tönerne Schüsseln stehen auf einer langen Bank, die vor einer Kiste aufgestellt ist. Die Kiste bildet den Ladentisch, auf dem große Töpfe mit Erdäpfelsuppe und Wassernudeln stehen. Ein Kochlöffel Erdäpfel und einer mit Nudeln bilden eine Schüssel. Arbeiter drängen sich heran, und die Jüdin gibt noch mit ihren klebrigen Fingern eine Prise Salz in die Schüssel. Daneben sind schwarze, schlecht gebackene Brote zu haben, das Pfund um vier Kreuzer.

Moses Hersch ist ein gottesfürchtiger Mann, aber nicht fanatisch. Er spricht die Gebete und geht in die Synagoge oder ins Bethaus, hält den Sabbat und die Feiertage heilig, aber trägt unter der Woche keinen Kaftan und hat keine Pejes. Er ist kein Anhänger eines Wunderrabbis, aber er spendet für die Armen, für die Abbrändler, für die Waisen und für die Volksküche. Er liest den Magid, eine fortschrittliche Zeitung auf Hebräisch und er ist Mitglied des Vereins für Fortschritt und Bildung, aber auch des jüdischen Armen- und Bedürftigenversorgungsvereins. Er spottet über den Rebbe von Belz, den größten Wunderrabbi Galiziens, und höhnt, daß der Rebbe von Rzerzow größer ist als der Rebbe von Kiew. Er liest das jüdische Volksblatt von Borysław, eine Zeitung in Jiddisch, die jeden Freitag erscheint. Und am Sabbat liest er in der Thora und im Talmud. Er ist zwar nicht sehr gebildet, aber in einfacheren Teilen des Talmuds findet er sich zurecht. Es genügt an Gott zu glauben und Jude zu sein.

Moses Herschs Familie war arm, bitter arm. Sein Vater war Tischler in Sosnica. Die Mutter handelte mit Salz, Brot, Mehl, Zwiebeln, Heringen, Kerzen, Messern, Besen und Branntwein. Aber alle handeln, und das Geschäft brachte nur wenige Kreuzer am Tag. Vater, Mutter und vier Kinder wohnten in einer Hütte mit Lehmboden in einem einzigen Raum. Unter der Woche hatten sie kaum genug zu essen. Aber am Sabbat gab es Challah und gefillte Fisch und manchmal ein Huhn. Als Moses Hersch zwanzig war, heiratete er und zog nach Sambor zu den Eltern seiner Frau. Er hörte, daß man in Borysław reich werden kann und beschloß, dort sein Glück zu versuchen. Damals hatte es in dem kleinen Dorf mit den paar hundert Einwohnern noch fast keine Juden gegeben. Jetzt wohnen siebentausend Juden in Borysław. Esther, Moses Herschs Frau, hatte eine kleine Mitgift in die Ehe gebracht. Davon kaufte er die Anteile an den Gruben. Er machte aber auch einen Handel auf mit Galanterien, Kurzwaren, Nürnberger und Glaswaren. Unter der Woche war er nun in Borysław und übernachtete in der Schenke, Donnerstag abend oder Freitag vormittag fuhr er nach Sambor, um mit der Familie den Sabbat zu feiern. Esther gebar ein Mädchen, das bei der Geburt starb. Ein Jahr darauf einen Sohn. Sische ist jetzt sechs Jahre alt. Moses Hersch war nun wohlhabend und kaufte ein Haus in Borysław. Ein Haus mit fünf Zimmern und einer Veranda auf der Ulica Pańska. Ein Zimmer dient als Geschäft. Drei Jahre später kam Osias zur Welt und Jakob ist gerade geboren worden. Esther ist groß, ein Stück größer als ihr Mann, stark und hat ein trauriges Gesicht. Sie hat einen Scheitl und trägt ein großes kariertes Tuch, wenn sie ausgeht. Am Sabbat liest sie in ihrer jiddischen Bibel und dem Gebetbuch, das ein silbernes Schloß hat. Sie ist Mitglied des Frauenvereins zur Unterstützung der Kranken und des Braut-Ausstattungs- und Altenversorgungsvereins. Moses Hersch hat eine Erdölraffinerie in Hubicze gebaut, einem Dorf gleich bei Borysław auf dem Weg nach Drohobycz. Esther arbeitet im Geschäft. Dreimal in der Woche kommt ein Student aus Drohobycz, um Moses Hersch und Esther Deutschunterricht zu geben. Ein Gymnasiast der siebenten Klasse. Auch Sische bekommt Deutschunterricht.

Die meisten Arbeiter sind Ruthenen und Juden, nur wenige sind Polen. Jeder Schacht hat seine Häuer, Träger, Wäscher, Wasserträger, Kurbeldreher, Umschmeißer und Klauberinnen. Jedem Schacht steht ein Aufseher vor. Die Aufseher sind ausnahmslos Juden. Sie werben die Arbeiter an und zahlen sie manchmal auch aus. Manche Arbeiten sind schwerer, andere wiederum gefährlicher. Am meisten verdienen die Häuer. Sie bekommen vor der Arbeit ein halbes Seidel Schnaps. Mit einem Fuß in einem Blecheimer, mit der Rechten das Seil und mit der Linken die Sicherheitslampe haltend, werden sie in den brunnenartigen sechzig oder mehr Meter tiefen Schacht hinuntergelassen. Der Mangel an Bremsen und Stützen, alte morsche Seile und Haspelgerüste lassen viele nicht mehr wiederkehren. Wer unten lebend ankommt, arbeitet in den schmalen, labyrinthartigen Gängen zwölf Stunden in der Tag- oder Nachtschicht. Die narkotisierende und anästhesierende Wirkung der Gase erzeugt Halluzinationen. Oft singen und tanzen die Bergleute, wenn sie aus dem Schacht kommen. Wenn der Arbeiter zu lange den Gasen ausgesetzt ist, bekommt er einen Geschmack nach bitteren Mandeln im Mund, Ohrensausen und Kreuzschmerzen, starke Krämpfe, wird bewußtlos und stirbt. Manchmal kommt es zu Explosionen, und es gibt kein Entrinnen. 50 bis 60 Kreuzer verdienen die Häuer als Taglohn. Die Klauberinnen sind jüdische Mädchen, noch Kinder. Sie scheiden die wachshaltige Erde von den Steinen. Sie knien auf der feuchten Erde und verrichten ihre Arbeit in gebückter Stellung 12 Stunden täglich, zu jeder Jahreszeit, trotz Nässe und Sturm und Regen. Die hohen Röhrenstiefel, die sie im Winter tragen, durchdringt die Nässe, und die leichte Kleidung schützt sie nur wenig gegen den Frost und die Unbilden des Wetters. Ihr Taglohn sind 40 Kreuzer. Die Kurbeldreher sind ruthenische Bauern und zugereiste Masuren. Die Steinträger und Wäscher fast ausschließlich Juden. Die Arbeiter, die oben arbeiten, sind meistens Juden. Die Arbeit ist zwar weniger gefährlich, dafür schwerer. Sie arbeiten statt samstags sonntags. Die Steinträger müssen die Steine auf große Plätze tragen und haben oft zwei Zentner auf ihren Schultern. Wäscher und Steinträger arbeiten ununterbrochen. Die Häuer in den Schächten können sich eine Ruhepause gönnen. Sie stehen unter keiner Aufsicht. Aber oben treiben die Aufseher und Pächter ihre Sklaven an, weil sie sie für 12 Stunden gekauft haben. Und so hört man die jüdischen Arbeiter klagen: Wir arbeiten schwerer als unsere Väter bei Pharao in Mizrajim; die höchste Zeit wäre es schon, daß uns Gott durch einen neuen Moses aus dem galizischen Mizrajim herausführe.

Sische geht in die erste Klasse der polnischen Volksschule. Dort wird auch Ruthenisch unterrichtet, weil einige Kinder Ruthenen sind. Aber die ruthenischen Bauern schicken ihre Kinder meistens nicht in die Schule. Sieben jüdische Kinder sind in der Klasse. Die Juden schicken ihre Kinder nur in den Cheder, nicht in die öffentliche Schule. Sie dürfen nur Hebräisch lernen und den Talmud studieren. Alles andere ist verboten. Sische ist auch in den Cheder gegangen, bevor er in die Volksschule gekommen ist, und hat den Pentateuch gelernt. Jetzt muß er nicht mehr in den Cheder gehen. Moses Hersch ist kein Freund des Cheder. Das ist etwas für die Orthodoxen und die Chassidim. Sie lernen nur Chumesch und Mischnah und Gemara. Und sie lernen es auf törichte Weise mit Schlägen und Drill. Damit kann man nichts werden im Leben. Sische soll etwas Ordentliches lernen und studieren. Er soll Arzt werden. Oder Advokat. Er soll Polnisch lesen und schreiben lernen, weil es in Borysław nur eine polnische Volksschule gibt. Aber besser Polnisch als den ganzen Tag über dem Talmud zu sitzen. Und er soll Rechnen und Deutsch lernen. Und wenn er nicht Arzt wird, dann soll er Kaufmann werden. Aber er soll studieren. Als Arzt oder Advokat kann er als Jude überall arbeiten. Ganz aber darf er die heiligen Bücher nicht vergessen. Er hat einen privaten Religionslehrer, jeden Tag eine Stunde. Weil es in der polnischen Volksschule keinen jüdischen Religionsunterricht gibt. Der Religionslehrer ist der Religionsweiser. In Borysław gibt es keinen Rabbiner. Er ist kein Chassid, aber orthodox, und duldet die Fortschrittlichen. Nur nicht mehr in den fanatisierten Cheder. Sische trägt auch keine Jarmulke mehr. Auch geht er samstags in die Schule, nur schreibt er nicht. Segenreich, Eisenstein und Lauterbach und all die anderen Orthodoxen und Chassidim gehen Moses Hersch aus dem Weg. Ihre Söhne gehen in den Cheder und halten den Sabbat heilig. Moses Hersch ist ein Apikojress, ein Ketzer. In Borysław gibt es keinen Tempel für die anderen, die keinen Kaftan mehr tragen und keine Pejes und die samstags ihre Kinder in die Schule schicken. Sie gehen ins Bethaus vom Fortschrittsverein. Der Fortschrittsverein will einen Tempel erbauen wie in Lemberg. Da soll es eine Orgel geben und einen Rabbiner, der auf Deutsch predigt. Moses Hersch hat Sische am Sabbat auch nie geprüft über das, was er während der Woche im Cheder gelernt hat. Er prüft ihn auch jetzt nicht. Sische ist blond wie der Vater. Er ist ernst und lernt gut. Ein jüdisches Kind muß sich schon frühzeitig an den Ernst des Lebens gewöhnen.

Kein Arbeiter wird um eine Legitimation gefragt, obwohl in Österreich ein Arbeitsbuch vorgeschrieben ist. Von Tausenden von Arbeitern weiß niemand, woher sie kommen. Selten kennt man die Namen der Arbeiter, weil es keine Registrierung gibt. Sie werden täglich angeworben und sofort bezahlt. Die Arbeiter mißtrauen den Schachtbesitzern, sie fürchten, überhaupt kein Geld zu bekommen oder lange darauf warten zu müssen. Viele Arbeiter verlangen zumindest teilweise den Lohn im voraus. Oft verschwindet daraufhin der Arbeiter und läßt sich möglichst rasch woanders ankaufen. Ist er in einen der vielen hundert Schächte eingefahren, ist es fast unmöglich, ihn wieder zu finden. Findet man ihn doch, so bekommt er eine gewaltige Tracht Prügel.

Um fünf Uhr früh und um fünf Uhr abend wimmelt es auf den Straßen von Borysław von Hunderten von Arbeitern und Arbeiterinnen, meist in erbärmlichster Kleidung, die auf den Wegen stehen oder sitzen und warten, bis sie jemand für die kommende Schicht anwirbt. Dazwischen eine Unzahl gestikulierender, feilschender und schreiender Aufseher oder Kassierer, wie man sie auch nennt. Sie kaufen die Leute an und führen sie wie eine Horde Sklaven vom Markte weg zur Schachtkaue. Noch lebhafter ist das Treiben bei Arbeitermangel in der Erntezeit. Die Kassiere konkurrieren untereinander, und die Arbeiter feilschen mehr um die Höhe des Lohns.

Fast jeder Aufseher hält eine Schenke verbunden mit einer konzessionierten Herberge. Der Arbeiter muß dem Aufseher 2 bis 5 Kreuzer Kassierergeld bezahlen, weil er und kein anderer für die Schicht angeworben wurde. Weil sich der Arbeiter nicht von der Arbeit entfernen kann, werden ihm meistens zwangsweise vom Aufseher die Lebensmittel geliefert, die dann viel teurer sind als im Geschäft. Und wenn er am nächsten Tag wieder sicher angeworben werden will, muß er in der Herberge des Aufsehers nächtigen. Oft ist am Abend ein Mann dem Kassierer noch etwas schuldig, statt einen Lohn zu erhalten. Dann bekommt ein ruthenischer Bauer, der nicht lesen und schreiben kann, eine Rechnung vorgelegt:

Hast genommen

10 Brote

Kommen zusammen

2 fl. 20 kr.

Schnäpse hast du getrunken alle Tage 3 Stück, macht

24 Stück

Und kosten zu 4 kr.

96 kr.

Hast gearbeitet

8 Schichten

Kommt mir ein Kassiergeld

32 kr.

Schüssel mit Erdäpfel und Teig

20 Stück

Kosten

1 fl. 20 kr.

Macht zusammen

5 fl. 30 kr.

8 Schichten à 65 kr

5 fl. 20 kr.

bleibst also schuldig

10 kr.

Oft reichen die Herbergen nicht aus oder sie werden gar nicht aufgesucht, um die 10 Kreuzer zu sparen. Viele Arbeiter schlafen in der Schachtkaue oder im benachbarten Wald, wo sie sich Höhlen graben oder Laubhütten bauen. Im Sommer bei schönem Wetter ist auch das nicht nötig. Oft sieht man Hunderte auf der Hutweide vor der Ortschaft schlafen. Viele Arbeiter wohnen auch in Drohobycz und fahren jeden Tag nach Borysław. Die Bahnstation in Drohobycz ist gleich beim Ringplatz. Dann stehen sie 40 Minuten dicht gedrängt in der 4. Klasse. Es ist die einzige Strecke in der Monarchie, auf der am Samstag keine Züge fahren.

In den Herbergen kann der Arbeiter Brot und Schnaps kaufen. Die Herberge ist ein völlig verschmutzter Raum, der mit hölzernen Pritschen vollgestopft ist. Dort schlafen so viele Leute, wie dicht nebeneinander Platz finden. Die Herberge ist Tag und Nacht belegt und wird nie gereinigt. Die Juden fügen sich dem Schicksal und denken: Gott hilft schon.

Moses Hersch sitzt in seinem Kontor, wo auch die Auszahlung stattfindet. Es ist ein mittelgroßes Zimmer, in der Mitte stehen ein fester eichener Tisch, an der Wand Bänke, um den Tisch herum Stühle und in der Ecke eine eiserne Wertheim-Kasse. Er sitzt am Tisch und geht seine Rechnungsbücher durch. Der Aufseher kommt und hinter ihm die Arbeiter. Die Arbeiter drängen und schwätzen, während sie im Flur warten, um zur Auszahlung aufgerufen zu werden. Der Aufseher ist ein Jude mit einem dichten, zerzausten Bart, Schläfenlocken und einem Hut auf dem Kopf. Er geht in das Zimmer, tritt an den Tisch heran und sagt: im Schacht Nr. 15 hat man eine Matka gefunden. So eine Matka, Reb Moses Hersch. Dabei fuchtelt er mit den Händen, als wollte er die Größe der gefundenen Mutter andeuten. So eine Wachsader habt ihr noch nie gesehen, Reb Moses Hersch. Moses Hersch lächelt freudig verhalten. Er hat ein strenges Gesicht und pflegt Gefühle zu verbergen. Insbesondere vor seinen Arbeitern und Dienstboten, die er mit unnachgiebiger Strenge behandelt.

Nach 6 Uhr abend ziehen Massen mit gelblichen Gesichtern und in graugelben verschmierten Fetzen stumpfsinnig durch die Straßen von Borysław. Es sind Arbeiter, die nicht nach Hause gehen, weil sie kein Heim haben. Sie suchen kein Gasthaus auf, weil sie kein Geld haben. Sie kaufen sich bei der Schüsselverkäuferin, die eine Verwandte des Aufsehers ist, eine Schüssel, stecken sich nach dieser Mahlzeit eine Pfeife an und ziehen zum Schnapsladen, der der Frau des Aufsehers gehört. Der Schnapsladen ist eine kleine, halb verfallene Holzbaracke. In der Mitte steht ein leeres Faß, das als Schanktisch dient. Darauf steht eine große Schnapsflasche und kleinere und größere Gläschen. Rund herum stehen Bänke, auf denen die Arbeiter und Arbeiterinnen sitzen. Eine kleine Hängelampe beleuchtet den Raum. Man schimpft über die Aufseher. Flüche werden ausgestoßen. Jüdisches Hundsblut schreien sie. Die Frau soll der Judeneule Grüße ausrichten. Einer nach dem anderen schläft ein. Eine sitzend, der andere legt sich in einen Winkel oder unter die Bank. Die sitzende Arbeiterin fällt von der Bank und stößt an den bereits schlafenden Arbeiter. Das Gespräch im Raum wird immer schwächer. Schließlich liegen 20, 30 Personen, Männer, Frauen und Kinder, neben- und übereinander.

Moses Hersch hat mit dem Erdöl und Erdwachs ein kleines Vermögen erworben. Er kauft die Bierbrauerei in Drohobycz. Er hat sowieso vor, nach Drohobycz zu ziehen. Es ist nur eineinhalb Meilen von Borysław entfernt und es stinkt nicht nach Erdöl. Er übernimmt vierzehn Arbeiter, ruthenische Bauernburschen, drei gelernte Arbeiter und den Braumeister, der für den Ablauf der Arbeit verantwortlich ist, Gerste, Hopfen und Hefe einkauft, sich um die Maschinen kümmert und ein Auge auf die Ochsen, Pferde und Wagen hat. Es wird sechzehn Stunden gearbeitet, um vier Uhr früh wird begonnen. Nach fünf Stunden gibt es eine Pause. Jeden Tag gibt es eineinhalb Liter Freibier und eine Jause als Teil des Lohns. Moses Hersch fährt fast nie nach Drohobycz in die Brauerei. Er versteht auch gar nichts von der Bierbrauerei. Chaim Alter, der junge Gottesmann, wohnt schon in Drohobycz bei seinem Schwiegervater. Er schaut manchmal in die Brauerei, ob alles in Ordnung ist.

Der Wachsdiebstahl ist in Borysław vollkommen organisiert, im Kleinen wie im Großen. Die Grubenarbeiter schlagen das weiche Erdwachs in Platten, die sie auf der Brust unter der Kleidung leicht verbergen können. Dieses Wachs heißt Pazuchy-Wachs. Es wird in jeder Schenke als Bezahlung angenommen. Kinder sind den ganzen Tag unterwegs, um zwischen den vielen Schachtkauen oder auf den Halden ein Stückchen Wachs zu erhaschen. Und ganze Banden sind auf nächtlichen Einbruch spezialisiert. Alle verkaufen ihren Raub an Zentralhehler, die das Wachs zu Schmelzwachs verarbeiten und direkt in den Handel bringen.

2

Chane, die Dienstmagd, bringt das Frühstück. Brot, kaltes Huhn und Zichorienkaffee. Der Fußboden der Stube ist glattlackiert und die Wände sind frisch gestrichen. In der Mitte steht ein Tisch, drum herum Sessel mit geflochtenen Sitzen. Ein Lehnstuhl und ein Schreibtisch befinden sich noch in dem Zimmer. Und eine Kredenz, in der das Passahgeschirr aufgehoben wird, ein Chanukkaleuchter, eine Menora, silberne Kerzenhalter, das Buch Esther in einer Kassette und ein Sabbatbrotmesser mit einem Perlmuttergriff, auf dem die Worte „Heiliger Sabbat“ eingraviert sind. In den Fächern sind Gewürz- und Kräuterbehälter, Karaffen, Tabletts und Vasen. An der Wand neben der Tür hängt in einem Goldrahmen ein großes Bild. Es stellt eine tropische Landschaft dar. Ein bläulicher Himmel über Bambuswäldern und im Vordergrund einige Gazellen. An der Ostwand hängt ein Bild von Moses Montefiore.

– Du warst heute nicht in der Synagoge, sagt Esther.

– Ja.

– Und gestern und vorgestern warst du auch nicht.

– Ja.

– Gitel hat es Chane gesagt.

– Laß sie reden.

– Naphtali hat es Schejne erzählt. Milka spricht nicht mit mir.

– Was macht das?

– Chane hat mir gesagt, daß man sich erzählt, daß du am Sabbat Zigarren rauchst.

– Das ist eine Lüge.

– Alle reden. Joel, Hinda, Mendel. Niemand spricht mehr mit uns. Sie sagen, wir kommen in die Gehenna.

Moses Hersch lacht.

– Närrin. Laß sie reden.

– Aber es sind unsere Nachbarn.

– Ich bin ein gottesfürchtiger Mann. Ich spreche das Morgengebet und das Abendgebet. Das genügt. Gottesmann, Kornhaber, Mendelson gehen auch nicht jeden Tag in die Synagoge. Ephraims Meier und Simons Feigele gehen mit Sische in eine Klasse. Und Azriel, Berman, Dow gehen auch nicht mehr in den Cheder. Wir werden bald nach Drohobycz ziehen.

Moses Hersch nimmt eine Prise Schnupftabak. Der Säugling schreit. Esther nimmt ihn an die Brust.

– Osias muß in den Cheder kommen.

– Er muß nicht in den Cheder gehen.

– Er muß in den Cheder gehen.

– Er soll in die Volksschule gehen.

– Aber zuerst in den Cheder. Er muß Hebräisch lernen und den Talmud studieren.

– Das kann er auch mit einem Privatlehrer. Im Cheder lernt er nur Hebräisch und Chumesch. Er soll Deutsch lernen. Reb Wolf ist ein schlechter Lehrer und es ist sehr schmutzig bei ihm und im Haus laufen die Hühner herum und es stinkt und die Windeln hängen überall und seine schmutzigen Kinder schreien und Rebekka steht die ganze Zeit am Herd und zetert. Das weißt du doch.

– Er soll auch nicht zu Reb Wolf gehen. Geben wir ihn zu Reb Selig. Sische war auch bei ihm. Er ist kein Chassid, aber er ist ein Gelehrter.

– Reb Selig ist auch nicht viel besser, und Reb Manasse ist ein chassidischer Trunkenbold.

– Er muß bis zur Volksschule in den Cheder gehen. Er ist alt genug, um zu lernen.

– Kümmer’ dich um die Kinder und mach’ die Bestellungen fertig.

Moses Hersch steht auf, zieht seinen mit Fuchspelz gefütterten Überzieher an und geht. Er muß nach Drohobycz fahren und das Brauhaus in das Katastralregister eintragen lassen. Es ist tief verschneit. Er läßt die Pferde vor den Schlitten spannen.

Esther trägt ein Hauskleid aus Alpaka. Keinen Schmuck. Nur am Sabbat nimmt sie eine Perlenkette zu ihrem Feiertagskleid aus Atlas. Aber parfümierte Seife liebt sie, die sie sich aus Lemberg kommen läßt. Sie hat auch eine elegante Perücke aus echten Haaren, wie sie die Damen in Lemberg haben. Sie ist kräftig und hat volle, fast wulstige Lippen. Und immer ein bißchen einen leidenden Gesichtsausdruck. Moses Hersch und Esther haben sich wie alle Juden erst knapp vor der Hochzeit kennengelernt. Sie vertragen sich recht und schlecht. Öfter einmal gibt es Streit. Meistens setzt sich Moses Hersch durch. Aber er ist zufrieden, weil Esther fruchtbar ist und lauter Söhne gebiert. Moses Hersch ist fortschrittlich. Und Esther geht das manchmal zu weit. Dann gibt es Streit. Esther hat ein ganz besonderes Buch. Das Zenne Urenne. Es ist ein volkstümliches Lesebuch. Einige Bibelbücher und die Zerstörung des Tempels werden erzählt. Auch Auszüge aus dem Talmud und dem Midrasch. Es ist schon ganz zerlesen und hat Flecken von Tränen. Esther liebt aber auch Romane. Jiddische Romane. Deutsch kann sie zu wenig, um Romane lesen zu können, obwohl sie die deutsche Korrespondenz erledigt. Und Polnisch kann sie fast gar nicht. Jeden zweiten Monat kommt der Buchhändler mit seinem Sohn nach Borysław. Vor der Synagoge stellt er seinen Wagen ab. Der Sohn, ein schmächtiger 14-jähriger Bursch mit Schläfenlocken, holt aus der Synagoge einen Tisch und einige Bänke, auf denen er die Waren auslegt. Mehrere Knäuel Schaufäden, ein Haufen Mesusas, Gebetriemen, Techinnen und Gebetbücher. Die ganze Woche fahren sie mit dem Wagen, den ein alter Klepper zieht, von Stettl zu Stettl. Der Junge ruft: „Bücher für Frauen und geistliche Bücher für Männer“. Sie haben geistliche Bücher in Hebräisch und jiddische Bücher, jiddische Romane, ein Majsse Buch, Erzählungen der Abenteuer des Prinzen Bovo, Tausend und eine Nacht und Volksmärchen. Und wenn man mit ihm verhandelt, kann man auch deutsche und polnische Bücher kaufen. Aber nur heimlich, damit es die Chassidim nicht merken. Esther liebt die Romane von Scheikewitsch. A scheine maize nur a kurze. Fun zawod un bad. Oder der ungetreue chasn oder der modner lehrer. Die meisten sind kurze Romane. Sie spielen in Rußland, in Warschau oder Łodz.

Moses Hersch trägt einen kurzen Rock wie ein Deutsch. Eine Weste mit Uhrkette, lange Hosen und Stiefel. Er ist klein, hat tief liegende Augen und einen üppigen Bart mit weißen Fäden darin. Und einen würdevoll energischen Gesichtsausdruck. Er kann zwar auch noch nicht perfekt Deutsch, hat aber beim Buchhändler eine Schillerausgabe gekauft. Abends liest er darin im Lehnstuhl sitzend mit einem Glas Bier, Kichererbsen und einer Zigarre.

Der Handel, den Moses Hersch betreibt, ist nicht groß. Er gibt ihn aber nicht auf. Einmal im Monat fährt er nach Lemberg, um Waren einzukaufen. Wenn Esther Zeit hat und nicht mit den Kindern oder dem Haushalt beschäftigt ist, hilft sie. Sie verkauft oder schreibt Briefe. Mit Kornhaber, Mendelson und Gottesmann hat Moses Hersch eine Firma gegründet. Ein Erdwachs-Export-Geschäft. Sie liefern nach Lemberg, Prag und Wien. Aber auch an die Paraffinfabrik in Drohobycz. Am nördlichen Ende des Bahnhofs von Drohobycz gibt es eine Kerzenfabrik, die Kerzen für israelitische Kultuszwecke aus Paraffin erzeugt. Mit Gottesmann ist er nicht sehr zufrieden. Er ist geizig, hat eine harte Natur, die manchmal in Rücksichtslosigkeit ausartet. Und überhaupt klingt seine Redeweise manchmal, ohne daß er es will, beleidigend. Aber anerkannt muß werden, daß er ein Mann der Arbeit und der Tat ist. Er ist auch ein sehr gescheiter Mensch. Kornhabers wildes Vorgehen hat ihn hochgehoben und wieder zu Boden gestürzt. Mit ihm kann sich Moses Hersch nicht beraten. Und Mendelson ist ein lieber, braver und guter Mensch. Er hat auch einen sehr guten Kopf. Einen viel besseren als er, Moses Hersch. Moses Hersch hat ihn sehr gern. Nur reicht sein Optimismus bis zum nackten Leichtsinn. Nach seiner Ansicht kann ein Mensch alles tun, die schwierigste geistige Arbeit, ohne den Kopf anzustrengen. Es ist nämlich so, der gute Mendelson hat in seinem ganzen Leben niemals schwer gearbeitet. Ihm hat das Glück einfach sich aufgebürdet. Er hat dazu niemals beigetragen. Und deshalb meint er, daß es möglich ist, die ganze Welt ohne Anstrengung zu bewegen. Aber Moses Hersch ist ein verträglicher Mensch und kommt mit seinen Kompagnons gut aus. Er selbst ist umsichtig, niemals leichtsinnig und rechnet sorgfältig. Wer im Leben nicht rechnet, stirbt ohne Gnade.

Die Petroleumfabrik in Hubicze ist nicht groß. Sie gehört Moses Hersch allein. Vierzig Arbeiter sind beschäftigt, Juden und Ruthenen, Männer und Frauen. Die Juden arbeiten sonntags, die Ruthenen samstags. Sie arbeiten 12 Stunden. Moses Hersch schlägt nie einen Arbeiter. Die Aufseher machen das manchmal. Zu Peissach spendet Moses Hersch jedem Arbeiter einen Gulden. Er geht jeden Tag in die Fabrik, obwohl er einen Direktor und einen Buchhalter hat. Er kontrolliert regelmäßig die Bestellungen und Quittungen. Das Petroleum wird nach Lemberg und Wien geliefert. In der Fabrik gibt es zwei Maschinen und zwei Dampfkessel. Aber so wie in den meisten anderen Fabriken hat er keinen Maschinisten. Dadurch spart er Geld. Niemand kontrolliert, ob eine Fabrik einen Maschinisten hat. Es passiert auch manchmal ein Unglück. Aber in Moses Herschs Fabrik ist noch nie etwas passiert. Außer dem Toten, der in seinem Schacht gefunden worden ist, hat es noch keinen größeren Unfall in seiner Grube gegeben. Einmal hat sich ein Arbeiter ein Bein gebrochen, ein anderer hat sich zwei Finger gequetscht. Aber Explosion gab es noch keine. Er sucht sich auch immer sorgfältig den Aufseher aus, einen, der halbwegs ordentlich ist. Wenn nichts passiert, kann ihn auch niemand erpressen.

Osias geht zu Reb Selig in den Cheder. Esther hat sich durchgesetzt. Die Kinder von Kornhaber, Mendelson und Gottesmann gehen auch zu ihm. Reb Selig kommt aus Drohobycz. Er ist Schächter und ein frommer Mann. Ein Konservativer, ein Orthodoxer, aber gemäßigt. Es gehen nur die Kinder der Fortschrittlichen zu ihm, die ohne Pejes und Kaftan. Die Fortschrittlichen gefallen ihm nicht, aber er muß ja leben. Es geht ihm ganz gut. Die reichen Unternehmer zahlen besser als die armen Chassidim. Sein Bart ist immer voll Schnupftabak. Er schlägt die Kinder mit dem Kantschuk. Aber weniger als Reb Wolf. Bedenkt, Kinder, daß diese Welt nur eine Vorhalle zu jener Welt ist, pflegt er zu sagen. Das Leben ist nichts als eine Prüfung. Osias lernt schlecht und bekommt oft Schläge. Er kann sich nichts merken. Wenn er Schläge bekommt, weint er. Er erzählt es immer der Mutter. Was habe ich getan, daß Gott mich mit so einem Kind straft, sagt die Mutter jedes Mal und gibt ihm zum Trost ein Marmeladebrot. Mit dem Deutschlehrer geht es besser. Deutsch lernt er leichter, und er bekommt auch keine Schläge. Außerdem spielt der Deutschlehrer manchmal mit Osias oder er zeichnet ihm ein Pferd auf oder eine Katze. Er ist ein großer, junger Mann mit langen, dunklen Locken und einem leichten Bartflaum, ein guter Schüler und für sein Alter schon sehr belesen. Osias ist ein schlaues kleines Kerlchen. Er hat ein paar Oign wie ein Ganev, sagt die Mutter. Ein Ganev, der nicht lernen will. Sische aber ist brav und lernt gut. Wenn er mit Kindern spielt, spielt er auch mit Mädchen. Und die anderen Buben lachen. In der Klasse sind Buben und Mädchen. Links sitzen die Buben und rechts die Mädchen durch einen Mittelgang getrennt. Wenn die Kinder die Verrückte, die immer spricht und singt, und in Lumpen gekleidet ist, mit Steinen bewerfen, macht Sische nicht mit. Das macht ein jüdisches Kind nicht. Schlage niemanden, deine Hände könnten dir abfallen. Aber mit Osias spielt er hinter dem Haus Verstecken und Fangen. Dort ist es schmutzig und kotig. Und die Kinder sind immer voll mit Kot beschmiert. Himmel und Hölle spielen sie, obwohl Osias noch zu klein dazu ist. Wenn Sische mit Osias spielt, ist er immer der König. Die Mutter sieht es nicht gern, wenn die Kinder im Freien spielen. Sie hat Angst, daß sich die Kinder verkühlen, obwohl sie ohnedies dick angezogen sind. Seid vorsichtig, lauft nicht so schnell. Sischele, mein Herzblatt, du brichst dir noch ein Bein – Gott behüte. Sische ist Mutters Liebling. Er hat glühende Augen, sagt sie immer. Weil er so talentiert ist. Aber Kasia, die Kinderfrau, liebt Osias am meisten. Sie schläft mit den Kindern in einem Zimmer, sie kann Jiddisch und singt ihnen ruthenische Volkslieder vor und erzählt Märchen von Popen und von Jesus oder rezitiert auf Jiddisch:

Ele-bele-joske A schwarze kale hostu In roite schichlech gait-zie Oifn grinem baimele stait-zi.

Jakobs Wiege steht noch im Schlafzimmer der Eltern, direkt beim Bett der Mutter. Die Ehebetten sind nach jüdischer Sitte rechtwinkelig zueinander aufgestellt. Fast nie spielen Sische und Osias mit den Nachbarkindern. Sie sind keine Chassidim, sie haben keine Pejes und keinen Kaftan an. Mit Feigele und Meier läuft Sische immer um die Wette. Azriel pfeift und klettert auf Bäume, obwohl es verboten ist. Ein jüdisches Kind macht das nicht. Und Sische fängt Vögel, obwohl es verboten ist. Mit Berman und Dow spielt Sische auch. Und wenn sie einen Hund sehen, sagen sie:

Hund, Hund, du bist Esaus Kind Doch ich – ich bin Jakobs Kind, wage es ja nicht, mich zu beißen, sonst kommt mein Erzvater Jakob und der wird dich zerreißen.

Wenn Sische von der Schule nach Hause geht, kauft er sich immer Kichererbsen und zu Hause gibt er Osias davon. Dann spielt er mit ihm Dreidl oder mit Knöpfen oder mit Karten oder er schnitzt ihm eine Flöte aus Schilfrohr.

Esther ist hochschwanger. Rywka, die Hebamme, kommt jeden Tag. Sie legt die Hand auf den Bauch der Mutter und sagt das Geburtsdatum voraus. Sie ist beliebt und wird gut bezahlt. Wenn es ein Knabe wird, bekommt sie bei der Beschneidung auch noch ein Geld.

Es ist ein gewöhnlicher Wochentag. Chane geht mit einem Huhn zum Schächter. Esther schreit und stöhnt. Esther hat eine schwere Nacht. Moses Hersch geht ins Bethaus und spricht Psalmen. Frauen sind gekommen, um Esther beizustehen. Moses Hersch und die Kinder werden aus dem Haus geschickt. Schrei, Kind, und gibt dir Mühe, sagt die Hebamme. Es ist so weit. Es ist ein Knabe. Ein gesunder Bub. Baruch Haschem. Awrum, benannt nach einem verstorbenen Bruder Esthers.

2. Kapitel

1

Es ist sieben Wochen nach Schawuot. Jakob hat Schüttelfrost. Esther legt ihn sofort ins Bett und deckt ihn fest zu. 38,1. Sie bringt ihm Himbeersirup und läuft nervös im Haus herum, macht Tee und legt ihm eine Kompresse auf die Stirn. Hinter Esther läuft Pinkas her, der Jüngste. Er hängt sich an die Mutter und zetert. Wo ist Kasia? Esther ruft nach Kasia. Wo ist Chane? Nie ist jemand da, wenn man ihn braucht. Chane steht am Waschtrog, hört Esther schreien und eilt herbei.

– Wo ist Kasia?

– Sie spielt mit Awrumele hinterm Haus.

– Und warum spielt sie nicht auch mit Pinkas? Jakob ist krank. Kasia hat ihn sicher nicht warm genug angezogen.

Chane läuft und holt Kasia. Dann läuft sie zu den Nachbarinnen und erzählt, daß Jakob krank ist. Hinde und Sara kommen und bringen Kräuter. Jakob ist blaß und matt. Er ist fünf Jahre alt und geht auch zu Reb Selig in den Cheder. Reb Selig hat ihn nach Hause geschickt, weil er so gejammert hat und so fiebrig ausgesehen hat. Osias und Sische kommen von der Schule nach Hause. Ganz aufgeregt teilt Esther ihnen mit, daß Jakob Fieber hat. Sie kann die Kinder jetzt nicht abfüttern, sie muß Hirse mit Milch für Jakob kochen. Chane soll sich um die Kinder kümmern. Am Herd steht ein Topf mit Borschtsch. Sische geht zu Jakob. Er verspricht, ihm eine Geschichte von einem Dibbuk zu erzählen. Und Kasia kommt, setzt sich an Jakobs Bett, steckt ihm einen Löffel Honig in den Mund und singt ein ruthenisches Volkslied.

– Osias, lauf zum Vater und sag ihm, daß Jakob krank ist.

Moses Hersch ist im Geschäft. Er kommt gleich, läßt sich alles erzählen, geht zu Jakob und verspricht, ihm amerikanische Paranüsse zu bringen. Vielleicht aus Drohobycz, und wenn er dort keine bekommt, läßt er sie aus Lemberg kommen.

Sische soll ins Gymnasium kommen. In Borysław gibt es kein Gymnasium. Er soll in Sambor ins Gymnasium gehen. Dort kann er bei Esthers Eltern wohnen. David und Pessel Hopfinger. Ihre Kinder sind schon verheiratet. Sie wohnen im I. Bezirk, in Sambor Stadt, wo die meisten Juden wohnen. Sie haben ein Haus mit einer Stube und einem Schlafzimmer. Pessel handelt mit Schnittwaren und David ist Holzhändler. Beide können nur Jiddisch. Moses Hersch wird für die Unterkunft und Verpflegung seines Sohnes natürlich bezahlen. Am 1. September ist die Aufnahmsprüfung. Es ist ein polnisches Gymnasium. Seit der Autonomie gibt es in Galizien kein deutsches Gymnasium mehr. Sische kann nicht genug Polnisch. In der Volksschule in Borysław hat er nicht genug gelernt. Er bekommt einen Lehrer. Auch ein Student aus Drohobycz, ein Schüler der fünften Klasse. Einer, dessen Eltern nicht genug Geld haben, das Studium zu bezahlen. Er ist ein kluger Junge, der ständig lateinische und griechische Verse auswendig aufsagt. Der Vater arbeitet in Borysław als Aufseher und fährt jeden Tag mit dem Zug zwischen Drohobycz und Borysław hin und her. Die Mutter arbeitet in der Ölraffinerie von Moses Hersch. Sische lernt gern mit ihm. Nur muß er immer lachen, wenn er ihn sieht, weil er ein bißchen schielt.

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