Lassen Sie mich in Ruhe - Erni Mangold - E-Book

Lassen Sie mich in Ruhe E-Book

Erni Mangold

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Beschreibung

»Leben heißt, immer etwas tun.« Erni Mangold erinnert sich: kompromisslos ehrlich, anekdotenreich und geradeheraus. Die große Schauspielerin erzählt humorvoll und lebendig von Begegnungen mit Regisseuren sowie Bühnen- und Filmpartnern wie Hans Moser, Raoul Aslan, Curd Jürgens, Paula Wessely, Susi Nicoletti, Ernst Waldbrunn, Helmut Qualtinger, O. W. Fischer, Peter Alexander, Gustaf Gründgens, Rainer Werner Fassbinder oder Xaver Schwarzenberger. Sie erklärt, warum sie es gewohnt ist, anzuecken, warum sie sich auf den lieben Gott allein nicht verlassen will und warum es wichtig ist, zu sagen, wenn einem etwas nicht passt – und wie man sich selbst im hohen Alter seine körperliche und geistige Fitness bewahren kann. Erni Mangolds Erinnerungen zeugen von Lebensmut, Unbestechlichkeit und herzhafter Widersetzlichkeit einer außergewöhnlichen Frau und Künstlerin, die ihre Neugierde auf das Leben nie verloren hat. Mit zahlreichen Abbildungen und Erni Mangolds Fitnessübungen

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Erni Mangold

Lassen Sie mich in Ruhe

Erni Mangold

Lassen Siemich in Ruhe

Erinnerungen. Aufgezeichnet von Doris Priesching

Mit 98 Abbildungen und Verzeichnissender Theater-, Film- und Fernsehrollen sowieder Regiearbeiten und Auszeichnungen

Bildnachweis

ARCHIV ERNI MANGOLD Friedrich Schilder: 1; Richard Müller: 3; Foto Rohringen: 7; Sveto Bozucanin: 8; Gabriele du Vinage: 9–11; Bruno Völkel: 15; Schönbrunnfilm/Sandmann: 17; Royal/Deutsche London/Gabriele: 18; Lothar Sandmann: 19; Real/Rank/Gabriele: 20; Real/Europa/Gabriele: 21; Foto Othmar: 24; T. von Mindszenty: 26; Foto Fayer: 28, 32; Friedhelm von Estorff: 33; Lore Bermbach: 41; Gabriele und Matthias du Vinage: 42; Gabriele Brandenstein: 43, 53; Ernst Hausknost: 45, 46, 49; Rudolf Wehrl: 47, 48; Kövesdi Presseagentur: 51; Victor Mory: 55; First Look/picturedesk.com: 57; Volkstheater Wien: 58; Hans Techt/APA/picturedesk.com: 59; Sepp Gallauer: 64–71, 73–80; Doris Priesching: 72; alle übrigen: privat

SOWIE Universität Hamburg/Hamburger Theatersammlung: 29 (Archiv Rosemarie Clausen), 30 (Archiv Rosmarie Pierer/Thalia Theater), 34–39 (Archiv Rosemarie Clausen).

Illustrationen im Text

Archiv der Salzburger Festspiele: S. 50; Archiv der Bregenzer Festspiele: S. 57; Deutsches Theatermuseum, München: S. 144; Winnie WIN Jakob © Bildrecht, Wien, 2016: S. 261; Doris Priesching: S. 275; alle übrigen: privat

Der Verlag hat alle Rechte abgeklärt. Konnten in einzelnen Fällen die Rechteinhaber der reproduzierten Bilder nicht ausfindig gemacht werden, bitten wir Sie, dem Verlag bestehende Ansprüche zu melden.

Frontispiz: Als Sarah Bernhardt in dem Stück von John Murrell, 2011, Volkstheater Wien

Besuchen Sie uns im Internet unter: amalthea.at

© 2016 by Amalthea Signum Verlag, WienAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Elisabeth Pirker/OFFBEATUmschlagfoto: © Sepp GallauerHerstellung und Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, HeimstettenGesetzt aus der 12/16 Punkt Adobe GaramondPrinted in the EUISBN 978-3-99050-063-7eISBN 978-3-903083-46-2

Inhalt

Vorwort

I. Ich

»Hier ist der Abortus«

Zartes Püpplein

»Mit Kriegsgut wirft man nicht!«

Meine vier Leben

Das »Sexerl« von der Josefstadt

Ehe mit Heinz Reincke und Emanzipation mit 55

Lehrjahre – Herrenjahre

II. Die Anderen

Wie streunende Hunde – Freundschaft mit Helmut Qualtinger

Bei Gustaf Gründgens in Hamburg

O. W. Fischers »kleine Schwester«

Erni »Bronson« – Schlagabtausch mit Rainer Werner Fassbinder

Bruno Kreisky, Friedrich Torberg – Erotik und Politik

Leben ohne Drehbuch: Mit Peter Patzak in New York

Eine Nacht mit Werner Schwab

Unvergessen: Freunde, Verehrer, Zeitgenossen

III. Rundum

»Ernerl, mach das Fassl auf!« – Lob des Landlebens

Die Wassertrinkerin

Fitness für Fortgeschrittene, Ski, Fußball und andere Suchtgefahren

Die Tiere meines Lebens

Hexisches und der Tod

Vor dem Auftritt – ungeschminkt

IV. Erni Mangolds kleineErbauungsfibel: Fragen Sie nicht!

Tun Sie etwas

Schweinehund? Mehr ein Elefant

Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott

Keinen Genierer

Frisch am Tisch

Freudenhaus

Stehaufmanderl

Weise und gelassen – leider nein!

Jubilieren – wer’s glaubt, wird selig

Das muss man gelesen, gesehen und gehört haben

Anhang

Erni Mangold als Theaterschauspielerin

Erni Mangold als Film- und Fernsehschauspielerin

Erni Mangold als Regisseurin

Preise und Auszeichnungen

Namenregister

Vorwort

Ich hätte dieses Buch nicht gebraucht. Zurückschauen, Vergangenheit, Theater, Film, Fernsehen – wen kümmert das? Mich am allerwenigsten. Vorbei ist vorbei und weg ist weg, nach dieser Maxime lebe ich, inzwischen seit bald 90 Jahren. Ich weiß, wovon ich spreche. Ein Buch, in dem ich mich mit meiner Vergangenheit auseinandersetzen soll? Ich kann damit nichts anfangen.

Ich kann stur sein wie ein Bock, bin aber gleichzeitig gutmütig wie ein Schaf. Ich bin eine schlechte Neinsagerin.

Ich konnte es nie, und ein Nein geht mir bis heute nicht von der Zunge. Naja, wenn sie mich so lieb bitten. 2011 zum Beispiel im Kunsthistorischen Museum. Beim Projekt Ganymed Boarding interpretierte ich Franz Schuhs Text zu Wolf Hubers Bild Der Humanist Jacob Ziegler, ganze Abende lang, wieder und immer wieder. Regelmäßig stand ich drei Stunden ohne Pause, fast bis zum Zusammenbrechen. War ich mit einer Partie fertig, stand die nächste bereit, nicht eine Sekunde konnte ich weg. Die Leute bettelten: »Bitte, bitte, Frau Mangold, nur noch einmal!« Und ich fing wieder von vorne an. Einer war schon zum dritten Mal dabei, der meinte: »Frau Mangold, diesmal waren Sie aber besonders gut!« Ja, offenbar hatte ihm gefallen, wie ich in Trance geredet hatte.

Es wäre besser gewesen, öfter Nein zu sagen. Es ging nicht.

Dabei schreibt es sich höchst einfach: Nein. »Erni, da gibt es dieses Stück, magst du nicht?« Nein. »Liebe Frau Mangold, wir laden Sie herzlich ein …« Nein. »Sehr geehrte Frau Professor, Sie müssen unbedingt …« Nein. Nein. Nein. Einfach. Theoretisch. Denn Nein zu sagen, also wirklich und bestimmt: Nein! – Ich schaffe es nicht. Vergiss es.

Und deshalb gibt es dieses Buch. Weil ich es im entscheidenden Moment wieder einmal nicht fertiggebracht habe, Nein zu sagen.

Gut, wenn ich dabei bin, ist es ja okay. Es macht Spaß, immer noch Spaß. Theater, Fernsehen, Hörspiel und irgendwie letztlich dieses Buch, das mir nächtelang den Schlaf raubte. Erinnerungsarbeit. Entzückend.

Und so danke ich allen, die zum Gelingen dieses Buches beige-tragen haben: Frau Dr. Brigitte Sinhuber, die es unbedingt wollte, und ihrem Team für die mühevolle Kleinarbeit beim Zusammenstellen meiner Werkliste. Weiters danke ich Thomas Ballhausen und dem Filmarchiv Austria, dem ORF sowie Stöffi Speich, Harald Fidler und Peter Patzak, ich danke dem Theater in der Josefstadt, dem Schauspielhaus Wien und dem Volkstheater, den Schauspielhäusern in Hamburg und Düsseldorf sowie der Hamburger Theatersammlung der Universität Hamburg, Frau Dr. Michaela Giesing, dem Archiv der Salzburger Festspiele, Frau Mag. Franziska-M. Lettowsky, und dem Deutschen Theatermuseum München, Herrn Stephan Priddy. Ohne sie alle gäbe es dieses Buch nicht. Dieses Buch, das ich nicht gebraucht hätte. Und überhaupt: Doris, du bist schuld, soll ich mich bedanken? Nein – du musst es tragen.

I.

Ich

»Hier ist der Abortus«

Es begann abenteuerlich.

Gemessen an den Umständen meiner Geburt hätte ich im Grunde genommen ein neuer Mozart werden müssen: Wie Klein Wolfgang Amadé erblickte ich gegen jede Vernunft das Licht der Welt, und wie er war ich später ein höchst merkwürdiges Kind. Trotzdem bin ich ziemlich eindeutig kein Musikgenie, aber das ist eine andere Geschichte.

Ich, Erna Goldmann, kam am 26. Jänner 1927 im Gasthaus meiner Großeltern in Großweikersdorf, Niederösterreich, zur Welt. Vermutlich mag ich Wirtshäuser deshalb sehr gerne und fühl ich mich in ihnen sauwohl. Die Angelegenheit damals war allerdings wenig romantisch.

Meine Mutter hatte zum Zeitpunkt meiner Geburt sieben Abtreibungen hinter sich. Sie war 22, als sie mich bekam, und sehr »foin« und vornehm. Sie hatte das Sacre Cœur in Wien besucht und wollte ursprünglich Pianistin werden. Das Wort »Scheiße« wurde bei uns daheim nie gebraucht – das heißt, erst nachdem ich es von den Deutschen mit nach Hause gebracht hatte, und dann war es jedes Mal ganz furchtbar.

Die Abtreibungen hatten sie einen Batzen Geld gekostet. Dass sie ein Riesenglück hatte, überhaupt überlebt zu haben, dessen war sie sich nicht bewusst. Der Gedanke wäre ihr mit ziemlicher Sicherheit nie in den Sinn gekommen. So war sie eben, so war die Zeit. Kein Platz für Sentiment.

Abtreiben konnte man über die Hebamme. Illegal, versteht sich, das Ganze war streng verboten und musste höchst geheim stattfinden. Mama behauptete, sie hatte es machen müssen, weil sie Probleme mit der Lunge hatte. Ich bin nicht sicher, ob das stimmte. Oder war sie wirklich lungenkrank? Keine Ahnung. Es spielt heute keine Rolle mehr.

Jedenfalls war es so, dass meine Eltern zwar verhütet hatten, aber irgendwie musste ich trotzdem durchgeschlüpft sein. Die Geburt sollte in der Wiener Semmelweis-Klinik stattfinden, weshalb meine Mutter im dritten Monat in die Hauptstadt zu einem Kontrolltermin fuhr. Dort bekam sie überraschend Blutungen, und im Zuge dessen wurde so etwas wie Kuretage gemacht. Was die Ärzte da genau taten oder an welcher unzugänglichen Stelle ich im Mutterleib klebte? Ich weiß es nicht, aber offenbar hatte ich mich sehr geschützt.

Als meine Mutter die Klinik verließ, sagte man ihr, sie solle sich die nächsten Wochen schonen, schließlich habe sie einen Abortus hinter sich. Also fuhr sie nach Admont in die Steiermark, ging spazieren – und kotzte weiter, weshalb ihr klar war, dass sie doch noch schwanger sein musste. Sie wollte unbedingt, dass ich in Wien zur Welt kam, weil es ihr wichtig war, den Ärzten zu beweisen, dass sie mit der Fehlgeburt unrecht hatten.

Ich machte ihr ein zweites Mal einen Strich durch die Rechnung, denn ich kam einen Monat zu früh zur Welt und zwar bei einer Sauschlachtung am Hof meiner Großeltern, bei dem eine Gastwirtschaft angeschlossen war. Meine Mutter half beim Abstechen, als plötzlich das Fruchtwasser kam, und die Mutter meiner Mutter sagte: »Ja, du kriegst ein Kind.« Großes Tamtam, denn man sah ihr die Schwangerschaft kaum an. An eine Frühgeburt hatte überhaupt niemand gedacht.

Meine Mutter konnte es wohl selbst nicht glauben, dass es schon so weit war und wollte unbedingt noch zum Kirtag gehen und tanzen. Sie hatte sich von einem Freund abholen lassen, aber es war zu spät. Das Baby kam. Glücklicherweise war der Freund soeben mit seinem Medizinstudium fertig, er wusste, was zu tun war. Ich wurde sein erstes Neugeborenes auf dem Wirtshaustisch meiner Großeltern.

Es war keine leichte Geburt, Steißlage, in einem ziemlich strengen Winter. Ich wog gerade 2,5 Kilogramm und war 54 Zentimeter groß. Als mich mein Vater das erste Mal sah, rief er: »Mein Gott, ist das alles klein!« Wäre er nicht so gescheit gewesen und hätte sich damals nicht schon für Ernährung interessiert, hätte ich vermutlich nicht überlebt. In den 1920er-Jahren gab es neue Erkenntnisse über gesundes Essen, und er setzte sich sehr damit auseinander. Also wurde ich nicht nur mit Muttermilch genährt, sondern zusätzlich mit viel Gemüse.

14 Jahre später kam ich eines Tages nach Hause, und auf der Bank saß ein alter Mann mit weißem Haar: Es war der Chefarzt der Semmelweis-Klinik. Meine Mutter stellte mich ihm artig vor: »Herr Primar, hier ist der Abortus.« – »Aha. Ja, das gibt’s«, sagte er.

Die Geschichte meiner Geburt – entzückend, nicht?

Zartes Püpplein

Zu meinen Ahnen gibt es nicht viel zu sagen. Ich stamme mütterlicherseits von einem Bauerngeschlecht ab. Aristokratische Bauern – so nannte man das damals –, denn sie waren reich und besaßen große Ländereien. Den Bauern-Großvater Josef mochte ich furchtbar gern. Ich war fünf, als er mir einmal auf den Hintern klopfte, und ich wies ihn empört zurecht: »Großvater, einer Dame klopft man nicht auf den Popo!« Er fand das saukomisch.

Der Großvater war später meine erste Leich’. Damals zeigte man den Kindern ja die Toten noch am Totenbett.

Meine Mutter, 1904 geboren, hatte drei Geschwister, war Pianistin und hieß mit Mädchennamen Groiss. Das kommt vom französischen »croix«: Als die Hugenotten in Frankreich vertrieben wurden, kamen sie bis Großweikersdorf. Also Groiss, Maria, genannt Mizzi.

Väterlicherseits gab es vor mir vor allem Künstler und Lehrer. Mein Großvater, Heinrich Goldmann, war Bildhauer und goss noch Kaiser Franz Joseph in Gips.

Mein Vater, Severin Goldmann, 1887 geboren in Bad Ischl, war eines von sechs Kindern. Die Familie meines Vaters war sehr kreativ. Als Kinder wollten sie Fallschirmspringen und hüpften mit dem Regenschirm vom ersten Stock aus dem Fenster. Es passierte ihnen nichts. Vier Buben und zwei Mädchen.

Er war Lehrer, später Direktor in Großweikersdorf und Maler.

Meine Eltern führten keine sehr gute Ehe. Mein Vater war unglücklich, weil er aus seinem geliebten Oberösterreich wegmusste. Aber er bekam als Lehrer keine Stellung und wurde deshalb ins tiefste Weinviertel geschickt.

Sie lernten sich im Zug kennen. Mizzi fuhr nach Wien, weil sie als Studentin der Musikhochschule in der Akademie aufgenommen wurde. Sie soll eine hoch-hoch-hochtalentierte Musikerin gewesen sein, die sicher eine erfolgreiche Pianistin geworden wäre. Wenn sie nicht genau das getan hätte, was viele Frauen damals taten: Sie heiratete früh, mit 18, gab ihren Beruf auf und förderte ihren Gemahl. Später warf sie ihm das vor. Die Ehe wurde zur Strindberg-Ehe.

Im Ersten Weltkrieg zog mein Vater sich sehr geschickt aus der Affäre. Er war Offizier und verletzte sich beim Sprung über einen Graben am Knie. So ersparte er sich den Einsatz, nicht aber die Verachtung meiner Mutter. Sie fand sein Verhalten grauenhaft und hielt ihn für einen Feigling. Aber er hielt das aus, wohl auch, weil er sie durch den relativ hohen Altersunterschied – meine Mutter war um 17 Jahre jünger als er – nie für ganz voll nahm. Er sah ja mehr ein Mäderl in ihr. »Du verstehst das nicht«, sagte er zu ihr, und damit war die Sache erledigt.

Ich war ja ein so zartes Püpplein! Als Kind bekam ich alle Krankheiten, die es nur gab. Trotzdem denke ich, dass ich insgesamt eine ganz gute Kindheit hatte, was ich hauptsächlich meinem Vater verdanke. Wir fuhren auf Sommerfrische nach Bad Ischl und gingen oft alle zusammen ins Gebirge. Das mochte ich gern, denn ich liebte die Berge sehr. Meinem Vater war das wichtig: »Du darfst die Berge nie verlassen, denn sie sind dein Ein und Alles.« Erst als der Krieg vorbei war, hörten wir mit den gemeinsamen Touren auf.

»Ich wünsche mir zu Weihnachten! Ein Laubsege, ein Spiel, ein Plastilin, ein bar Bücher sie heißen: Heinrich von Eichenfels, Lustige Streiche, Wilde Buben und Mädeln, eine Bäckerei, und einen Christbaum. Viele Grüße an Christkindlein Erni Goldmann«

Er erzog mich »goetheanisch«. Das heißt, ich wuchs wie Klein-Johann-Wolfgang-von auf, dessen Mutter ihrem Sohnemann vorgelesen haben soll. Die Ursprünge dieses Erziehungsstils wurden nie hervorgehoben, ich kam erst als Erwachsene dahinter, als ich in Weimar im Goethe-Museum vor exakt den gleichen Zeichnungen stand, die Goethe zur Unterweisung in Naturkunde verwendet und die mein Vater ebenfalls angefertigt hatte. Er war mindestens ebenso eifrig bestrebt, aus mir eine wohlerzogene Bildungsbürgerin zu machen.

Mit dem Märchenerzählen begann er, als ich zwei war. Dabei nahm er Teile aus Grimms Märchen, oder – das mochte ich noch lieber – er dachte sich seine eigenen aus, die er niederschrieb und mir vorlas. Das Heft ging später irgendwie verloren, aber ich weiß noch, alle diese Geschichten waren wunderschön. Er erzählte sie mir Abend für Abend. Mit 15 wurde ich zu Wilhelm Meister und Faust getrieben.

Ich erhielt so eine seiner Meinung nach vorzügliche Spracherziehung, was ihm nur leider nicht sehr viel nützte. Denn als ich älter war, mit 14 Jahren, legte ich mir als echtes Landkind einen schlimmen Weikersdorfer Bauerndialekt zu. Das störte ihn furchtbar, weil ich doch nach seinen Wünschen Lehrerin werden sollte. Gleichzeitig musste ich seiner Meinung nach dringend etwas gegen meine schlechte Haltung tun – ich hatte nicht nur eine schreckliche Aussprache, sondern hatschte irre. Ich war eine echte Gammlerin.

1938 übersiedelten wir von Großweikersdorf nach Wien in die Rembrandtstraße im zweiten Bezirk. Ich nehme an, es geschah wegen mir. Ich sollte dem schlechten Einfluss der Provinz entkommen und zu einer wohlerzogenen Dame erzogen werden. Doch das war gar nicht so einfach. Meinen Bauerndialekt wollte ich nicht aufgeben, weil ich mich dem Wienerischen nicht anpassen wollte. Ich bestand darauf, anders zu sein, und sei es nur wegen meiner Sprache: »Ich komme von woanders her, ich bin wer anderer, und ich bleibe die, die ich bin.« Ich war tatsächlich stolz auf meinen Bauernslang.

Das störte den Papa. »Die Sprache muss sich erweitern«, sagte er, schon wieder ganz goetheanisch, »es ist gut, wenn sie literarisch gebildet wird.« Er wollte unbedingt, dass ich besser sprechen und gehen lerne, und dachte, in der Großstadt könne er in dieser Angelegenheit mehr erreichen als am Land. Ich machte es ihm nicht leicht, denn es gab lange nichts, wohin er mich hinschicken hätte können, wo ich auch hingegangen wäre.

Mein Vater schlug mich, soweit ich mich erinnere, nur ein einziges Mal: Mit einem kleinen Pracker auf den nackten Popo, allerdings in der Öffentlichkeit – und zwar, weil ich gestürzt war. Er hasste es wie die Pest, wenn ich nicht aufpasste. Ich hatte ausgeprägte X-Haxen und fiel deshalb recht oft um.

Mir persönlich war das egal, denn ich war – wie ich heute zugeben muss – ein eigenartiges Kind. Ich wollte erwachsen sein und glaubte gleichzeitig an das Christkind. Ich hatte einen eingefrästen Gerechtigkeitssinn und versuchte, mit meinem kindlichen Verstand die Konflikte zwischen meinen Eltern zu lösen: »Das ist so und nicht anders richtig, und das solltet ihr so und nicht anders machen!« Unentwegt war ich am Urteilen, Einordnen und Bewerten. Seltsamerweise nahmen sie mich dabei sogar ernst.

Meine Mutter schlug mich, weil sie es nicht duldete, wenn ich zu spät kam: Eine halbe Stunde, und es gab völliges Theater. Genauigkeit war ihr wichtig. Ich mochte meine Mutter natürlich nicht. Nicht, weil sie mich schlug, sondern weil ich zu ihr überhaupt keinen Zugang fand. Ich liebte nur meinen Vater. Weil ich ihn für klüger hielt, und weil mich diese Form der Intelligenz faszinierte, entschuldigte ich alle seine Fehler. Das ist nicht gut, und für diese Einseitigkeit bestrafte mich später das Leben.

Vater-Töchter-Beziehungen sind sehr prägend, und die meine prägte mich in Bezug auf Männer: Ich wählte stets die falschen. Eine Tochter, die zur Mutter eine starke Bindung hat, ist grundsätzlich viel kritischer und wird nie diese Abhängigkeit von Männern haben. Ich war emanzipiert in meinem Job, aber ich war nie emanzipiert als Mädchen und sehr lange nicht als Frau. Ich war eine Gefalltochter, eine Protesttochter, eine Leistungstochter, alles das konnte ich wunderbar. Ich redete mir ein, dass mein Vater mich akzeptierte und war überglücklich. Dabei akzeptierte er Männer stets mehr als mich und hielt Freundschaften mit meinen Partnern, selbst nachdem ich schon lange Schluss gemacht hatte. Als ich heiratete, sagte er bei der Hochzeitsrede: »Gott sei Dank habe ich jetzt keine Verantwortung mehr.« Ich erschrak über diese Worte und dachte mir: Öha! Ich lief hinter der Liebe meines Vaters her und wusste es noch nicht einmal.

Erst ein Jahr vor ihrem Tod gelang es meiner Mutter, mir die Liebe zu zeigen, die ich nie gespürt hatte. Erst da kam ich dahinter, dass es ihr nicht anders gegangen war als mir: Sie hatte die Liebe ihrer Mutter nie bekommen und war deshalb offenbar nicht fähig, sie weiterzugeben.

Es passierte, als ich merkte, sie quält mich nicht mehr. Ich hatte immer die Vorstellung, meine Mutter wird mir riesige Schwierigkeiten machen, wenn sie stirbt. Aber es wurde ganz anders. Ich kaufte ihr eine kleine Wohnung neben meiner, und sie war damit zufrieden. Ich war keine Opfertochter und wollte nie – nie! – eine werden. Ich finde Opfertöchter bemitleidenswert. Eine Opfertochter schläft beim pflegebedürftigen Elternteil, kocht für ihn, bringt das Essen, macht alles, was Mutter oder Vater sagt. Sie gibt einen Teil ihres Lebens auf. Grauenhaft, weil es mit Liebe nichts zu tun hat.

Meine Mutter lebte in der kleinen Wohnung noch zwei Jahre. Sie war 88, als sie starb und ich 65. Sie ließ sehr, sehr toll los, weil sie einfach nicht mehr leben wollte. Es war ihr auch fad, sagte die Heimhilfe.

Mein Vater starb 1967 mit 80 in Ischl. Ein Teil seines Gehirns hatte sich aufgelöst. Das Wort »Düsseldorf« wird als medizinischer Test genommen, und wenn derjenige das Wort nicht herausbringt, stattdessen »hükskorüsormpf« sagt, dann weiß man, dass er diese Krankheit hat. Ich konnte ihn verstehen bis zum Schluss, er konnte sprechen, Witze erzählen, die ich übersetzen musste.

Als es nicht mehr ging, brachte ich ihn nach Ischl ins Spital. Der Primar der Neurologie fuhr tags darauf in den Urlaub, vielleicht war es das Glück meines Vaters. Ich sah es damals als Nachteil. Dieser Primar teilte uns mit, die Krankheit bessere sich nicht mehr, das sei ein Prozess, der ein Jahr dauere, spätestens dann werde mein Vater sterben.

Der Arzt, der zurückblieb, machte den Vater in kurzer Zeit zur Leiche. Die Behandlungen brachten ihn um. Er wurde immer schwächer und hatte starke Schmerzen. Ich ging zu diesem Arzt und bat um ein schmerzstillendes Medikament. Das hätte ich nicht tun sollen: »Das können Sie nicht beurteilen! Was wissen Sie schon davon? Wir können ihn ja nicht töten!«, pudelte er sich auf. – »Nicht töten, aber erleichtern könnten Sie ihm das Sterben schon.« Das war’s. Schrecklich, ich werde es nie vergessen. Im Spital muss man vorsichtig sein. Wenn es einem schlecht geht, wenn es zum Sterben geht, nur nicht ins Spital, denn dann bist du womöglich verloren.

Er war zwar nicht ganz tot, aber durch die Behandlungen, die sie ihm verabreichten, wurde das Sterben beschleunigt. Er hatte ein gutes Herz, konnte nicht leicht loslassen. Nach 14 Tagen war es vorbei.

Mein damaliger Mann Heinz Reincke ließ mich in dieser Phase ziemlich im Stich, er war ungern im Krankenhaus. Der Bruder meines Vaters, Heinrich, 92, und ich saßen fünf Stunden bei meinem Vater, lachten und weinten.

»Ich weiß nicht, Erni«, sagte mein Onkel. »Das stimmt ja eigentlich nicht. Ich bin ja doch viel älter als dein Papa. Sollt ich mich vielleicht ausm Fenster stürzen?« Und dann tat ich etwas, das ich lange bereuen sollte: Ich hörte auf meinen Mann, der meinte: »Komm jetzt, gehen wir!« Eine Stunde später war Vater tot.

Ich bedauerte es, dass ich in der Stunde des Todes nicht bei ihm war. Heinz versuchte mir das auszureden, der Vater hätte dann hässlich ausgesehen, und es sei doch besser, ihn gesund und lebendig in Erinnerung zu behalten – was natürlich Unsinn war, denn Tote schauen überhaupt nicht hässlich aus. Ich weinte sehr.

Das Begräbnis war sehr beglückend. Ich bekam ein Grab für ihn in Ischl, was nicht so leicht war, denn mein Vater war aus der Kirche ausgetreten. Der Pfarrer holte tief Luft und sagte: »Na ja, dann liegt er halt so ein bissl abseits.« Er bekam schließlich einen wunderschönen Platz, gerade weil er so abseits liegt. Der Friedhof wird gut gepflegt, weil er eine Touristenattraktion ist.

Er liegt nicht zusammen mit der Mutter, die in Großweikersdorf begraben ist. Sie wollte in die Gruft ihrer Eltern, dort gab es nur noch einen Platz, und weil er Ischler war, dachte ich, es ist doch gut.

Ich entwarf ein sehr schönes schmiedeeisernes Kreuz. Viele Jahre später fand ich einen Brief von ihm, in dem er beschrieb, wie er begraben werden wollte. Ganz anders. Mit einem Holzkreuz, das eine bestimmte Länge haben sollte.

Er rauchte bis zum Schluss, die Tschick schnorrte er sich und sang immer: »Eine Zigarette muss ich haben, gilt sie dir oder gilt sie mir!« Als ich noch rauchte, stand ich am Friedhof vor seinem Grab und sang dieses Lied. Ein bissl peinlich. Er hatte noch eine Melodie: »Ich bin ein Zigeuner, hass und lieb wie keiner«, oder so ähnlich. Wenn er das anstimmte, hasste ihn meine Mutter.

Sie sind richtig begraben, das ist okay.

Ich bin musikalisch sehr gebildet, selbst aber leider völlig unmusikalisch. Das musste schließlich selbst meine Mutter akzeptieren, die mir mit vier das Klavierspielen einhämmern wollte und es später immer wieder versuchte. Ich liebe Musik über alles, egal, ob Klassik, Jazz oder Pop, aber ich beherrsche kein Instrument. Eine Zeit lang spielte ich Geige, aber das hatte mehr mit einem Weißrussen zu tun, in den ich schrecklich verliebt war. Die Leute sagten, ich hätte Talent, und sogar meine Mutter hörte auf zu keppeln und staunte. Irgendwann interessierte es mich trotzdem nicht mehr, ich denke, es hatte mit dem Weißrussen zu tun.

Ich war immer eine Außenseiterin. In der Schule stellte ich die Fragen, die man nicht stellen durfte, und bekam konsequent nie die Antworten, nach denen ich suchte. So wurde immer über mich gelacht. Ich hatte ständig das Gefühl, ich werde ungerecht behandelt. Mit meinem Gerechtigkeitswahn ließ sich das schlecht vereinbaren. Wurde mir auf den Kopf zugesagt, dass ich lüge, und ich hatte nicht gelogen, war das für mich eine Katastrophe. Es endete immer damit, dass ich sehr krank wurde. Später, in Wien, kam ich etwas besser zurecht, weil ich mich dort diesem Druck entziehen konnte. Aber am Land war es schlimm.

So legte ich mir meine speziellen Freunde zu. Ich hatte einen Teddybären, den ich so abgöttisch liebte und abzuzelte, dass er irgendwann kein einziges Haar mehr hatte. Den nackigen Bären habe ich heute noch, er liegt bei mir im Schlafzimmer.

Mein zweiter Freund war ein Zwerg. Dieser Zwerg versteckte sich hinter der Truhe, und immer wenn ich etwas nicht essen wollte, schmiss ich es hinter diese Truhe zum Zwerg. Meine Mutter wusste davon, ich hatte ihn jahrelang und erzählte in der Schule: »Mein Zwerg spricht mit mir, ich habe ihn in der Schultasche.« Er lebte für mich.

Ich bin Legasthenikerin und muss bis heute aufpassen, dass ich den einen oder anderen Buchstaben nicht zu viel oder zu wenig setze, etwas anhänge, wo nichts mehr hingehört und nicht »schöner-er-er-er« schreibe.

Ich war sehr gut in Deutsch und schrieb tolle Aufsätze, aber durch die Legasthenie waren sie voll mit Rechtschreibfehlern, was natürlich wieder Grund für die Häme von Schulkollegen und Lehrern war. Sie dachten einfach, ich sei strohdumm, und lachten mich weiter aus. In Mathematik war ich sowieso sauschlecht, obwohl das mehr mit meiner Lehrerin zu tun hatte. Sie hatte eine Warze auf der Nase, und ich hasste sie sehr – weil ich sie so ungeheuer hässlich fand und sie als Lehrerin einfach schrecklich war.

Ich schwindelte sehr viel in der Schule. Dieses ganze überholte System machte mich total unglücklich, und ich musste alle meine Kraft aufbringen, um mich davon nicht niederwalzen zu lassen.

Ich gewöhnte mir in der Zeit eine Widerborstigkeit an, die ich sehr lange beibehielt, auch als ich älter wurde. Ich war es gewohnt, gegen den Strom zu schwimmen. Unter Hitler tat ich das sehr akkurat.

»Mit Kriegsgut wirft man nicht!«

Mit der Hitlerzeit kam ich nicht zurecht. Ich war zwölf, als er kam. Es war für mich ein ziemlicher Schlag. Ich konnte das alles gar nicht begreifen und war entsetzt, als ich sah, wie die Massen aufmarschierten. Ich war fassungslos, als meine Eltern plötzlich »Heil Hitler!« riefen. Ich war völlig verwirrt, als ich sah, wie man mich für die Hitlerjugend vereinnahmen wollte. Zwei Tage hielt ich es in einer dieser Gruppen aus. Eine der BDM-Anführerinnen sagte: »Du musst singen und eins, zwei marschieren.« Ich haute ihr eine runter und lief davon. Meinen Eltern erklärte ich, dass ich dort nie wieder hingehen würde. Basta, das war’s.

Mit dem Namen Goldmann stürzten sich die Nazis natürlich sofort auf meinen Vater. Er hatte aber lange vor dem Einmarsch einen Ahnenpass machen lassen, weil er wissen wollte, welche Krankheiten es in seiner Familie gab und welche in der Familie seiner Frau aufgetreten waren. Er stand damals schon auf dem Standpunkt, Krebs sei vererbbar und wollte seine Risiken abtesten. Jüdische Ahnen zu haben, war schon vor Hitler kein Vorteil, so ließ er sich für den Ahnenpass eine gute Geschichte einfallen. Er sagte, seine Familie hieße eigentlich Goltermann, aber sein Großvater sei immer entsetzt gewesen, weil der Name ständig falsch geschrieben wurde, einmal mit dt, dann mit th und so fort. So sei aus dem nichtjüdischen Goltermann das jüdische Goldmann geworden, ohne dass jemals jüdisches Blut in dieser Familie geflossen sei. Ich kaufte ihm die Geschichte nie ab.

Mit seinem Ausweis war der gute Severin jedenfalls vor den Nazis »sauber«. Mit 50 merkte er immerhin, welches Arschloch Hitler war und ging in Frühpension. Vor 1942 war das noch anders. Mein Vater hatte eine Landkarte an der Wand aufgehängt, die er mit kleinen, bunten Stecknadeln kennzeichnete, Stecknadeln mit Köpfchen drauf, blaue, grüne, rote. Daran konnte man erkennen, wie weit die Truppen schon vorgerückt waren. 1942 begannen die Niederlagen. Ich freute mich und hoffte, dass es bald aus ist. »Hoppla, die sind am absteigenden Ast«, bemerkte mein Vater – und ging fortan auf Distanz. Den Nazis erzählte er, der Name Goldmann mache ihm als Lehrer bei den Eltern und den Schülern große Schwierigkeiten. Eine Lüge, aber die Nazis sagten: »Das können wir ja verstehen, Herr Goldmann.« So konnte er aus der Partei austreten. In Frühpension war er ohnehin schon.

Das war sein großes Glück, weil er so nach dem Krieg wieder unterrichten durfte. Er bekam sofort Arbeit, obwohl er schon alt war. Die Pointe an dem Ganzen: Nach dem Krieg war er sehr bald wieder Antisemit.

Als 1956 die Ungarn nach Österreich flüchteten, sagte er: »Da sitzen sie schon wieder in den Restaurants mit ihrem ganzen Schmuck, und es geht ihnen schon wieder gut.« Ich sah ihn an und sagte: »Du spinnst, Papa.« Ich konnte das nie verstehen. Ich verabscheute die Nazis in einer Weise, dass ich mich heute wundere, wie ich so gut durchkommen konnte. Ich kann es mir nur so erklären, dass ich ein hübsches Mädchen war, mich aber gleichzeitig saudumm stellen und grenzdebil dreinschauen konnte. Dadurch sahen sie in mir ein »süßes, kleines Mäderl« und scherten sich nicht weiter um mich. Ich nützte das aus und glaubte irgendwann sogar selbst daran.

Süß war ich natürlich überhaupt nicht. Ich trug nie Uniform, sagte nie »Heil Hitler!«, immer »Guten Tag«. Deshalb war ich unbeliebt und wurde verachtet, vor allem von den Lehrern.

Während dieser ganzen Zeit war ich sehr unglücklich und hatte nur eine einzige Freundin. Ich glaube, es war 1942, da ging ich mit dem Judenstern in Wien, wegen ihr. Sie war etwas jünger und kam wie ich aus Großweikersdorf. Ihre Eltern hatten dort einen Gemischtwarenladen gehabt, Textilien verkauft und ihren Kunden Kredite gegeben. Dadurch hatten sie natürlich eine schlechte Nachrede, denn damit verdienten sie viel Geld.

Die ganze Familie wurde nach Wien gebracht, und sie bekamen ein kleines Zimmer in einer Villa in der Böcklinstraße. Mein Vater sagte früh zum Vater meiner Freundin: »Ich bitte dich, geh weg, sonst überstehst du das nicht.« Er antwortete: »Was kann mir schon passieren? Ich habe ja nichts getan.«

Als Papa kapierte, was läuft, half er vielen. Irgendwie ahnte er offenbar etwas, und das ging ihm dann doch gegen den Strich. Leute stellten Koffer mit ihren Habseligkeiten bei uns ab. Er wusste etwas, ich wusste dadurch auch, dass Schreckliches vor sich ging. Nicht das gesamte Ausmaß des Wahnsinns, aber die Juden, die bei uns die Koffer abstellten, erzählten furchtbare Sachen von Arbeitslagern, aus denen keiner zurückkam. Ich ahnte nichts von der Vernichtung, aber mir war klar, dass die Juden dort nicht nur arbeiten mussten, sondern auch ermordet wurden. Nach dem Krieg blieben bei uns ein, zwei Koffer stehen. Sie wurden nie abgeholt.

Ich besuchte meine Freundin und ging mit ihr spazieren – alles nicht ungefährlich, aber es war mir egal. Sie musste den Judenstern tragen, hätte ich keinen gehabt, wäre ich garantiert angepflaumt worden. Sich mit einer Jüdin in der Öffentlichkeit zu zeigen, das ging nicht und konnte sehr unangenehm werden. Mit Judenstern wurden wir soweit in Ruhe gelassen. »Nur für Arier« stand auf den Parkbänken. Ich fand das entsetzlich und sagte sofort: »Komm, setzen wir uns.« Aber sie war panisch und lehnte voller Furcht ab: »Nein, das dürfen wir nicht!« Wir saßen trotzdem.

Manches blendete ich einfach aus. An die Novemberpogrome 1938 habe ich zum Beispiel keine bewusste Erinnerung. Ich durfte in dieser Zeit nicht ausgehen und hörte nur davon. Verdrängung war Normalität. Man wurde sehr dumm gehalten, wir erfuhren nichts, oft nicht einmal, was um die nächste Ecke geschah. Das Ausmaß der ganzen Schrecklichkeit wurde mir erst nach dem Krieg bewusst.

Ich entfloh den Massenaufmärschen, wo ich konnte. Ein gutes Mittel, sich von allem fernzuhalten, war in die Oper zu gehen. Dadurch eignete ich mir eine Musikalität an, zwar eine andere, als sich meine Mutter gewünscht hatte, aber das Ganze wuchs sich zu einer Leidenschaft aus, die zur Folge hatte, dass ich stundenlang am Stehplatz stand. Natürlich hörte man damals vor allem Wagner, es störte mich nicht. Ich war nicht allein, junge Leute drängten sich auf den billigsten Plätzen. Daraus entstand eine Gemeinschaft, die sehr angenehm war, weil sie weit weg war von dem ganzen System. Ich ging fast jeden zweiten Tag in die Oper, sah den Ring zwei-, dreimal, Salome sechs-, siebenmal, Othello ebenso oft und eigenartigerweise Carmina Burana. Ich weiß es nicht mehr genau, aber ich bin ziemlich sicher, dass die Nazis Carl Orff auf Linie gebracht haben. Ich erinnere mich an viele Frauen auf der Bühne, die mit Besen kehrten, irgendeine perverse Show zogen sie ab.

Nach dem Krieg interessierten mich Konzerte, Oper nicht mehr. Sonntags ging ich in den Musikverein, die Karten bekam ich umsonst, weil ich ein paar Leute kannte. Im Theater war ich kaum, ein- oder zweimal in der »Josefstadt«, es gefiel mir. Aber die Musik begeisterte mich.

Nach dem Krieg lernte ich Herbert von Karajan und Karl Böhm persönlich kennen. Böhm brachte mir Mozart nahe, denn damals stand ich mehr auf Beethoven. Beethoven war aufwühlender, entsprach mehr meinem pubertären Gemüt. Mozart fand ich uninteressant, bissl Geklimper, bis Böhm mir zeigte, dass da viel mehr dahinter ist.

Karajan wiederum interessierte sich weniger für meinen Musikgeschmack, mehr für mich persönlich. Ich gefiel ihm.

Ich muss 22 gewesen sein, als Karajan eines Tages vor dem Theater stand und mich abholte. Keine Ahnung, ob er im Stück war, ich nehme es an. Zu der Zeit war er noch mit Anita Gütermann verheiratet. Sie half ihm sehr und führte ihn in die Wiener Gesellschaft ein. Bis dahin war er ja in Berlin, hier kannte ihn fast niemand. Wir plauderten, er erzählte viel von seiner Musik. Er war zurückhaltend, drängte mich zu nichts. Ich fand ihn als Künstler spannend, als Mann leider nicht. War halt so.

Das Ende unserer Treffen war eher ernüchternd. Er wollte mir irgendwann sein neues Auto zeigen, ich lag aber im Bett mit einem Riesenkater, weil ich wahrscheinlich am Vortag wieder einmal betrunken war – eine Art Dauerzustand in jener Zeit.

Meine Mutter stand völlig entgeistert im Zimmer: »Du, der Karajan steht vor der Tür«, flüsterte sie. Ich fuhr auf: »Jössas, mit dem habe ich mich verabredet! Sag ihm, ich kann nicht.«

Da war er beleidigt, und ich traf ihn nie wieder.

Jahre später saß ich einmal in einem seiner Konzerte, Bruckner. Karajan dirigierte Bruckner unglaublich gut. Ich saß in der ersten Reihe, zum Schluss verbeugte er sich – und zwinkerte mir zu. Immerhin.

Wien im Krieg? Die Bomben waren mir völlig gleichgültig. Ich fürchtete mich überhaupt nicht, sondern fand das alles irgendwie abenteuerlich. Nur ein einziges Mal war ich in einem Bunker, es war unerträglich, grausig, absurd und scheußlich. Man ging hinein und war wie in einem Zementkasten, ich hatte das Gefühl, lebendig begraben zu sein. Meine Eltern hatten Angst und wollten es sicherer haben, aber in den Bunker brachten sie mich nicht mehr hinein.

Also gingen wir in die Katakomben. Die waren zwar nicht sicher, denn die Bomben konnten durchfallen und große Zerstörungen anrichten. Aber dort gefiel es mir besser. Es war aufregend, denn man konnte da zwischen zwei Stockwerken wechseln und sogar in Wohnungen schlüpfen. Da saßen dann junge Leute, die sagten – wie ich –, sie pfeifen auf den Keller und tranken Sekt. Ich setzte mich dazu, trank mit ihnen und fand das ungeheuer toll.

In der Rembrandtstraße lebte eine Bekannte, sie wurde später Kostümbildnerin beim ORF. Sie war so alt wie ich, und ich bat sie eines Abends aus einem Gefühl heraus: »Geh bitte, schlaf bei uns, damit dir nichts passiert.« Die Nazis waren seit Tagen unterwegs und suchten die ganze Zeit. Sie übernachtete bei uns, und das rettete ihr wahrscheinlich das Leben, denn am nächsten Morgen war in der Mauer ihres Wohnhauses ein Granattrichter, und dahinter lagen fünf Leichen. Nur eine einzige Frau ließen sie am Leben. Sie hatte gesagt, dass ihr Sohn eingerückt sei. Verraten wurden sie von einer Hausmeisterin. Die stand auf der Straße und zeigte den SS-lern, wo sie suchen mussten. Sie sagte kein Wort, deutete nur mit dem Finger in Richtung der Fenster. Das war üblich und hieß: Dort wohnen noch Juden.

Ich wollte diese Hausmeisterin nach dem Krieg umbringen. Über die Jahre vergaß ich sie, und als ich wieder in Wien war, wohnte sie nicht mehr dort. Wir fanden sie nicht. Vielleicht war es gut, so blieben wir von einer bösen Tat verschont – und sie auch.

Ein Schlüsselerlebnis in dieser Zeit war die Sache mit der Straßenbahn. Man konnte ja in den offenen Zügen auf- und abspringen, eine ganz feine Sache, die wir wie einen Sport betrieben. Ich stand schon an der Rampe, als ein junger Mann mit einem verletzten Bein versuchte aufzuhüpfen. Er humpelte nebenher, stolperte schließlich, und ich fing ihn in letzter Sekunde auf, zog ihn herein, sonst wäre er garantiert unter die Straßenbahn gekommen.

»Bist du verrückt? Du kannst doch nicht mit dem wehen Haxen da reinspringen!«