Lavendelträume - Gabriele Diechler - E-Book
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Lavendelträume E-Book

Gabriele Diechler

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Beschreibung

Ein malerischer Ort in der Provence, unweit der Parfümstadt Grasse. Doch Julia kann die Schönheiten der Landschaft nicht genießen: Ihr Leben ist aus den Fugen geraten, und sie ist auf der Suche nach Wahrheit hierhergekommen …

Nach dem tragischen Unfalltod ihrer Mutter entdeckt Julia in einem geheimen Schließfach ein Paket mit dem Lieblingsparfüm ihrer Mutter, daneben einen Liebesbrief. Absender: ein Parfumeur aus der Provence. Was hat das zu bedeuten?

Kurzentschlossen macht Julia sich auf die Reise in den Süden Frankreichs. Unter der angegebenen Adresse trifft sie auf den Sohn des inzwischen ebenfalls verstorbenen Parfumeurs. In Nicolas findet sie einen verständnisvollen Freund, der ihr Zuversicht schenkt – und Liebe. Doch sie kommen einem unglaublichen Familiengeheimnis auf die Spur ...

Ein fesselnder Roman über die Macht des Schicksals, die Kraft der Liebe, den Mut zum Neuanfang.

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Seitenzahl: 531

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Gabriele Diechler

Lavendelträume

Roman

Insel Verlag

Familienbande

Familie ist die erste Liebe im Leben eines jeden Menschen!

1. Kapitel

»… wurden uns mit beiliegendem Schreiben die Daten Ihrer Mutter, Barbara Bent, bekanntgegeben …«, Julia blätterte zur Kopie, überprüfte die Daten und überflog die ersten beiden Absätze, »… nach dem Ableben Ihrer Mutter bitten wir Sie, sich schnellstmöglich mit uns in Verbindung zu setzen, damit wir in Ihrem Sinne tätig werden können …«

Julias Blick schweifte ab in Richtung Fenster. Draußen mischten sich vereinzelte Schneeflocken in das Grau des Himmels. Beim Aufstehen heute Morgen hatte die Sonne durch die Wolken geblitzt; ein Wintertag wie viele andere. Doch dieser Brief machte ihr klar, dass nichts war wie sonst. Julia zwang sich, ihren Blick von dem eintönigen Grau draußen abzuwenden. In diesem Moment läutete die Türglocke. Aus dem Hausflur ertönte Stevie Wonders Mundharmonika, dann Dionne Warwicks markante Stimme: »And I never thought I'd feel this way …«

Julia erkannte den Song auf Anhieb. Immer wenn sie ihn hörte, fühlte sie sich, als ob sie von jemandem, den sie liebte, umarmt wurde. »Keep smiling, keep shining, knowing you can always count on me, for sure. That's what friends are for.«

Der Briefbogen fiel ihr aus der Hand und landete auf den Zeichnungen neben ihrem Frühstücksteller. Mit wenigen Schritten war Julia an der Tür und öffnete sie. Vor ihr stand Maren, ihre Freundin und Geschäftspartnerin. Sie hielt ihr Smartphone, aus dem die Musik erklang, in der linken Hand und eine Fotomontage in der rechten. Auf dem Schwarzweißfoto war eine Hollywoodschönheit in eleganter Hochzeitsrobe abgebildet, deren Kopf durch Julias ersetzt worden war.

Gerührt trat Julia zur Seite. Kaum war Maren in den Flur getreten, ergriff sie Julias Hände. »Darf ich bitten?« Maren bugsierte Julia tanzend an den Zeitungen vorbei, die sich auf dem Teppich stapelten, um später entsorgt zu werden, und drehte ihre Freundin schwungvoll im Kreis, dann führte sie sie ins Wohnzimmer. Julia war von dem Song wie beflügelt. Jeder Gedanke verflüchtigte sich.

Leichtfüßig schwebten die beiden Frauen über den Teppich und sangen mit: »… For good times and bad times.«

Bei der letzten Strophe löste Maren sich von Julia und ließ sich lachend auf einen Stuhl fallen. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Julia, der vom Tanzen warm geworden war, öffnete das Küchenfenster. Auf dem Dachfirst spazierten Tauben gurrend auf und ab, und von gegenüber winkte ihr die Nachbarin zu.

»Den Song hab ich eine Ewigkeit nicht mehr gehört.« Julia hatte gerötete Wangen, als sie sich zu Maren umdrehte.

»Eigentlich wäre es ein Tag für Mutter und Tochter, aber nun ist es einer für uns«, versprach Maren. Julia musterte die glückliche Braut auf dem Foto, das Maren mitgebracht hatte.

»Die Fotomontage ist dir gelungen.« Sie lachte gelöst. Beim Weitersprechen änderte sich ihre Tonlage jedoch und mit einem Mal klang sie verzagt. »Nur hab ich leider keine Zeit, Hochzeitskleider anzuprobieren … nicht so kurz vor Weihnachten.« Maren ließ sich von Julia Tee einschenken. Sie trank einen Schluck und tippte dann mit dem Finger auf das Foto. »Keine Ausreden.« Sie klang, als würde sie sich nicht abweisen lassen — nicht schon wieder. »Niemand verlangt von dir, gleich beim ersten Anlauf ein Brautkleid zu kaufen, dich umzuschauen wäre allerdings ein Fortschritt. Und der Blumenschmuck und das Make-up erledigen sich auch nicht von selbst.«

»Du hast ja recht«, räumte Julia zerknirscht ein. »Es ist unverzeihlich, dass ich dich deshalb bereits zweimal vertröstet habe.« Manchmal hatte Julia das Gefühl, Maren zweifle an ihrer Entscheidung, heiraten zu wollen. »Es gibt so viel zu tun in letzter Zeit. Manchmal weiß ich nicht, wo mir der Kopf steht. Und dann noch die Hochzeit …«

Maren griff nach Julias Hand und sah sie eindringlich an: »Beruflich haben wir beide uns schon immer ins Zeug gelegt, Julia, aber denk jetzt mal an dich, an dein Privatleben.«

In den letzten Monaten hatte Julia fast ununterbrochen gearbeitet. Doch niemand, nicht mal Maren, wusste, dass es da noch ein Projekt gab, das sie bisher verschwiegen hatte. Sie wollte abwarten, bis sie damit fertig war. Marens gute Laune und ihr Enthusiasmus waren ansteckend.

»Okay! Sobald du deinen Tee getrunken hast, starten wir zur ersten Brautkleid-Runde.«

Maren atmete erleichtert auf.

»Und am Abend gehen wir in den Ivory Club. Als Wiedergutmachung«, versprach sie.

Julia war nicht so selbstbewusst, wie sie klang, doch im letzten halben Jahr hatte sie gelernt, Gedanken an Furcht und Zweifel nicht überhandnehmen zu lassen. Vielleicht würde sie das Anwaltsschreiben bei einem gemütlichen Essen mit Maren für ein paar Stunden vergessen können.

Sie trat an ihre Arbeitsecke, um das Schreiben fürs Erste dort abzulegen. Doch als sie vor ihrem Laptop stand, zögerte sie und kehrte zum Frühstückstisch zurück.

Maren sah sie fragend an: »Gibt's noch was?«

Julia blickte auf den Brief in ihrer Hand. Ihre Anspannung war geradezu greifbar. »Kannst du mal einen Blick darauf werfen?«

Maren streckte ihre Hand nach dem Brief aus, den Julia nur zögerlich losließ. Konzentriert begann sie zu lesen und bemerkte kaum, dass Julia hinter sie getreten war, um Absatz für Absatz mitzuverfolgen. Als sie mit dem Text durch war, blickte sie Julia verwundert an: »Na, das sind vielleicht Neuigkeiten.«

Julia zuckte unmerklich mit den Schultern und sprach aus, was ihr durch den Kopf ging, seit sie das Kuvert geöffnet und die ersten Zeilen gelesen hatte. »Sieht so aus, als käme ich nicht drum herum, nach Paris zu fliegen.« Der Zorn, den sie wegen des Schreibens empfunden hatte, war mit einem Mal erloschen. In den vergangenen Monaten hatte sie eine wichtige Entscheidung aufgeschoben, um Ruhe zu finden. Doch irgendwann muss man sich den Tatsachen stellen.

2. Kapitel

Ein halbes Jahr zuvor

Der Wind, der die letzten Tage um die Häuser gefegt war, hatte merklich nachgelassen. Zielstrebig trat Julia aus dem Haus und ging auf ihren silberfarbenen Golf am Straßenrand zu. Um kurz vor fünf — wenn die Straßen noch fast menschenleer waren — erschien ihr Frankfurt wie ein Dorf.

»Fünf ist selbst für dich früh.« Eine Stimme ließ Julia zusammenfahren. Erschrocken drehte sie sich um.

»Maren!«

Ihre Freundin stand im dumpfen Licht einer Straßenlaterne und blickte zu ihr herüber. Im Jogginganzug und ungeschminkt sah sie aus, als käme sie geradewegs aus dem Bett. »Was treibst du in aller Herrgottsfrühe hier auf der Straße?«

Von der Schulzeit abgesehen, die Julia und Maren zum Teil gemeinsam verbracht hatten, konnte Julia sich nicht daran erinnern, Maren je vor neun Uhr morgens zu Gesicht bekommen zu haben. Gewöhnlich arbeitete sie abends länger und las dann bis tief in die Nacht oder sah sich Filme an. Wenn morgens um sieben der Wecker klingelte, gab es nichts Schöneres für sie, als sich noch mal im Bett umzudrehen und weiterzuschlafen.

»Dasselbe könnte ich dich fragen.« Maren war näher gekommen und küsste Julia auf beide Wangen. »Du siehst aus, als hättest du die halbe Nacht kein Auge zugetan.«

Julia ersparte sich eine Antwort. Maren wusste auch so, dass ihr seit dem Tod ihrer Mutter alles Mögliche durch den Kopf ging — vor allem nachts. »Also, wenn du mich fragst, ist es höchste Zeit, diese verdammte Rüstung abzulegen, mit der du neuerdings durchs Leben gehst. Ich weiß, die hast du dir zugelegt, um in einer Welt, in der man Menschen verlieren kann, bestehen zu können. Ich bin mir nur nicht sicher, ob sie ihren Zweck erfüllt.«

Marens Worte sorgten schlagartig für Ernüchterung bei Julia. Die Freundin hatte ins Schwarze getroffen. Egal, was sie tat, um sich besser zu fühlen, es gelang ihr einfach nicht, zu ihrem alten Leben zurückzufinden, zu dem Leben, das sie gehabt hatte, als ihre Mutter noch lebte.

Julia sah in Marens Gesicht und wusste, dass auch die Freundin etwas bedrückte.

»Die Immobilie in der Franz-Rücker-Allee«, entfuhr es beiden Frauen wie aus einem Mund. Sie lächelten, weil es nicht das erste Mal war, dass sie zur selben Zeit dasselbe dachten und es auch aussprachen. Julia wusste, dass der Verkauf der Gründerzeitvilla einen enormen Imagegewinn für Marens Firma bedeuten würde.

»Lenk nicht ab, Julia. Wir reden jetzt nicht über meinen Job, sondern über dich … willst du tatsächlich mitten in der Nacht abhauen?«

»Meine Güte, Maren!« Julia stellte ihre Reisetasche ab, in die sie alles gepackt hatte, was sie für eine Woche Südfrankreich brauchte. »Das klingt, als wäre ich auf der Flucht.«

»So sieht es für Frank auch aus. Er hat mich gestern nach unserem Treffen noch angerufen und gefragt, ob ich glaube, dass du tatsächlich fahren wirst.«

»Bist du deswegen hergekommen?« Julia sah, wie Maren ein Gähnen unterdrückte.

»Ich weiß, Frank hat in letzter Zeit nicht immer die richtigen Worte gefunden. Er ist verletzt, Julia, trotzdem versucht er, stark für dich zu sein. Warum wartest du also nicht, bis er dich nach Frankreich begleiten kann?«

Julia wandte den Blick ab. »Es würde dauern, bis er Urlaub bekäme, und in der Zwischenzeit würde er mir die Reise ausreden. Das will ich nicht.«

Julia hatte Frank im letzten Jahr in einem Bistro kennengelernt. Sie hatten beide an der Theke auf ihre Drinks gewartet und waren ins Gespräch gekommen. Zwei Tage später rief er an, um sie ins Deutsche Architekturmuseum auszuführen, wo ein Event stattfand. Frank war attraktiv, mit blonden, gewollt zerstrubbelt aussehenden Haaren, die einen interessanten Kontrast zu dem Anzug bildeten, den er an jenem Abend trug. Und er war charmant. Julia hatte begeistert zugesagt.

»Weißt du noch, wie aufgeregt du mich angerufen hast, nachdem du Frank kennengelernt hattest? Wie angetan du warst, weil er sich gemerkt hatte, wofür du dich interessierst, und wie viele Gemeinsamkeiten ihr entdeckt habt. Endlich ein Mann, der nicht nur klasse aussieht, sondern auch aufmerksam ist, hast du gesagt.«

Wehmut packte Julia. Die Intensität ihrer Gefühle hatte sie damals völlig überrascht. »Natürlich weiß ich das noch … als wäre es gestern gewesen. Es schien, als würde uns kaum etwas voneinander unterscheiden. Schon verrückt!«

»Diese Erinnerungen solltest du nicht verdrängen, nur weil das Leben dir gerade eine Menge abverlangt!« Maren konnte ihre Zunge kaum im Zaum halten. »Du musst um dein Glück kämpfen, Julia. Gib nicht auf, hörst du. Und davon abgesehen, denk auch mal an mich.« Nun grinste sie verschmitzt. »Woran kann ich denn noch glauben, wenn ihr beide, du und Frank, es nicht hinbekommt?«

»Ach Maren!« Julia war gerührt. Sie war so sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt gewesen, dass ihr darüber entgangen war, wie sehr Maren mit ihr fühlte. »Manchmal kommt es mir vor, als wäre die Zeit vor dem Unfall komplett aus meinem Gehirn gelöscht. Du hast schon recht, das darf ich nicht zulassen.«

Es war noch nicht lange her, da hatte Julia ein Leben gehabt. Ihre Familie, Frank, eine Handvoll Freunde und ihre Arbeit hatten ihr jeden Tag das Gefühl gegeben, ein sinnerfülltes, glückliches Leben zu führen. Bis ihre Mutter bei einem Autounfall ums Leben gekommen war.

Nach der Beerdigung verließ Julia kaum noch ihre Wohnung. Ein schleichender Prozess, der rasch zur Gewohnheit wurde, weil ihn anfangs niemand ernst nahm — vor allem Julia selbst nicht. Auch zu Hause war die Stimmung meist gedrückt.

»Ich verstehe, dass jeder anders mit Trauer umgeht«, hatte Frank Julia eines Tages aufzurütteln versucht. »Manche weinen nächtelang, bis sie genug davon haben, einige machen eine Gesprächstherapie, wieder andere melden sich zum Yoga oder zum Boxen an. Verstehst du, sie machen etwas, Julia!«

»Soll das heißen, du glaubst, ich packe das Leben nicht mehr an?«

»Nenn es, wie du willst. Jedenfalls kannst du dich nicht für den Rest deines Lebens zu Hause verkriechen. Weißt du überhaupt noch, wer du bist? Ich kannte mal eine Frau, deren Träume nie groß genug sein konnten, die immer für das Leben war, nie dagegen.«

Julia war weit davon entfernt, an ihr voriges Leben anzuknüpfen. Da war diese bleierne Müdigkeit, die eher ihren Kopf als ihren Körper betraf und die sich wie eine dunkle Wolke auf sie legte und verhinderte, dass sie wieder Tritt fasste.

»Hast du schon mal daran gedacht, dass ich dein Verhalten auch als Verweigerung mir gegenüber ansehen könnte? Es ist nicht nur deine Trauer, dein Leben, sondern auch unseres … es ist auch meins!« Frank hatte gekränkt geklungen, sogar aufgebracht.

»Und wie geht's jetzt weiter?«

Julia tauchte aus ihren Gedanken auf und sah Maren mit großen Augen an. »Das Wichtigste ist jetzt für mich, herauszufinden, was hinter dieser Karte steckt, die ich in dem Päckchen mit der Parfümschachtel gefunden habe.« Maren sah Julia zweifelnd an.

»Es sieht dir gar nicht ähnlich, deswegen gleich in den Wagen zu steigen, um nach Frankreich zu fahren. Du behältst doch sonst in jeder Situation einen kühlen Kopf. Der Hitzkopf von uns beiden bin ich.« Marens Augen waren vor Müdigkeit zusammengekniffen.

»Manchmal ändern sich Dinge, vielleicht nicht für immer, aber zumindest phasenweise«, sagte Julia. Sie bemühte sich, Maren zu erklären, in welche Richtung ihre Gedanken gingen. »In letzter Zeit werde ich das ungute Gefühl nicht los, meine Mutter gar nicht richtig gekannt zu haben. Warum mietet sie ein Postfach, lässt sich ihr Lieblingsparfüm dorthin schicken und sagt niemandem etwas davon?« Julia wartete nicht auf Marens Antwort. »Das tut man nur, wenn man irgendetwas unter allen Umständen für sich behalten möchte.«

Maren nickte. »Kann schon sein«, gab sie halbherzig zu. »Aber musst du deshalb gleich das Schlimmste annehmen?«

»Ich weiß noch nicht mal, was das Schlimmste ist, Maren. Aber ich habe vor, Antworten zu finden. Soweit ich zurückdenken kann, war meine Mutter nie in dem Dorf in der Provence, in dem der Parfümeur Antoine Lefort lebt und arbeitet. Vermutlich erfahre ich durch ihn, was sie dazu bewogen hat, diesen Aufwand mit dem Postfach zu betreiben. Irgendetwas muss sie ja mit diesem Mann verbinden …« In letzter Zeit fiel es Julia zunehmend schwer, Gefühle zuzulassen. Dass sie jetzt endlich darüber sprach, was sie so lange mit sich herumgetragen hatte, erleichterte Maren.

»Mir ist klar, dass seit dem Unfall deiner Mutter nichts mehr ist wie vorher.«

Julia nickte mehrmals. »Das macht mir Angst, Maren. Fürchterliche Angst.« Ihre Stimme war belegt. »Fragen zu stellen ist das Einzige, was mir geblieben ist. Wenn ich das nicht tue, werde ich verrückt.«

»Ich weiß, Julia, ich bekomme es jeden Tag mit. Frag, was du dich fragen musst, aber bitte hör auf, dich für den Tod deiner Mutter verantwortlich zu fühlen.«

Als Maren die Ratlosigkeit in Julias Gesicht sah, lenkte sie ein. »Verzeih! Es redet sich leicht, wenn man das nicht selbst erleben musste. Wenn es dir hilft, deine Energie auf diese Karte und deren mysteriöse Geschichte zu lenken, dann tu es.«

Julia nickte, erleichtert, dass Maren ihr nun gut zuredete. »Ich versuche vor allem zu verstehen, warum Ma in letzter Zeit so …«, sie brach ab, fand kein passendes Wort für ihr Empfinden und drückte es simpel aus, »… so anders war.«

Am Abend zuvor hatte Julia Frank in seinem Stammlokal überrascht. »Kneif mich mal einer, ich trau meinen Augen nicht.« Frank war aufgesprungen und mit einem strahlenden Lächeln auf sie zugekommen. Julia spürte seinen Kuss auf ihren Lippen, sah, wie Frank ihr galant den Stuhl zurechtrückte und seinen beiden Freunden ein Zeichen gab, woraufhin sich diese zurückzogen.

Nachdem der Kellner ihr einen alkoholfreien Cocktail serviert hatte, ließ Julia einen Moment verstreichen. »Ich bin hergekommen, um dir etwas zu erzählen, Frank.«

»Nur zu, du hast meine ungeteilte Aufmerksamkeit«, erwiderte Frank mit hoffnungsvollem Blick.

»Ich habe vor, in den nächsten Tagen nach Südfrankreich zu fahren.«

Franks Blick wurde immer verschlossener, je länger er Julia zuhörte. »Du willst dich in Südfrankreich mit einem Parfümeur treffen, um herauszufinden, was diesen Mann und deine Mutter verbunden hat«, fasste er das Wichtigste zusammen. »Falls es überhaupt eine Verbindung gab.« Er klang skeptisch.

Ein Gefühl des Unbehagens stieg in Julia auf. »Ja, Frank, das möchte ich. Und nicht nur das. Ich glaube, ich brauche ein paar Tage allein, um Antworten auf meine Fragen über meine Mutter zu finden. Roquefort-les-Pins ist ein entzückendes Dorf in der Nähe von Grasse. Vielleicht können wir nächstes Jahr gemeinsam hinfahren, dann kenne ich mich dort schon aus.« Julia hatte es zuversichtlich klingen lassen, allerdings vermieden, Frank in die Augen zu sehen.

»Roquefort-les-Pins«, wiederholte er mit stoischer Miene, »hab ich noch nie gehört.« Er presste die Lippen aufeinander, was er oft tat, wenn ihm etwas nicht gefiel. Dann ließ er seinen Überlegungen freien Lauf. »Warum hast du nicht früher mit mir darüber gesprochen? Ein paar Tage Urlaub zu zweit wären nicht das Schlechteste momentan.« Grübelnd nippte er an seinem Bier und hoffte, sie würde ihm die Enttäuschung anmerken und vielleicht ihre Pläne ändern.

»Die Reise ist nicht als Urlaub gedacht, Frank. Davon abgesehen kannst du nicht einfach so aus Frankfurt weg. Unverheiratet, keine Kinder, der Letzte in der Reihe derer, die frei bekommen.«

Frank war Versicherungsmathematiker, durch und durch verlässlich, ein Stratege. Dass Julias Argument bezüglich seines Anrechts auf Urlaub Hand und Fuß hatte, machte es nicht besser. Seit dem Unfall war auch er dünnhäutig geworden. 

»Trotzdem«, sagte er unnachgiebig. »Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dich alleine so weit fahren zu lassen. Abgesehen davon bin ich mir nicht sicher, ob es dir guttut, in Erinnerungen an deine Mutter zu schwelgen.«

»Es geht vor allem um die Karte, die ich in der Box mit Mas Lieblingsparfüm gefunden habe. Im Postfach, von dem niemand wusste … zumindest ich nicht.« Julia hatte die Karte Frank gegenüber nur einmal erwähnt.

»Ich erinnere mich daran«, entgegnete Frank. Er schien nicht zu verstehen, worauf sie anspielte.

»Die Sache lässt mir keine Ruhe.«

Frank hob fragend die Augenbrauen. Eine steile Falte entstand auf seiner Stirn. »Du sagtest, die Karte enthalte eine Liebesbotschaft und sei versehentlich in das Paket gelegt worden, oder etwa nicht?«

»Dessen bin ich mir eben nicht mehr sicher!«

»Und wenn schon. Deshalb fährt niemand tausend Kilometer oder mehr in irgendein südfranzösisches Kaff. Ruf den Parfümeur an oder skype mit ihm, wenn du ihm unbedingt in die Augen sehen möchtest. Die Karte hat nichts zu bedeuten … eine Liebesbotschaft von einem Fremden, das sähe deiner Mutter gar nicht ähnlich. Irrtümer solcher Art kommen vor.« Julia glaubte, Franks Gedanken lesen zu können. Weshalb bist du so rastlos und unsortiert? Das Gegenteil der Frau, in die ich mich verliebt habe.

»Dass meine Mutter etwas verheimlicht haben könnte, macht mich stutzig, Frank. Warum sonst hätte sie ein Postfach gemietet? Ein Anruf reicht bei weitem nicht aus, um Licht in dieses Dunkel zu bringen. Es geht hier auch um mich, darum, wie ich weiterleben kann.«

Tags zuvor hatte sie ihm noch einmal zu beschreiben versucht, wie sie sich seit dem Unfall ihrer Mutter fühlte. Wie jemand, der ohne Fallschirm aus einem Flugzeug gestoßen wurde und ins Bodenlose fällt.

»Das klingt furchtbar, aber es geht irgendwann vorüber, Julia. Du musst nach vorne schauen. Lass doch zu, dass ich dir dabei helfe.« Er hatte ihr gut zuzureden versucht, doch Julia wusste nicht, wie man das machte: nach vorne schauen. Was bekäme sie zu sehen? Dieselbe Schuld, dieselbe Tragödie. Das, was sie fühlte. Seit Wochen versuchte sie krampfhaft, ihre Gedanken beiseitezuschieben, doch es funktionierte nicht. Jeden Tag kamen sie wieder, um sie zu quälen.

Maren war gegen dreiundzwanzig Uhr zu ihnen gestoßen, hatte ein Glas Weißwein bestellt und sich in das Gespräch eingeklinkt. »Julia muss ihren Kopf freibekommen, Abstand gewinnen. Die Reise bietet ihr die Möglichkeit dazu.« Sie hatte nicht ganz überzeugt geklungen; umso heftiger hatte Julia ihr beigepflichtet, in der Hoffnung, das Thema damit abschließen zu können.

Maren und sie hatten gemeinsam Abitur gemacht, sich dann aber aus den Augen verloren. Bis sie sich in einem Club zufällig wieder über den Weg gelaufen waren. Seit kurzem arbeiteten sie sogar zusammen. Julia fertigte Zeichnungen für Maren an, die als Immobilienmaklerin tätig war; eine Arbeit, die überdurchschnittlich gut bezahlt wurde, sobald eine Immobilie verkauft wurde.

»Ein abgeschlossenes Grafikdesignstudium ist für mehr zu gebrauchen als nur dafür, gutes Geld zu verdienen«, gab Frank manchmal zu bedenken. Er wollte Julia motivieren, nach einigen beruflichen Umwegen an ihrem ursprünglichen Plan, als Illustratorin zu arbeiten, festzuhalten. Doch sie verschob diesen Plan immer wieder, weil ihr die Zusammenarbeit mit Maren Spaß machte und weil sie es als befriedigend empfand, mit ihr gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. Insgeheim war sie stolz auf das, was sie bisher geleistet hatten.

»Woran denkst du?« Marens fragender Blick holte Julia zurück ins Hier und Jetzt. Sie hatte sich in ihrer Rückschau verloren und Marens Anwesenheit fast vergessen.

»Ach … bloß an gestern. An Franks Enttäuschung darüber, nicht mitkommen zu können. Und daran, was wir beide beruflich schon gemeistert haben.«

»Frank wird's überleben.«

Etwas in Marens Tonfall ließ Julia aufhorchen. »Was ist los? Gibt's Neuigkeiten bezüglich der Franz-Rücker-Allee, irgendwas, das du mir noch nicht erzählt hast?«

»Leider ja«, vertraute Maren Julia an. Seit Tagen dachte sie nur noch an ihr aktuelles Immobilienprojekt. »Ist ziemlich vertrackt, das Ganze. Jedenfalls ist gestern durchgesickert, dass es zwei Mitbewerber gibt. Kurz Immobilien und Breitenberg & Liebig. Wenn die an einer Immobilie dran sind, beißen sie sich fest wie wild gewordene Hunde.«

»Beides schwere Kaliber auf dem Immobilienmarkt.« Julia ahnte, wie es in Maren aussah. Mitbewerber konnten einem das Leben schwermachen.

Doch Maren hatte sich offenbar bereits wieder gesammelt. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie nicht gewillt war, sich ins Abseits drängen zu lassen. Die Franz-Rücker-Allee war eine Gründerzeitvilla in bester Lage, allerdings mit strengen Auflagen des Denkmalschutzamtes. Julia wusste, dass es trotz aller Bedingungen ein Riesenerfolg wäre, wenn Maren den Vertragsabschluss schaffte.

»Womit wir jetzt punkten müssen, sind optimale Lösungen für den Innenbereich. Ich weiß, Julia, die gestalterischen Möglichkeiten sind aufgrund des schwierigen Grundrisses beschränkt … trotzdem dürfen potenzielle Kunden auf etwas Besonderes hoffen, das nur wir ihnen bieten.« Julia nickte Maren schließlich zu.

»Wir werden unser Konzept in alle Richtungen optimieren, unser Bestes geben … und noch ein bisschen mehr …«

Maren gab sich kämpferisch, aber Julia registrierte die Müdigkeit in den Augen der Freundin. Maren sah erschöpft aus. Doch sie gab bestimmt nicht auf.

»Die einzigartige Lage der Immobilie ist ein Pluspunkt für alle Makler, meiner Meinung nach entscheidet jedoch das Gesamtkonzept über den Verkauf. Worum es in weiterer Folge geht, ist eine Symbiose von Innen und Außen. Eine durchgehende Linie, nichts Abgehobenes oder Hypermodernes, ganz im Gegenteil, und alles von höchster Qualität. Maren, ich habe da schon ein paar Ideen. Wir kriegen das hin — du und ich!« Julia wollte ihrer Freundin Mut zusprechen, und tatsächlich atmete Maren auf. Was Berufliches anging, konnte sie sich hundertprozentig auf Julia verlassen. Seit sie Julias Zeichnungen zu jedem ihrer Immobilienprojekte beisteuerte, hatten ihre Angebote eine persönliche Note. Die Kunden schlugen die Pläne auf und fanden sich in einer Geschichte wieder, die Julia »erzählte«. Sie sahen, wie das Leben in der Immobilie aussehen könnte. Das war in der Branche keine Selbstverständlichkeit. Und für Julia war es praktisch, von überall aus arbeiten zu können. Alles was sie brauchte, waren Millimeterpapier, Stifte, Scanner und Laptop.

»Okay, ich lass dich jetzt fahren. Halt mich auf dem Laufenden, was deine Zeichnungen für die Franz-Rücker-Allee anbelangt, und natürlich auch über die Karte des Parfümeurs. Und ruf Frank regelmäßig an, sonst steht er ständig bei mir auf der Matte. Du weißt ja, Verliebte und Verrückte handeln manchmal irrational.«

»Wird gemacht«, beteuerte Julia. Sie lachten, und für einen kurzen Moment herrschte wieder diese vertraute Leichtigkeit zwischen ihnen.

Julia schloss ihre Freundin in die Arme und ließ sie eine Weile nicht los. »Danke, dass du für mich da bist, Maren«, murmelte sie. Seit je mochte sie Marens Warmherzigkeit, ihre Wangenküsse beim Begrüßen und Verabschieden; früher hatte sie sich daran erfreut, sie zu erwidern, doch nun drang keine Wärme mehr zu ihr durch. Es war, als stecke sie mitten im Sommer im Winter fest, ohne etwas dagegen tun zu können.

An der Ampel stellte Julia das Radio an. Sogleich drang die sonore Stimme des Sprechers an ihr Ohr. »Wegen eines Unfalls auf der A8 ist die Strecke zwischen Aichelberg und Merklingen auf der Höhe Drackensteiner Hang für mehrere Stunden gesperrt.« Konzentriert verfolgte Julia den Verkehrsfunk.

Die Ampel sprang auf Grün. Während sie beschleunigte, sah sie sich wieder den Gang des Würzburger Krankenhauses entlanglaufen, in das ihre Mutter nach dem Autounfall eingeliefert worden war. Damals hatte sie versucht, jeden belastenden Gedanken an schwere Verletzungen zu verscheuchen. Optimistisch bleiben!, hatte sie sich wie ein Mantra vorgesprochen. Immer wieder diese beiden Worte: Bleib optimistisch! Als der Arzt kam und sich mit müdem Blick an sie wandte, ahnte sie bereits die bittere Wahrheit. »Sie haben meine Mutter nicht retten können.« Der Satz war ihr entwichen, bevor sie ihn hatte zurückhalten können.

»Wir haben unser Möglichstes getan.« Unverstanden rauschten seine Worte an Julia vorbei, und in ihr zerbrach etwas in tausend Stücke.

Seit jenem Tag raubte ihr das Gefühl, eine Mitschuld am Tod ihrer Mutter zu haben, jede Kraft. Anfangs hatte sie sich wie eine Ertrinkende an die Trauer in den Gesichtern fremder Hinterbliebener geklammert, wenn sie das Grab besuchte. Andere hatten ebenfalls einen geliebten Menschen verloren. Diese Tatsache ließ Julias Schmerz für kurze Zeit verblassen, ließ sie eine von vielen sein, die Schweres durchmachten. Doch viel zu schnell kamen die Leere und die Kraftlosigkeit zurück, gegen die sie nichts ausrichten konnte. Sie erwachte jeden Morgen mit diesem Gefühl und legte sich jeden Abend damit schlafen.

Frank hatte ihr bald nach der Beerdigung Bücher zur Trauerbewältigung mitgebracht, um ihr zu helfen, das Geschehene zu verarbeiten. Doch die Wochen vergingen, ohne dass es Julia besser ging, und so hatte er sie eines Nachts, als sie wieder einmal nicht schlafen konnte, ernsthaft ins Gebet genommen.

»Tatsache ist, es war die Entscheidung deiner Mutter, dich aus dem Auto anzurufen, obwohl sie keine Freisprechanlage hatte. Dein Vater und du, ihr habt sie mehrmals ermahnt, während der Fahrt nicht zu telefonieren. Es klingt nicht schön, aber ihr Handeln war leichtsinnig, Julia. Du trägst keine Verantwortung dafür.« Julia hatte sich nach Mitgefühl gesehnt, nicht nach einer Erklärung. Das Fatale am Unfall war, dass zwei Dinge zusammenkamen — die Nachlässigkeit ihrer Mutter und ihre eigene.

»Wenn ich Mas Pullover pünktlich zurückgegeben hätte, hätte die fehlende Freisprechanlage keine Rolle gespielt, weil Ma mich nicht hätte anrufen müssen. Sie könnte vielleicht noch leben, Frank …«

»Vielleicht, eventuell, hätte sein können … diese Überlegungen helfen niemandem, Julia. Unglück und Enttäuschung lassen sich manchmal nicht vermeiden. Versuche weiterzuleben, das hätte auch deine Mutter gewollt.« Frank hatte recht, jeder musste dem Lauf des Lebens folgen, so oder so. Trotzdem halfen seine Worte Julia nicht weiter. Sie glaubte nicht, dass er sich das Ausmaß ihrer Schuld tatsächlich bewusst machen konnte, und zog sich immer mehr in ihr Schneckenhaus zurück.

Wochen nach der Beerdigung gab Julias Vater die Kleidung seiner Frau weg, weil ihn der Anblick beim Öffnen des Schranks bedrückte. Wenig später fand Julia in der hintersten Ecke eines Fachs im Schrank ihrer Mutter den Schlüssel zu einem Postfach. Ihr Vater hatte ihn beim Ausräumen offenbar übersehen. Im Postfach befand sich eine Schachtel mit dem Lieblingsparfüm ihrer Mutter, ›La Vie‹, und obenauf eine Karte. Die Nachricht bestand aus wenigen Worten.

Mon cœur!

Je t'aimerai jusqu'à la fin de ma vie!

A.

»Mein Herz! Ich werde dich lieben, solange ich lebe! A.« Julias erster Gedanke war, dass es sich um ein Versehen handeln müsse. Doch bald kamen ihr Zweifel. Was, wenn die Karte nicht irrtümlich in der Schachtel gelandet war? Hatte der Parfümeur über die Jahre eine Vorliebe für ihre Mutter entwickelt? Vielleicht hatte er sich in ihre Stimme verliebt, als sie ihn angerufen hatte, um das Parfüm zu bestellen? Parfümeure waren vermutlich Menschen mit großer Vorstellungskraft, schon von Berufs wegen. Julia fand jedoch keine plausible Erklärung für das geheime Postfach: Was wollte ihre Mutter verbergen?

Tags darauf kam ihr die Idee zu einer spontanen Reise nach Südfrankreich. Vielleicht würde es ihr helfen, dem Leben ihrer Mutter — posthum — nachzuspüren.

Lautes Hupen riss Julia aus ihren Überlegungen. Sogar auf der linken Spur der A5 herrschte dichter Verkehr. Eine Kolonne Autos schlich hinter einem Wohnmobil her, dessen Fahrer versuchte, einen Skoda zu überholen. Während Julia hinter der Autoschlange herfuhr, suchte sie einen Sender mit Musik, die ihr gefiel. Eine Weile ging es zügig voran, doch nach den Nachrichten gab der Moderator einen fünfzehn Kilometer langen Stau aufgrund von Bauarbeiten durch. Der Verkehr stockte erneut, und Julia hielt an einer Raststätte, um einen Kaffee zu trinken und sich die Beine zu vertreten. Obwohl keine Ferienzeit war, wimmelte es von Autos und Menschen. Während Julia ihren Kaffee trank, nahm sie sich vor, so lange zu fahren, wie sie sich dazu in der Lage fühlte. Sie fuhr bis zum frühen Abend durch und checkte dann in einem Hotel ein, das neben einer Tankstelle an der Autobahn lag. Das konzentrierte Fahren hatte sie ermüdet, trotzdem rief sie Frank an und sprach lange mit ihm.

Vor dem Einschlafen holte sie erneut die Karte des Parfümeurs aus ihrer Handtasche. Antoine Leforts Schrift war rechtslastig, die Buchstaben waren schwungvoll ausgeführt. Einmal mehr versuchte Julia, sich den Mann hinter den Buchstaben vorzustellen. Auf seiner Homepage gab es kein Foto von ihm. Er war der große Unbekannte — nicht nur, was sein Aussehen anbelangte.

3. Kapitel

Einige Wochen zuvor

Antoine Lefort öffnete die Flügeltür in der Küche und blickte in die hügelige Landschaft. Weit und breit sah man nur gelbe Blüten. »Als hätte jemand eimerweise gelbe Farbe über Südfrankreich ausgeleert«, murmelte er versonnen vor sich hin.

Der intensiv süße Duft der Mimosen, deren Blüten sich mit den ersten Sonnenstrahlen geöffnet hatten, ließ Antoine augenblicklich vergessen, dass er heute nur schwer auf die Beine gekommen war. Am Abend zuvor hatte er mit seinem Sohn Nicolas eine Flasche 2010er Saint Romain geleert, um auf dessen unerwarteten Besuch anzustoßen. Meist reichten zwei Gläser Rotwein aus, dass Antoine schlecht schlief. Doch für einen entspannten Abend mit Nicolas nahm er eine halb durchwachte Nacht in Kauf.

Antoine ging zum Spülbecken und füllte den Wasserkessel, um Kaffee zu kochen. Er schob ein Blech mit zwei Baguettes in den Ofen und spürte, wie das Gefühl des Unwohlseins allmählich verschwand.

Auf dem Kiesweg neben der Terrasse hüpfte ein Spatz fröhlich auf und ab. Der Vogel und die Mimosenblüte ließen Antoine an seine Kindheit zurückdenken.

Es war sein sechster Geburtstag. Draußen lag der Tau noch schwer auf den Blättern. Die Wiese war nass. Antoine spürte die Kälte zwischen den Zehen, als er in der Dämmerung barfuß zum Teich rannte und plötzlich unter der Linde einen verletzten Vogel erspähte. So schnell er konnte, sprintete er zurück zum Haus, hinein in die Küche, wo Maman, auch sie früher als sonst auf den Beinen, seine Geburtstagstorte mit einer Sechs aus Marzipan verzierte. »Maman … komm schnell!«, verlangte er eindringlich. Hand in Hand rannten sie durch den Garten. »Hast du vergessen, dass heute jemand Geburtstag feiert? Die Torte … ich muss sie fertig machen. Wo willst du denn mit mir hin?«

Mamans Lachen flog durch den Garten, bis hinunter zum Teich. Dort sah sie den verletzten Vogel. Mit betrübtem Blick bückte sie sich zu dem Tier hinunter. »Er wird nach dir picken, wenn du ihm zu nah kommst. Ein verletztes Tier ist unberechenbar.« Antoine glaubte einen Vorwurf in Mamans Stimme zu hören. Wusste sie etwa, dass er sich die Gelegenheit, den Vogel anzufassen, nicht entgehen lassen wollte? Seit er letzten Herbst im Zirkus gewesen war, hatten ihn die Bilder von dressierten Tieren und deren Zutraulichkeit nicht mehr losgelassen. Die erwartungsvolle Vorfreude, die ihn erfüllte, seit er den Vogel im Garten entdeckt und sich wie ein Zirkusdirektor gefühlt hatte, wich einem Gefühl des Ertapptseins und der Beschämung. Er lief bis zu den Ohren rot an und ließ von seinem Plan ab, dem Tier aufgrund seiner Verletzung näher kommen zu können. Stattdessen stellte er je eine Schale mit Wasser und Sonnenblumenkernen vor den Vogel und ließ sich von Maman für seine Hilfsbereitschaft loben.

Während sie zurück in die Küche eilte, um die Torte zur schönsten, die sie je gemacht hatte, werden zu lassen, hockte er sich ins Gras, um den Vogel still zu beobachten. Die Kälte des Morgentaus kroch ihm die Beine hoch, doch er spürte sie kaum. Er dachte an seine Freunde, an ihr Prahlen über ihre Haustiere, daran, dass ihm ein Tier bisher verwehrt geblieben war. Doch so niedlich Hunde, Katzen und Streifenhörnchen auch waren, niemand besaß einen wilden Vogel. Wenn er es geschickt anstellte, würde er Maman später vielleicht davon überzeugen können, den Vogel mit in sein Zimmer nehmen zu dürfen, um ihn gesund zu pflegen. Alles, was er brauchte, waren ein Käfig und etwas Geduld, damit der Vogel gesund würde. Und einen Namen. »Oscar, so heißt du ab jetzt. Hörst du!?«, sprach er zu dem Vogel, als könne der ihn verstehen. Mamans striktes Verbot und der spitze Schnabel des Vogels, der es angeblich auf ihn abgesehen hatte, waren vergessen. Antoine streckte seine Hand vorsichtig nach dem verletzten Tier aus und schaffte es, sie sachte auf dessen kleinen Körper zu legen. Er spürte das seidenweiche Gefieder, das unter seinen Fingern leicht nachgab. »Oscar!«, raunte er leise. Fühlte er tatsächlich das Pochen des kleinen Herzens unter seiner Hand? Auch sein Herz schlug viel zu schnell. Der Vogel tat ihm nichts, sondern sah ihn nur an. Spürte er, dass er es gut mit ihm meinte? Ja, das musste es sein. Der Vogel und er, sie waren jetzt Freunde und gehörten zusammen. Vergessen waren der Käfig und die Nachbarskinder mit ihren Haustieren. Antoine wünschte sich mit einem Mal nichts sehnlicher, als Oscar wie durch Zauberei heilen zu können, um ihm die Weite des Himmels, die Freiheit zurückzugeben. Wäre das nicht so, als hätte er ihm ein zweites Leben geschenkt, als hätte der Vogel, wie er, heute Geburtstag?

Am nächsten Morgen war Oscar tot.

Antoine fühlte bittere Tränen in sich aufsteigen, als er den kleinen steifen Körper im Garten liegen sah. Wehrlos und allein. Überwältigt von Reue und Zorn, weil er dem Drang, Oscar anzufassen, nachgegeben hatte und jetzt annahm, dieser Umstand sei für dessen Tod verantwortlich, begann er, sich auf die Hände zu schlagen, so lange, bis sie rot waren und wie Feuer brannten.

Am Tag darauf öffneten sich wie durch ein Wunder die Mimosen. In den Gärten, auf den Feldwegen und den Hügeln sah Antoine gelbe Blüten. Der Geruch setzte sich in ihm fest und weckte Empfindungen, von deren Existenz er bisher nichts gewusst hatte. Er schnupperte an jeder Blüte, an der er vorbeikam, drückte seine Nase tief ins Gelb, schloss betört die Augen, vergaß Oscar und fühlte, wie die schwere Süße seinen Körper erfüllte. Riechen war spannender als Verstecken spielen. Es ließ ihn alles andere vergessen.

Mit dem Blütenmeer kamen die Feste. In den Straßen roch es nach gebratenem Fleisch und Fisch, eingelegtem Käse und Süßigkeiten. Ob jung oder alt, jeder hieß die Mimosenblüte willkommen, wie ein lange vermisstes Familienmitglied. Antoine kostete von Eiern in Mayonnaise und leckte sich die klebrigen Finger nach dem Verzehr von Pistazien-Macarons ab. Immer wieder roch er an den Mimosen. Riechen war für ihn wie Verliebtsein in das schönste Mädchen weit und breit.

Die Uhr piepste und holte Antoine zurück in die Gegenwart. Der Vogel draußen flog davon, und mit ihm verging die Erinnerung an jenes Jahr, in dem der Duft der Mimosen ihm das Wunder des Riechens geschenkt hatte. Hastig zog Antoine das Blech mit den heißen Baguettes aus dem Ofen und stellte den Wasserkessel, den er auf der Arbeitsfläche vergessen hatte, auf die Herdplatte. Zum Schluss riss er einen Zettel vom Block, der an der Wand hing.

Bonjour, Nicolas!, begann er in seiner markanten Schrift.

Im Kühlschrank findest Du Brie de Meaux und Obst vom Markt. Frisches Baguette und Croissants sind auch da. Lass es Dir schmecken … und komm gut mit dem Malen voran. Apropos Arbeit, was meinen Duft anbelangt, tüftle ich jeden Tag weiter daran herum. Das kann ich sagen, mehr allerdings nicht.

À bientôt, Papa!

Antoine legte die Nachricht unter die Teekanne und riss ein Stück Baguette ab. Jetzt noch eine Tasse Kaffee, dann wäre der Start in den Tag perfekt. Er nahm Butter und Erdbeermarmelade, die seine Haushälterin Camille eingekocht hatte, aus dem Kühlschrank. Doch als er alles auf den Tisch stellte, holte ihn das ungute Gefühl vom Abend zuvor ein, das wie eine dunkle Wolke über ihm geschwebt war und sich erst später, kurz vorm Zubettgehen, aufgelöst hatte.

Nicolas hatte gekocht, wie an jedem ersten Abend seiner Besuche.

Antoine liebte seine Gerichte, doch leider bot sich ihm nur selten die Gelegenheit, sie zu probieren. Bereits in der Küche kostete er aus dem Topf.

»Und? Für gut befunden?«, fragte Nicolas.

Antoine verdrehte die Augen und nickte: »Du verstehst es, selbst aus den einfachsten Zutaten ein köstliches Gericht zu zaubern. Vielleicht hättest du Koch werden sollen?« Er lachte und Nicolas stimmte ein.

»Die Lust daran habe ich von Maman, wie du weißt«, er beugte sich zu seinem Vater vor, »wenn ich nachts manchmal wach liege und an sie denke, weißt du, worum sie mich dann bittet?« Antoine schüttelte den Kopf. »Dir etwas Gutes zu kochen, damit du dich an sie erinnerst und sie nicht zu einem Bild auf deinem Nachttisch werden lässt.« Antoine wedelte sich mit der Hand Luft zu, es war heiß in der Küche. »Aber wenn du mich fragst, ist die Gefahr gering.« Nicolas zwinkerte seinem Vater zu.

Bei jedem gemeinsamen Essen schlossen sie Marguerite auf irgendeine Weise mit ein. Manchmal, indem Nicolas eins ihrer Leibgerichte zubereitete, etwa eine Zwiebel-Käse-Quiche, ein anderes Mal, indem er einen besonderen Moment in Marguerites und Antoines Leben durch eine Geschichte lebendig werden ließ oder sich etwas ausdachte, so wie jetzt. Es war ein liebgewonnenes Ritual. Erst danach begannen sie, über alles Mögliche zu plaudern.

Nicolas griff nach der Salatschüssel, mischte das Dressing unter und verteilte den Salat auf zwei Teller. Sie nahmen am Tisch Platz und begannen zu essen.

»Apropos Partnerschaft, Nico. Wie steht es eigentlich zwischen Véronique und dir?«

Nicolas hielt inne. Sein Gesicht verdunkelte sich. »Das Kapitel ist abgeschlossen«, er klang bedrückt.

»Du hast kaum je über euch gesprochen«, hakte Antoine nach. »Ich will dir keineswegs zu nahe treten. Wenn du es also für dich behalten willst …«

Nicolas hob beschwichtigend die Hände. »Nein, nein, schon gut.« Er kreuzte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. »Es gibt keinen Grund zur Verschwiegenheit. Leider ist das Ende dieser Geschichte kein gutes.« Er sammelte sich und fing an zu erzählen. »Véronique und ich hatten anfangs eine wundervolle Zeit miteinander. Uns verband die Liebe zur Kunst und zum Theater, wir kochten sogar füreinander.« Er lächelte bei der Erinnerung, ein linkisches Lächeln, das ihn wie einen kleinen Jungen aussehen ließ. »Véronique ist eine lausige Köchin, allerdings mit dem Vorteil, dass sie über ihre Missgeschicke scherzt. Sie ist ein Mensch, der die Dinge leichtnimmt.« Nicolas klang versonnen, als er die Vergangenheit heraufbeschwor. »Es lief, wie gesagt, gut zwischen uns … bis ich erfuhr, dass diese Leichtigkeit auch eine Schattenseite hat. Sie traf sich weiterhin mit ihrem Ex-Freund Jean-Louis. Regelmäßig!«

Antoine, der mit Appetit gegessen hatte, begann zu husten. »Entschuldige.« Er trank mehrere Schlucke Wasser, räusperte sich und wischte sich mit der Serviette über den Mund. »Scheint eine komplizierte Situation zu sein.« Er wusste, wie Nicolas sich gefühlt haben musste. Wusste es genau.

»Das kannst du laut sagen.« Nicolas fuhr mit dem Finger den Rand seines Wasserglases entlang. »Als ich sie darauf ansprach, brach sie in Tränen aus. Sie habe es kommen sehen, dass sie sich nicht zwischen uns entscheiden könne, und um mich nicht zu belasten, habe sie mir erzählt, die Beziehung zu Jean-Louis sei beendet.«

Antoine hatte schon mit so etwas gerechnet. »Es ist nicht immer einfach, ehrlich zu sein. Wir alle machen Fehler.«

Nicolas sah an Antoine vorbei in die Dämmerung, bemerkte nicht dessen hastige Bewegung, als er sich die Serviette auf dem Schoß zurechtzog. »Glaub mir, Papa. Wir haben unzählige Gespräche geführt und versucht, vernünftig mit der Situation umzugehen.« Ernüchtert sah er seinen Vater an. »Und weißt du was …? Vielleicht hätte ich es weiterlaufen lassen, wenn ich nicht an Maman und dich hätte denken müssen. Ehrlichkeit und Vertrauen, die Basis eurer Ehe. Damit habt ihr die Latte ziemlich hoch gelegt.« Er schwieg einen Moment. »Vermutlich will ich es so hinkriegen wie du und Maman.« Nicolas wirkte mit einem Mal entschlossen. »Nein! Mit Véronique und mir ist es endgültig vorbei. Ich möchte mit keiner Frau zusammen sein, die mir nicht die Wahrheit sagt.«

Obwohl der Lammeintopf vorzüglich schmeckte, war Antoine schlagartig der Appetit vergangen. »Und wie läuft es beruflich?«, schnitt er ein anderes Thema an.

»Fast täglich flattern Einladungen für Kunstmessen herein und über neue Aufträge kann ich nicht klagen. Zeig mir den Maler, den das nicht freut.« Antoine liebte es, Neuigkeiten aus Paris zu erfahren. Vor allem solche, die mit Nicolas' Beruf zu tun hatten. Doch noch nie kam es ihm so gelegen, das Gespräch auf Nicolas' Arbeit zu lenken, wie jetzt, wo sein Geheimnis ihn ernsthaft in Gefahr brachte, sein Schweigen zu brechen.

»Dein Galerist hofft vermutlich darauf, dass du Aufträge demnächst über Nacht erledigst. Allein um den Hype um deine Person auszunutzen.« Nicolas trank einen Schluck Rotwein.

»Allerdings!« Er griff nach der Karaffe, um Wasser nachzugießen. »Manchmal wünschte ich mir, ich wäre ein Heinzelmännchen, wie in dem Märchen, das Maman mir früher vorgelesen hat. Leider bin ich nur ein gewöhnlicher Mensch mit zwei Händen und einem Kopf.«

»Höchste Zeit, dir eine Pause zu gönnen, Nico. Bleib, solange du magst.«

»Danke, Papa. Ich bleibe gern. Die letzten Tage hatte ich nur noch den Wunsch, die Stadt gegen das Landleben einzutauschen. Durchatmen … bevor ich mich wieder der Hektik des Kunstmarkts ergebe!« Er zögerte kurz. »Ich habe fünf großformatige Bilder bis Ende des Jahres zugesagt. Trotzdem werde ich mir morgen freinehmen, um mich ganz auf das Landleben einzustimmen.«

»Wenn ich du wäre, würde ich den Rummel um mich auch nicht mögen«, bekräftigte Antoine. »Wir sind beide Menschen, denen es um die Sache geht, nicht um den Ruhm oder darum, was die Öffentlichkeit von uns denkt.«

Nicolas trank sein Wasserglas leer und warf nachdenklich ein: »Leider gehört der Wirbel um meine Person nun mal dazu.«

»Kürzlich habe ich einen Artikel über dich gelesen, in dem es um das Rangeln um deine Bilder ging. Das Ganze hat inzwischen wohl seltsame Ausmaße angenommen.«

»Ich weiß! Ich komme mir manchmal wie ein Topmodel vor. Fotos hier, Interviews da, Instagram, Twitter, Snapchat, keine Ahnung, was als Nächstes kommt … ‌.«

Antoine griff nach Nicolas' Hand und drückte sie fest, um ihn seine Freude über dessen Entschluss, nach Hause zu kommen, spüren zu lassen.

Nach dem Hauptgang holte Nicolas eine Schüssel Obstsalat mit Sonnenblumenkernen und Baiser aus der Küche. Sie plauderten weiter über die Neuigkeiten im Dorf und das Leben in Paris, währenddessen leerten sie die Flasche Rotwein. Erst nach Mitternacht räumte Nicolas das Geschirr in den Geschirrspüler, wischte die Arbeitsflächen sauber und ging in sein Zimmer, um sich seit langem endlich wieder einmal auszuschlafen.

Kurz vor halb sechs hörte Antoine leise die Tür im Erdgeschoss ins Schloss fallen. Draußen zog die Helligkeit des Tages auf. Er hatte bereits damit gerechnet, dass Nicolas seine guten Vorsätze über Nacht in den Wind schießen und sich schon im Morgengrauen auf den Weg zur Scheune machen würde. Vor zwei Jahren hatte er dort große Fenster einbauen lassen, nun kam reichlich Tageslicht in den vier Meter hohen Raum. Seitdem zog Nicolas sich, wenn er hier war, regelmäßig dorthin zurück, um zu arbeiten. Vorräte an Leinwänden und Farben gab es genügend.

Lange war Antoine selbstverständlich davon ausgegangen, dass Nicolas in seine Fußstapfen treten würde. Doch nach seiner Ausbildung zum Parfümeur hatte Nicolas eines Tages aus heiterem Himmel angekündigt, nach Paris ziehen zu wollen, um sich als Maler zu versuchen.

»Ich habe es immerhin probiert. Ist ja nicht so, als würde es mir keinen Spaß machen, mit Parfüms zu arbeiten«, hatte er gesagt.

Antoine war außer sich gewesen. »Du hast ein außergewöhnliches Talent, Nico, das kannst du nicht einfach so aufgeben.« Von einigen Kollegen abgesehen, die sich ebenfalls nicht von großen Konzernen hatten einwickeln lassen, war Nicolas der Einzige, mit dem er auf Augenhöhe über Düfte sprechen konnte.

»Tut mir leid, dass ich dich enttäusche, aber ich muss das tun, was meiner Meinung nach das Richtige für mich ist«, hatte Nicolas nur erwidert.

Antoine hatte jahrelang mit Nicolas' Entschluss gehadert. Daran konnten auch die Versuche seiner Frau, ihn zu besänftigen, nichts ändern. Marguerite hatte mehr Verständnis für den Berufswunsch ihres Sohnes, sie konnte selbst recht gut zeichnen. Doch seit ihrem Tod hatte Antoine nur noch Nicolas.

Eines Morgens, einige Monate nach Marguerites Tod, ertappte er sich beim Schreiben. Nachdem er alles Wichtige notiert hatte, legte er den Zettel unter die Teekanne in der Küche. Tagsüber malte er sich aus, was Nicolas zu seinen Gedanken sagen würde. In seinem Kopf entspann sich ein Dialog, der ihn beflügelte.

Als Nicolas das nächste Mal in Roquefort-les-Pins war, wies Antoine ihn auf die Nachrichten unter der Teekanne hin. Nicolas las jeden Zettel aufmerksam, neugierig darauf, was seinem Vater durch den Kopf ging. Meist berichtete Antoine in seinen Nachrichten von den kleinen und großen Zufälligkeiten, die ihn zu neuen Duftkreationen inspirierten. Oft schrieb er von der Liebe zu dem, was er tat, und da auch Nicolas seinen Beruf liebte, teilten sie ähnliche Gedanken.

Mit der Zeit wurde das Schreiben für Antoine zu einer liebgewordenen Gewohnheit. Und jedes Mal schenkte ihm der Anblick seiner Nachricht unter der Teekanne einige Sekunden des Glücks. Dabei wusste er, dass er einer Illusion erlag. Das Gefühl von Nicolas' Anwesenheit war bloße Einbildung, und doch machte sie die Einsamkeit, unter der er litt, weniger bedrückend.

4. Kapitel

Am nächsten Tag funkelte das ultramarinblaue Meer verführerisch in der Sonne, eine weite glitzernde Fläche.

Bereits am Morgen, als Julia das Hotel verließ, war ihr der Tag ungewöhnlich klar vorgekommen, und je später es wurde, umso mehr stachen die Farben hervor: Smaragdgrün, tiefes Rot, strahlendes Weiß und leuchtendes Gelb.

Der Verkehr hielt sich in Grenzen, es ging zügig voran. Julia genoss die Fahrt. Während sie aus dem Fenster sah, glaubte sie die kitzelnden Sonnenstrahlen auf der Haut zu spüren. Sie fuhr von der Autobahn ab und folgte der Landstraße Richtung Mougins. Die Villen und Landhäuser links und rechts des Weges und in den Hügeln sahen wie verstreute Schmuckstücke aus. Eindrucksvolle Häuser mit Swimmingpools, Landhäuser in Pastellfarben, dazwischen Steinhäuser mit alten Holztüren und Blumentrögen neben dem Eingang. Julia summte ein Lied von Gilbert Bécaud, als sie den Ortseingang von Mougins passierte und weiter der Hauptstraße folgte, bis zu dem Schild: Vieux Village. Von dort ging es nur noch hügelaufwärts.

Am höchsten Punkt der Region befand sich das Hotel. Ein terrakottafarbenes Gebäude mit hellgrünen Fensterläden.

Vor dem Eingang hielt Julia an, nahm ihre Tasche aus dem Kofferraum und schlenderte auf die Rezeption zu. Hinter einer blühenden Hecke sah sie einen Pool mit Liegen rundherum und aufgespannte Sonnenschirme. Vergnügte Stimmen und das Geräusch von spritzendem Wasser drangen zu ihr hinüber.

»Bonjour, Mademoiselle!?« Eine Frau mit tizianrotem Haar kam auf Julia zu. Sie trug einen schwarzen Rock, eine weiße Bluse und eine grüne Weste mit Goldknöpfen. Flugs griff sie nach Julias Tasche. Julia stellte sich in ihrem besten Schulfranzösisch vor. »Ich hoffe, Sie hatten eine gute Anreise, Mademoiselle Bent?« Das Französisch der Frau klang melodiös. »Ich bin Emma. Sie können sich jederzeit an mich wenden, wenn Sie einen Wunsch haben. Jetzt bringe ich Sie erst mal auf Ihr Zimmer.« Emma deutete mit der freien Hand zum Haus und ging zielstrebig voran, hinein in den Bungalow und weiter bis zu einem verglasten Gang, der durch Wacholderbüsche verdeckt war. Er verband den später erbauten Bungalow und das ältere Haupthaus, vermutlich ein ehemaliges Gut, miteinander. Im Haupttrakt erinnerte Julia alles an vergangene Zeiten, Marmorböden in glänzendem Braun, gelb getünchte Wände, dunkle Eichenmöbel und üppige Blumenbuketts. Eine Fensterfront gab den Blick in die hügelige Landschaft und auf einen Teich frei. Am Ende des Ganges öffnete Emma eine Flügeltür. Im Zimmer stellte sie Julias Tasche ab und stieß schwungvoll die Läden auf. Sonnenstrahlen tauchten den Raum in Licht. Alles wirkte einladend und ausgesprochen französisch: die zart geblümte Tapete, das altmodisch anmutende Polsterbett und der Ohrensessel mit den Kissen. Der Balkon mit dem schmiedeeisernen Geländer lenkte Julias Blick nach draußen. Von dort konnte sie auf den Park blicken, bis zu den Häusern von Grasse, die im leichten Dunst lagen. »Oh …«, entfuhr es ihr, als sie hinaustrat. Der Blick war atemberaubend und reichte bis weit über die Hügel, fast bis zum Meer, das sich von hier zwar nur erahnen, dafür aber umso intensiver vorstellen ließ.

»Darf ich für heute Abend einen Tisch in unserem Restaurant für Sie reservieren, Mademoiselle Bent? Bis auf zwei Tische sind wir bereits ausgebucht.« Emma sprach wie eine Freundin, die ihr einen guten Tipp gab. »Sie werden es nicht bereuen«, fügte sie hinzu, »Robert, unser Koch, ist ein Genie.« Julia nickte zustimmend. Warum eigentlich nicht? Am ersten Abend konnte sie sich etwas Besonderes gönnen. Die nächsten Tage wäre noch immer Zeit, den Rotstift anzusetzen.

»Jetzt bin ich neugierig geworden. Ja, bitte reservieren Sie für mich«, bat sie Emma.

Als sie allein war, räumte sie ihr Gepäck aus, danach machte sie sich frisch, schlüpfte in ein Sommerkleid und setzte sich in den Lehnsessel, um zu telefonieren.

Jakob Bent hob gleich nach dem zweiten Läuten ab. Julia hörte, wie er durch die Wohnung ging und den Wasserhahn aufdrehte. »Bist du in der Küche?«, fragte sie.

Ihr Vater bejahte. »Ich bin erst vor wenigen Minuten zur Tür hereingekommen, Lehrerkonferenz, jetzt will ich mir was zu essen machen und dann …« Als seine Frau noch lebte, hatte Jakob nach dem Essen gern den Tag mit ihr Revue passieren lassen, in besonderen Momenten mit einem Campari. »Peter kommt gleich vorbei. Er will mir die Fotos vom Irlandurlaub zeigen.«

»Was kochst du dir denn? Lass mich raten.« Julia musste nicht lange überlegen. »Steak mit Bratkartoffeln?« Seit ihr Vater alleine war, versuchte er hartnäckig auf dem schwankenden Boden seines neuen Lebens die Balance zu halten. Dazu gehörte, für sich zu kochen und sein Umfeld nicht mit seiner Trauer zu belasten. Sein Leitsatz lautete neuerdings: Ich komm klar!

»Steak geht immer, Julia, und Kräuterbutter ist, soweit ich weiß, noch im Tiefkühlfach.« Julia hatte ihm einige einfache Gerichte beigebracht, an denen er sich jetzt versuchte.

»Dann brauchst du nur noch darauf zu achten, dass das Fleisch well-done ist, so, wie du es magst.«

»Wie gut, dass ich Talent im Braten habe und nicht so leicht aufgebe.« Jakob schob ein leises Lachen hinterher, als wolle er Julia damit zeigen, dass bei ihm, trotz des Verlusts seiner Frau, das Leben weiterging. »Durchhalten kann ich nicht nur meinen Schülern gegenüber propagieren, ich muss es auch selbst leben.« Jakob sprach in letzter Zeit oft davon, dass das Leben nicht danach frage, was man wolle. Dinge passierten, und man musste sie annehmen. Er war Rektor an einer der traditionsreichsten Schulen Frankfurts, dem Lesssing-Gymnasium, das seit dem 18. Jahrhundert existierte. Seine Familie, die Arbeit und eine Schachpartie am Samstagabend, mehr hatte er nicht zu seinem Glück gebraucht.

»Und, wie gefällt es dir in Mougins?«, wollte er von Julia wissen, während er mit der Pfanne herumklapperte.

»Es ist herrlich hier, angenehm warm und ausgesprochen farbenfroh.« Julia hatte ihren Vater in dem Glauben gelassen, sie fahre zur Erholung in den Süden. Von der Karte in der Parfümschachtel wusste er nichts.

Vor einiger Zeit, als sie ihren Vater mit einem spontanen Besuch überrascht hatte, war sie Zeugin einer rührenden Szene geworden. Ihr Vater stand im Bad und roch am Parfüm ihrer Mutter. Tränen liefen ihm über die Wangen. Wie angewurzelt war sie in der Tür stehen geblieben, unfähig, diesen Moment stiller Trauer zu unterbrechen.

Tags darauf hatte auch sie am Parfüm gerochen und einen tröstlichen Moment lang die Anwesenheit ihrer Mutter gespürt. Doch bevor sie den Flakon zurückstellen konnte, war er ihr aus der Hand gefallen und zerbrochen. In der Parfümerie, wo sie Ersatz kaufen wollte, hatte man ihr gesagt, das Parfüm sei ein Nischenduft, der in Deutschland nicht erhältlich sei. Da ihrer Mutter das Parfüm nie ausgegangen war, hatte sie in der ganzen Wohnung nach Vorrat gesucht, bis ihr im Wäscheschrank der Schlüssel für das Postfach in die Hände fiel. Nachdem sie die Karte des Parfümeurs gefunden hatte, hatte sie die Website von Antoine Lefort besucht und zu ihm Kontakt aufgenommen. All das hatte sie ihrem Vater verschwiegen, um ihn nicht zu beunruhigen.

Julia wechselte noch einige Sätze mit ihrem Vater, hörte, wie Öl in der Pfanne zischte, und verabschiedete sich dann von ihm, um Frank anzurufen.

»Sorry, Julia, aber gleich steht ein superwichtiges Meeting an. Am besten, ich rufe dich zurück, wenn ich zu Hause bin. Dann haben wir Zeit zum Reden«, schlug Frank vor. Es war kurz still, dann sagte er: »Ich vermisse dich. Bleib nicht zu lange fort.«

»Ich vermisse dich auch, Frank.«

Nach dem kurzen Gespräch mit Frank versuchte Julia sich daran zu erinnern, wann sie sich das letzte Mal in seinen Armen geborgen gefühlt oder ihn von sich aus geküsst hatte? Sie riss sich aus den trüben Gedanken und trat auf den Balkon. Um sie herum zwitscherten Vögel und in der Ferne riefen Kinder einander etwas zu.

Nachdem sie Maren eine Mail geschrieben hatte, fuhr Julia noch einmal in den Ort, um den Wagen vollzutanken. Am Aussichtspunkt von Mougins, auf halbem Weg zurück zum Hotel, stieg sie aus und betrachtete die sanft geschwungene Hügelkette mit dem babyblauen Himmel darüber. Etwas drängte sie, gleich heute nach Roquefort-les-Pins zu fahren, und so setzte sie sich wieder hinters Steuer und fuhr zum zweiten Mal an diesem Tag den Hügel hinunter. Die Parfümerie Lefort war geschlossen, das stand auf der Homepage, doch da das Labor des Parfümeurs sich im selben Gebäude befand, hoffte Julia, ihn auch ohne Termin anzutreffen.

5. Kapitel

Einige Wochen zuvor

Das Labor, in dem sich ein Sammelsurium an Flaschen, Mörsern, Phiolen und Flakons befand, war der meistfrequentierte Raum in Antoines Haus — das Herzstück. Wenn er morgens nach dem Frühstück das Zimmer durchschritt, öffnete er aus Sentimentalität auch die Flügeltür zum Wintergarten. Dort hatte Marguerite nach der Hochzeit mit viel Liebe ihre kleine Parfümerie eingerichtet. Noch heute standen hier kostbare Flakons, und noch immer waren die Auslagen dekoriert, als wäre der Verkauf nie eingestellt worden.

Wenn Antoine seinen Kopf zur Tür hineinsteckte und auf der Schwelle stehen blieb, sah er die Jahre an sich vorbeiziehen. Kunden aus dem ganzen Land und sogar einige internationale Connaisseure hatten sich hier ihre Wünsche nach erlesenen Düften erfüllt. Die meisten hatten instinktiv erkannt, wofür seine Düfte standen: für Liebe, Leidenschaft, Freundschaft und Gemeinsamkeit, manchmal auch für etwas, das niemand wissen sollte, ein kleines Geheimnis. Einmal hatte ein Kunde gesagt, seine Düfte seien wie ein zarter Händedruck oder ein verzauberndes Lächeln.

Nachdem Marguerite vor vier Jahren an einer Lungenembolie gestorben war, hatte er die Parfümerie geschlossen. Die Glocke über der Eingangstür erklang nur noch, wenn jemand das Schild »Geschlossen« übersah und glaubte, hier noch immer etwas kaufen zu können.

Wie jeden Morgen schlüpfte Antoine auch heute in seinen Arbeitsmantel, legte den Hörer neben das Telefon, um nicht gestört zu werden, und setzte sich an seinen Arbeitstisch.

Bedächtig öffnete er die erste Phiole, zog mit einer Pipette etwas von der bernsteinfarbigen Flüssigkeit auf und gab einige dunkle Tropfen auf das blütenweiße Papier des Teststreifens. Die Mouillette in seiner Hand färbte sich ein.

Seit je empfand Antoine es als Privileg, morgens den Duft auf sich wirken zu lassen, an dem er gerade arbeitete. Das stets gleiche Prozedere erinnerte ihn daran, dass das Kreieren von Düften etwas Außergewöhnliches war, aber auch beständige Arbeit bedeutete. Antoine nahm seine Brille ab, rieb sich die Augen, um sich besser konzentrieren zu können, und hielt sich den Teststreifen unter die Nase. Eine Weile schnupperte er daran, schließlich setzte er seine Brille wieder auf, so dass sein schlohweißes Haar, das ihm störrisch vom Kopf abstand, durch die Brillenbügel über den Ohren notdürftig gebändigt wurde. Er warf einen Blick in die Fensterscheibe und stellte fest, wie sehr ihm das Alter neuerdings ins Gesicht geschrieben stand. Ein immer breiter werdender Faltenkranz umgab seine Augen, und unzählige Linien hatten sich in Wangen, Stirn und Kinn gegraben, doch sein Geist war von den gelebten Jahren verschont geblieben. Noch immer waren seine Gedanken sprunghaft, wie eine Katze, die einer Maus hinterherjagte. In seinem Geist wohnte noch immer der junge Parfümeur von damals, der neugierig auf die Geheimnisse des Lebens war und sie anhand von Düften zu entschlüsseln suchte.

Während Antoine arbeitete, dachte er daran, wie schwer er es sich all die Jahre gemacht hatte, als er im Stillen darauf gehofft hatte, sein Sohn möge als Maler scheitern. Bei jedem Telefonat hatte er Nicolas motiviert, weiterzumachen, hatte beteuert, dass er an ihn glaube. Dabei hatte er verschwiegen, dass er sich noch immer wünschte, Nicolas würde zu seiner Arbeit als Parfümeur zurückfinden. Doch vor zwei Jahren hatte plötzlich jemand mit einem großen Namen in der Branche Nicolas unter seine Fittiche genommen und dann begann ein wichtiger Sammler, Bilder von ihm zu kaufen. Inzwischen wusste die Kunstwelt, wer Nicolas Lefort war, und Antoine wusste, dass er einen Traum begraben musste. C'est la vie!

Antoine hörte, wie jemand die Haustür öffnete, dann erklangen Schritte im Gang. Mathieu Fournier brachte ihm wie jeden Morgen die Post. »Bonjour, Mathieu. Wie geht's dir heute?« Antoine ging Fournier entgegen, um ihn mit einem Schulterklopfen zu begrüßen.

»Danke der Nachfrage, Toto. Ist ziemlich schwül draußen, ansonsten kann ich nicht klagen.« Fournier kramte in seiner Posttasche. Sein von Wein und gutem Essen gerundeter Bauch hing ihm über den Hosenbund, und wie immer zog Mathieu Fournier zwischendurch am Gürtel, um die Wölbung kleiner erscheinen zu lassen.

»Und? Was bringst du mir heute?«, wollte Antoine wissen.

»Rechnungen, Toto, und ein Paket. Hier, du musst unterschreiben.« Antoine ergriff den Stift, den Fournier gezückt hatte, und quittierte den Empfang des Pakets. Dann nahm er seinen Freund mit in die Küche. Dort goss er Kaffee in zwei Becher, schäumte Milch auf, gab Zuckerwürfel hinein und bestäubte den Milchschaum liebevoll mit Kakaopulver.

Das gemeinsame morgendliche Kaffeetrinken war Antoine heilig, und obwohl Mathieu Fournier Espresso bevorzugte und sich jahrelang gewehrt hatte, die hellbraune Brühe zu trinken, die Antoine zubereitete, schätzte er inzwischen den sahnigen Café au lait mit einem Hauch Schokolade. »Und … was hat es mit dem Päckchen auf sich? Spann mich nicht auf die Folter. Öffne es endlich.«

Fournier pustete auf den Milchschaum und beobachtete, wie Antoine das Paket öffnete, das Papier zur Seite schob und auf einen Brief und eine Schachtel feinstes Gebäck blickte.

»Millefeuille«, stellte Fournier staunend fest. Er trank den ersten Schluck Kaffee und linste dabei über Antoines Schulter, dann nickten die beiden Männer einander zu und griffen in die Schachtel, um von dem Gebäck zu kosten.

»Das Karamell schmilzt zwischen den zarten Blätterteigschichten.« Fournier, der Süßes und Salziges liebte, war ein fachkundiger Genießer und ließ sich nur ungern eine Köstlichkeit entgehen. Antoine lutschte ebenfalls genüsslich an seinem Gebäckstück und überflog dabei den Inhalt des Briefes. Plötzlich begann er zu fluchen.

»Verflixt noch mal!«, schimpfte er. »Glauben diese Herren aus Paris, sie können mich mit Süßigkeiten bestechen?« Fournier, der nach einem zweiten Millefeuille gegriffen hatte, sprach kauend dazwischen.

»Wieso regst du dich auf, Toto? Was steht denn in dem Brief?«

»Ach … eine der großen Champagnerkellereien möchte eine Duftkerze lancieren, mit mir als Parfümeur.« Fournier sah ihn mit einem Blick an, der Unverständnis ausdrückte. »Reichlich Geld fürs Marketing ist selbstverständlich vorhanden, allerdings soll auf oberflächliche Duftmetaphern zurückgegriffen werden, anstatt olfaktorische Eindrücke mit der notwendigen Tiefe wiederzugeben.«

»Na und?« Fournier kratzte sich am Bart. »Was passiert schon Schlimmes, wenn du diesem Wunsch nachkommst? Außer, dass du endlich berühmt wirst. Das ist längst überfällig, Toto.« Seit fast vierzig Jahren brachte er Antoine jeden Morgen zwischen neun und zehn die Post, hielt einen Plausch mit ihm, trank einen Kaffee und fragte ihn nach seinen Duftkreationen, obwohl er nichts davon verstand. Doch noch nie hatte er seinen Freund so aufgebracht erlebt.

Antoine schob die Schachtel mit den Köstlichkeiten von sich weg. »Für diese Herren müssen am Ende vor allem der Preis und die Verkaufszahlen stimmen. Für mich jedoch haben Trends und schneller Ruhm keine Priorität. Deshalb lehne ich solche Aufträge aus Prinzip ab.«

Fournier verstand nicht, was so schlimm an dem Angebot sein sollte. »Was spricht denn gegen oberflächliche Duftmetaphern? Nicht jeder will viel Geld für ein Parfüm ausgeben und möchte trotzdem gut riechen. Schon wegen der Frauen.« Süße Erinnerungen an das weibliche Geschlecht standen Fournier förmlich ins Gesicht geschrieben. Antoine warf den Brief mit großer Geste in den Abfall.