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Zur Hölle mit den Selbstzweifeln
Als Kind hattest du die wildesten Träume, wie du einmal leben würdest. Doch dann hat dich die Realität eingeholt. Zweifel statt Träume, lahmer Trott statt Rock ’n’ Roll. Statt deiner Werte lebst du die der anderen. Nur wer hat gesagt, dass das so bleiben muss?
Die Metal-Ikone und Heilpraktikerin für Psychotherapie Sabina Classen hat es erlebt: Immer dann, wenn andere ihr sagen wollten, wo es für sie lang gehen sollte, nutzte sie die Energie des Augenblicks und machte umso stärker ihren eigenen Weg. Gemeinsam mit dem Experten für Positive Psychologie Nico Rose erzählt Sabina erstmals ihre Geschichte und zeigt, wie auch du Selbstzweifel überwindest, Inspiration in dein Leben lässt und selbstbestimmt lebst. Du musst nicht screamen, um ein Leben voller Energie und Kraft zu führen – aber manchmal hilft’s!
»Ihr werdet beim Lesen umgehend merken, dass LAUT.STARK. LEBEN. mehr ist als eine typische Musikerinnen-Biografie. Sabina und Nico haben einen tollen Ansatz gefunden, dem Buch eine weitere Ebene hinzuzufügen, die Sabinas Geschichte ganz wunderbar ergänzt.« Doro Pesch
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Seitenzahl: 301
Veröffentlichungsjahr: 2025
Zum Buch:
Als Kind hattest du die wildesten Träume, wie du einmal leben würdest. Doch dann hat dich die Realität eingeholt. Zweifel statt Träume, müder Trott statt Rock ’n’ Roll. Statt deiner Werte lebst du die der anderen. Nur wer hat gesagt, dass das so bleiben muss?
Die Metal-Ikone und Heilpraktikerin für Psychotherapie Sabina Classen hat es erlebt: Immer dann, wenn andere ihr sagen wollten, wo es für sie lang gehen sollte, nutzte sie die Energie des Augenblicks und machte umso stärker ihren eigenen Weg. Gemeinsam mit Metal-Influencer und Psychologe Nico Rose erzählt Sabina erstmals ihre Lebensgeschichte und zeigt, wie auch du Selbstzweifel überwindest, Inspiration in dein Leben lässt und selbstbestimmt lebst. Du musst nicht screamen, um ein Leben voller Energie und Kraft zu führen – aber manchmal hilft’s!
Zu den Autoren:
Sabina Classen war Anfang der 80er-Jahre eine der ersten Frontfrauen überhaupt im weltweiten Metal-Zirkus. Mit ihrer Band Holy Moses gehört sie zu den Wegbereitern der aufkeimenden Thrash-Metal-Szene – und war gleichzeitig die erste Metal-Sängerin, die nicht mit klarem Gesang, sondern ausschließlich mit Growls und Screams gearbeitet hat. Ende der 80er-Jahre moderierte sie die TV-Sendung Mosh auf RTL plus und stand rund 20 Jahre später vier Staffeln lang für das Messie-Team bei RTLII vor der Kamera. Im Jahr 2009 absolvierte sie die Heilpraktiker-Prüfung und hat seitdem eine Vielzahl an zusätzlichen therapeutischen Ausbildungen abgeschlossen. 2016 veröffentlichte sie das Buch Der Messie in uns (mit Carsten Tergast). In ihrer Praxis bei Hamburg begleitet sie in Coaching und Therapie Menschen mit Burn-out, Depressionen, Ängsten, Zwangsstörungen und dem Messie-Syndrom.
Dr. Nico Rose ist der Sinnput-Geber. Im richtigen Leben ist er ein gefragter Management-Experte und arbeitet freiberuflich mit Organisationen an ihrer Führungskultur. Bis Anfang 2022 war er Professor für Wirtschaftspsychologie an einer renommierten Business School. Zuvor hat er 15 Jahre in der freien Wirtschaft gearbeitet, zuletzt als Vice President im HR-Bereich eines Medienkonzerns.
Im anderen richtigen Leben ist Rose leidenschaftlicher Headbanger und hat seit seinem 15. Lebensjahr hunderte Konzerte besucht. Auf Facebook kümmert er sich als Leiter des »Ministeriums für Schwermetall« um die Bedürfnisse der deutschen Metalheads. 2017 konnte er ein verwackeltes Selfie mit Bruce Dickinson von Iron Maiden machen, was selbstredend alle anderen Errungenschaften vollumfänglich in den Schatten stellt. Sein Buch Hard, Heavy & Happy wurde 2022 direkt bei Erscheinen zum Spiegel-Bestseller.
Sabina Classen
Dr. Nico Rose
Laut.
Stark.
Leben.
Zur Hölle mit den Selbstzweifeln!
Mit einem Geleitwort von Metal-Queen Doro Pesch
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© 2025 Ariston Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
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Alle Rechte vorbehalten
Redaktion: Lars Zwickies
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, unter Verwendung einer Illustration von Shutterstock/Marzufello
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN: 978-3-641-33047-7V001
Für
Papa und Mama
Tom und Ulla
Tessa, Jim, Piet, Jan, Leona
Für die Ewigkeit in
Liebe, Vertrauen, Dankbarkeit, Freude und Leichtigkeit
– Sabina –
Für den Metal,
der immer schon da ist.
Egal, wie tief ich falle.
– Nico –
Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen, Vorboten desjenigen, was wir zu leisten imstande sein werden. Was wir können und möchten, stellt sich unserer Einbildungskraft außer uns und in der Zukunft dar; wir fühlen eine Sehnsucht nach dem, was wir schon im Stillen besitzen. So verwandelt ein leidenschaftliches Vorausgreifen das wahrhaft Mögliche in ein erträumtes Wirkliches.
– Johann Wolfgang von Goethe –
Wenn ich mir vorstelle, dass ich nur noch einen Tag zu leben hätte, dann tue ich das nicht aus Todessehnsucht heraus und weil ich genug hätte von der Plage des Lebens. Ich möchte dadurch vielmehr lernen, intensiver zu leben, jeden Augenblick auszukosten, dem Geheimnis meines Lebens auf die Spur zu kommen und jeden Tag von Neuem achtsam und bewusst zu erleben.
– Anselm Grün –
Playlist
Geleitwort von Doro
Vorwort von Sabina
Vorwort von Nico
Einklang
Die eigene Stimme finden
Als Kind hast du keine Angst – eigentlich …
Ich wollte einen Bruder
Euch zeig ich’s noch
Fliegen und entfliehen
Wer hat die Macht?
Ein Traum von Fritten
Der Zeit voraus
Eigene Worte finden
Das war ganz schrecklich
Kick it like Sabina
I Love Rock’n’Roll
Willst du mit mir gehen
Freude woanders
Suche E-Gitarre
Der Wumms aus der Tabakdose
Ich werde das gewinnen
Über den großen Teich
If I Can Make It There
There’s No Business Like Show-Business
Ein bisschen fremd in der Heimat
Die Anfänge von Holy Moses
An der Seitenlinie
Der Urschrei
Leben für den Lärm
Den Arsch abbrüllen
Lauter werden
Klirrende Scheiben
Love and Marriage plus Dosenbier
Das kurze Jahr der Schlange
Könnt ihr das wirklich spielen?
Ganz allein im Studio
Ich hab an dem Tag keine Zeit
Erster oder Letzter im Metal Hammer? Egal!
Die Hunde und der Schlüssel
Ramon kommt nicht mehr mit
Grölen, bis der Arzt kommt
Wagner gibt den Takt an
Fliegende Fische
Von oben herab
Fliegende Kürbisse
Mit Omas Knete zum Monsters of Rock
I’m not a groupie
Mission erfüllt
Deal und Groll
Dunkelheit bringt Licht und Schatten
Neues Baby, keine Kinder
Heavy Stricken Is the Law
(K)Ein Fall für Holy Moses
Ausgemosht
Gloria, ohne Glanz
Wo ist die Hitsingle?
Holy Wind of Change
Durchs Chaos nach West Virginia
Die Metaloase in der Walachei
Der erste Messie
Entfremdung
Nicht solo, dafür Sunshine Reggae
Nordwärts
Multi-Jobber
Ich muss nach Wacken!
Doch noch Fliegen gelernt
Heil werden und heilen
Onkel Toms Tourbus
Big in Südkorea
Alles in (Un-)Ordnung
Luke und Leia plus Ronja
Neue alte Ziele
Der Weg der Prüfungen
Hankel-Hirtz-WTF-Classen
Scheiden tut (nicht) weh
Growlen auf den Punkt
Die große Konvergenz
Wer schrei(b)t, der bleibt
Der Kapitän kommt an Bord
Das Glück dieser Erde
Die Brandung holt den Fels
Durch die Stille
Lichtblicke
Die unsichtbare Königin
Ausklang
Nachwort von Sabina
Nachwort von Nico
Dank
Stichwort- und Personenverzeichnis
Die AutorInnen
Bildteil
Anmerkungen
Geleitwort von Doro
Als ich Sabina das erste Mal getroffen habe, war mir sofort klar, dass sie eine außergewöhnliche, energiegeladene, intelligente Powerfrau ist. Ich habe sie umgehend in mein Herz geschlossen. Ich fühlte augenblicklich, dass wir viele Gemeinsamkeiten haben und auch die gleichen Kämpfe bestreiten mussten, um uns in der Musikwelt zu behaupten.
Wir haben ungefähr zur gleichen Zeit begonnen. Sabina, als sie bei Holy Moses einstieg, und ich mit meinen ersten Bands Snakebite, Beast und bald darauf Warlock. Die Metalszene war jung, voller Energie, noch etwas unbedarft, aber genau deshalb Zuflucht und Familie zugleich. Als Frauen waren wir allein auf weiter Flur, beobachtet mit einer Mischung aus Neugier, Argwohn und Misstrauen. Wir beide mussten unser eigenes Ding durchziehen. Es gab keine Vorbilder, keine Konventionen. Es ist kein Wunder, dass ich mich in Sabinas Biografie immer wieder selbst entdecke. Von den noch etwas holprigen Anfängen über das tägliche Proben, die chaotischen frühen Gigs und Demos bis hin zu den ersten professionellen Aufnahmen und Tourneen. Wir hatten die gleichen Probleme mit dubiosen Managern, zwielichtigen Plattenfirmen und bizarren Mitmusikern und wir beide lieben New York.
Ich habe Sabinas Weg mit Holy Moses immer verfolgt. Unsere Wege haben sich oft gekreuzt, in Clubs und auf riesigen Bühnen, wie in Wacken. Zuletzt war ich Gast bei Sabinas Abschiedskonzert mit Holy Moses. Es war ein denkwürdiger Abend. Oder um es weniger nüchtern zu sagen: Ich war zu Tränen gerührt. Die Liebe zu den Fans und die Liebe von den Fans – auch das sind Dinge, die Sabina und mich verbinden.
Ihr werdet beim Lesen umgehend merken, dass Laut.Stark.Leben. mehr ist als eine typische Musiker-Musikerinnen-Biografie. Sabina und Nico haben einen tollen Ansatz gefunden, dem Buch eine weitere Ebene hinzuzufügen, die Sabinas Geschichte ganz wunderbar ergänzt. Auch für mich spielt Spiritualität eine wichtige Rolle, eine weitere Verknüpfung zwischen unseren Lebensläufen, genau wie unsere bedingungslose Liebe zu Pferden und Hunden.
Ich werde Sabina auf der Bühne vermissen, aber als wunderbaren Menschen und Wegbereiterin der härteren Variante des Heavy Metal immer lieben.
Doro Pesch, im Januar 2025
Vorwort von Sabina
Träume ich – oder ist das mein Leben?
»Bibi! Bibi!!!«
Ich höre es an meiner Tür rufen. Es ist mitten in der Nacht, und ich bin sicher, das ist mein kleiner Bruder Tom. Verwirrt stehe ich auf und denke noch: Warum kommt Tom nicht einfach rein? Doch als ich die Tür öffne, sehe ich den kleinen Bruno vor mir. Ich schaue mich schlaftrunken um, sehe Bruno an und verstehe überhaupt nicht, was los ist. Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Bibi, du bist im Soccer Camp in Amerika. Und da steht der kleine Bruno, der schon wieder weint. Es ist nicht das erste Mal, dass er nachts aufgelöst vor meiner Tür steht, obwohl es ihm in der Fußballschule unglaublich gut gefällt. Er hat so starkes Heimweh. Ich nehme ihn einfach in den Arm, tröste ihn und sage: »Ich kann dir gerne noch eine Gute-Nacht-Geschichte erzählen. Dann gehst du aber wieder rüber zu den Jungs! Und morgen früh spielen wir wieder Fußball mit Pelé und Franz Beckenbauer.«
Ich denke, darüber könnte ich mal ein Buch schreiben …
Dann ist es auf einmal bitterkalt. Es ist Mai und ich bin auf dem Wacken Open Air. Dem einzigen Wacken in der Geschichte, das Mitte Mai stattfindet. Es ist so kalt. Ich habe gerade mit meiner Band Temple of the Absurd gespielt und plötzlich ist meine gesamte Truppe irgendwie verschwunden. Es gibt keine Möglichkeit mehr zur Rückfahrt nach Hamburg. Doch im Backstage-Bereich treffe ich später die Musiker von Tiamat. Sie sind in diesem Jahr eine der wenigen Bands, die tatsächlich mit einem Nightliner gekommen sind. Die Musiker erkennen mich und sind total verwirrt, als ich sage: »Jungs, darf ich mich kurz in eurem Bus aufwärmen? Meine Band ist verschwunden und macht Party, und ich friere mir gerade den Arsch ab.« Ich werde eingeladen, wir trinken ein paar Bierchen, und dann höre ich die erlösende Nachricht: »Sabina, wir haben noch Betten frei im Nightliner. Du kannst heute Nacht hier pennen. Morgen früh suchst du halt deine Band und fährst zurück nach Hamburg.«
Ich denke, darüber könnte ich mal ein Buch schreiben …
Ich bin in Italien am Gardasee. Es ist Frühjahr, und ich sitze auf Nevada, einer stolzen Haflinger-Stute – so unglaublich schön. Obwohl ich nicht reiten kann, hat Nevada mir erlaubt, mich auf ihren Rücken zu setzen. Ich strecke die Arme weit von mir und fühle mich wie Winnetous Schwester. Mein Blick gleitet über die Berge runter zum Gardasee, ein unglaublich berührendes Erlebnis. Ich schließe die Augen, Nevada geht nun langsamen Schrittes voran. Sie trägt nur ein Halfter, ich halte sie an einem Strick, und es fühlt sich an, als würde ich durch die weite Prärie galoppieren. Ich spüre eine tiefe Verbundenheit mit dem Pferd und mit mir selbst, ich bin geerdet und in Sicherheit. Da ist diese tiefe innere Freiheit. Zufriedenheit. Leichtigkeit. Freude.
Ich denke, darüber könnte ich mal ein Buch schreiben …
Nun sitze ich eingeengt in einem VW-Bus mit neun Sitzen. Hinter mir auf der Mini-Ladefläche ist das wichtigste Equipment von Holy Moses verstaut. Ganz hinten, auf der letzten Rückbank, liegt Michelle, die Frau von Pete, unserem Gitarristen, weil sie sich unwohl fühlt. Die Band plus Crew sitzt auf den restlichen sechs Sitzen, und ich denke nur: O Mann, die Fahrt zum Hellfest wird niemals enden. Wie viele verfluchte Stunden meines Lebens habe ich auf Autobahnen verbracht, eingepfercht in einem miefigen Bus.
Weiter vorne läuft Popmusik und dann plötzlich wieder krasser Black Metal aus den Bluetooth-Boxen meiner Bandmitglieder. Durch den Lärm hindurch höre ich Gerd fluchen: »Fuck Paris!« Es gab Sperrungen auf der Autobahn, wir werden vom Navi plötzlich mitten durch das Getümmel der Hauptstadt geleitet. Unser Drummer und heutiger Fahrer ist völlig genervt. Es wird noch Stunden dauern, bis wir das Hellfest erreichen. Ich denke: Hoffentlich schaffen wir es noch rechtzeitig, um abends unsere Freunde von Meshuggah spielen zu sehen. Wir sind Gott sei Dank erst morgen dran. Augen zu und durch.
Ich denke, darüber könnte ich mal ein Buch schreiben …
Schließlich schreiben wir den 3. August 2023. Ich bin auf Wacken und habe in der vergangenen Nacht mein letztes Open-Air-Konzert in Deutschland gespielt. Für immer. Ich bin noch tief bewegt von den letzten Stunden … und auf einmal treffe ich Nico am Stand von Metality. Er hat mich etwa eineinhalb Jahre früher für sein BuchHard, Heavy & Happy interviewt. Eigentlich träume ich gerade so vor mich hin, schwelge in den inneren Bildern vom Auftritt gestern. Die Atmosphäre am Stand des Metalvereins gleicht einem aufgescheuchten Bienenstock. So viele Menschen, die mit mir reden wollen. Ich stehe da mit meinem Bier in der Hand, Nico mit einer Flasche Riesling. Einen Moment lang schauen wir uns tief in die Augen. In mir steigt ein Gefühl auf: Ich glaube, ich sollte als Nächstes wirklich ein Buch schreiben.
Und plötzlich klopfen sie wieder an, diese verfickten Selbstzweifel, ganz tief in meinem Herzen und dieser fast vergessenen Ecke meines Hirns. Wird das was? Will das überhaupt jemals jemand lesen? Ich bin doch nicht Lemmy. Alle Sex, Drugs & Rock’n’Roll-Geschichten sind doch längst erzählt, von Bands, die viel größer waren als Holy Moses.
Aber in jenem Augenblick, als ich Nico tief in die Augen schaue, ist da noch ein anderes Gefühl, bei allem Zweifel. Was, wenn da jemand ist, der weiß, wie das geht mit dem Schreiben? Jemand, der aus der Adler-Position auf mein Leben schaut? Jemand, der wirklich gut zuhört, die richtigen Fragen stellt, der alles sortiert und in Form bringt? Was, wenn ich bequem liege, die Augen geschlossen, tief versunken in meinem eigenen Leben – und einfach erzähle, erzähle, erzähle? Dann, ja, dann könnte es was werden. Ich frage Nico einfach mal. Der wird ja wohl kaum Nein sagen …
Sabina Classen
Vorwort von Nico
Sabina und ich, wir haben uns 2021 kennengelernt, als ich sie für mein Buch Hard, Heavy & Happy interviewen durfte. Den Kontakt vermittelt hatte Holger Hübner, Co-Founder des Wacken Open Air, der gemeinsam mit seinem Partner Thomas Jensen auch das Vorwort zu jenem Buch beisteuerte.
Die Wahrheit: Ich wusste als halbwegs metalkundiger Mensch natürlich, wer Sabina ist, und hatte selbstredend auch von ihrer Band Holy Moses gehört. Mehr war da am Anfang allerdings nicht. Ich kannte weder den Menschen noch die Musik in der Tiefe. Um meinen vierzehnten Geburtstag herum (1992) bin ich Metalfan geworden. Aber wenn ich damals mit der Musik von Holy Moses konfrontiert worden wäre, hätte mich das komplett abgeturnt. Zu Beginn meines headbangenden Lebens war ich ausschließlich offen für melodischen Metal mit Engelsgesang im Stil von Helloween und Co. Sabinas Reibeisen-Vocals und die auditive Wucht von Holy Moses hätten mich unmittelbar in die Flucht geschlagen.
Ich wollte Sabina trotzdem unbedingt in meinem Buch haben, weil ich in einem anderen Interview gelesen hatte, dass sie seit rund 15 Jahren, neben der Arbeit als Musikerin, auch Menschen therapeutisch begleitet. Da ich selbst Psychologe bin, hat mich dieses Doppelleben fasziniert. In unserem Videocall (mitten in der Corona-Pandemie) wollte ich besser verstehen, wie sich diese beiden Welten gegenseitig befruchten.
Im Laufe dieses schier endlosen Gesprächs haben wir gemerkt, dass wir uns gut verstehen, wirklich gut verstehen. Wobei: Man muss sich schon verflucht anstrengen, um sich mit Sabina nicht zu verstehen. Gefühlt beginnt jedes Interview mit ihr auf der ganzen Welt mit den Worten, dass man gerade die »niceste Person ever, ever« getroffen habe. 2022 haben wir uns dann erstmals im richtigen Leben gesehen, nur ganz kurz, auf Wacken. Zwölf Monate später, im Matschrekordjahr, fand schließlich jene für dieses Werk so wegweisende Begegnung statt, die auch in Sabinas Vorwort und gegen Ende des Buchs beschrieben wird.
Ab Januar 2024 haben wir uns alle paar Wochen montags in ihrer Praxis außerhalb von Hamburg getroffen. Das lief immer gleich ab: Sabina hat morgens noch ihre Pferde versorgt und mich dann mittags an der S-Bahn abgeholt. Im Vorraum der Praxis habe ich zunächst ausgiebig mit ihrem Therapiehund Benno gekuschelt, während Sabina uns Kaffee gemacht hat. Dann haben wir ein bisschen über Gott und die Welt gequatscht, am meisten natürlich über Metal und psychologische Themen, aber auch viel über unsere Lebensgeschichten.
Gerade beim letzten Punkt stellten wir – obwohl 15 Jahre auseinander und an der Oberfläche gänzlich unterschiedliche Leben führend – immer wieder faszinierende Parallelen fest. Ständig war da der Gedanke: Es kann kein Zufall sein, dass uns die Arbeit an dem Buch zusammengeführt hat. Eher war da immer wieder das Gefühl, das sollte, das musste so sein.
Nach dem Kaffeeplausch gingen wir hinunter in den eigentlichen Therapieraum. Sabina legte sich jedes Mal in einen verstellbaren Sessel, versetzte sich selbst in einen Trancezustand (das lernt man in der Hypnoseausbildung) und begann, mir von ihrem Leben zu erzählen. Das Ganze praktizierten wir jeweils rund drei Stunden, mit kurzen Pausen für eine Zigarette oder Gassigehen mit Benno. Ich machte mir fleißig Notizen und erfreute mich ansonsten an dem besonderen Schauspiel: Da liegt ein Mensch mit geschlossenen Augen und ist vollkommen »im eigenen Film« versunken, doch mit Worten, Mimik und auch viel Gestik entsteht plötzlich eine greifbare Geschichte. Bewegte Bilder, brutaler Sound, irgendwann sogar die zugehörigen Gerüche. Mein Job war es, diese Welten einzufangen und auf Papier zu bannen.
Zum Ende dieser Sessions wühlten wir uns meist noch eine Weile durch Sabinas gut gepflegtes Archiv, um Informationen abzugleichen. Oder einfach, um in Erinnerungen zu schwelgen. Was für mich, bezogen auf die frühen Jahre von Holy Moses, immer auch vorzüglicher Metal-Geschichtsunterricht war. In den wirklich coolen Metalzeiten der frühen Achtzigerjahre war ich einfach noch ein kleiner Hosenscheißer, der zu den Klängen von Roland Kaisers »Santa Maria« bei Oma und Opa in den Garten gepinkelt hat.
Wichtig: Weil in einem Leben immer vieles gleichzeitig passiert – vor allem, wenn man so umtriebig ist wie Sabina –, haben wir uns hier und dort die Freiheit genommen, die streng chronologische Reihenfolge der Ereignisse zu verlassen, um kohärent über bestimmte Episoden aus ihrem Leben berichten zu können. Wir spulen hier ein wenig vor, dort wieder ein wenig zurück. So wird unserer Meinung nach besser verständlich, um was es eigentlich geht.
**********
Schon früh im Schreibprozess waren wir uns einig, dass ich dabei nicht einfach eine Art Ghostwriter sein würde. Ganz so, wie Sabina immer Teil einer Band und keine Solokünstlerin sein wollte, wurde schnell deutlich, dass wir auch für dieses Buch als Team auftreten würden. Ich würde der Beobachter und Erzähler von Sabinas Leben sein, aber ein Erzähler, der sich ab und zu einmischt, etwas von sich preisgibt, hier und dort mitgestaltet. Menschen, die ausschließlich an Sabinas Geschichte interessiert sind, mögen diese Parts bitte überblättern. Das tut mir nicht weh.
Ebenso waren wir uns von Anfang an darüber im Klaren, dass dies nicht einfach nur eine Metalbiografie werden sollte, nach dem Schema: »Hier waren wir im Studio, dort ist was Lustiges auf Tour passiert, und an jener Theke habe ich einen mit Lemmy gesoffen.«1 All das hat natürlich Raum und auch Sinn in so einem Buch. Aber nur das? Zu wenig, das war uns schnell klar.
Sabina und mich eint die Liebe zum Metal. Ebenso eint uns die Liebe zur Psychologie beziehungsweise allgemein zu dem Wunsch, Menschen bei ihrer Entwicklung auf die Sprünge zu helfen. Ich arbeite seit 2008 als Coach für Führungskräfte, Sabina hat kurz darauf begonnen, Erwachsene und Kinder psychotherapeutisch zu begleiten. Vor diesem Hintergrund haben wir das Ziel formuliert, neben Perspektiven auf Sabinas Leben als Mensch und Musikerin auch Einblicke in unsere Arbeit und unsere persönliche Entwicklung zu geben.
Wie haben wir (immer wieder mal) unseren ganz eigenen Weg gefunden?Welche Entscheidungen haben wir an wichtigen Wendepunkten unserer Entwicklung getroffen?Welche Reflexionen, Übungen, Rituale haben uns geholfen?Diese Ideen und Konzepte möchten wir dem lesenden Menschen gerne unterwegs präsentieren, als Dreingabe. Ohne erhobenen Zeigefinger, dafür mit ganz viel Energie, Dankbarkeit und Lebensfreude.2 Jene Leserinnen und Leser, die das für Psychokacke halten, dürfen natürlich auch diese Parts überblättern.
Und nun wünsche ich viel Spaß beim Eintauchen, Mitschmunzeln und Mitleiden. Beim Erinnern, für jene, die dabei waren – und beim Schwärmen, für jene, die gerne dabei gewesen wären, so wie ich. All hail the Queen of Thrash!
Nico Rose
Einklang
Hamburg, kurz vor Silvester 2023
Sie steht auf der Bühne, der schwere Schlussakkord schwebt noch in der euphorischen Atmosphäre aus Bier, Schweiß und Glückshormonen. 1200 Menschen in der Hamburger Markthalle schreien sich die Seele aus dem Leib, strecken ihr die Hände entgegen, ein stürmisches Meer aus Pommesgabeln.
»SABINA – SABINA – SABINA!«
Dort steht sie, volle 60 Jahre alt. Eben noch ist sie auf der Bühne herumgehüpft wie ein Teenager, hat die Menge nach vorn gepeitscht und sich in einem Schlauchboot durch die Halle tragen lassen. Doch jetzt steht sie still im Auge des Sturms.
Sabina hat beide Hände über dem Herzen zusammengelegt. Jemand hat ihr eine Krone aufgesetzt, sie sitzt leicht schief auf dem erhobenen Haupt. Der Blick schweift in die Ferne, über die Menschenmenge hinweg in die Vergangenheit. Ihr Kajal hat sich mit Tränen vereint, nicht das erste Mal an diesem Abend.
Gleich wird sie wieder strahlen und die Fäuste in die Luft recken, doch in diesem Moment laufen mehr als 40 Jahre vor ihrem inneren Auge ab. Unzählige Konzerte und Gesichter, Hunderte Reisen in ferne Länder – und auch ins innere Ausland. Alle Höhen und alle Tiefen eines Lebens, eines Künstlerlebens. Alles ist in diesem Augenblick, genau jetzt, genau hier. Die Scheunen der Vergangenheit sind reich gefüllt.3
Später wird sie mit Familie, Freunden und Wegbegleitern in kleinerer Runde auf ihren Ehrentag anstoßen, es gibt Torte und Bier. »A Birthday and a Funeral«, das war der Titel des Abschlusskonzerts. Oder besser: Rituals. Gefeiert wurden sechs Jahrzehnte Sabina Classen und das allerletzte Konzert ihrer Thrash-Metal-Band Holy Moses. Ihr Baby von über 40 Jahren. Es wird kein Revival geben, keinen Rücktritt vom Rücktritt. End on a high note, go out with a bang!
Ich überreiche ihr ein Geschenk, wir haben Zeit für einen kurzen Plausch und ein Foto vor der Wand mit den Luftballons. »Ich muss jetzt erst mal klarkommen«, sagt sie, noch sichtlich erschöpft von ihrer letzten Performance als Metalshouterin. Doch sie lächelt wieder. Und kurz darauf kommt der nächste Gratulant und will ein Foto …
**********
Wohltorf bei Hamburg, drei Wochen später
»Es klingt seltsam, aber ich wollte geboren werden. Das ist meine erste Erinnerung, noch im Mutterleib.«4 Sabina liegt in einem elektrisch verstellbaren Sessel in ihrem mit unzähligen Erinnerungsstücken übersäten Praxisraum, in dem sie sonst Menschen psychotherapeutisch begleitet. Sie hat sich kurzerhand selbst in einen Trancezustand versetzt. »So kann ich mich besser erinnern«, erklärt sie mir. Ich sitze neben ihr auf einer Couch, die ansonsten für ihren Therapiehund Benno reserviert ist. Dieser liegt einige Meter weiter, nahe der Treppe, die zum Praxisraum herunterführt. Er spürt, dass wir Ruhe brauchen. Ich bilde mir ein, dass er über uns wacht.
Sabina hat die Augen geschlossen und erzählt mir von ihrem Leben. »Ich will. Ich will leben. Ich will mein Leben leben! Das war meine erste Vision.«
Und so beginnt es.
Die eigene Stimme finden
Als Kind hast du keine Angst – eigentlich …
Sabina wird 1963 als erstes von drei Kindern im Aachener Südviertel in die Familie Hirtz hineingeboren. Der Papa arbeitet anfangs noch untertage, macht an der Bergschule sein Abitur nach, wird später Ingenieur und arbeitet im Finanzbauamt. Die Mutter bleibt ab Sabinas Geburt zu Hause, die Eltern des Vaters leben im gleichen Haus direkt nebenan, die anderen Großeltern leben gegenüber.
Es sind einfache Verhältnisse, mit Holzofen und Toilette auf dem Flur. Doch es ist eine behütete Kindheit. »Meine Eltern waren religiös und durchaus streng, aber gleichzeitig hatte ich ganz viele Freiheiten«, erzählt sie. Und sie vermitteln Sabina, dass es richtig und wichtig ist, dass sie da ist. »Du bist gut, so wie du bist. Meine Hände geben dir Kraft und Unterstützung für alle deine Vorhaben.« Sätze wie diesen hört sie regelmäßig.
»Ich habe fast immer draußen gespielt, bin mit dem Kettcar oder einem Roller um die Häuser gezogen. Sonst hatte ich eher wenig Spielsachen, einen Fernseher gab es auch nicht, nur so ein altes Saba-Radio.« Sie ergänzt: »Wenn ich unbedingt etwas haben wollte, hat Papa das gebaut.« Unter anderem zimmert der Vater ein fünfstöckiges Puppenbett zusammen, das später bei einem Umzug aus Versehen auf dem Sperrmüll landet. Auch die glücklichste Kindheit bekommt irgendwann ein paar Dellen. Aber immerhin hat es ein guter Teil der zugehörigen Teddybären bis in die Gegenwart geschafft.
Durch das Ingenieurstudium des Vaters ist immer viel Technik im Haus. Da ist die große Spielzeugeisenbahn, auch eine selbst gebaute Dampfmaschine. Der Papa erklärt der kleinen Sabina, wie solche Sachen funktionieren. Im Wohnzimmer liegen oft technische Zeichnungen, Reste von Millimeterpapier und abgenutzte Stifte, wenn der Vater Besuch von Kommilitonen hatte. »Das waren meine Malbücher«, sagt sie, während ein kleines Strahlen über ihr Gesicht huscht.
Ob es irgendwas gab, was sie nicht gut fand, frage ich. Sie entgegnet: »Na ja, sonntags ging es immer in die Kirche, so mit Rock und Söckchen. Das fand ich doof, ich hatte immer die Knie kaputt.« Aber da war noch etwas anderes.
»Meine Mutter stand oft am Fenster und wartete darauf, dass der Vater heimkommt.« Die Arbeit untertage, die Finsternis – sie wirft immer wieder einen Schatten auf das junge Familienglück. Gemeinsam wird gebetet, dass die Dunkelheit den Papa wieder freigibt und ins Licht aufsteigen lässt. »Als Kind hast du eigentlich keine Angst. Durch das Beten habe ich überhaupt erst kapiert, dass Papas Arbeit gefährlich war.« Die Schrecken des Kriegs sind noch präsent in der Familie. Nächte in dunklen Bunkern, ohrenbetäubender Lärm, wenn in der Nähe Bomben einschlugen. Aachen wurde von der alliierten Luftwaffe hart getroffen.
Die Finsternis ist der Feind. »Diese Angst habe ich irgendwie übernommen. Auch so Wetterkapriolen, das mag ich bis heute überhaupt nicht. Da muss ich immer noch so ein bisschen dran arbeiten, dass mich das nicht übermannt.« Zum Glück war die kleine Sabina niemals ganz allein.
Ich wollte einen Bruder
Bevor 1967 ihr Bruder Tom auf die Welt kommt, spielt die kleine Sabina oft mit Eko und Feko. »Das waren meine imaginären Brüder«, berichtet sie mit einem Rest von kindlichem Stolz in der Stimme. »Ich konnte die wirklich sehen und mit ihnen sprechen und spielen. Aber sie waren auch die Kraft unddie Macht. Sie haben mich beschützt. Heute, durch den Blick des Schamanismus, würde ich sie als Krafttiere bezeichnen.«
Dank Eko und Feko möchte sie dann irgendwann auch einen physisch anfassbaren, einen richtigen Bruder haben. »Ich war superaufgeregt, als ich erfuhr, dass ich ein Geschwisterchen bekommen sollte. Wir haben gebetet, dass das Kind sich gesund entwickelt.« Ultraschallgeräte sind damals noch nicht verbreitet, das Geschlecht blieb bis zur Geburt unbekannt. »Ich wusste aber, dass es ein Bruder wird. Ich wollte das einfach so sehr. Wenn ich mir mein Geschwisterchen vorstellte, sah ich immer einen Jungen vor mir.« Der Wunsch sollte Wirklichkeit und Sabina selig werden. Bis heute sind die beiden eng verbunden. Warum es denn unbedingt ein Bruder sein sollte, frage ich. Sie entgegnet: »Ich glaube, ich habe mich irgendwie wie ein Zwilling gefühlt, aber eben unvollständig. Diese Kraft, das Männliche, das sollte zu mir zurückkehren.«
1974 kommt noch die Schwester Ulrike hinzu. »Der Zwerg«, lächelt sie. »So haben mein Bruder und ich sie immer genannt.« Zu Beginn ist Sabina noch etwas erschrocken. »Meine Welt war eigentlich rund, zusammen mit Tom.« Der große Altersunterschied lässt sie jedoch bald eine neue Rolle einnehmen: Sie wird eine »gute große Schwester«, bringt Ulrike Schwimmen und Fahrradfahren bei.
Heute stehen alle drei eng zusammen, auch wenn man räumlich getrennt ist. Ulrike hat Jura studiert, Tom war auf dem Weg zum Fußballprofi, ist heute jedoch Regisseur und betreibt das Das Da Theater in der Heimat Aachen. Sie telefonieren oft, besuchen sich regelmäßig, helfen sich, wo sie können. Ich, Nico, habe einen älteren Bruder, aber wir sind sehr unterschiedliche Menschen, standen uns nicht sehr nah in Kindheit und Jugend. Ich frage Sabina, wie sich das anfühlt, wenn man so eng ist mit den Geschwistern. Sie sagt mit fester Stimme: »Da kommt nichts zwischen uns. Wir haben einen Pakt!«
Euch zeig ich’s noch
Als sie in den Kindergarten kommt, erfährt die kleine Sabina zum ersten Mal, dass man auch nicht richtig sein kann. Zumindest aus der Sicht anderer Menschen. »Das ist die Spielecke für Jungen«, ermahnt eine dienstbeflissene Kindergärtnerin sie gleich am ersten Tag. Sabina hatte es doch tatsächlich gewagt, sich schnurstracks in Richtung der Bauklötze und Spielzeugautos zu bewegen. Das sei aber falsch, wird sie ein ums andere Mal hören. »Du bringst alles durcheinander!« Sie wird in die Mädchenecke beordert, zur Spielküche und zu den Puppen. Sabina lernt, was Wut bedeutet.
»Wo werde ich da hineingedrängt?«, fragt sie mich in ihrer Trance, die Stimme noch ein Hauch energischer als sowieso schon. Ich stelle mir vor, dass spätestens hier ihr unbändiger Wille entfacht wird. Diese überbordende Energie, der Wunsch, Grenzen einzureißen, sich nicht zu beugen. Sabina ist Sturm und Drang, ihre Erzieherinnen sind immer wieder überfordert.
Das kleine Mädchen spielt nicht nach den Regeln, wird immer wieder in die Ecke gestellt. »Jetzt denk mal drüber nach, was du getan hast«, bekommt sie wiederholt zu hören. Und nachdenken wird sie. Allerdings anders, als von den Erzieherinnen erwartet. »Ich bin ich. Ich habe es richtig gemacht.« So lautet ihr Fazit. Sie steht unter Strom – und schwimmt gegen den Strom. So zeichnet sich weiterer Ärger am Horizont ab.
Ihre ersten akustischen Gehversuche macht Sabina in der musikalischen Früherziehung. Die Kinder sitzen im Kreis auf harten Holzstühlen, sollen im Takt auf Trommeln und Klangstäbe schlagen, einfache Lieder singen (»Wow, das macht Freude!«). Das quirlige Mädchen ist hochentzückt. »Der Klang hat mich geöffnet. Er hat mich berührt.« Vor lauter Überschwang stellt sie sich auf den Stuhl, gibt alles, was der kleine Körper hergibt, und erfährt erneut Zurückweisung. »Du bist viel zu laut!«, hört sie die Erzieherin sagen. Oder: »Sabina, deine Stimme passt nicht!« Das Mädchen ist abwechselnd zornig und traurig, versteht nicht, was es falsch gemacht haben soll.
»Die haben mich immer wieder ermahnt, aber ich wusste überhaupt nicht, was die wollen.« In ihrer Überforderung fassen die Erzieherinnen einen Entschluss: Sabina darf nicht mehr mitsingen. Sie bekommt eine Triangel und soll nur noch am Ende jedes Lieds einen Ton von sich geben. Das Ganze stellt sich als kolossales Eigentor heraus. »Ich habe natürlich immer wieder volle Dröhnung dazwischen gebimmelt«, erzählt sie und lacht dabei einen von diesen kehligen Sabina-Lachern, für die so viele Menschen sie kennen und mögen.
Kurz darauf lernt das kleine Mädchen fliegen.
Fliegen und entfliehen
Während die Kindergärtnerinnen Sabina beibringen wollen, ein braves Mädchen im Sinne der biederen frühen Sechzigerjahre zu sein, hat die kleine Grenzgängerin etwas ganz anderes im Sinn. »Ich wollte mich aus dieser Energie befreien«, erzählt sie. »Eines Tages habe ich denen gesagt, ich würde auf die Toilette gehen. In Wirklichkeit habe ich mich nach unten geschlichen.« Eine Treppe im Untergeschoss führt zum Außenbereich des Kindergartens. »Da bin ich gesprungen, von der ersten Stufe. Wieder rauf und von der zweiten Stufe. Dann von der dritten.« Wie Fliegen habe es sich angefühlt. »Ich war so wütend! Habe gedacht, dass ich vielleicht wirklich fliegen lernen könnte.« Fliegen und entfliehen sind so nah beieinander. Die Freiheit macht das Mädchen glücklich. Und endet doch auf der vierten Stufe.
Eine Erzieherin hat die kleine Sabina vermisst, gesucht und erwischt. Ein weiteres Mal findet sie sich in der Ecke wieder. Gedemütigt, beschämt, aber ungebrochen.
Ich möchte wissen, was sie heute noch mit dem Fliegen verbindet. »Auf einem Pferd zu reiten, kann sich in guten Momenten wie Fliegen anfühlen. Manchmal reicht es auch schon, einfach auf einem Pferd zu sitzen, so, dass beide ganz stillhalten. Und ich beobachte so gerne Vögel. Drüben, an meinem Stall, da kreisen häufig Bussarde. Denen könnte ich ewig zuschauen.«
Später im Leben wird Sabina eine mehrjährige schamanische Ausbildung durchlaufen. Sie wird lernen, die vier Himmelsrichtungen anzurufen und die vier Winde. Sie wird lernen, durch die Augen des Adlers zu sehen, die Welt von oben zu betrachten. Ich bin nicht ganz sicher, ob ich ihr folgen kann. Ich bin etwas rationaler als sie, leide seit einem schweren Kopfübersturz auf einem Spielplatz in der Kindheit an Höhenangst.
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Wir schweigen uns einen Moment lang an. Draußen, im Garten vor Sabinas Praxis, kräht lautstark ein Rabenvogel. Dreimal. Ein Zufall, sicher. Oder nicht? Ich würde gerne wissen, was er uns sagen will.
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Wer hat die Macht?
Nicht nur die Erzieherinnen bringen Sabina etwas über Freiheit bei, und über die Qualen, wenn sie verloren geht. Im Außenbereich des Kindergartens gibt es großzügige Spielflächen, Wiese, Sand, alles, was ein Kinderherz begehrt. Und es gibt diese Steckenpferde aus Holz, komplett mit einem angedeuteten Geschirr. Ein Kind wird eingespannt und zum Reittier, das andere übernimmt die Zügel und wird zum Reiter.
Sabina spürt eine tiefe Beklemmung, als sie zum ersten Mal gezügelt wird. Das eindringliche Gefühl, nicht frei laufen zu können, nicht frei zu sein, treibt dem kleinen Mädchen die Tränen in die Augen. Sie reißt sich die einengende Struktur vom Körper, bricht aus, rennt davon. »Ich habe plötzlich gespürt, was ein Pferd empfindet, wenn es über die Maßen dominiert wird. Das andere Kind wollte die Macht übernehmen. Wir haben nicht zusammen gespielt, das war kein gemeinsamer Tanz.«
Rund 50 Jahre später wird sich Sabina in einer Veränderungsmethode namens Raidho Healing Horses ausbilden lassen. Dabei handelt es sich um eine Form der Persönlichkeitsentwicklung, die auf der Arbeit mit Pferden beruht. Mehr als um die Beherrschung des Pferdes geht es jedoch um die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit.
Ein Traum von Fritten
Sabina hat eine Narbe an der linken Augenbraue, die noch aus der Kindergartenzeit stammt. Ihre Familie hat damals wirklich nicht viel Geld. Es ist daher immer ein besonderer Moment, wenn man sich für alle eine ordentliche Portion Fritten leistet. Eines späten Nachmittags geht sie mit ihrem Vater zu Fuß zum Imbiss, um für die Familie ein paar dieser frittierten Sonnenstrahlen zu besorgen. Auf dem Rückweg läuft sie, wie sie es damals gerne tut, rückwärts über den Bürgersteig. Sie hört ihren Vater rufen: »Bibi, dreh dich um. Wir müssen schnell nach Hause, sonst werden die Fritten kalt.«
Sabina tut, wie ihr geheißen, aber leider in einem äußerst ungünstigen Moment. Sie ist am Träumen, am Tagträumen. Damals haben die alten Straßenlaternen in Aachen noch einen gezackten Rand als Zierde. Das Mädchen dreht sich mit Schwung um und rennt mit Elan gegen eine dieser Laternen. Das Zick-Zack-Ornament schneidet ihr in die Haut, eben auf Höhe der Augenbraue. »Ich war am Träumen. Ich hatte eine riesengroße Wunde an meiner Augenbraue, die man heute noch sehen kann. Obwohl wir so wenig Geld hatten, musste Papa ein Taxi rufen und mit mir ins Krankenhaus nach Aachen fahren. Die Wunde wurde mit mehreren Stichen genäht.«
Sabina hat Schmerzen. Vor allem aber hat sie ein schlechtes Gewissen. Sie schämt sich massiv, weil die Fritten kalt geworden sind. Und weil Papa so viel Geld fürs Taxi ausgeben musste.
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