Lanterne Rouge - Max Leonard - E-Book

Lanterne Rouge E-Book

Max Leonard

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Beschreibung

Als letzter durch's Ziel zu gehen ist normalerweise kein Grund zu feiern. Doch wenn man ein Radrennen über dreitausend Kilometer bestreitet, bei gnadenlosem Wetter Bergketten bezwingt, wenn man diese Herausforderung meistert, und zwar in der langsamsten Zeit, ist man dann wirklich ein Verlierer? Lanterne Rouge, die inoffizielle Bezeichnung für die Letztplatzierung bei der Tour de France, benannt nach den roten Rücklichtern am letzten Waggon einer Eisenbahn, ist längst viel mehr als bloß ein Trostpreis. Max Leonard widmet sich in seinem ganz und gar außergewöhnlichen Buch den vergessenen, inspirierenden, teilweise absurden Geschichten der Letztplatzierten seit 1903. Wir erfahren von Etappensiegern und ehemaligen Gelben-Trikot-Trägern, die auch das Leben am anderen Ende des Hauptfeldes kennengelernt haben. Von Ausbrechern, die für eine Flasche Wein angehalten haben, um sich dann zu verfahren, und von Gedopten, deren Cocktails sie versehentlich langsamer gemacht haben. Max Leonard stellt Betrachtungen an, die weit über die Welt des Spitzensports und der Leistungsphilosophie hinausgehen und uns einladen zu hinterfragen, was Erfolg wirklich bedeutet. "Ein elegantes Buch, überraschend und erhellend." (The Herald) "Geistreich und gedankenvoll" (Times) "Es ist nicht einfach, etwas Neues über die Tour de France zu bringen, aber mit diesem ungewöhnlichen Blickwinkel hat Leonard ein wahres Kunststück vollbracht." (Independent)

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Max LeonardLanterne rouge

Max Leonard

LANTERNE ROUGE

Der letzte Mann der Tour de France

Aus dem Englischen vonG&UFlensburg

Osburg Verlag

Titel der englischen Originalausgabe:Lanterne rouge. The Last Man in the Tour de France Yellow Jersey Press LondonCopyright © Max Leonard, 2014

Erste Auflage 2016© der deutschsprachigen AusgabeOsburg Verlag Hamburg 2016www.osburgverlag.deAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das desöffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Lektorat: Bernd Henninger, HeidelbergUmschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, HamburgSatz: G&U Language & Publishing Services GmbH, Flensburg

ISBN 978-3-95510-113-8eISBN 978-3-95510-125-1

Also werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein.

Matthäus 20,16

INHALT

Prolog Issoire

Kapitel 1 Der Erste, der als Letzter kam

Kapitel 2 Der Überlebende

Kapitel 3 Das Gelbe Trikot

Kapitel 4 Der Rebell

Kapitel 5 Der Debütant

Kapitel 6 Der Entfesselungskünstler

Kapitel 7 Der Domestique

Kapitel 8 Der Entertainer

Kapitel 9 Der Einzelgänger

Kapitel 10 Der Prügelknabe

Kapitel 11 Die Sprinter

Kapitel 12 Die Brüder

Epilog Saint-Flour

Anhang: Lanternes rouges der Jahre 1903 bis 2015

Glossar

Danksagung

Literatur

Verzeichnis der Abbildungen

Quellennachweis

Personenverzeichnis

PROLOG

ISSOIRE

»... Erfolg, insbesondere Ihr eigener, ist kein gutes Thema;Misserfolg dagegen schon.«

Tim Krabbé

17. Juli 2011, Auvergne, Zentralfrankreich.

Mein Tag begann um 4.45 Uhr morgens auf dem Parkplatz des Hotels, wo ich Spezialöl auf meine Fahrradkette auftrug, während um mich herum warme, schwere Regentropfen niedergingen. Erst zu diesem Zeitpunkt wurde ich richtig wach. Ich war auf dem Weg zur Ziellinie, um als einer von 4500 Amateuren an der Étape du Tour teilzunehmen. Bei dieser Veranstaltung auf abgesperrten Straßen hatten Radsportfans die Gelegenheit, ihren Helden nachzueifern und eine Etappe der Tour de France zu fahren. Sie führte 208 km weit von Issoire nach Saint-Flour durch die Gebirge des Zentralmassivs und war eine der härtesten Teilstrecken des 2011er Rennens.

Wir hatten gewusst, dass ein Unwetter kommen würde. Schon seit Tagen hatten sich dunkle Wolken über den erloschenen Vulkanen gesammelt, die den Ort des Starts umgeben. Allerdings hatten wir vergeblich gehofft, das Unvermeidliche zu verhindern, indem wir es einfach ignorierten. Während wir auf den Startschuss um 7 Uhr warteten, erfüllten die Wolken ihre dunklen Versprechungen. Es regnete schon seit Stunden. Der Bürgermeister von Issoire zählte den Countdown, und dann waren wir auch schon unterwegs. Ich kam früh über die Startlinie und fuhr zügig mit einer schnellen Gruppe mit. Mein Fahrrad glitt geschmeidig durch die Nässe.

Als Student hatte ich ein Jahr lang in der Regionalhauptstadt Clermont-Ferrand gewohnt, die nur 20 km entfernt liegt. David, ein französischer Freund aus dieser Zeit, lebte immer noch in der Gegend und unterrichtete an der Grundschule. Er hatte versprochen, sich an die Straße zu stellen und uns anzufeuern. Es war elend früh an einem Sonntagmorgen, und angesichts des aufspritzenden Wassers, der Regenmäntel, Windjacken und Regenschirme war ich mir nicht sicher, ob wir uns gegenseitig erkennen könnten, aber allein der Gedanke, dass er da war, gab mir Trost. Es war erstaunlich, dass diese Amateurtour während des nicht jahreszeitgemäßen Unwetters überhaupt Zuschauer angelockt hatte.

Nach 40 km spaltete der erste Anstieg an der Côte de Massiac das Feld. Die Steigung forderte ihren Tribut. Jeder Einzelne musste seinen eigenen Rhythmus finden. Oben erwartete uns ein ödes Plateau, an das sich wiederum der lange Anstieg zum 1200 m hohen Col du Baladour anschloss.

Auf einer Höhe von 1000 m begann der Wind aufzufrischen, die Temperatur sank und die Gruppe zerfaserte noch mehr. Es war nicht mehr möglich, sich im Feld vor den Böen zu verstecken. Regen peitschte in meine Augen, dann Hagel, aber während der ersten 20 km oder mehr fühlte sich noch alles in Ordnung an. Hände? Nicht zu kalt. Füße? Nicht zu kalt. Den Kopf nach unten, das Vorderrad fest im Blick, nahm ich eine Kurve und fiel zurück. Nebel schloss mich ein, die Welt schrumpfte zusammen: ein kleines Viereck aus schwarzem Asphalt vor dem Vorderrad, das Geräusch des Windes, Regentropfen, die auf meine Regenjacke trommelten. Plötzlich sah ich Radfahrer, die auf der gesperrten Strecke in die entgegengesetzte Richtung fuhren, um zum Start zurückzukehren. Dann folgte ein Abstieg. Fünf Kilometer? Drei? Lang genug jedenfalls, um die Hände und Füße gefühllos zu machen, sodass es fast unmöglich war, die Bremsen zu betätigen. Ich verzichtete auf meine Brille und senkte den Kopf, damit der Hagel meine Augen nicht treffen konnte. Arme und Schultern waren steif gefroren, und bei jedem Atemzug musste ich ein Frösteln unterdrücken. Ich wackelte vorwärts, schlenkerte von einer Seite zur anderen, den Lenker fest gepackt. Unten in Allanche, der ersten Verpflegungsstation, warteten meine schnelleren Kameraden bereits auf mich, mit vor Kälte blauen Lippen und unfähig zu sprechen. Wir schauten zu, wie junge und alte Radler sporadisch das Gefälle herunterkamen. Erschüttert sahen sie aus, wie sie dort abstiegen und ihre teuren Fahrräder zu Boden fallen ließen, um sich gleich daneben niederzulassen oder in die Wärme der Stadthalle zu flüchten, die wegen des Wetters geöffnet war. Auf dem Gipfel des nächsten »Col« sollten es nur 2 Grad sein, sagte jemand.

Also taten wir das, was professionelle Radsportler nur selten tun, vor allem bei der Tour de France: Wir gaben auf. DNF – Did Not Finish (»nicht beendet«). Tausende von anderen hatten es an diesem Tag auch getan.

Unter normalen Umständen hätte ich nicht aufgehört. Ich hasse es, zu versagen. Ich weiß noch, dass ich beim Eintreffen an der Verpflegungsstation mit leichter Verwirrung dachte, dass ich einfach weiterrollen sollte, denn wenn ich vom Fahrrad abstieg, würde ich nicht wieder aufsteigen. Der Anblick meiner Freunde, die bessere Radfahrer sind als ich und trotzdem schon aufgegeben hatten, wischte jedoch jeglichen Rest von Schuldgefühl und Selbstanklage hinweg. Unser Ausscheiden konnte ich mit sonderbarer Gleichgültigkeit betrachten. Die Busse für unsere Weiterfahrt nach Saint-Flour warteten neben langen Ständern für die Fahrräder, die uns auf einem Lastwagen nachreisen sollten. Wir gingen an Bord und warteten. Während wir langsam auftauten, stieg Dampf auf, der die Fenster beschlagen ließ, sodass die Szenerie draußen verschwamm und die elende Kälte weit weg zu sein schien. Wir begannen darüber zu lachen, wir furchtbar es gewesen war. Mein Freund Joe, der recht spät zu unserer Busgesellschaft hinzustieß, wurde kurz vor der Abfahrt gebeten, wieder auszusteigen, da es keinen Platz mehr für ihn gab. Es tat mir leid, dass er wieder in die Kälte hinaus musste.

Erst als ich ihn abends im Hotel wiedersah, wo er mit glasigen Augen und abgefüllt mit Bier und Kalorien herumirrte, wurde mir klar, dass er nicht auf den nächsten Bus gewartet, sondern sein Fahrrad wieder hervorgeholt hatte und bis zum Ziel gefahren war. Auf sonderbare Weise beneidete ich ihn um diese entbehrungsreiche Tat. Mein Stolz bekam seinen ersten Knacks. Das war der Zeitpunkt, an dem sich mein Ehrgeiz wieder meldete. Niemand hatte uns Vorwürfe gemacht, weil wir aufgegeben hatten – unter den gegebenen Umständen war es die richtige Entscheidung gewesen. Ich hatte mich von niemandem sponsern lassen, denn meine Freunde wussten, dass ich solche Veranstaltungen zu meinem Vergnügen mitmachte. Ich hatte auch nicht monatelang meine sozialen Kontakte schleifen lassen, um zu trainieren. (Am Samstag und Sonntag vor dem Ereignis war ich 380 km von Brighton nach Paris und zurück gefahren, weshalb ich nicht den Eindruck hatte, dass ich mich noch fit machen müsste.) Ich hatte genug Freizeit und war begeistert genug, um schon bald wieder über schöne Bergstraßen zu radeln. Kurz gesagt, niemand störte sich an meinem Versagen – nur ich selbst. Meinen dickköpfigen Stolz und das Gefühl von unzureichendem Durchhaltevermögen sollte ich so bald nicht abschütteln können. Das war schwieriger, als einfach in einen Bus zu steigen.

Die Erfahrungen, die die Profis der Tour de France eine Woche zuvor auf denselben Straßen gemacht hatten – allerdings bei besserem Wetter –, waren nicht weniger dramatisch gewesen: Auf dem temporeichen, schmalen Abstieg war es zu einem furchtbaren Zusammenstoß gekommen, bei dem sich einige Sportler Schlüsselbeine und Handgelenke gebrochen hatten. Sechs Teilnehmer waren dadurch gezwungen worden, ihre Fahrt nach Paris aufzugeben. Alexander Winokurow vom Team Astana musste von seinen Mannschaftskameraden aus einem Baum geborgen werden. Frakturen des Ellenbogens und des Oberschenkels machten seiner Abschiedstour ein Ende. Andere berühmte Teilnehmer wie Dave Zabriskie und Jurgen Van den Broeck erging es kaum besser. Später wurde Juan Antonio Flecha vom Team Sky von einem Fahrzeug des französischen Fernsehens zur Seite gedrängt, das auf einer engen Straße entgegen den Anweisungen der Rennleitung an einer vereinzelten Gruppe vorbeifuhr. Flecha stürzte vor Johnny Hoogerland zu Boden, wodurch der Holländer in einen Stacheldrahtzaun geschleudert wurde. Trotz tiefer Schnittwunden in seinem Schenkel, die mit 33 Stichen genäht werden mussten, setzte sich Hoogerland wieder auf sein Rad und beendete die Etappe, 17 Minuten nach dem Tagessieger.

Selbst vor meinem unehrenhaften Ausscheiden hatte ich große Ehrfucht vor den Leistungen, die professionellen Radsportlern abverlangt werden. Auch nur eine einzige Etappe im Kielwasser der Profis zu fahren (und dabei zu versagen), lässt einen nachfühlen, was sie durchmachen. Ihre Fitness und die Härten, zu denen sie sich zwingen, sind fast unvorstellbar. Für diejenigen, die sich einen Platz in den Annalen der Sportgeschichte sichern wollen, können sich die Schmerzen und Entbehrungen – vielleicht – lohnen. (Nach dem Unfall trug Hoogerland mehrere Etappen lang das Bergsieger-Trikot.) Der Profiradsport ist aber kein Nullsummenspiel. Hinter jedem Sieger stehen hundert andere Radfahrer, gesichtslos im Schwarm des Pelotons, und gehen ihrem gefährlichen Sport nach: Männer, die für wenig Belohnung oder Anerkennung angestrengt fahren, stürzen, sich wieder aufrappeln und weitermachen. Und am nächsten Tag machen sie es erneut, noch einmal, mit Engagement. Wiederholtes Bemühen, um in der Unsichtbarkeit zu verschwinden. Bei den modernen Touren gibt es die Prolog- und Etappensieger, vier Trikots, den Preis für den kämpferischsten Fahrer und den Mannschaftspreis. Abgesehen von der einen oder anderen Zeitwertung der Teams macht das höchstens 35 »Sieger« pro Jahr. Dem stehen 163 Männer gegenüber – falls ein Wunder geschieht und niemand vorher ausscheidet –, die am Tag nach der Party auf den ChampsÉlysées im Hotel Concorde La Fayette zwischen prallen Daunenkissen und einem Bettlaken aus ägyptischer Baumwolle aufwachen – ohne Anerkennung, ohne Belohnung, nur mit wunden Beinen, heftiger Bauarbeiterbräune, durcheinandergeratenem Stoffwechsel und abblätterndem Schorf als Andenken. Nicht zu vergessen den Kater.

Jedes Jahr ist einer dieser Männer der Träger der lanterne rouge, der »roten Laterne«, wie der Letzte in der Gesamtwertung genannt wird. Dies ist der zweifelhafteste Preis im ganzen Radsport, und doch übt er eine sonderbare Anziehungskraft auf viele Fans aus. Manche halten die lanterne rouge nur für einen Scherzpreis für untalentierte Radfahrer. Für andere ist er das Ehrenzeichen für Überlebende, verliehen an einen Mann, der gegen alle widrigen Umstände ehrenvoll gekämpft hat. Die lanterne rouge ist ein Paradoxon, sowohl ein Schandmal als auch ein Zeichen für die wichtigsten menschlichen Qualitäten. Als Symbol wird der Preis in Ehren gehalten, aber die Einzelschicksale dahinter werden vergessen. Was auch immer geschieht, eines ist sicher: Eine lanterne rouge wird es immer geben. Jedes Jahr, wenn er sein müdes Haupt auf ein Kopfkissen in Paris bettet, hat dieser Mann etwa 20 % des Startfelds hinter sich gelassen. Seine Konkurrenten sind hauptsächlich wegen Verletzungen oder Erkrankungen ausgefallen.

Als nach meinem Fiasko die Erinnerungen an meinen Abbruch der Touretappe noch frisch waren, wollte ich mehr über die Männer erfahren, die hinter dem Titel lanterne rouge standen. Mit dem Mitgefühl, das die Zuschauer für die Außenseiter aufbringen, hatte ich schon bei verschiedenen Touren einige lanternes rouges angefeuert. Einer stach besonders hervor: Kenny van Hummel, ein niederländischer Sprinter. 2009 hatte er für einen Großteil der Tour den letzten Platz inne, wobei er oft eine halbe Stunde hinter dem Etappensieger ins Ziel ging. Obwohl er für die vor ihm liegenden Aufgaben offensichtlich nicht gut geeignet war, hatte er sich ein Heer von Fans in aller Welt geschaffen. Grund dafür war seine Tapferkeit, die ihn trotz hoher Berge, Hitzewellen und Stürzen nicht dazu brachte, das Unvermeidliche zu akzeptieren und das Rennen aufzugeben (bis er nach einem bösen Sturz in den Pyrenäen ausscheiden musste).

Jedes Jahr zur Zeit der Tour de France kommen ein oder zwei Geschichten über die lanterne rouge an die Öffentlichkeit. Entweder geht es dabei um das aktuelle Rennen, oder ein Journalist forscht tief in der reichhaltigen Vergangenheit der Tour und bringt Mut machende, traurige oder lustige Geschichten ans Tageslicht. Kenny war der Held der Geschichten des laufenden Jahres, und dabei zog er mehr Aufmerksamkeit auf sich als die meisten anderen. Abgesehen von diesen wenigen alljährlichen Erwähnungen in den Medien ist das hintere Ende des Teilnehmerfelds jedoch unerforschtes Gebiet.

Daher überlegte ich mir: Was würde herausfallen, wenn ich die Tour auf den Kopf stellte und heftig schüttelte?

Außer einigen vagen und unzusammenhängenden Einzelheiten wusste ich nur sehr wenig über die lanterne rouge oder auch nur darüber, warum ich mich überhaupt dafür interessierte.

Erstens: Aus dem Sieg als Prinzip mache ich mir nicht viel. Wettbewerb, ja. Rennen fahren, ja. Ein Ziel anstreben und sein Bestes dafür geben, sicherlich. Einen Rivalen zu schlagen, kann ein unvergleichliches Gefühl auslösen, sowohl aus guten als auch aus schlechten Gründen. Andererseits bin ich auf keinen Fall ein Fan vom Gegenteil des Siegens, nämlich des Verlierens – aber das ist auch gut so, denn dies soll definitiv kein Buch über Verlierer sein. Wenn das Rennen gelaufen ist und die Ergebnisse feststehen, verliere ich jedoch das Interesse an der Idee des Sieges, denn sie erscheint mir hohl. Uns wird oft gesagt, dass es nicht darauf ankommt, zu gewinnen, sondern dass Dabeisein alles ist. So etwas sagt man als Trost zu traurigen Kindern nach den Bundesjugendspielen, zu jemandem, der den angestrebten Job nicht bekommen hat, oder zu einem am Boden zerstörten Sportler, dessen Mannschaft gerade ein Heimspiel mit Pauken und Trompeten verloren hat. Wenn es im Leben aber um mehr geht als darum, zu gewinnen – um was geht es dann?

Zweitens: Die Erzählungen der meisten Sieger langweilten mich zu Tode. Für mich ist ihr Blickwinkel der uninteressanteste des ganzen Wettkampfes, und doch stehen sie im Rampenlicht. Wenn man den Champions in den unterschiedlichsten Sportarten lauscht, hört man immer wieder dieselben Gemeinplätze über Konzentration, Zähigkeit und das Wahrmachen seiner Träume, erfährt aber herzlich wenig darüber, was sich wirklich abgespielt hat. Weiter hinten im Peloton dagegen findet man so viele unterschiedliche Geschichten, wie es Teilnehmer und Etappen gibt. Radfahrer, die die unterschiedlichsten Aspeke des Rennens erlebt haben, die nach endlosen Stunden im Sattel zum x-ten Mal zusehen mussten, wie die schnellen Jungs vor ihnen hinter dem Hügelgrat verschwanden, müssen doch Zeit gehabt haben, um über das Gewinnen und Verlieren und darüber nachzudenken, warum sie das tun, was sie tun. Für uns Menschen außerhalb der Welt der Sportler, die vermutlich niemals irgendwo Erster (oder Letzter) sein werden, können dies nützliche Gedanken sein.

Eine dritte und letzte Überlegung: Wenn es im Leben um mehr geht als nur ums Siegen, dann muss dieses »Mehr« irgendwo in der Tour de France zu finden sein, denn die Tour ist mehr als ein Radrennen: Sie ist eine Bastion Frankreichs und französischer Kultur; ein dreiwöchiger Kurs in Geografie und Geschichte des Landes; ein Drama voller Moral und Gefühl; eine Tragikomödie, in der 200 Personen alle dasselbe wollen, das aber nur einer bekommt und das viele gar nicht fähig sind zu erreichen; ein Melodram voll (falscher) Hoffnungen und (gescheitertem) Ehrgeiz, voller Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, Optimismus und Desillusionierung; ein menschlicher Zoo und ein Mikrokosmos des Lebens. Und ein dreiwöchiger Test für die Fähigkeit der Kommentatoren, ereignislose Stunden mit Geschichten über französische Schlösser und Käsesorten zu überbrücken.

Tony Hoar, der erste britische Träger der lanterne rouge, schrieb 1955 einen Artikel für die Zeitschrift Cycling, in dem er seine Eindrücke von der ersten britischen Erkundungsmission bei der größten Radsportveranstaltung auf dem Kontinent gab. »Die Spitzenfahrer der Tour brauchen die Qualitäten von Zátopek, Marciano, Harris, Tenzing und Coppi«, lautete der Bandwurm von Überschrift. Eine Mischung aus dem besten Langstreckenläufer seiner Zeit, dem damaligen Weltmeister im Schwergewichtsboxen, einem Rekordläufer, einem Bergsteiger, der den Mount Everest bezwungen hatte, und dem campionissimo – das ist der ultimative Radsportchampion.

Kann ein einzelner Fahrer jemals all diese Qualitäten aufweisen? Ich wollte mich auf die Suche nach Männern machen, die diese Eigenschaften angestrebt und dabei nicht das Ziel erreicht hatten, ja, die das Ziel nicht stärker hätten verfehlen können. Ich wollte mehr über die Fahrer herausfinden, die unfähig waren, zu gewinnen, aber nicht bereit, aufzugeben. Ich wollte offen mit ihnen über das Rennen plaudern, ohne dass sie erklären mussten, warum sie das Gelbe Trikot nicht gewonnen hatten.

Ich wollte sie fragen: Was bringt euch – was bringt uns alle – dazu, weiterzumachen? Warum geben wir nicht einfach auf und machen stattdessen etwas, das einfacher und weniger mühselig ist?

KAPITEL 1

DER ERSTE, DER ALS LETZTER KAM

Nun da die Wahrheit heraus ist,Halt still und stecke einWas je ein Schandmaul lästert,Wie kannst du, ehrsam erzogen,Dich auch mit einem messen,Der, wenn er als Lügner erkannt,Weder vor sich noch andernSich dessen schämen mag?Nicht zum Triumph erzogen,Sondern zu härterem SeinWende dich ab ...

W. B. Yeats, »Für eine Freundin, deren Werk zunichte ward«(»To a Friend Whose Work Has Come to Nothing«).

Ich hatte schon so lange nach einem Lebenszeichen gesucht – nach irgendeiner Form von Lebenszeichen –, dass es für mich eine große Erleichterung war, als ich endlich sein Gesicht sah.

Tagelang hatte ich die Seiten der eingestellten Sportzeitung L'Auto durchstöbert und in 110 Jahre alten Rennberichten nach seinem Namen gefahndet – Tage, an denen ich zwischen schläfrigen alten Männern und Studenten im Keller der französischen Nationalbibliothek am linken Seineufer rollenweise zerkratzten Mikrofilm durchspulte, um Gespenster auf Fahrrädern zu erhaschen, die ihre erste Tour durch Frankreich angetreten hatten.

Ich suchte nach Arsène Millochau, den ich dem Vergessen entreißen wollte, denn, so hatte ich überlegt, die Geschichte der Letzten bei der Tour de France musste mit dem Ersten beginnen, dem diese zweifelhafte Ehre zugefallen war. Es war nicht einfach gewesen, irgendwelche Informationen über ihn auszugraben, und die geplante einfache historische Skizze wuchs sich zu einer Mischung aus Vermisstensuche und archäologischer Ausgrabung aus. Nur eine einzige Tatsache schien gesichert zu sein, nämlich dass er als Erster Letzter geworden war. 1903 hatte er die Ziellinie sage und schreibe 64 Stunden, 57 Minuten und 8 2/5 Sekunden nach dem Sieger Maurice Garin überquert, als 21. von 21 Finalisten.

Millochau nahm an dem Rennen der ersten Tour de France teil – wenn er auch nicht gerade ein »Rennen« hinlegte –, versuchte es danach aber nie wieder.

Einige Fakten über die erste Tour sind ziemlich gut bekannt – beispielsweise dass sie der letzte Versuch war, die französische Sportzeitung L'Auto in einem erbitterten Pressekampf vor dem Ruin zu bewahren; dass ihr Herausgeber Henri Desgrange, ein kämpferischer Sportasket, sofort bereitwillig die Idee aufnahm, Radfahrer auf eine Sechs-Etappen-Tour durch die französische Wildnis zu schicken; dass es sein Nachwuchsreporter Géo Lefèvre war, der ihm diese Tour über ein paar Gläsern Chablis und einemHummer Thermidor vorschlug, während sie Ideen zur Rettung des krisengeschüttelten Blatts ausbrüteten.1 Seit dem ersten Straßenradrennen der Welt von Paris nach Rouen im Jahre 1869 und insbesondere nach dem Erfolg, den das erste Bordeaux-Paris-Rennen 1891 der wöchentlichen Véloce-Sport brachte, hatten französische Zeitungen Werberennen veranstaltet. Zwei der bekanntesten, die es in gewisser Form auch heute noch gibt, sind Paris–Brest–Paris (1891) und Paris–Roubaix (1895). Das neue Vorhaben aber war noch anspruchsvoller: eine Tour durch ganz Frankreich! Es war ein verrückter Plan, aber er konnte gelingen.

Neben diesen bekannten Bekannten – um mit Donald Rumsfeld zu sprechen – gibt es auch bekannte Unbekannte und reichlich Halbwahrheiten, Mutmaßungen und Berichte, die in den Bereich der Legende spielen. Was wissen die meisten von uns schon über Maurice Garin, außer dass er einen zeitgemäßen Schnurrbart trug, einen Hang zu klobiger Strickkleidung hatte und sich gern eine Zigarette anzündete? Dass er die erste Tour de France gewann? Ja. Dass er bei der zweiten Tour disqualifiziert wurde, weil er mit der Eisenbahn gefahren war? Oder war das Pothier gewesen? Oder war das 1906 gewesen? Und der erste Berg, der in Angriff genommen wurde, war doch der Tourmalet? Mehr als bei vielen anderen historischen Ereignissen gilt bei der Tour de France: Du erzählst mir deine Wahrheit, und ich erzähle dir meine.

Bis zu meinem Besuch in der Bibliothek in Paris standen mir nur ein sehr kurzer Wikipedia-Artikel und einige spannende Einträge auf entlegenen Internetseiten zur Verfügung. Ich hatte kaum Zweifel, dass Millochau 1867 in Champseru geboren war, in Nordfrankreich in der Nähe von Chartres, aber bei seinem Namen war ich mir nicht sicher, denn viele Quellen schrieben ihn »Millocheau« mit e. Der alte Arsène war eine schwer fassbare Figur, fast kokett in seinem Widerstreben, klare Konturen zu zeigen, und ich hatte mich in diese Jagd nach seiner Identität hineinziehen lassen. Ich hatte schon in Internetforen und auf obskuren Websites für Ahnenforscher fruchtlose Anfragen gestellt. In der Bibliothek hoffte ich, wenigstens ein paar bruchstückhafte Fakten zu finden, die dem Papierkorb der Geschichte entronnen waren. Zusammen mit den alten Nummern von L'Auto spulte sich die erste Tour vor mir ab, als fände sie zum ersten Mal statt. Nach und nach geriet Arsènes Rolle in den Brennpunkt. Zu seinem Pech bestand diese Rolle gleich von Anfang an hauptsächlich darin, das Schlusslicht zu spielen.

Im Januar 1903 begründete Desgrange offiziell die Tour de France, »die größte Radsportherausforderung der Welt«. Allerdings waren die Radsportler Europas nicht so draufgängerisch wie er selbst. Der ursprünglich für Juni vorgesehene Start wurde wegen der geringen Resonanz auf Juli verschoben. Von Mai bis zum Beginn des Rennens berichtete L'Auto regelmäßig über die Regeln, die sich Desgrange ausdachte, und insbesondere über die Preise. Die Teilnahme kostete 10 Francs (100 € nach heutigem Geldwert). Täglich wurde eine Liste der Neuzugänge veröffentlicht, aber trotz Desgranges Bemühungen verliefen die Einschreibungen schleppend. Der Anmeldeschluss am 15. Juni drohte, und die Aufrufe auf der Titelseite, abwechselnd Überredungsversuche und Bitten, wurden immer häufiger und drängender.

Am 1. Juni meldete L'Auto: »Fast alle Asse der Straße haben sich schon angemeldet«, als ob das die weniger talentierten Radler dazu ermuntern könnte, sich von ihrem Geld zu trennen und ihren Namen auf die Liste zu setzen. Millochau, sicherlich keines der »Asse«, tat es jedenfalls nicht. Am 7. Juni erschien Lucien Pothier, der als Zweiter durchs Ziel gehen sollte, erst auf Platz 37 der Liste. Arsène fehlte immer noch. Am 11. Juni griff Desgrange darauf zurück, Stars wie Lucien Petit-Breton (einen künftigen Sieger), die sich zwar eingetragen, aber ihre Startgebühr noch nicht entrichtet hatten, in aller Öffentlichkeit namentlich anzusprechen: Kommt und nehmt die Herausforderung an, wenn ihr hart genug seid! Millochau glänzte nach wie vor durch Abwesenheit.

Endlich hieß es am 16. Juni in der ersten Ausgabe nach dem Anmeldeschluss von Montagabend: »A. Millochau (Chartres)« – an 67. Stelle von letztlich 80 Teilnehmern. Die Zeitung hatte großzügigerweise versprochen, auch noch die Anmeldungen zu berücksichtigen, die um 17.00 Uhr des Vortages eingegangen waren. Obwohl ich die Teilnahme von Millochau niemals ernsthaft bezweifelt hatte, jagte es mir doch einen gewissen Schauer den Rücken herunter, seinen Namen zum ersten Mal gedruckt zu sehen.

Was für Gedanken hatte sich Millochau zu diesem Zeitpunkt gemacht? Es war eine große Herausforderung, auf dem Fahrrad 2428 Kilometer quer durch Frankreich zu rasen, und 10 Francs stellten eine zu verschwenderische Investition für jemanden dar, der keine ernsthaften Gewinnabsichten hegte – selbst wenn man die finanzielle Unterstützung berücksichtigt, die den Fahrern gezahlt werden sollte, um die Kosten der Teilnahme auszugleichen. Andererseits weiß jeder, der sich schon einmal spät für ein Rennen oder einen anderen sportlichen Wettkampf angemeldet hat, dass eine Einschreibung in letzter Minute alles andere als ein Zeichen von überwältigendem Selbstvertrauen ist. Nach seiner Karriere als Radrennfahrer und wahrscheinlich auch schon währenddessen arbeitete Arsène als Fahrradmechaniker. Durch die Teilnahme an der Tour de France hat er wahrscheinlich Einkünfte eingebüßt, aber andererseits konnte sie auch gut für sein Geschäft sein. Vielleicht hatte er sich tatsächlich Chancen ausgemalt, vielleicht war er auch nur von den großzügigen Prämien angelockt worden wie der Bär vom Honigtopf. Auf jeden Fall muss er die Mühen und Härten und Einkommensverluste gegen die glänzende Aussicht auf Ruhm, Ehre und Reichtum abgewogen haben.

1. Juli 1903: An der Startlinie am Café Au Reveil Matin in Montgeron, knapp südlich von Paris, warteten nur 60 Männer. Unter ihnen waren nicht nur die Favoriten wie Maurice Garin und Hippolyte Aucouturier, sondern auch Millochau, was bedeutete, dass er bereits weitergekommen war als ein Viertel der ursprünglich angemeldeten Teilnehmer. In Kürze würden sich diese Männer an die erste überlange Etappe machen, die über 467 Kilometer nach Lyon in Zentralfrankreich führte.

»Mein Sportlerherz frohlockte angesichts des Schauspiels dieser tapferen Männer, die im Sonnenlicht als goldgeränderte Silhouetten erschienen und vor denen sich die Straße in die Unendlichkeit erstreckte«, formulierte Géo Lefèvre, der sich schon für die überschwängliche Prosa warmschrieb, die er in den nächsten drei Wochen bändeweise abliefern sollte. Trotz seiner hochtrabenden Worte blieben Zweifel. War diese Tour de France überhaupt durchführbar? In vielen entlegenen Gebieten des Landes war das Fahrrad eine unbekannte Maschine, und der Anblick spurtender Radfahrer erschreckte die Einheimischen. Selbst in größeren Städten bezweifelte man allgemein, dass ein Mensch in der Lage war, auch nur in den nächsten Ort zu radeln. Während des ersten Rennens Bordeaux–Paris waren in den Dörfern entlang der Strecke Mahlzeiten und Gästebetten vorbereitet worden, da man der Meinung war, die Radfahrer würden für die 560 km mehrere Tage benötigen. Befeuert durch rohes Fleisch und ein nicht mehr identifizierbares besonderes »Tonikum« brauchte der schnellste Fahrer in Wirklichkeit jedoch nur 26 Stunden. Auch die Strecke der Tour Paris–Brest–Paris (1200 km) erschien unvorstellbar lang, bis jemand namens Charles Terront sie wie ein Kinderspiel aussehen ließ: Er legte die Strecke fast ohne Schlafpausen in 71 Stunden und 22 Minuten zurück. Unbefestigte Wege und primitive Technik – schwere, unzuverlässige Fahrräder, wackelige Räder, keine Gangschaltung – waren nur zwei der größten Hindernisse. Bei den ersten Rennen herrschte in allen Bereichen der Geist vor, immer neue Erfahrungen zu machen, Herausforderungen zu suchen und falls nötig auch in Kauf zu nehmen, dass man die Grenzen des Machbaren falsch eingeschätzt hatte.

Desgrange war zwar eifrig bemüht, Grenzen auszuloten, aber er hatte auch Zweifel. Zwar war er anwesend, um die Fahrer zu verabschieden, aber seine Angst vor einem Fehlschlag zeigte sich darin, dass er die Tour nicht begleitete. Diese Aufgabe, die die Zeiterfassung, die Organisation und die Berichterstattung umfasste, überließ er Géo Lefèvre, der dem Rennen in einer wahnwitzigen Folge von Bahnreisen hinterhereilen musste. Ein weiteres Zeichen dafür, dass Desgrange nicht alles auf eine Karte setzte, bestand darin, dass die Titelseite am Tag vor dem Tourbeginn dem Gordon Bennett Cup gewidmet war, einem jährlichen Autorennen, das von schnurrbärtigen Gentleman-Amateuren aus England und den USA ausgetragen wurde.

Der Grand Départ war für 15.00 Uhr vorgesehen. Man hoffte, dass die Fahrer am nächsten Morgen rechtzeitig in Lyon eintrafen, sodass die Ergebnisse noch nach Paris telegrafiert werden konnten, bevor die Ausgabe des nächsten Tages in Druck ging. Um genau 15.16 Uhr starteten die Fahrer, und Desgrange zog sich in seinen Nachrichtenraum zurück. Lefèvre folgte den Teilnehmern 60 km weit im Auto – lang genug, um zu beobachten, dass Arsène hinter die Hauptgruppe zurückfiel. Zusätzlich zu den 20 Personen, die gar nicht erst angetreten waren, stiegen schon in den ersten vier Stunden weitere 20 Männer ab. Millochau radelte an den Menschenmassen vorbei, die sich entlang der Route versammelt hatten. Den ersten Kontrollpunkt, der 174 km entfernt bei Cosne lag, erreichte er nach etwas mehr als sechs Stunden, 19 Minuten nach Garin. Nach dem Bericht zu urteilen, der am nächsten Tag erschien, ließ die Unterstützung am Straßenrand während der ganzen Nacht nicht nach. Édouard Wattelier, einer der Favoriten, gab in der Dunkelheit irgendwann auf, aber Garin traf um 9.01 Uhr in Lyon ein, nachdem er die rauen Straßen mit der unglaublichen Geschwindigkeit von 26 km/h entlanggerast war. Millochau kam fast zehn Stunden später an, knapp vor 19.00 Uhr, als 33ster von 38 Teilnehmern, die überhaupt ans Ziel gelangten.

Was war während dieser harten, schlaflosen Überstunden geschehen, die er im blendenden Tageslicht auf dem Fahrrad verbrachte? Vielleicht hatte er technische Probleme. Wir sprechen hier schließlich über eine Zeit, in der die Fahrer selbst für alle Reparaturen verantwortlich waren und in der man viele Stunden verlieren konnte, wenn man ein Rad flicken oder eine verbogene Gabel zum Schmied bringen musste. Vielleicht hatte Millochau auch ein lauschiges Plätzchen gefunden und ein Nickerchen unter einem Baum abgehalten, das Fahrrad aus Sicherheitsgründen hinter einer Hecke versteckt. Was sich einfacher in Erfahrung bringen lässt – aber viel weniger aussagt –, sind die bitteren, unausweichlichen Fakten. Am Ende der zweiten Etappe in Marseille lag Millochau schon fast 25 Stunden hinter Garin und bildete das Schlusslicht. Nach der furchtbaren dritten Etappe nach Toulouse war Millochau schon 84 Stunden, 48 Minuten und 55 Sekunden unterwegs, fast anderthalb Tage länger als Garin. Nach und nach schieden Fahrer aus, die vor ihm lagen, aber Arsène hielt durch. Er war jetzt Letzter und sollte es für den Rest des Rennens bleiben. Von Toulouse ging es nach Bordeaux, von Bordeaux nach Nantes, und von dort aus, um den Kreis zu schließen, nach Paris.

Ein oder zwei Mal verschwindet er aus den offiziellen Klassifizierungen, nur um am nächsten Tag auf wunderbare Weise wieder aufzutauchen. Ich vermute, dass das nur auf Nachlässigkeit oder ein verständliches Desinteresse am hinteren Teil des Feldes zurückzuführen ist. Außer der offiziellen Eintragung seines Namens an den Kontrollpunkten wird er in L'Auto während der gesamten Tour nur ein einziges Mal erwähnt, nämlich in Orléans, 155 km vor Paris: »9.50 Uhr morgens, Millochau, sehr frisch. Er speist.«

Er fällt zurück, und er speist. Das war alles? Ich fürchte, ja. Jeder Hinz und Kunz kann zurückfallen und etwas essen, aber zwischen diesen beiden Erwähnungen hatte dieser Mann 2200 km auf dem Fahrrad zurückgelegt, um als einer von nur 21 Männern zum ersten Mal eine Radrundfahrt durch Frankreich zu absolvieren. Und alles, was den Reportern einfiel, war zu sagen, dass er speiste?

An dieser Stelle musste ich Arsène eines Abends zurücklassen: Er speiste, und ich wurde vor die Tür gesetzt, weil die Bibliothek schloss. Ich war frustriert, weil ich einem sowohl praktischen als auch philosophischen Problem gegenüberstand: Wie sollte ich die Geschichte der Letzten dieses Rennens schreiben? Es ist zwar offensichtlich, aber Rennen verlaufen nun mal in nur einer Richtung. Sie sind teleologisch und zielorientiert: Jeder versucht, an die Spitze zu kommen. Die Aufmerksamkeit der Fahrer, der Organisatoren, der Fans und der Medien konzentriert sich auf diese Spitze, und für das, was am anderen Ende geschieht, interessiert sich kaum jemand. Was dort abläuft, geht höchstwahrscheinlich verloren. Um die Sache doppelt schwierig zu machen, kam noch der zeitliche Abstand hinzu: Die lange Zeit von 1903 bis heute, die alles verschlingenden Nebel der Zeit sowie schlechte Geschichtsschreiber haben schon den Sieger zu einer fast vergessenen Figur gemacht – ganz zu schweigen von einem Außenseiter wie dem Letztplatzierten.

Ich zog mich in eine Pariser Bar am Ufer eines der Kanäle zurück, wo mir einige Biere dabei halfen, meine pseudophilosophischen Zweifel zu ersticken. Dann fuhr ich mit meinem vélib – einem Leihfahrrad – zurück zu meiner Unterkunft. An einer roten Ampel in der Rue de Charonne schaute ich zum 473sten Mal in den Posteingang auf einem Handy. Und da waren sie: zwei E-Mails, die eine von Millochaus Urgroßneffen, die andere von einem Tour-Historiker, andie ein Scan eines Artikels aus dem Miroir Sprint vom Jahr 1947 angehängt war. Der Artikel war mit zwei Fotos von Arsène Florentin Millochau illustriert, der fit und gesund obschon betagt immer noch Fahrräder reparierte, und zwar – und das ist die reine Wahrheit – ausgerechnet in der Rue de Charonne. Auf dem ersten Bild trug er eine Arbeitsjacke und eine Schildmütze wie ein Busschaffner und fuhr auf einem Stadtfahrrad mit geradem Lenker durch die Straßen. »Immer noch munter und mit einem Lächeln bevorzugt ›Papa‹ Millochau sein Rad gegenüber der Métro«, schrieb launig der Miroir Sprint und schaffte es damit, den legendären Tour-Finalisten wie einen durchschnittlichen Pendler erscheinen zu lassen. Das zweite Bild zeigte Arsène, einen fast gnomenhaft kleinen Mann, in seiner Küche, die gleichzeitig als Werkstatt herhalten musste. Die Wände waren mit alten Fahrradteilen, vergilbenden Fotografien, Werbeanzeigen und Rennnummern geschmückt, darunter der von seiner Tour 1903. Dazu kam der Kurbelsatz, den er bei dem allerersten Rennen Bordeaux–Paris verwendet hat. Er untersuchte gerade ein Kettenblatt, das in einen Schraubstock eingespannt war, und sah dabei aus wie ein Anhänger der Zurechthämmern-und-beten-Methode der Fahrradreparatur. Und warum auch nicht? Diese Vorgehensweise wird wohl niemals aus der Mode kommen und war wahrscheinlich genau die richtige, als ein schweres Rad ohne Schaltung mehr als 20 Stunden hintereinander über unbefestigte Wege fahren musste. Diese harten Erfahrungen waren es, die ihn spotten ließen: »Le Tour d'aujourd'hui? Une simple randonnée.« Die Tour von heute? Ein Spaziergang im Park!

Für seine weiteren Leistungen war Emile Toulouse, der Reporter des Miroir Sprint, ganz Ohr. »Denken Sie nur einmal: Mein Rad wog33 kg2«, erzählte Millochau von der ersten Tour Bordeaux–Paris, in der er den 28sten Platz erreichte (zurückgehalten wahrscheinlich von seinem äußerst schweren Fahrrad), »ich hatte mich für alle Eventualitäten vorbereitet und mehrere Ersatzteile mitgeführt.« Danach, so fuhr Arsène fort, war er am Start der ersten Paris–Brest–Paris und später bei der ersten Paris–Roubaix im Jahre 1895. Wenn Sie seine Teilnahme an der ersten Tour de France um diese drei Rennen ergänzen – die immer noch unzweifelhaft zu den Klassikern und den prestigeträchtigsten Veranstaltungen ihrer Art zählen –, wirkt Arsène plötzlich nicht mehr wie ein unfähiger Nachzügler, sondern wie ein Vorläufer der Radrennsportler, ein Pionier, der an den meisten wichtigen Veranstaltungen in der Frühzeit des Straßenradsports teilnahm.

Um Millochau als Menschen kennenzulernen, stöberte ich über eine französische Website zur Ahnenforschung seinen Urgroßneffen Thierry auf. Wie Arsène war auch Thierry gern dazu bereit, Geschichten zu erzählen. In seiner E-Mail schrieb er:

Onkel Arsène war ein Familienmensch. Was ich von ihm weiß, haben mir enge Verwandte erzählt, die ihn noch selbst kannten. Vor allem meine Großmutter hatte zartfühlende Erinnerungen an ihn. Sie spricht von ihm als von einem gut aussehenden, sportlichen Mann, einem Verführer, der noch lange nach dem Ende seiner Sportlerkarriere von den Damen geschätzt wurde.

[...]

Arsène stammte aus einer Familie mit elf Kindern, die wir alle noch kennen. Louis, einer seiner Brüder, ist mein direkter Vorfahr. Arsène war zweimal verheiratet. In der Familie wird erzählt, dass er in seiner Jugend oft lange unterwegs war, um allein auf den Straßen zu trainieren. Außerdem erfand er mechanische Bauteile, die er für die jeweiligen Radrennen anpasste. (Mehr weiß ich darüber jedoch nicht.)

Seine Teilnahme an der Tour war – zumindest aus der Sicht unserer Familie – ein Unternehmen, das alles andere als ein Fehlschlag war. Er war selbst sehr stolz darauf und keineswegs so zynisch wie die heutigen Sportler. Am Ende seiner Sportlerkarriere blieb er seiner Leidenschaft treu, indem er ein Fahrradgeschäft in Paris eröffnete.

Ich erinnere mich noch daran, dass ich als Kind einen Zeitungsausschnitt gesehen habe, der sein Geschäft zeigt. In meinen Erinnerungen ist er ein freundlicher, unabhängiger und hart arbeitender Mensch.

Ich schickte Thierry den Ausschnitt aus dem Miror Sprint, um seine Kindheitserinnerungen wieder wachzurütteln.

Die E-Mails hatten mir wieder Auftrieb gegeben, sodass ich am nächsten Morgen in die Bibliothek zurückkehrte, bereit dazu, Arsène nach Paris und im Triumph über die Ziellinie zu folgen. In der L'Auto-Ausgabe vom Tag nach der letzten Etappe ist Desgrange, ebenso wie ich, in der Stimmung für Superlative. Seine Fahrer haben ...

[...] die steilsten Berge, die kältesten und dunkelsten Nächte, die heftigsten und grausamsten Stürme, die ungerechtesten Unglücksfälle in großer Zahl, die längsten Straßen, die endlosen Hügel überwunden ... nichts konnte den eisernen Willen dieser Männer brechen. Heißt das, dass jeder, der gestartet ist, auch das Ziel erreicht hat? Nein. Aber es ist jetzt angebracht, sowohl Sieger als auch Besiegten Beifall zu zollen und mit unseren Gedanken bei denen zu sein, die es nicht bis zum Ende geschafft haben.3

Am letzten Kontrollpunkt in Ville d'Avray, nur wenige Kilometer vom Velodrome Parc des Princes entfernt, in dem das feierlicheEnde stattfinden sollte, traf Garin als Erster ein, was ihm den Gewinn sicherte. Dort wurde allen Fahrern ein Schild mit der darauf gemalten Gesamtzeit ausgehändigt, mit dem sie dann ohne Zeitdruck zum Velodrom fahren sollten. In den ersten Tagen war es üblich, dass Straßenrennen auf einer solchen Rennbahn endeten, zum Beispiel die Tour Bordeaux–Paris in der Porte Maillot oder die Paris–Roubaix, durch die das Velodrome in Roubaix einen legendären Ruf erwarb. Der Grund dafür lag zum Teil darin, dass diese Ereignisse große Menschenmengen anlockten, durch die die Besitzer der Rennbahn ein erhebliches Plus an Einnahmen aus den Eintrittsgeldern kassieren konnten.4 Am 19. Juli 1903 gab es ein Programm, zu dem unter anderem ein 100-km-Steherrennen und die französischen Geschwindigkeitsmeisterschaften gehörten, um die Zuschauer vor dem Eintreffen der Tourteilnehmer in Stimmung zu bringen. Danach wurden die Fahrer, die sich inzwischen frisch gemacht hatten, in der Reihenfolge des Zieleingangs auf die Rennbahn gelassen, wo sie die Schilder mit ihrer in Avray genommenen Zeit vorzeigten und einige Ehrenrunden drehten.

Aber Arsène fehlte.

In der L'Auto-Ausgabe dieses Tages war nicht einmal seine Gesamtzeit vermerkt. Tatsächlich war er nicht einmal in Rambouillet (48 km vor der Ziellinie) und in Versailles (13 km) registriert. In Ville d'Avray hatte er kein Schild ausgehändigt bekommen, und er hatte auch keine Ehrenrunde vor einer jubelnden, begeisterten Menge gedreht.

Ich fragte mich, ob er einfach seine Sachen gepackt hatte und nach Hause gefahren war oder ob ihm die Ehrenrunden sinnlos vorgekommen waren, weshalb er sich gleich auf den Weg zum Au Reveil Matin gemacht hatte, wo er drei Wochen zuvor aufgebrochen war, um sich eine üppige Mahlzeit und ein Fässchen Wein zu gönnen. Schließlich wurde er in zeitgenössischen Berichten weniger wegen seiner radsportlichen Leistungen erwähnt als wegen seines Hangs, gut zu speisen.

Nachdem ich die Versuchung überwunden hatte, den Mikrofilm einfach zurückzuspulen und niemandem von dem furchtbaren Geheimnis zu berichten, das ich aufgespürt hatte – am allerwenigsten Thierry –, saß ich einige Minuten lang da und überdachte diese überraschende Wendung und meine Jagd nach Arsène im Allgemeinen. Im Großen und Ganzen überraschte es mich nicht, dass die wahre Identität des ersten Mannes, der als Letzter durchs Ziel gegangen war, irgendwann in Vergessenheit geraten und der Titel einer falschen Person zugeordnet worden war. Eine der Schwierigkeiten, die sich beim Erforschen der Frühgeschichte der Tour stellen, besteht darin, dass die Organisatoren 1940 aus Angst vor den Nazis ihr Archiv zur Sicherheit mit dem Zug nach Südfrankreich transportiert hatten – wo es ironischerweise bei einem Brand völlig zerstört wurde. Zwar hatten sicherlich schon Hunderte die öffentlichen Mikrofilme eingesehen, um Nachforschungen über die Tour zu betreiben, aber wie viele davon hatten sich mit dem hinteren Ende der Gesamtwertung beschäftigt? Nach diesen Quellen sah es so aus, als wäre Arsène gar nicht der erste Träger der lanterne rouge gewesen.5

Das ernüchterte mich auf einen Schlag. Mein grand projet, in dem es in gewissem Sinne um Fehlschläge gehen sollte, begann selbst mit einem grandiosen Fehlschlag. Wieso hatte ich die Karriere dieses Niemands ausgegraben, anstatt mich mit dem armen Émile Moulin zu beschäftigen, dem letzten Teilnehmer, für den in der L'Auto-Ausgabe zum Abschluss der Tour eine Gesamtzeit vermerkt war? Ich kam mir vor wie ein verrückter Pirat, der versucht, den Nebel am Besanmast festzunageln. Musste ich jetzt wieder von vorn anfangen, aber diesmal mit Émile? Vielleicht hätte ich nicht versuchen sollen, einen Mann gegenüber dem anderen herauszustreichen, der möglicherweise genauso verdienstvoll war. Vielleicht hätte ich einfach alle in der Vergessenheit belassen und stattdessen zu ihren Ehren ein Grabmal des unbekannten Radfahrers errichten sollen.

Eine nach der anderen überprüfte ich die restlichen »bekannten« Leistungen Arsènes, die von ihm selbst im Miroir Sprint aufgeführt waren, anhand von anderen Quellen. Dabei stellte ich schnell fest, dass er nicht nur in der Presse ebenso schwer fassbar war wie Houdini, sondern auch einen äußerst unzuverlässigen Zeugen für sein eigenes Leben abgab. Die Nr. 28 beim ersten Rennen Bordeaux– Paris war nicht Millochau, sondern jemand mit dem Namen Pierry Tardy. Er stand auch nicht auf den Startlisten für die erste Tour Paris–Brest–Paris (PBP) oder die erste Paris–Roubaix. Vielleicht hat er 1890 wirklich den Rekord für die Strecke Paris–Amsterdam gebrochen (der ebenfalls im Miroir Sprint erwähnt worden war), aber das konnte ich nicht bestätigen. Keine von Arsènes Behauptungen schien der Wirklichkeit zu entsprechen, und es sah gar nicht gut für ihn aus, bis ich mich zur nächsten PBP im Jahr 1901 vorarbeitete, um mich zu vergewissern. Dort stand sein Name tatsächlich auf der Startliste. Noch ermutigender war jedoch die Tatsache, dass er auch auf der Liste der Finalisten zu finden war, und zwar auf einem sehr respektablen 47. Platz.

Die Zeit, die ich für meine Recherchen in Paris hatte, war damit abgelaufen. Ich war hierher gekommen, um meine Geschichte zu untermauern, aber als ich ging, wusste ich weniger als zuvor. Ich hatte das Skelett zwar mit etwas Fleisch angereichert, aber ich war mir nicht mehr sicher, ob es wirklich das richtige Skelett war. Arsène fehlte am Schluss der Tour, und außer einer anderen bestätigten Sichtung hatten sich die Anekdoten, über die ich verfügte, als falsch erwiesen. Die journalistischen Aufzeichnungen waren schludrig, und der Star selbst bestenfalls ein Geschichtenerzähler, wenn nicht gar ein Scharlatan oder Spinner.

Zurück in Großbritannien verlegte ich mich wieder darauf, im Internet zu recherchieren – in Foren, auf Websites zur Sportgeschichte und bei den anderen üblichen Verdächtigen –, aber es kam mir sinnlos vor. Welche Hilfe können Sekundärquellen schon bieten, wenn die Primärquellen lückenhaft waren? Ich brauchte einen Spezialisten, um mir ein Bild von dem machen zu können, was in jenen Jahren wirklich vor sich gegangen war. Als Retter in der Not trat der Franzose Pierrot Picq auf, ein Tour-Historiker, der sich sehr intensiv mit der ersten Tour beschäftigt hatte. Arsène, so erzählte er mir, hatte die Tour durchaus zum Abschluss gebracht, aber es nicht geschafft, die Ziellinie vor Redaktionsschluss zu überqueren.

Damit wurden auch plötzlich die Lücken in den Berichten über Arsènes Beteiligung an einzelnen Etappen verständlich: Alle waren an der Spitzengruppe interessiert, und bei einer täglich erscheinenden Zeitung war es nicht möglich, auf die langsamen Radler zu warten. Hätte ich die Ausgabe des nächsten Tages einsehen können, so hätte ich dort Arsènes Zeit für die letzte Etappe schwarz auf weiß gefunden (dabei war er übrigens nicht der Letzte) und damit seine Letztplatzierung in der Gesamtwertung bestätigt.

Millochau hatte für sich die Ehre in Anspruch genommen, der Erste gewesen zu sein, der als Letzter durchs Ziel ging. Ich für meinen Teil war erleichtert, dass meine ganze Arbeit nicht umsonst gewesen war. Es wäre mir grausam vorgekommen, diesem Mann die einzige Auszeichnung wegzunehmen, die ihm geblieben war. Auf eigenartige Weise war ich sogar stolz auf ihn.

Picq half mir auch, die Lücken in Arsènes Rennsportkarriere und der Liste seiner Auszeichnungen zu füllen. Er nannte Arsène »einen der Pioniere des Radsports, sowohl auf der Straße als auch auf der Rennbahn«, und nannte mir einige seiner Rennergebnisse:

1895

Bordeaux–Paris

Platz 9

1896

Bordeaux–Paris

Platz 13

1897

Paris–Roubaix

Platz 24

Bordeaux–Paris

Platz 5

Bol d'Or (ein prestigeträchtiges24-Stunden-Steherrennen)

Platz 4

1902

Marseille–Paris

Platz 13

Viel später, nämlich im Jahr 1921, kam er beim Rennen Paris–Brest– Paris auf Platz 34, und im darauf folgenden Jahr trat er bei der Tour Bordeaux–Paris an, gab aber schließlich auf. Er war 55 Jahre alt.

Alles in allem nicht schlecht für einen Verlierer. Angesichts der Tatsache, dass er erst ein halbes Jahrhundert nach den fraglichen Ereignissen mit dem Miroir Sprint sprach, ist es auch verständlich, dass er sich bei einigen Daten geirrt hat. Man kann aber unmöglich ignorieren, wie weit er hinter dem Sieger zurücklag: Bei der Tour de France 1903 war er fast 65 Stunden länger unterwegs als Garin. Das ist allerdings noch nicht der Rekord: Antoine de Flotière, lanterne rouge von 1904, brauchte unglaubliche 100 Stunden und 28 Minuten (und 52 Sekunden) länger als der schnellste Fahrer, und das auf genau derselben Strecke wie bei Millochau. Vier weitere rote Laternen in den 1910er und 1920er Jahren lagen ebenfalls 65 Stunden oder mehr zurück.6 65 Stunden sind eine lange Zeit: Ein Profi der heutigen Zeit fährt fast die gesamte Tour de France in dieser Zeit. Maurice Garin ließ in seiner Geschwindigkeit nicht nach. (Sein Abstand zum Zweitplatzierten von fast drei Stunden ist der größte,den es jemals gab.) Er war so schnell, dass er beinahe Géo Lefèvre überholte, den rasenden Reporter von L'Auto. Lefèvre, Kampfrichter und Zeitnehmer, konnte seine Rolle bei der ersten Etappe schon nicht richtig wahrnehmen. Als sein Zug zum Ende der ersten Etappe in Lyon eintraf, ließ sich Garin schon sein Frühstück schmecken. Millochaus Durchschnittsgeschwindigkeit lag etwa 11 km/h unter der von Garin.7

Die Entwicklung der Durchschnittsgeschwindigkeiten während der Geschichte der Tour ist sehr interessant. Verbesserungen bei der Technik, den Straßenbelägen, dem Training, der Ernährung und der Unterstützung während der Fahrt haben zu einem stetigen Anstieg geführt, wobei die heutigen Touren etwas langsamer gefahren werden als während der EPO-Jahre in den spätern 1990er und 2000er Jahren. Der Abstand zwischen den Siegern und den Letzplatzierten schwankte während der ersten Touren sehr stark, als die Fahrer allein auf unbefestigen Straßen unterwegs waren und alle Schäden selbst reparieren mussten. Nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch, als die Tour zu einer Mannschaftssportart wurde, ließ man technische Assistenz zu, während gleichzeitig die Straßenbeläge besser wurden. Das führte dazu, dass sich der Abstand zwischen Sieger und Schlusslicht einpendelte und abnahm. Die Durchschnittsgeschwindigkeiten des Ersten und des Letzten auf diesem Rennen über Tausende von Kilometern und 60 Stunden oder mehr unterscheiden sich in der Zeit nach dem Krieg nur um ein bis zwei Stundenkilometer. Nehmen wir etwa Adriano Malori, einen knapp 23 Jahre alten ehe maligen Zeitwertungschampion aus Italien, der 2010 die lanterne rouge trug und die 3642 km der Tour mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 37,7 km/h zurücklegte – nur 1,9 km/h langsamer als der Sieger Alberto Contador (dem sein Titel aber nachträglich aberkannt wurde). Ein anderes Beispiel ist José Berrendero, der auf der Tour 1960 für Spanien fuhr: 35,63 km/h im Vergleich zu den 37,21 km/h von Gastone Nencini, dem Träger des gelben Trikots. Es gibt noch viele, viele weitere Beispiele. Die Regel gilt tatsächlich, auch wenn die Durchschnittsgeschwindigkeiten insgesamt steigen.

Ein bis zwei Stundenkilometer über eine Strecke von drei- bis viertausend Kilometern. So schmal ist der Grat zwischen Sieg und Niederlage.

Der Abstand zwischen dem langsamsten Profi und dem schnellsten Amateur ist größer. Der Sieger der verhagelten Amateuretappe Issoire–Saint-Flour, an der ich kurz teilnahm, brauchte eine ganze Stunde länger als der langsamste Profi auf derselben Strecke im selben Jahr der Tour. Es gibt viele Faktoren, die diese große Kluft erklären können – das bessere Wetter und die Aerodynamik des Fahrens im Peloton machten es für die Profis erheblich einfacher –, aber dafür waren die Profis auch schon seit acht Tagen unterwegs. Es ist nicht zu leugnen, dass nur sehr wenige von uns mehr als ein oder zwei Kilometer mit den Profis mithalten können, selbst mit der lanterne rouge.

Denken Sie immer daran, wenn Sie sich über Arsènes Leistung amüsieren. Seine Verspätung um 65 Stunden mag heute lächerlich wirken, aber er hatte sich seine Gesamtzeit wenigstens ehrlich erkämpft. Maurice Garin errang ewigen Ruhm und ging in die Geschichte des Radsports ein, indem er die erste Tour gewann, allerdings verdarb er es sich schon im nächsten Jahr mit den Radsportfans, indem er schummelte. Man muss sich einmal vorstellen, was da im Jahr 1904 passierte: Mitten in einem Rundrennen stieg der Titelverteidiger von seinem Fahrrad und nahm den Zug. Garin war nur der Erste von vielen Tourgewinnern, die betrogen haben. Ist es richtig, dass wir einigen Betrügern vergeben – und sie sogar feiern! –, während wir andere kritisieren?

An Arsène dagegen erinnert man sich kaum noch. Bei der ersten Tour de France gab es noch keine Mannschaften, und jegliche Hilfe von außen war untersagt. Er war auf sich allein gestellt, und wir werden seine ganze Geschichte nie erfahren. »Es gibt keinen Teilnehmer, der hier ohne die Hoffnung auf eine ehrenvolle Platzierung antritt«, sagte Desgrange 1903 von seinen glorreichen Männern. Es mag offensichtlich erscheinen, aber ich denke, dass er Recht hatte: Ich wette, dass Arsène große Hoffnungen in dieses Abenteuer setzte. So gut wie niemand tritt mit der Vorstellung zu einem Rennen an, dass er Letzter werden könnte, und das auch noch mit einem so großen Abstand, und erst recht kein Profi, der das Talent, den Mut und das Geschick hat, um sich einen guten Platz zu erkämpfen. Ich glaube, dass ihn irgendwo auf dem langen Weg zurück nach Paris sein Glück und seine Ausrüstung im Stich ließen, vielleicht sogar mehrmals, und ihm einen Zeitverlust beschwerten, den er nicht wieder ausgleichen konnte. Das einzige realistische Ziel, das ihm blieb, bestand darin, die Tour wenigstens komplett zu absolvieren.

Henri Desgrange und viele seiner Zeitgenossen liebten es, über la vélocipédie zu schwadronieren – das Radfahren im großen Stil, als Bewegung, als Branche und als Berufung. Arsène war ein Fanatiker, ein echtes Mitglied des Fahrradbooms der 1890er. Als armer Mechaniker (im Alter von 81 Jahren arbeitete er immer noch) war er mehr für Härten geboren als für Triumphe und verließ sich ganz auf seine Beine, um sich seine wenigen Top-10-Platzierungen zu erkämpfen und damit ein bisschen zusätzliches Geld zu verdienen.

»Sein ganzes Leben ist ein Radrennen«, schrieb der Miroir Sprint 1947, und Arsène blieb kämpferisch bis zum Schluss. In der Zeitschrift hieß es weiter: »Nur wenige Monate zuvor bestand M. Millochaus großer Wunsch darin, ein höheres Alter zu erreichen als Gaston Rivierre, sein ruhmreicher Gegner aus jener heroischen Zeit, der vor vier Jahren im Alter von 80 Jahren und vier Monaten gestorben ist.« Millochau starb am 4. Mai 1948, weniger als ein Jahr nach dem Erscheinen des Artikels, im Alter von 81 Jahren. Sein letztes Rennen hatte er gewonnen.

1903

60 Teilnehmer am Start

Sieger: Maurice Garin, 25,68 km/h

Lanterne rouge: Arsène Millochau, 15,24 km/h, 64 h 57' 08" Abstand

21 Finalisten

KAPITEL 2

DER ÜBERLEBENDE

Bei der idealen Tour gelingt es nur einem einzigen Fahrer, die gesamte Strecke zu absolvieren.

Henri Desgrange

Zurück in den Tiefen der Bibliothek war ich eifrig bemüht, mich nicht den Reihen der Besucher anzuschließen, die hier ein Nickerchen abhielten, als ich plötzlich etwas Bemerkenswertes entdeckte: Bei der Lektüren eines Mikrofilms über die 13. Tour im Jahr 1919 stolperte ich über den Begriff lanterne rouge.

»Devilly ist bei unserer Tour de France nicht losgefahren«, schrieb Henri Desgrange ein oder zwei Tage nach dem Beginn des Rennens, »da er nicht genügend Reifen auftreiben konnte. Es ist eine Schande: Die ehemalige lanterne rouge hätte vielen Fahrern eine Lektion in Sachen Mut erteilen können.«

Georges Devilly war 1909 lanterne rouge gewesen, als er als isolé teilgenommen hatte – als Einzelfahrer, der nicht von einem Fahrradhersteller wie Clément, Peugeot oder Alcyon unterstützt wurde.Dies waren zur damaligen Zeit die Hauptsponsoren der professionellen Radsportler. Sie nutzten die Siege ihrer Fahrer für Werbezwecke und gewannen in Folge immer mehr Macht und Einfluss auf den Sport. Die Grenze zwischen Profis und Amateuren war jedoch unglaublich fließend. Keinen Sponsor zu haben, bedeutete nicht, ein schlechter Radfahrer zu sein. Der erste isolé des Jahres 1909 machte den sechsten Platz und gewann einen erheblichen Geldpreis.8 Georges war früher für Alcyon und Le Globe gefahren. Vielleicht lag es an einem momentanen Formtief, dass er an der Tour als isolé teilnahm (beim Rennen Paris–Brüssel war er erst eine Woche zuvor Drittletzter geworden) und den Wettkampf mit dem 55sten und letzten Platz9 abschloss. Isolés mussten für ihre gesam ten Reisekosten über die 14 Etappen selbst aufkommen. Das war eine Menge Geld für das Vorrecht, als Letzter durchs Ziel gehen zu können.

Ich hatte mir schon Gedanken über den Ursprung des Begriffs lanterne rouge gemacht. Französische Wörterbücher zum Radsportjargon datierten den Ausdruck auf das Jahr 1924, in dem der Journalist Albert Londres ihn in seinem berühmten Artikel Les Forçats de la Route