Schokoladentage - Gabriele Diechler - E-Book
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Schokoladentage E-Book

Gabriele Diechler

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Beschreibung

Alwy ist frisch verliebt, der smarte Anwalt Leon ist ein Traummann. Auch beruflich sieht es vielversprechend aus. Das Leben könnte herrlich sein – wenn die junge Patissière nicht plötzlich um ihre berufliche Existenz fürchten müsste. Das Haus, in dem sich ihr Tortenatelier befindet, ist an einen Bauinvestor verkauft worden, der die Immobilie teuer sanieren und die Mieter hinauswerfen will. Von ihrer Freundin und Partnerin Bettina kann Alwy nur bedingt Hilfe erwarten, denn die hat eigene Probleme: Sie ist schwanger und der zukünftige Kindsvater reagiert anders als erhofft. Alwy kämpft um ihren Laden, nichtsahnend, welche Folgen das für ihr Leben hat …

Ein bezaubernder Roman über die Magie der Liebe, die Kraft der Freundschaft und die Höhen und Tiefen des Lebens – optimistisch, prickelnd und voller Wärme.

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Seitenzahl: 622

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Titel

Gabriele Diechler

Schokoladentage

Roman

Insel Verlag

Widmung

FÜR ARINA

Es ist großartig, Pläne zu schmieden und diese umzusetzen, und es berührt uns, Zusammenhalt und Glück zu erfahren.

Doch es gibt auch die dunklen Tage, an denen wir nicht wissen, was wir tun können und wie wir diese Tage überstehen sollen.

Wir beide – du und ich – haben in den vergangenen Jahren Schönes und Schweres erlebt. Manches war herausfordernd. Nicht immer waren wir uns einig.

Aber wir lernen jeden Tag aufs Neue offen durchs Leben zu gehen.

Diese Ehrlichkeit und Nähe macht jeden unserer Schokoladentage aus.

Übersicht

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Helenes Notizen 1

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

Helenes Notizen 2

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

Helenes Notizen 3

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

Helenes Notizen 4

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

Helenes Notizen 5

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

Helenes Notizen 6

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

Rezepte

Mein Salzburg

Dank

Leseprobe: Die Roseninsel

1

. Kapitel. London, vor dreiundvierzig Jahren

2

. Kapitel. London, Juni

3

. Kapitel. Köln, April, sechs Wochen zuvor

4

. Kapitel

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Helenes Notizen 1

Wenn du entschlossen bist, neue Wege zu beschreiten: Aprikosenkuchen mit Sonnenblumenkernen

Träume sind dazu da, dich glücklich zu machen,bevor sie Realität geworden sind.

1. Kapitel

November

Es gibt Augenblicke, in denen die Zeit stillzustehen scheint. Leons Zusammenbruch war ein solcher Augenblick. Alwy fing ihn auf, als er nach vorn sackte, und hatte Mühe, ihn zu halten.

»Rufen Sie die Rettung, schnell!«, schrie sie. Ihr Kopf fuhr herum. Blitzschnell huschten ihre Augen über die Menschen im Café. Jemand musste ihr helfen. Leon war beinahe eins neunzig groß und schwerer als gedacht.

Ein Mann eilte auf sie zu und half ihr, ihn zu stabilisieren; eine Frau zückte ihr Smartphone und verständigte den Krankenwagen. Alwy überlegte fieberhaft, was sie im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte? Jetzt kam es auf jede Minute an. Oberkörper hochlagern und warm halten, glaubte sie sich zu erinnern.

Die Sanitäter waren rasch vor Ort, hoben Leon auf eine Trage und schoben ihn aus dem Café. Alwy lief neben ihnen her und sah zu, wie sie Leon in den Rettungswagen hievten. Einer der Sanitäter fragte sie, ob Leon unter einem Herzfehler litt?

»Ich weiß es nicht«, stammelte sie nur. War es ein Schlaganfall? Ein Herzinfarkt? Oder was sonst?

Sie entschied sich, mitzufahren, und stieg auf die Trittstufe, um in den Rettungswagen zu gelangen. Hoffentlich würde sie während der Fahrt einen Hinweis auf Leons Zustand aufschnappen. Ihr wäre schon mit einem einzigen verständlichen Satz geholfen. Doch die medizinischen Fachausdrücke, die die Männer austauschten, waren nur schwer zu deuten.

»… venöse Verweilkanüle … Drittellösung … Offenhalten der Atemwege …«

»Ist einer von Ihnen Notarzt?« Sie schaffte es kaum, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.

»Wir sind Sanitäter. Bitte bewahren Sie Ruhe! Wir sind gleich im Krankenhaus.«

Alwy schnürte es die Kehle zu. Es war schrecklich, nichts tun zu können und abwarten zu müssen. Im Krankenhaus würde man ihr sicher Auskunft geben. Sie versuchte, tief durchzuatmen, doch die Gedanken ließen sich nicht verscheuchen, sie verstärkten die bedrückende Angst, die in ihrem Hinterkopf lauerte. Die vergangenen Monate waren nicht einfach gewesen. Sie hatte unter schrecklichem Liebeskummer gelitten, doch ab diesem Tag sollte es für Leon und sie endlich wieder bergauf gehen und nun das …

In der Notaufnahme erreichte die Hektik einen neuen Höhepunkt. Eine Schwester drängte sie forsch zur Seite. Von dem kurzen Wortwechsel zwischen Ärztin und Sanitäter bekam sie kaum etwas mit. Doch der Blick der Notärztin auf Leons Gesicht, das vom Beatmungsgerät fast ganz verdeckt war, sagte mehr als Worte. Die Sorge, die sie darin sah, war ihre Sorge – ihre Angst.

Die beiden Frauen schoben Leon wortlos den Gang hinunter. Als die Trage aus ihrem Blickfeld verschwand, kam die erdrückende Erschöpfung wieder hoch, die sie die ganze Zeit verdrängt hatte. Sie konnte die vielen Fragen, die in ihrem Kopf herumschwirrten, nicht ignorieren. Sie musste etwas tun.

»Frau Gräwe, ich begleite Sie in den Wartebereich. Hier können Sie nicht bleiben.« Wie von weit her drang die Stimme des Sanitäters zu Alwy.

»Nein, ich möchte hierbleiben«, bat sie. Den jungen Mann hatte sie inmitten der Wirren beinahe vergessen. Nun sah sie ihn irritiert an.

Der Kuss, den Leon ihr heute im Café am Salzburger Flughafen gegeben hatte, war wie ein Pflaster auf ihrer verwundeten Seele, doch sie würde erst aufatmen können, wenn sie wusste, wie es um ihn stand.

»Bitte, ich kann Leon nicht alleinlassen.« Sie spürte, wie ihr Herz laut gegen den Brustkorb schlug, doch im Kopf war sie ganz klar. Ohne zu überlegen, brachen die Worte aus ihr heraus: »Waren Sie schon mal zu wütend oder zu stolz, um nach einem Streit auf jemanden zuzugehen?«

Überrascht von der Frage, zögerte der Sanitäter. »Ja, leider«, gab er nach einem kurzen Moment des Schweigens zu.

»Dann ist Ihnen ja klar, wie schwer es ist, nicht zu wissen, ob man sich noch aussprechen können wird.« Alwys Finger tasteten nach dem Brief in ihrer Manteltasche. Leons Zeilen, die beim Lesen so widersprüchliche Gefühle in ihr ausgelöst hatten, waren alles, was sie noch von ihm hatte.

»Umlegen. Auf drei.« Die Stimme der Ärztin hallte bis zu ihr. Die Ungewissheit über Leons Zustand lag immer schwerer auf ihr, die Fragen in ihr wurden immer lauter und drängender. Zeit für Überlegungen blieb nicht. Sie lief los und schaffte es bis zum Schockraum. Außer Atem sah sie, wie Leons Körper auf einen Tisch gehoben wurde.

Ihr Blick und der der Ärztin kreuzten sich. Sie war weder Leons Frau noch eine Verwandte. Sie würde nichts über seinen Zustand erfahren … bis auf das, was sie mit eigenen Augen sah. Erneut schossen unzählige Fragen durch ihren Kopf, doch bevor sie eine stellen konnte, fiel die Tür vor ihr laut ins Schloss.

»Kein Puls. Keine Atmung … Kammerflimmern.« Die Augen der Ärztin weiteten sich. In Windeseile klebte sie Elektroden auf Leons freigelegten Brustkorb und langte nach den Paddels. Jeder Handgriff saß, alles geschah blitzschnell. »Hundertfünfzig geladen. Weg vom Patienten … Achtung … Schock.«

Leons Körper zuckte und hob sich vom Bett. Die Ärztin sah zur Schwester. »Geben Sie mir zweihundert. Weg vom Patienten. Achtung. Schock.« Erneut zuckte Leons Körper und landete kurz darauf wieder auf der Bahre. »Komm … komm … komm ….« Die Ärztin verfolgte konzentriert die Linie am Monitor, dann beugte sie sich über Leon. »Dreihundert. Weg vom Patienten … Achtung … Schock.« Ein feiner Film aus Schweißperlen schimmerte auf ihrer Stirn. »Himmelherrgott!«, ihre Stimme wurde unnatürlich laut. »Kommen Sie schon … Bleiben Sie bei uns …« Das Kinn energisch nach oben gereckt, nickte sie zur Schwester. »Schnell. Geben Sie mir Maximum.«

Immer wieder drangen Worte wie von weit her zu Alwy. »Was passiert mit Leon? Was machen die mit ihm?«

Der Sanitäter stieß nervös die Spitzen seiner Turnschuhe gegeneinander, unschlüssig, ob er etwas sagen sollte, und wenn ja, was. »Manchmal ist … die autonome Steuerung des Herzens beeinträchtigt.« Er sprach abgehackt, die Stimme gesenkt.

»Und was bedeutet das?« Alwy spürte, wie ihre Beine weich wurden. Sie stützte sich an der Wand ab.

Der Mann fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, rang offensichtlich mit sich. »Vermutlich Kammerflimmern.« Er zögerte und sprach die bittere Wahrheit schließlich aus: »Sie versuchen, ihn wiederzubeleben.«

Kammerflimmern. Mit einem Mal erinnerte sie sich wieder an die Arztserien, die sie früher angeschaut hatte. Langsam kamen die Fakten zurück. Ihr Erinnerungsvermögen ließ sie nicht im Stich. »Wiederbeleben …?« Sie riss sich zusammen. »Wie viel Zeit hat er … bis die ersten Gehirnzellen absterben?« Nervös zog sie mit den Fingern ihrer rechten Hand am Zeigefinger der linken. Sie durfte sich nicht ihren Gefühlen ergeben, musste stark sein.

Der Sanitäter blickte zu Boden, doch Alwy ließ nicht locker. »Ich weiß, dass Sie Emotionen nicht zu nah an sich heranlassen dürfen …«, sie sprach mit einer Entschiedenheit, die sie selbst überraschte, »… und ich kenne mich mit dem Datenschutz aus.«

Er hob den Blick und sah sie ernst an. »Drei Minuten.«

2. Kapitel

April, acht Monate früher

Nur noch wenige Zentimeter, dann bekäme sie den Griff der Tasche zu fassen und könnte die Rezeptsammlung herausziehen. Wenn sie über das fleckige Leder der Mappe strich, sah sie immer Helene vor sich, die übers ganze Gesicht lachte. Das Beeindruckende waren nicht nur ihr Scharfsinn und ihre zupackende Art gewesen, sondern auch ihr kindlicher Übermut, den sie nie verloren hatte. Wer sonst wäre auf die Idee verfallen, in einer Rezeptsammlung Torten mit Sprechblasen zu versehen, in denen witzige Texte standen. Manche Torten hatten Beine und flüchteten vor einem herausfordernden Rezept. Wenn Alwy Helenes Rezeptbuch aufschlug, war gute Laune garantiert.

Anfangs liebte sie vor allem die einfachen Kuchen. Helene hatte sie – auf die verschiedenen Lebenslagen zugeschnitten – in Kapiteln zusammengefasst: Kuchen, wie eine tröstende Umarmung oder wie eine Aufforderung, sich endlich etwas zu gönnen. Für Helene waren Backwaren immer mehr als Leckereien gewesen; durch sie konnte man zu Menschen sprechen, ihnen etwas mitgeben. Ihr hatte Helene eine Menge mitgegeben. An erster Stelle die Fähigkeit, an sich zu glauben, egal, was das Leben ihr abverlangte.

Noch einmal streckte Alwy die Hand nach ihrer Handtasche unter dem Sitz des Vordermannes aus, doch gerade als sie sie zu fassen bekam, begann sich alles um sie herum zu drehen. Der Boden verschwamm zu einer undefinierbaren Masse.

Alwys Hand erschlaffte, sie kroch aus der Lücke, in die sie sich gezwängt hatte, rang nach Luft und presste ihren Körper gegen die Rückenlehne. Ruhig weiteratmen … sich nicht verrückt machen. Normalerweise buchte sie einen Platz am Gang, um sich nicht so eingesperrt zu fühlen, außerdem aß sie vor jedem Flug etwas Leichtes, damit ihr nicht flau im Magen wurde. Doch diesmal war alles anders. Sie hatte Tokio überstürzt verlassen, und der Flug über Frankfurt nach Salzburg war fast ausgebucht gewesen. Mit Mühe und Not hatte sie einen der letzten Plätze ergattert; und an essen war seit ihrer Trennung von Harald nicht zu denken.

Wie von fern hörte sie die Stimme der Psychologin, bei der sie ein Seminar gegen Flugangst belegt hatte. Erkenne Angst als Hemmschuh. Atme in die Angst hinein und lass sie dann los. Keine Angst vor der Angst zulassen!

Bis vor drei Jahren war Flugangst nur ein Wort für sie gewesen, doch nach der ersten Attacke wusste sie, wie entsetzlich diese Angst sein konnte. Sie nahm ihr den Atem und schüttelte sie durch, bis ihr der Kopf rauschte und sie sich im eigenen Körper fremd vorkam.

Mit fahriger Geste zog sie eine Flasche Baldriantropfen aus ihrer Jackentasche. Sie war leer, trotzdem presste sie sie an sich, als könnte das Fläschchen sie retten. Für den äußersten Fall hatte sie ein leichtes Beruhigungsmittel eingesteckt, doch Tabletten nahm sie nur, wenn es gar nicht anders ging.

Alwy konzentrierte sich auf alles Physische: auf den rauen Stoff unter ihren Händen, ihre Wirbelsäule, die sie fest gegen die Rückenlehne drückte. Ihre Lunge schien sich in ihrer viel zu engen Brust zu weiten. Sie bekam kaum noch Luft.

»Geht es Ihnen nicht gut?« Eine Flugbegleiterin beugte sich zu ihr hinunter und sah sie beunruhigt an.

Hätte sie doch nur das Personal informiert, dass sie unter Flugangst litt. Im Moment war an Sprechen jedenfalls nicht zu denken. Alwy zog ihre schweißnassen Hände zwischen ihren Beinen hervor und sah, dass die Stewardess den Platz ihres Sitznachbarn einnahm, der vorhin zur Toilette gegangen war. »Geben Sie mir Ihre Hand«, sagte sie auffordernd.

Ohne auf eine Antwort oder eine entsprechende Geste zu warten, griff die Frau nach ihren feuchten Fingern, legte ihre Hände darum und begann, auf sie einzureden.

»Es dauert nicht mehr lange bis zum Landeanflug, dann steigen Sie aus und erkunden die Stadt. Haben Sie beruflich in Salzburg zu tun, oder machen Sie Urlaub?«

Alwy nickte beim Wort beruflich.

»Dann bleiben Sie eine Weile in der Mozartstadt?« Die Frau sprach weiter. »Sie glauben nicht, wie ich Sie um die Möglichkeit beneide, Salzburg besser kennenzulernen. Es gibt so viel zu sehen.«

Alwy lauschte dem leisen Singsang. Festung, Mönchsberg, Museum der Moderne, Schloss Aigen. Das alles musste sie sich angeblich unbedingt ansehen. Sie freute sich auf die Stadt und auf ihre Kollegin Tina, mit der sie einen neuen Lebensabschnitt beginnen würde. Doch jetzt musste sie sich erst mal beruhigen.

Alwy ließ alle Infos an sich vorbeirauschen, schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, rhythmisch weiterzuatmen. Plötzlich fiel ihr das Lied ein, das ihre Kollegin Nanami manchmal beim Verzieren der Torten gesungen hatte – ein japanisches Volkslied, das zur Zeit der Kirschblüte an Vergänglichkeit und Neuanfang erinnerte. Vergänglichkeit! Wie sehr sie dieses Wort inzwischen fürchtete. Letzte Nacht hatte sie, wie schon die Nächte zuvor, wachgelegen und darüber nachgedacht, ob es richtig war, Harald nach so langer Zeit zu verlassen, um in Salzburg noch einmal ganz von vorn zu beginnen.

Die Jahre an seiner Seite hatten etwas Abenteuerliches gehabt und waren vor allem durch Haralds brennenden Ehrgeiz gekennzeichnet gewesen; es gab nichts, was er nicht zumindest andachte, um es zum Drei-Sterne-Koch zu bringen. Anfangs war sie voller Freude von einem Hotel zum nächsten mit ihm getingelt. Überall war er der aufstrebende Kochkünstler gewesen und sie die Pâtissière mit den exquisiten Rezepten und der Fingerfertigkeit, die jedermann bewunderte. Es war spannend gewesen, fremde Länder kennenzulernen und sich beruflich zu vervollkommnen, doch mit den Jahren wiederholte sich vieles, und irgendwann war es immer das Gleiche. Arbeiten, bis man vor Müdigkeit fast umfiel, und sparen für irgendwann, wenn es Zeit für eine Familie wäre.

Bei ihrem Umzug nach Tokio war ihr endgültig klargeworden, dass sie sich nach über zehn Jahren im Ausland nach einem Zuhause in Europa sehnte. Zwar hatte Harald gezögert, als er begriff, wie ernst es ihr mit diesem Wunsch war, doch schließlich hatte er zugestimmt. Umso überraschter war sie gewesen, als er ihr vor einigen Wochen von einem Jobangebot in Seoul erzählte.

»Das Restaurant im Grand Hyatt hat bereits zwei Sterne, und nun wollen sie so schnell wie möglich den dritten. Die trauen mir zu, es zu schaffen.« Harald hatte die Haltung eines Mannes angenommen, der sich kurz vor dem Ziel wähnte: gerader Rücken, gestraffte Schultern. Ohne sich vorher mit ihr abgesprochen zu haben, hatte er den Job als Chef de Cuisine bereits zugesagt. Er würde das System, das sie beide so gut kannten – nach längstens drei Jahren war es Zeit für einen Jobwechsel –, weiter durchlaufen. Keine Rede mehr von einem gemeinsamen Heim in Deutschland oder Österreich.

»Du hast gesagt, du hättest eingesehen, dass in einer Partnerschaft nicht nur einer den Ton angeben kann … ›Wir müssen beide glücklich sein.‹ Das hast du mir versprochen!«

Harald hob beschwichtigend die Hände. »Ich weiß, der Job in Seoul war nicht vereinbart … aber das Grand Hyatt ist ein Geschenk des Himmels, Alwy. Ich musste zusagen.« Er nahm ihre Hand und hauchte einen versöhnlichen Kuss darauf, doch Alwy entzog sie ihm. Sie wusste, Harald nahm an, sie würde auch dieses Mal, wenn auch unter Murren, auf seine Karriere Rücksicht nehmen. Doch obwohl sie schlussendlich einlenkte und versprach, ihn ein letztes Mal zu begleiten, setzte schließlich die Erkenntnis ein, dass nicht Harald für ihr Leben verantwortlich war – sie war es. Nur sie wusste, was sie glücklich machte; sie entschied, wo sie hinzog und wie es mit ihr weiterging. Wenn sie jemandem Vorwürfe machen wollte, dann sich selbst.

Alwy öffnete die Augen. Ihr Herz schlug merklich langsamer, und ihr Blick flackerte nicht länger unstet umher. »Ich glaube, es geht mir besser.« Sie wandte sich mit einem Nicken an die Flugbegleiterin. »Danke … für Ihre Hilfe.«

Die Frau schien ihrer Einschätzung nicht zu trauen und sah sie zweifelnd an. »Sind Sie wirklich sicher, dass Sie klarkommen?«

Alwy schaffte ein zuversichtliches Lächeln. »Ja, es geht schon. Ganz bestimmt«, bekräftigte sie.

»Also gut, dann lasse ich Sie mal wieder allein.« Ein letzter prüfender Blick, dann erhob sich die Frau und ging Richtung Cockpit. Alwy sah ihr nach, rieb sich über die schmerzenden Augen und unterdrückte ein Gähnen. Im unpassendsten Moment war er da, bleierner Schlaf. Sie hielt ihre Fingerspitzen unter die Düse über ihrem Kopf und legte sich die kalten Finger auf die Lider, bis sie sich frischer fühlte.

»Sehr geehrte Fluggäste. Wir beginnen den Landeanflug auf Salzburg. Ich bitte Sie nun, Ihren Sitz in eine aufrechte Position zu bringen und die Vordertische hochzuklappen …«

Ihr Sitznachbar kam zurück und schnallte sich an. Alwys Hände krampften sich um die Armlehnen. Sie versuchte, ans Aussteigen zu denken … und an Tina, die sie mit einem strahlenden Lächeln erwarten würde.

Doch anstatt sich zu beruhigen, geisterten erneut Haralds Argumente durch ihren Kopf. Sie hörte seine Stimme laut und deutlich: »Im Grand Hyatt kannst du dich bis ganz an die Spitze arbeiten.«

»Und wenn ich die Erfolgsleiter nicht weiter hinauf will?« Ihre Tränen waren Tränen der Enttäuschung und der Wut gewesen, weil sie nicht zum ersten Mal von Harald für seine Zwecke benutzt worden war. »Wir brauchen nicht noch mehr Erfahrungen oder noch mehr Geld. Wir brauchen ein Heim … und Freunde statt Konkurrenten. Spürst du das denn nicht auch?«

»Ankommen … ständig diese Floskel. Lass dich nicht von Konventionen beeinflussen«, argwöhnte Harald. »Nicht jede Frau muss mit Mitte dreißig sesshaft und schwanger werden. Komm schon … wir haben noch jede Menge Zeit, wir rocken Seoul. Sag ja zu dieser Möglichkeit, sag ja zu mir.«

Vor zwei Monaten, als sie ihren siebenunddreißigsten Geburtstag feierte, hatte sie Harald vom Angebot einer Kollegin erzählt. Bettina Hoske, die sie beide von früher kannten, hatte nachgefragt, ob sie Teilhaberin ihrer Tortenwerkstatt in Salzburg werden wolle. »Um nicht lange drum herumzureden, Alwy, ich hab mich finanziell übernommen und suche nun jemanden, der bei mir einsteigt. Es geht mir aber nicht nur ums Geld, sondern vor allem darum, meine Vision einer kleinen, feinen Tortenwerkstatt mit jemandem zu teilen, der weiß, wovon ich spreche. Da bist als Erste Du mir eingefallen …«

»Typisch Tina. Blauäugig und heillos optimistisch, wo es nicht angebracht ist. Du denkst hoffentlich nicht ernsthaft über das Angebot nach.« Der Blick, den Harald ihr zuwarf, bedeutete: Ohne mich! Ein Blick, den sie nicht ignorieren konnte.

»Keine Sorge, ich weiß, wie dünn die Luft für Tortenkünstlerinnen wie Tina und mich ist.«

Harald verschränkte die Arme vor der Brust. »Nur in Millionenstädten kannst du dich entfalten und zeigen, was du draufhast. In der Provinz wirst du scheitern, bevor das erste Jahr um ist.«

Haralds Gleichgültigkeit bezüglich ihrer Wünsche traf Alwy hart. Sein Lächeln, das eine Spur zu verkrampft war, um echt zu sein, signalisierte ihr, wie sehr er sich jedem weiteren ernsthaften Gespräch verschloss. Dabei sehnte sie sich danach, in Ruhe das Für und Wider mit ihm abwägen zu können. Doch davon hielt Harald nichts. Er schätzte sie als Partnerin, die keine Probleme bereitete. Er würde nie sesshaft werden. Es war richtig, Tokio und ihn hinter sich zu lassen.

Ihre Zukunft lag in der Backstube eines Altbaus, dessen Rückwände sich an den Fels des Kapuzinerberges schmiegten.

3. Kapitel

Die vordere Häuserreihe wies zur Imbergstraße, einer der Hauptverkehrsstraßen. Die hintere zur Steingasse, einer Gasse mit felsigen Abhängen, die steil bergauf ragten. Zwischen diesem Hinten und Vorne suchten Alwy und Tina sich ihren Weg durch die Stadt, die ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit zu sein schien. Zwar gab es einige mit Glas verkleidete Hochhäuser, doch moderne Bauten blieben die Ausnahme. Grundsätzlich wurde Salzburgs Stadtbild von jahrhundertealten vier- bis fünfstöckigen, in hellen, verblichen wirkenden Farben gestrichenen Häusern und vor allem von unzähligen Kirchen dominiert.

»Ziemlich eng hier … als würde man einem ausgetrockneten Flusslauf folgen.« Auf Alwy wirkte die Steingasse wie ein Graben, in dem jedes Haus ein pastellfarbener Tupfer auf dem Grau des Kopfsteinpflasters war; es schien als bildeten die Häuser einen Schutzwall.

»Häuser so nah beieinander vermitteln mir ein Gefühl von Geborgenheit, dazu die schroffen Felsen … das hat was.« Tina strich sich eine hellbraune Haarsträhne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, hinters Ohr. Aufgeregt deutete sie auf ein Haus, das durch einen zartrosa Anstrich im unteren Bereich geradezu herausstach. »Da vorn ist es. Steingasse 41.«

»Zuckerlrosa …?!« Alwy schüttelte amüsiert den Kopf.

»Wieso nicht? Das hebt uns von den übrigen Fassaden ab.« Tina schloss die Eisentür neben der weiß gestrichenen Ladentür auf und wies in den Flur. Vorsichtig trug Alwy das gerahmte Bild ihrer Tante über die Schwelle und lehnte es an die Wand. Sie blinzelte, um sich an das Dunkel zu gewöhnen, und als sie aufsah, entdeckte sie die enge, sich steil nach oben windende Treppe.

Tina fing den Blick der Freundin auf und lachte. »Fitness hast du hier inklusive«, versprach sie. »Komm, gib mir das Ungetüm.« Sie schnappte sich die Holzkiste, die Alwy gerade hochheben wollte. In dieser Kiste bewahrte ihre Freundin schon immer ihre Gewürze und Rezepte auf. Damit und mit dem Rucksack, den sie Alwy ebenfalls abnahm, ging sie die ersten Stufen voran.

Tina hatte nicht übertrieben: Die Treppen zu erklimmen, erinnerte tatsächlich an Fitness. Auf halbem Weg nach oben blieb Alwy, außer Atem, vor dem Klingelschild zu einer der Wohnungen stehen. »Wer wohnt eigentlich noch im Haus, außer dir?«

»Außer uns, meinst du wohl?« Tina zwinkerte ihr zu. »Im ersten Stock wohnt Elisa. Sie ist noch keine dreißig und arbeitet als Rezeptionistin im Hotel ›Schloss Mönchstein‹, oben am Mönchsberg. Sie liebt Pralinen aus Zartbitterschokolade. Die kauft sie jede Woche bei mir.« Tina sah auf die Tür, vor der Alwy stand. »Und hier im zweiten wohnt Ralf, Typ Teddybär mit kleinem Bäuchlein. Er verkauft online Mützen, Schals und Ponchos, alles aus Wolle von glücklichen Schafen hergestellt.«

»Aufgrund deines Grinsens vermute ich mal, dass Ralf mehr hergibt, als diese schlichte Info.«

Tina zuckte die Schultern. »Wenn du Ralf siehst, kämst du nie drauf, dass ausgerechnet er kuschelige Mützen verkauft. Eher würdest du ihn schraubend unter einer Harley vermuten. Du wirst ihn mögen, allerdings bekommst du ihn nicht allzu oft zu Gesicht. Wenn er nicht vor dem PC sitzt und arbeitet, trampt er ins Museum. Er ist fanatischer Kunstliebhaber und verlässt jedes Museum immer als Letzter. Nimm dich in Acht und frag ihn nie nach einem Kunstwerk, das könnte dauern.«

»Also eine funktionierende Hausgemeinschaft«, fasste Alwy zusammen.

»Absolut. Ralf ist eine Seele von Mensch, Elisa ebenso. Ich hab Glück mit den beiden.« Sie gingen weiter und kamen – Alwy den Trolley in der einen und das Bild in der anderen Hand – im dritten Stock an.

»Über meiner Wohnung befindet sich noch eine weitere, die von Irmgard Walter, sie ist die Besitzerin des Hauses. Eine nette ältere Dame. Seit März ist sie in Italien bei ihrer Schwester. Sie leidet unter Arthrose und gönnt ihren Gelenken ein bisschen Wärme.« Tina stieß die Tür auf und machte eine einladende Handbewegung in einen schmalen Flur, der durch einen pfirsichfarbenen Anstrich Fröhlichkeit und Zuversicht ausstrahlte. »Willkommen in meinem Zuhause, das jetzt auch deins ist!«, sagte sie.

Alwy stellte das Gepäck ab und sah aus dem Fenster neben der Garderobe. »Meine Güte, was für ein schöner Ausblick. Ich komme mir vor wie in einem Vogelnest hoch oben im Baum.« Sie blickte auf Kirchtürme und -kuppeln, auf unzählige hellgrau schimmernde Dächer und ein Stück babyblauen Himmel – es war, als schaue sie in eine andere Zeit.

Tina trat neben Alwy. »Genauso ist es mir bei der Besichtigung der Wohnung ergangen. Zuerst das Gefühl von Enge und dann dieser Blick, der einen regelrecht in Bann zieht.« Einige Sekunden genossen die beiden Frauen den Ausblick, dann fuhr Tina fort: »Fünfundachtzig Quadratmeter, aber die Räume sind gut geschnitten, dadurch wirkt die Wohnung größer.«

Die Wohnung war ein charmantes Sammelsurium: Überall standen Vasen mit frischen Blumen und Reisemitbringsel auf Tischen und Fensterbänken, lagen aufgeschlagene Bücher herum und hingen gerahmte Rezepte an der Wand. »Ich hab sowohl eine Schwäche fürs Dekorieren als auch fürs Aufbewahren.« Tina hob die Finger zum Schwur. »Schuldig im Sinne der Anklage, Euer Ehren.« Mit einem leisen Knarzen öffnete sie die Tür zum Gästezimmer. »Und das ist ab sofort dein Reich.«

Alwy blickte in einen Raum – kaum größer als zehn Quadratmeter –, der mit einer gewagten Kombination aus flaschengrünen Wänden und pink gestrichenen Holzmöbeln wie eine überdimensionale Bonbonschachtel wirkte. Unterstrichen wurde dieser Eindruck durch liebevolle Details, wie einen pinkfarbenen Quilt und passende bunte Kissen auf dem Bett. Tina hatte das Zimmer ausgesprochen originell eingerichtet.

»Das Bett hab ich vom Trödel, und weil Dunkelbraun nicht meine Traumfarbe ist, hab ich das Kopfteil kurzerhand pink gestrichen. Alles oder nichts war mein Motto bei diesem Zimmer.«

»Es ist entzückend. Einfach zauberhaft.« Alwy trat näher und betrachtete den moosgrünen Schirm der Nachttischlampe, der perfekt zum Holzbett passte. Hier würde sie sich wohlfühlen.

Tina zog Alwy ans Fenster. »Schau mal … dort ist das Wahrzeichen der Stadt, die Festung Hohensalzburg.«

Alwy sah eine Burg einschließlich Basteien, die sich dramatisch vom Grün des Berges abhob. Auf einer der Zinnen flatterte eine rotweißrote Fahne im Wind. Die Imposanz der Anlage, die inmitten der Mauern ein ganzes Dorf beherbergte, erzeugte eine unglaubliche Atmosphäre.

»Hohensalzburg ist Europas größte Burganlage, ihre Geschichte reicht bis ins 11. Jahrhundert zurück«, erzählte Tina mit Stolz in der Stimme.

Alwy konnte den Blick kaum von der Festung lösen. »Und wir sind Burgfräulein, die am Abend von gutaussehenden Rittern entführt werden«, schwärmte sie.

»Bisher hat sich leider kein Ritter hierher verirrt«, Tina grinste verschmitzt. »Aber was nicht ist, kann ja noch werden.« Sie verschwand in den Flur und kam mit der Kiste mit den Gewürzen und Rezepten zurück, schob sie unters Bett, trat erneut neben Alwy und legte den Arm um sie.

»Ein Ladenlokal mit einer Wohnung drüber, dazu der Ausblick auf die Stadt … sind das nicht zwei gute Gründe, sich hier niederzulassen? Was die Backkunst anbelangt, es gibt die bekannten Größen, wie das ›Hotel Sacher‹ und die Original-Mozartkugeln von ›Fürst‹ und noch ein paar andere. Aber davon lassen wir uns höchstens inspirieren.« Tina deutete in den Flur. »Das Bad ist hinten links. Die Tür klemmt, kurz anheben, dann kommst du rein. Ich hab dir ein Regalfach freigeräumt. So, und jetzt lasse ich dich auspacken. Ich bin in der Küche. Komm, wenn du so weit bist.«

Kaum hatte Tina das Zimmer verlassen, setzte sich Alwy erst mal auf den Hocker vorm Schreibtisch. Das Zimmer war bei näherem Hinsehen noch kleiner, als sie anfangs vermutet hatte. Allerdings war es so einzigartig, dass sie sich kaum daran sattsehen konnte.

Von Tokio war sie winzige Räume gewohnt. Bei knapp zehn Millionen Einwohnern zählte jeder Quadratmeter. Von früh bis spät eilten die Menschen hin und her. Alwy hatte dort den ganzen Tag über das Klirren des Backgeschirrs, das Piepen der Küchenuhr und das Gerede unzähliger Menschen gehört. Nach Feierabend hatte Harald sich am liebsten vor den Fernseher gesetzt und sich durch die Kanäle gezappt. Oft waren sie selbst dazu zu müde gewesen und gleich ins Bett gefallen, und mehr als einmal war ihr der Gedanke gekommen, dass Harald nicht nach Europa zurückwollte, schon gar nicht, um sich dort endgültig niederzulassen. Er lebte, wie er es sich immer gewünscht hatte. Stets auf dem Sprung und bereit für Neues. Er schien diese Anspannung zu brauchen.

Alwy klappte den Trolley auf und hängte ihre Hosen und Röcke in den Schrank. Als sie das Wichtigste ausgepackt hatte, ging sie in die Küche, wo Tina gerade Tee aufgoss.

»Danke, dass ich fürs Erste hier wohnen darf.« Ihr Zimmer war als vorübergehende Unterkunft gedacht, doch es fühlte sich nach einem Zuhause an.

Tina drehte sich nach ihr um und runzelte die Stirn. »Dein Einstieg bei ›Cake Couture‹ ist ein Geschenk des Himmels. Ich hab mich riesig gefreut, als du zugesagt hast. Das Glück ist also auf meiner Seite.« Sie stellte die Kanne auf den Tisch und begann Sahne zu schlagen. »Apropos Beteiligung: Wie lange gibt Harald uns, bevor wir Insolvenz anmelden?« Tina hob Puderzucker unter die geschlagene Sahne, sah dabei jedoch zu Alwy hinüber.

»Ein Jahr. Im besten Fall. Aber weißt du was …? Wir zeigen ihm, dass Visionen sich auszahlen.« Alwy griff nach einem Löffel, kostete von der Sahne und überlegte. »Eine Prise Salz und Vanille zur Abrundung? Was meinst du?« Sie spürte plötzlich eine unangenehme Leere im Magen. Höchste Zeit, dass sie etwas zu sich nahm.

Tina machte eine abwägende Handbewegung, als sie ebenfalls gekostet hatte, schließlich mischte sie eine Spur Salz und Vanilleschote unter, bevor sie die Sahne in ein Glas füllte. »Ich vermute, Harald hat sich seit unserer gemeinsamen Zeit in München kaum verändert, oder?« Vor Jahren hatten sie im Hilton Seite an Seite gearbeitet, und schon damals war Harald geradezu besessen von der Arbeit gewesen.

»Harald ist, wie er ist, aber er unterschätzt unsere Hartnäckigkeit. Es wird nicht einfach werden, ›Cake Couture‹ zum Erfolg zu führen, aber ich habe nicht vor, zu scheitern.«

»Das will ich wohl meinen.« Tina deutete auf den Küchentisch, wo neben einem Strauß Wiesenblumen eine Mohntorte stand. »Die magst du hoffentlich immer noch gern?«

Erst jetzt nahm Alwy den schwachen Mohnduft wahr. Die Luft des Zimmers war erfüllt vom Aroma der Zutaten: erwärmte Butter, gemahlener Mohn, geriebene Zitronenschale, Rum und Kirschmarmelade. »Für Mohntorte könnte ich sterben.«

Tina schnitt ein Stück ab und reichte ihrer Freundin Teller und Gabel. Noch im Stehen ließ Alwy sich den zarten Schmelz des Mohnteigs und die Marmeladenfüllung auf der Zunge zergehen.

»Und? Was sagst du?«

Alwy nickte begeistert. »Meisterhafte Backkunst …wie zu erwarten. Inklusive eines Quäntchens Liebe. Genauso hätte Helene es gemacht.«

Tina klopfte sich selbst anerkennend auf die Schulter. »Der Name deiner Tante in Verbindung mit einer meiner Torten … ich muss wirklich gut sein.«

4. Kapitel

Am nächsten Morgen fiel Alwys Arm ins Leere, als sie neben sich tastete. Verwirrt schlug sie die Augen auf und starrte in das noch dunkle, fremde Zimmer. Es war Wochenende, und sie lag in Tinas Gästebett in Salzburg – allein.

Langsam drehte sie den Kopf zur Seite, wo der Wecker tickte. Kurz nach vier. Sie schloss die Augen, in der Hoffnung, wieder einzunicken, doch ihr gingen zu viele Dinge durch den Kopf. Als sie zu Bett gegangen war, war sie in einen traumlosen Schlaf gesunken, doch nun kehrte alles zurück – das Vergangene und das Neue.

Sie schlug die Decke zur Seite, zog ihren Morgenmantel über und schlich ins Bad. Der Spiegel über dem Waschbecken warf ihr blasses, fahles Gesicht zurück. Sie drehte den Wasserhahn auf und begann mit ihrer morgendlichen Routine. Während sie sich wusch und vorsichtig herumhantierte – sie wollte Tina keinesfalls stören –, dachte sie darüber nach, wie gut es sich angefühlt hatte, den Tag mit einer Joggingrunde zu beginnen. In den vergangenen Jahren hatte die Arbeit sie derart in Beschlag genommen, dass sie sich nicht zum Frühsport hatte aufraffen können, obwohl sie es sich oft vorgenommen hatte. Jetzt könnte sie das alte Ritual wieder aufleben lassen – als gutes Omen.

Alwy verteilte einen Klecks Creme in ihrem Gesicht, schraubte den Tiegel zu und ging in ihr Zimmer. Ein neues Leben zu beginnen, bedeutete, aus dem alten Trott auszusteigen. Sie suchte nach ihren Sportsachen, schlüpfte in Shirt und Laufhose und verließ das Haus.

Draußen schlug ihr die frische Morgenluft entgegen. Sie kniff die Augen zusammen. Der Himmel war von Dunkelheit überzogen, doch an einigen Stellen rissen die Wolken bereits graurosafarbene Löcher ins Firmament. Puderhimmel hatte Helene dieses Phänomen immer genannt.

Alwy blinzelte ins trübe Morgenlicht, um sich zu orientieren. Wenn sie die Gasse zurücklief, beim Buchladen links abbog und die Imbergstraße überquerte, käme sie zur Salzach. Der Spazierweg am Fluss war eine beliebte Strecke für Jogger, hatte Tina erzählt.

Sie setzte sich in Bewegung und erreichte kurz darauf die Kastanienallee oberhalb des Flusses. Früher hatte sie während des Joggens den Tag geplant; und nicht selten hatte sie Abstand zu schwierigen Situationen gewinnen können, sodass diese sich plötzlich auflösten.

Sie lief in gemächlichem Tempo weiter und wiederholte einen Satz in Gedanken immer wieder: Irgendwann werde ich rundum glücklich sein.

Im Moment klang das wie ein frommer Wunsch, doch sie wollte daran glauben, dass er eines Tages Realität wäre. Sie überholte eine Frau, die ihre Hunde ausführte, lief durch eine Unterführung und erreichte den Volksgarten. Im Winter spielten Jugendliche auf dem zugefrorenen Teich Eishockey. Tina hatte ihr viel über die Stadt erzählt, und so fühlte sie sich in der neuen Umgebung nicht ganz fremd.

Beim Anblick des Wassers dachte Alwy an ihre Lieblingsstrecke am Rhein. Nach Helenes Beisetzung vor vier Jahren war sie zum letzten Mal dort am Ufer entlanggelaufen. Damals hatte sie sich eine Woche Urlaub genommen, um von Helene Abschied zu nehmen. In dieser Zeit hatten sowohl die Beerdigung als auch die Testamentseröffnung stattgefunden. Um sich vom Schmerz über den Tod ihrer Tante abzulenken, hatte sie bei ihrer Mutter in deren Boutique in der Königsallee ausgeholfen und dabei das Neueste über den riesigen Freundinnenkreis erfahren, den ihre Mutter in ihrer Freizeit jonglierte. Ihr Vater, Georg, siebzehn Jahre älter als seine Frau und bereits pensioniert, steckte den Großteil seiner Zeit inzwischen in sein Hobby – den Wein. Er schrieb einen Blog und organisierte Reisen zu kleinen Weingütern in Deutschland und in Österreich.

Das Glück ihrer Eltern rührte Alwy. Doch so gut sie mit ihnen klarkam, der Verlust Helenes, der Halbschwester ihres Vaters, war für sie nur schwer zu ertragen. Helene stammte aus einer früheren Beziehung ihres Großvaters, das tat der Nähe zu ihrem jüngeren Bruder Georg, Alwys Vater, jedoch keinen Abbruch.

Nach dem Abitur hatte Helene eine Ausbildung zur Konditorin absolviert und war danach zwei Jahre nach Zürich gegangen; dort gab es damals einen Konditor, der weit über die Grenzen der Schweiz hinaus bekannt war. Bei ihm hatte Helene gelernt, auf die feinen Unterschiede der Kakaosorten zu achten und exquisite Pralinen herzustellen. Die Arbeit war ihr immer das Wichtigste gewesen, sie hatte nie geheiratet, sondern ihre ganze Energie in den Beruf gesteckt.

Von Helene hatte Alwy die Liebe zu Torten und Pralinen geerbt. Noch heute schlug sie regelmäßig Helenes Rezeptsammlung auf und überflog die Zutaten für Marzipan-Nuss-Schnecken, Apfeltorte mit Walnüssen und andere Köstlichkeiten. Oft las sie auch einen der Sprüche, die Helene festgehalten hatte, und jedes Mal erinnerte sie sich daran, wie sie unter der Obhut ihrer Tante Rezepte ausprobiert und erste Schritte in ein selbstbestimmtes Leben gewagt hatte.

Käsekuchen mit Lakritz oder Johannisbeerküchlein mit Salzstreuseln. Alwy hatte es geliebt, Unmögliches miteinander zu kombinieren. Anfangs hatte sie Helene nur damit necken wollen, doch dann hatte diese ihr erklärt, dass Zutaten, die auf den ersten Blick nicht zusammenpassten, sich durchaus ergänzen konnten. Helene war ihrer Zeit weit voraus gewesen. Erdbeeren mit einem Hauch Balsamico und Pfeffer hatte sie schon angeboten, als niemand auf die Idee verfallen wäre, Süßes und Pikantes miteinander zu verbinden. Alwy hatte Helenes »Unterricht« genossen. Die beiden verstanden sich ohne Worte. Sie mussten sich nur ansehen, um zu wissen, was die andere vorhatte. Und sie liebten das Ausprobieren, ohne Angst vor dem Ergebnis, und jedes Mal, wenn ihre Experimentierfreude zu etwas Neuem führte, notierte Helene es in ihrem Rezeptbuch. Sogar wenn ein Versuch misslang, schrieb sie sorgfältig alles auf.

»Vielleicht fällt uns ein anderes Mal ein, was wir besser machen können. Jedenfalls darf dieser Versuch nicht unerwähnt bleiben«, lautete ihr Credo.

Alwy empfand ihre offizielle Ausbildung dann lediglich als Ergänzung zu dem, was sie bereits bei ihrer Tante gelernt hatte: Backen und Dekorieren war ihr längst in Fleisch und Blut übergegangen. Helene hatte diesen Prozess – der sich ihrer Ansicht nach auf das ganze Leben bezog – zusätzlich durch Sinnsprüche festgehalten. Einer dieser Sprüche lautete: Der Sinn des Lebens besteht nicht darin, ständig den Kopf hochzuhalten … folglich muss auch nicht jeder Teig gelingen.

Alwy war sich nicht sicher gewesen, den Sinn der Worte erfasst zu haben, deshalb hatte sie nachgefragt.

»Menschen verlangen oft Unmögliches von sich«, hatte Helene erklärt, »nimm nur die irrsinnige Annahme, man müsse immer alles richtig machen oder immer gut drauf sein. Jeder ist in seinem Leben mal oben und mal unten. Mit dem Schneebesen in der Hand vergehen viele Sorgen. Wenn's mir schlecht geht, backe ich einen Kuchen … und warte ab, wie die Dinge sich entwickeln. Den Dingen Zeit lassen ist ein Geheimnis des Lebens. Zumindest für mich.«

»Entschuldige, aber das klingt nach Küchenweisheit. Zu schön und vor allem zu einfach, um wahr zu sein«, hatte Alwy kritisch angemerkt.

»Probier es aus. Ein Hefeteig verzeiht manches, nicht jedoch ein verschlossenes Herz. Während des Backens fällt es einem schwer, Probleme zu wälzen.«

Alwy hatte es ausprobiert und festgestellt, dass es unumgänglich war, bei der Sache zu bleiben. Während ihre Hände in den vertrauten Rhythmus fanden, verschwanden Probleme eine Weile hinter Mehlwolken und Zuckerbergen. Beim Zubereiten eines Teigs tauchte sie in den Fluss der Kreativität ein, die Sorgen flogen davon und der Kuchen gelang wie von selbst.

Nach dem Joggen zog Alwy sich in Tinas Tortenwerkstatt zurück und suchte die Zutaten für Brötchen und Guglhupf zusammen.

Die Backstube war die kleinste, die sie je zu Gesicht bekommen hatte, und die einzige, deren Fenster zur Straße hinausgingen. Bald schauten die ersten Spaziergänger herein. Alwy nickte ihnen zu und begriff in diesem Moment, dass sie den Blick in die Tortenwerkstatt als Werbefläche nutzen konnten. Sie mussten nur darauf achten, picobello gekleidet zu sein, falls Leute Fotos machten und diese posteten.

Während sie Mehl abwog, Rohrzucker, Vanille und abgeriebene Orangenschale bereitstellte, um später alles in den Mehlberg einzuarbeiten, warf sie einen flüchtigen Blick auf die Pinnwand, wo wichtige Termine notiert waren: Besprechungen mit dem Steuerberater, Einkäufe, die erledigt werden mussten, Überweisungen ans Finanzamt, Termine mit Lieferanten. Tina war in vieler Hinsicht gut organisiert. Gleich beim Hereinkommen hatte Alwy registriert, dass jeder Mixer, jeder Teigschaber und sogar der kleinste Löffel seinen Platz hatte. Wenn sie sich zu zweit in der Backstube aufhielten, musste nur jede an ihrem Arbeitsplatz bleiben, dann kämen sie sich nicht in die Quere.

Eine Stunde später zog der Duft von Brötchen durch die Backstube. Alwy legte das Gebäck zum Auskühlen auf ein Gitter. Helene hatte recht. Beim Backen verloren bedrückende Ereignisse – wenigstens für eine gewisse Zeit – ihren Stachel. Schon als Kind hatte sie beim Rühren in der Schüssel dieses Wohlgefühl verspürt. Und auch jetzt, wo sie in der Backstube herumhantierte, war sie mit sich im Reinen.

Sie machte sich an den Teig für die Guglhupfe. Als die Mini-Kuchen fertig waren, brachte sie die frischen Backwaren in Tinas Küche. Dort suchte sie nach einer Pfanne und bereitete Omeletts zu. Als alles fertig war – Kaffee, frisch gepresster Orangensaft, Brötchen, Butter, Marmelade, Omeletts und Mini-Guglhupfe standen auf dem Tisch –, weckte sie Tina.

»Guten Morgen, Tina! Aufstehen … Frühstück ist fertig.«

Wenige Augenblicke später erschien Tina im Türrahmen. Über ihr müdes Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Wie einladend … Was für ein Frühstückstisch.« Sie gab Alwy einen Kuss auf die Wange, schob die Ärmel ihres Bademantels hoch und griff nach der Kanne, um sich Kaffee einzuschenken. Dann setzte sie sich, nahm sich vom Omelett, griff nach der Serviette und legte sie sich auf den Schoß. »Seit wann bist du auf den Beinen?«

»Lange genug, um für ein Sonntagsfrühstück zu sorgen.« Alwy goss Orangensaft in ein Glas und trank einen Schluck.

Tina schenkte Alwy einen dankbaren Blick. »Ich Glückspilz schlafe aus und du legst dich ins Zeug und verwöhnst mich mit einem Frühstück.« Sie biss genüsslich in ein Brötchen.

»Nimm es als kleines Dankeschön, weil du diese Traumwohnung mit mir teilst.«

»Das ist pures Eigeninteresse«, entgegnete Tina kauend. »Endlich muss ich abends nicht mehr allein vor dem Fernseher herumlungern. Jetzt hab ich dich … und bin zu zweit.«

»Warte ab, bis du meine Macken kennst.« Alwy griff nach dem Salzstreuer, um das Omelett nachzuwürzen.

»Sag mal, was ist eigentlich passiert, dass Harald und du euch trennt? Ihr wart doch das Traumpaar schlechthin.« Tina taten die Worte leid, kaum dass sie sie ausgesprochen hatte. »Entschuldige«, sie ruderte zurück, »manchmal bin ich furchtbar unsensibel … und viel zu neugierig.«

»Nein, nein. Schon gut.« Alwy stellte den Salzstreuer zurück und legte das Messer auf den Tellerrand. »Die ersten Jahre mit Harald waren herrlich. Wir waren frisch verliebt und hatten große Pläne, und ein Teil dieser Pläne wurde ziemlich schnell Wirklichkeit …« In ihrer Stimme schwang Freude mit, als sie von dieser Zeit sprach. »Doch irgendwann hat Haralds Unruhe mich zur Verzweiflung gebracht. Sein Unvermögen, innerhalb der von uns gesteckten Grenzen zu bleiben, um für uns, als Paar, noch Raum zum Wachsen zu lassen, wurde zum Problem.«

»Ich hab manchmal durch Kollegen von euch gehört. Von euren Erfolgen.« Tina zupfte verlegen am Ärmelrand ihres Morgenmantels. »Alle schwärmten von euch als dem Powerpaar. Alles, was ich vorzuweisen hatte, waren Selbstzweifel.« Tina hatte nie eine Aufforderung zum Erzählen gebraucht, doch nun, wo sie von den gemeinsamen Zeiten sprach, fühlte sie sich unbehaglich.

»Ich erinnere mich vor allem an den übertriebenen Respekt, den du Harald entgegengebracht hast. Warum hast du dich von seiner Bestimmtheit einschüchtern lassen?«

»Das fragst du wirklich?« Tina stellte ihre Kaffeetasse klappernd auf die Untertasse. »Du weißt selbst am besten, über welch enormes Fachwissen Harald verfügt, von seinem Arbeitstempo ganz zu schweigen. Ich hatte immer das Gefühl, seinen Ideen beim Entstehen zusehen zu können.« Bei der Erinnerung daran schüttelte sie den Kopf. »Außerdem wusste er, wie gut er aussieht.«

»Klingt, als wärst du damals heimlich in ihn verliebt gewesen?«, rutschte Alwy heraus.

»Quatsch!« Tina schüttelte den Kopf. »Harald hatte nur Augen für dich. Mich hat er gar nicht wahrgenommen.« Sie verspürte heiße Scham, weil ihre Aussage nicht der Wahrheit entsprach. Sie war damals wie ein liebeskranker Teenager um Harald herumgeschlichen, nicht wissend, wohin mit ihren Gefühlen. Eine junge Frau mit abgebrochenem Medizinstudium und angeknackstem Selbstvertrauen war nicht das, was ein Mann wie er wollte, doch ihre Gefühle für ihn waren stärker gewesen als jeder vernünftige Gedanke.

In lebendigen Farben stieg plötzlich jener Freitagabend vor ihr auf, an dem Harald sie geküsst hatte. Nach einem gelungenen Event war das gesamte Team in den Himmel gelobt worden, was für eine Art Taumel gesorgt hatte. Alle hatten auf die gute Zusammenarbeit angestoßen, und während sie lachten und scherzten, warf Harald ihr verstohlene Blicke zu; er umgarnte sie mit einer Finesse, die für die anderen nicht erkennbar, für sie jedoch deutlich wahrnehmbar war. Auf dem Weg zur Toilette stand er plötzlich hinter ihr, nahm sie an den Schultern, drehte sie zu sich um und küsste sie. Sie spürte seine Lippen auf ihren und roch seinen Atem – nach Wodka und Zitrone. Einen kurzen Moment ließ sie sich auf den Kuss ein, dann stieß sie Harald von sich und lief davon.

Tina sah, wie Alwy Butter auf ein Brötchen strich, und plötzlich erschien es ihr unmöglich, mit dieser Lüge mit ihr zusammenzuarbeiten. Sie musste reinen Tisch machen und ohne Schatten der Vergangenheit in die Partnerschaft starten. Jetzt, wo Alwy nicht mehr mit Harald zusammen war, würde sie ihr den Kuss vielleicht verzeihen.

Tina langte nach dem Teller mit Schnittlauch, der auf der Arbeitsfläche stand, und verschaffte sich so einen Moment des Aufschubs. Durfte sie auf Ablass hoffen, wenn sie Alwy gestand, was sie damals für Harald empfunden hatte?

Als sie sich umdrehte und Alwys traurigen Blick sah, besann sie sich eines Besseren. Alwy war noch viel zu verletzt, um die Wahrheit zu verkraften. Sie musste warten, bis es ihr besser ging. »Erinnerst du dich, dass ich dich damals ständig nach deiner Meinung gefragt habe? Sicher bin ich dir mit meiner Fragerei gehörig auf die Nerven gegangen.«

»Überhaupt nicht!« Alwy stieg sofort auf das Thema ein. »Du hattest ungewöhnliche Ideen, warst talentiert und wissbegierig.« Sie lächelte bei der Erinnerung an Tinas manchmal seltsam anmutende Fragen. »Trotzdem hast du dich ständig klein gemacht, weil du viel zu selbstkritisch warst.« Sie bestreute ihre Brötchenhälfte mit frischer Kresse und murmelte plötzlich: »Harald liebt Scharfes: Chili, Meerrettich, Kresse. Er kann nicht genug davon bekommen.« Sie seufzte erschrocken. »Schon wieder rede ich von ihm. Dabei wollte ich genau das nicht tun.«

Tina sah sie mitfühlend an. »Sei nicht so streng mit dir. Vielleicht helfen diese Rückblicke dir beim Verarbeiten der Trennung?«

Als Harald München damals gemeinsam mit Alwy verlassen hatte, hatte sie tief durchgeatmet. Endlich bekamen ihre Gefühle für ihn keine Nahrung mehr und würden hoffentlich versiegen. Das alles war ewig her, und als sie sich vor einigen Monaten Gedanken über eine Teilhaberschaft gemacht hatte, war ihr sofort Alwy eingefallen. Sie war geradeheraus, mutig und verlässlich … und eine Koryphäe im Beruf. Es wäre großartig, mit ihr zusammenzuarbeiten.

»Konntest du dich damals nur wegen deiner Eltern nicht annehmen?« Diese Frage hatte Alwy sich schon damals gestellt, doch erst jetzt sprach sie sie aus.

»Ach, weißt du …«, Tina starrte gegen die Wand. »Mir ging alles Mögliche durch den Kopf, nicht nur die Familie. Wo mein Weg mich hinführt? Ob ich mich auf meine Gefühle verlassen kann? All diese Dinge.«

Alwy zeigte auf ein Foto auf dem Fensterbrett, darauf sah man Tinas Familie einträchtig nebeneinander. »Akademiker mit Hang zum Snobismus, so hast du deine Eltern beschrieben. Dein Vater, der erfolgreiche Arzt, der nie einen Gang runterschalten konnte, dazu deine ehrgeizige Schwester, Franca, nicht wahr?« – Tina nickte –, »und deine Mutter … was arbeitete sie noch mal ‌…?«, wollte Alwy wissen.

»Sie ist Ökonomin.«

»Auf dem Foto seht ihr wie eine glückliche Familie aus. Gib die Hoffnung nicht auf, dass ihr euch eines Tages wieder näherkommt.«

Tina verspürte weiterhin den Druck ihres schlechten Gewissens. Alwy redete so liebevoll mit ihr, und sie war nicht mal in der Lage, ehrlich zu ihr zu sein. Sie lockerte den Griff, mit dem sie ihren Teller hielt. »Eine Tochter, die ihr Medizinstudium schmeißt, um Konditorin zu werden, ist in einer Familie von Akademikern ein Affront. Und dass ich dich jetzt in die Firma hole, weil ich es finanziell sonst nicht schaffe, macht es nicht besser.« Sie klang betroffen.

»Du hast dir nichts vorzuwerfen, Tina. Um eine Firma zum Erfolg zu führen, braucht man einen langen Atem und auch ein bisschen Glück. Ich bewundere dich dafür, ›Cake Couture‹ ins Leben gerufen zu haben.«

»Du hast dich nicht verändert, Alwy, noch immer baust du Menschen auf und versuchst zu helfen.« Tina dachte an das Gelächter und die Witze zurück, von denen die Küche während ihrer Zusammenarbeit mit Alwy widergehallt hatte. In ihrer Anfangszeit als Pâtissière hatte sie in ihr nicht nur eine Freundin, sondern auch ein Vorbild gesehen, dabei war Alwy die Jüngere von ihnen. Alwys Leichtigkeit war der Ausgleich für den Stress zu Hause gewesen. Nach einem Gespräch mit ihr hatte sie den Frust vergessen, der sie niederdrückte, weil ihre Träume weit von der Realität entfernt waren.

»Halte durch. Überzeuge deine Eltern durch Können. Auch ohne akademischen Grad kannst du es zu etwas bringen«, war Alwy nicht müde geworden, ihr zu raten.

Jeder Tag, an dem Alwy mit der ihr eigenen Leichtigkeit Torten buk, war für Tina die Bestätigung gewesen, den richtigen Beruf gewählt zu haben.

Tina riss sich aus ihren Gedanken. Warum ließ sie die Vergangenheit nur in derart schillernden Farben aufleben? Damit erwies sie Alwy keinen Freundschaftsdienst und sich selbst auch nicht.

Alwy hatte das Brötchen aufgegessen, nun beträufelte sie einen Mini-Guglhupf mit Kaffeesahne. »Wie geht es deiner Familie heute?«

»Franca erklimmt von Jahr zu Jahr eine weitere Stufe auf der Erfolgsleiter, frag mich bitte nicht, bei welcher Bank sie zurzeit arbeitet. Privat tut sich nichts Nennenswertes, glaube ich. Beziehungen stehen bei Franca schon immer hintenan, die versprechen wenig Rendite … ›Nichts bringt so viel Reputation wie ein toller Titel auf der Visitenkarte und die Provision am Ende des Jahres!‹, hat Franca mal gesagt … tja, und meine Eltern … die sind noch dieselben.« Tina machte eine abwehrende Handbewegung. »Und jetzt zu mir … was mache ich? Ich bemühe mich weiterhin, die kleinen Spitzen zu übersehen, wenn man mich mal wieder darauf hinweist, dass ich nur Pâtissière geworden bin. Ich versuche weiterhin, mit allen gut klarzukommen, obwohl ich mir nicht mal sicher bin, ob das jemand bemerkt oder überhaupt will. Das ist doch krank, oder?«

»Nein, ist es nicht.« Alwy klang plötzlich ernst. »Es ist richtig, nicht aufzugeben. Es zeigt, wie wichtig dir Familie ist. Allerdings sollte Akzeptanz nicht von beruflichem Erfolg oder Misserfolg abhängen.« Alwy steckte sich ein Stück Guglhupf in den Mund. Ihre Miene hellte sich auf. »Der Teig ist luftig und der Geschmack interessant.«

Tina griff ebenfalls nach einem Guglhupf, kostete und nickte. »Mit einem Hauch Zimt, Orangenschale und Safran. Das Rezept nehmen wir auf jeden Fall in unser Sortiment auf.«

»Weißt du, was ich nie vergessen werde?« Alwy sah Tina versonnen an. »Wie du einmal davon gesprochen hast, dass es etwas Magisches hat, wenn Menschen einander wirklich zugetan sind.«

»Harald und du, ihr habt damals diese Magie verströmt. Ich hätte viel dafür gegeben, diesen Zusammenhalt innerhalb meiner Familie zu spüren. Wenigstens eine Zeitlang«, schränkte Tina ein.

Alwy hielt ihre Tasse mit beiden Händen umfasst. »Wie du siehst, hat auch Zusammenhalt ein Ablaufdatum.«

»Ja, leider! Dass Harald dich gehen lässt, bringt mein Weltbild gehörig ins Wanken.«

Alwy holte ein Foto hervor, das Harald und sie in Küchenuniform zeigte. Beide blickten sie strahlend in die Kamera. Während sie das Bild wehmütig betrachtete, gestand sie sich ein, wie beiläufig ihre Beziehung seit jenen Tagen geworden war. Wie ein Schatten ihrer selbst waren sie durch die letzten Monate getaumelt, oft gereizt, im besten Fall zerstreut. Beide hatten sie ihren Unmut auf die vielen Überstunden und den Schlafmangel geschoben, doch in Wahrheit trauten sie sich nicht zuzugeben, an einem Wendepunkt ihres Lebens angekommen zu sein. Sie hatten sich – jeder für sich – in ihre Wünsche und Vorstellungen eingekapselt, unerreichbar für den anderen, und so war die Trennung im Grunde nur eine logische Konsequenz gewesen.

Alwy reichte Tina das Foto und fasste ihre Gedanken für sie zusammen. Neben dem Schmerz, der sie in manchen Augenblicken niederrang, empfand sie seltsamerweise auch Erleichterung.

»Ich hab mich immer von meiner Kreativität leiten lassen, und es war fantastisch, dass Harald und ich das in den ersten Jahren miteinander teilen konnten … doch dann haben wir uns leider in unterschiedliche Richtungen entwickelt.«

Tina hörte aufmerksam zu. »Wie hat Harald sich denn verändert?«, fragte sie.

»Er ist übertrieben ehrgeizig geworden. Von Job zu Job wurde es immer schlimmer. In Tokio hat der Ehrgeiz ihn jeder Lockerheit beraubt. Ganz oben ankommen und dabei keine Zeit verlieren, war alles, was ihn noch interessierte.«

»Er hatte doch tolle Jobs. Warum wurde Erfolg zu einer derartigen Obsession für ihn?«

»Wegen des elitären Zirkels der Drei-Sterne-Köche. Weißt du noch, wie wir früher mit größtem Respekt darüber gesprochen haben? Wenn du Mitglied bist, gehörst du zu den weltbekannten Köchen. Harald wollte unbedingt aufgenommen werden.«

Tina erinnerte sich: »Kulinarik-Royals, so haben wir sie genannt … als würde man in den Adelsstand erhoben.«

Alwy schob ihre Kaffeetasse weit von sich. »Die Angst, diesen Schritt nicht rechtzeitig zu schaffen, hat Harald ungeduldig werden lassen, manchmal sogar zynisch. Ich hab oft versucht, ihn daran zu erinnern, was er schon erreicht hat. Harald hat das als Schwarzmalerei verstanden, als Kritik an seiner Person. Erreichtes war vergangen, für ihn zählte nur das, was vor ihm lag. Er duldete keinen Angriff auf seinen Lebensplan. Worte prallten an ihm ab wie ein Ball an einer Mauer.«

Tina gab Alwy das Foto zurück.

Sorgsam steckte diese es weg. »Denk nicht dauernd an früher, das hab ich mir fest vorgenommen, als ich herkam. Und nun rede ich nur von Harald und mir.« Das Licht draußen war weicher geworden, wirkte einladend.

»Harald ist ein Teil deiner Vergangenheit. Außerdem habe ich von früher angefangen … nicht du.«

Alwy stand auf und stellte einen Teil des Geschirrs in die Spüle. Während sie den Tisch abräumte, lenkte sie das Gespräch auf ein anderes Thema. »Gibt es eigentlich Neuigkeiten bezüglich André?«

Immer wenn Andrés Name fiel, spürte Tina eine leichte Gereiztheit, weil sie an dieses Kapitel ihres Lebens ungern zurückdachte. »André und ich, das ist vorbei. Drei Monate Liebeskummer sind genug. Ich hab keine Kraft mehr, mir den Kopf über ihn zu zerbrechen. Das Gefühl, in der Luft zu hängen, hab ich hinter mir.«

Eine Falte erschien zwischen Alwys Brauen. »Mein Hals ist wie zugeschnürt, sobald ich an Harald denke. Ständig grüble ich darüber nach, ob ich es nicht doch hätte schaffen können, ihn aus diesem Kokon aus Ehrgeiz herauszuholen.«

Tina schob den Stuhl zurück, stand auf und fasste Alwy bei den Schultern. »Und wie, bitte schön, hättest du das machen sollen? Versteh mich nicht falsch: Ich mag Menschen mit Visionen. Doch wenn das Ganze exzessiv wird, steige ich aus. Harald braucht das Gefühl, ausgepowert zu sein. Er wird nie ruhiger werden, außer das Leben zwingt ihn dazu.«

Alwy löste sich aus Tinas Griff und begann, die kleinen Kuchen in Zellophan zu wickeln: »Vielleicht hast du recht. Vermutlich scheut er sich, über sein Leben nachzudenken.« Sie blickte aus dem Fenster, wo ein Vogel auf dem Sims saß.

»Hat er eigentlich noch Kontakt zu seiner Familie?« Tina hatte sich wieder gesetzt und fuhr mit den Fingerspitzen den Rand ihrer Tasse ab.

Alwy schüttelte den Kopf. »›Wer mich nicht versteht, hat keinen Platz in meinem Leben!‹ Haralds Satz, wenn es um die liebe Familie geht.« Sie lachte freudlos. »Das galt sogar für seinen Bruder, mit dem er sich früher so gut verstanden hat.«

»Klingt ziemlich hart«, Tina ließ klappernd ihren Löffel in die Spüle fallen. »Nach dem Konkurs seiner Firma haben André und ich nur noch über Finanzielles gesprochen. Unser zweitliebstes Thema war seine Ex-Frau, die ihm ständig mit ihren Forderungen in den Ohren lag. Wir waren wie paralysiert, jeden Tag nur diese beiden Themen, bis wir nicht mehr konnten …« Tinas Gesichtsausdruck war ein Spiegel ihres Gemütszustands. Das Ende der Beziehung mit André schmerzte sie mehr, als sie zugeben wollte. »Eine Liebe, die nicht an den Gefühlen scheitert, sondern an den Umständen, ist besonders traurig. Gott sei Dank bin ich nicht der Typ für bitteres Selbstmitleid.« Tina setzte mit Nachdruck hinzu: »Egal, was war, ich lasse mich nicht unterkriegen. Und du auch nicht.«

Alwy schraubte den Deckel auf das Marmeladenglas und stellte es in den Kühlschrank. »In den letzten Jahren gab es nur Harald für mich. Aber ehrlich gesagt, hab ich die meisten Dinge mit mir selbst ausgemacht.« Sie holte tief Luft und lehnte sich an den Kühlschrank. »Wir starten noch mal durch, Tina. In allen Bereichen.« Sie hielt Tina die Hand zum Abklatschen hin.

Voller Euphorie schlug Tina ein. »Ab sofort verlieben wir uns nur noch in Männer, die sich wirklich dafür interessieren, was wir sagen und fühlen.«

5. Kapitel

Es war kurz vor neun, als sie sich ins Wohnzimmer zurückzogen, um die Lage zu sondieren.

Tina klappte ihren Laptop auf, drückte die Enter-Taste und öffnete das Buchhaltungsprogramm. »Ehrlich gesagt hab ich mir die Selbstständigkeit leichter vorgestellt. Die Gesetze und Vorschriften, der Stress mit Lieferanten, dazu das leidige Thema Marketing … wie soll man das alles hinkriegen, neben der Arbeit in der Backstube?« Sie war eine hervorragende Pâtissière, doch Buchhaltung war ihr ein Gräuel. Bei diesem Thema kannte sie sich viel zu wenig aus.

Alwy schlüpfte aus den Schuhen, froh, ihre Füße auf dem Boden zu spüren. Sie wusste, dass Tina die letzten Monate täglich vierzehn Stunden gearbeitet und nachts kaum geschlafen hatte, weil die finanziellen Sorgen wie ein Stein auf ihrer Brust lasteten. Diese Zeit hatte Spuren hinterlassen. Tina wirkte ausgebrannt.

»Wir verschaffen uns jetzt erst mal einen detaillierten Überblick, dann sehen wir weiter.« Sie beugte sich über die Geschäftsunterlagen und versuchte, Zuversicht zu vermitteln. »Bald wird es leichter werden. Jetzt sind wir zu zweit«, versprach sie. Während sie die Konten durchging und die Papiere durchsah, die Tina ihr gegeben hatte, wurde ihr immer unbehaglicher zumute. Bei jedem Konto war es, als bräche ein weiterer Stützpfeiler weg, auf den sie sich bisher verlassen hatte.

Während ihrer letzten Wochen in Tokio hatte sie nach einem Ausstieg aus ihrem Leben gesucht. In dieser Situation war ihr eine Beteiligung an ›Cake Couture‹ nicht nur spannend und interessant, sondern wie die Lösung schlechthin erschienen. Selbstverständlich hatte sie die Unterlagen durchgesehen, die Tina ihr zur Verfügung gestellt hatte, allerdings weniger genau, als sie es hätte tun sollen. Über manches hatte sie großzügig hinweggesehen. Doch jetzt, während leise das Papier raschelte und sie Position für Position durchging, wo sie sich wirklich ein Bild machte, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie erkannte, wie wenig hoffnungsvoll die Zahlen waren. Offenbar war sie in Tokio zu sehr mit sich und ihren Gefühlen beschäftigt gewesen, um klar denken und entscheiden zu können. Nach jetziger Erkenntnis musste sie zugeben, dass sie ihre Zusage, Teilhaberin zu werden, vorschnell gegeben hatte.

Wenn man es kurz und knapp zusammenfasste, war die Situation folgendermaßen: Tina war eine Frau mit enormer Sachkenntnis, die in ihrer Kreativität aufging, die wirtschaftlichen Belange allerdings vernachlässigt hatte. Darüber war die Patisserie in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten. Wenn sie ›Cake Couture‹ in die schwarzen Zahlen bringen wollten, mussten sie ein kleines Wunder vollbringen. Wie dieses Wunder aussehen sollte, wusste Alwy noch nicht. »Meine Geldspritze verschafft uns leider nur einen kleinen Spielraum. Wir können weiterhin keine Pläne schmieden, die Investitionen erfordern, das heißt, wir müssen im nächsten Jahr haarscharf kalkulieren … vor allem müssen wir einiges ändern, damit wir auf Dauer konkurrenzfähig bleiben.«

Draußen hatte es zu regnen begonnen. Tina schloss das Fenster. Als sie sich wieder setzte, sagte sie: »Wenn ich eins gelernt habe, dann das: Für eine Sache zu brennen, ist wunderbar, dieses innere Feuer nützt allerdings wenig, wenn man kein tragfähiges Geschäftsmodell hat.«

»Da muss ich dir zustimmen.« Alwy ging die offenen Rechnungen durch. »Deine Außenstände sind sehr hoch«, stellte sie fest.

»Leider gibt es Kunden, die nicht pünktlich zahlen.« Tina zog die Stirn kraus. »Außerdem hat ein Hotelier, der regelmäßig von mir beliefert wird, vor kurzem Konkurs angemeldet. Das ausständige Geld kann ich vermutlich vergessen.« Sie zog die Beine an und schlang ihre Arme darum.

»Einen Anwalt einzuschalten hat in dieser Situationen vermutlich wenig Aussicht auf Erfolg. Wir müssen die Summe abschreiben und uns auf das konzentrieren, was vor uns liegt. Energie in etwas zu stecken, das wir nicht ändern können, hemmt nur.« Alwy atmete tief durch, um sich zu sammeln. Die Miete für die Patisserie war günstig, außerdem würden sie ihre Privatentnahmen kürzen und sparen, wo es nur ging. Mit der Bank mussten sie ebenfalls sprechen. Damit hätten sie allerdings erst einige kleine Schritte in die richtige Richtung gesetzt.

Einen Schritt nach dem anderen gehen und nie zu weit nach vorne blicken. Du kannst die Zukunft nicht erahnen, hatte Helene ihr immer geraten. Wie recht sie hatte. Wenn man zu weit in die Zukunft sah, hemmte einen die Angst. Ab sofort würden sie immer nur die nächsten Wochen planen und jeden Tag ein bisschen mehr über ihre Grenzen gehen. Mit etwas Glück würden sie so das nächste Jahr schaffen. Danach sähe man weiter.

Alwy ließ sich in den Sessel fallen. Sie spürte, wie sie sich entspannte. »Mach dir keine Sorgen, Tina. Wir werden aus dem Schlamassel herauskommen … weil wir bereit sind, alles zu geben.« Sie verdrängte das mulmige Gefühl angesichts ihres übertrieben positiven Statements. Jetzt war es wichtig, optimistisch zu bleiben.

Tinas Gesicht hellte sich auf. »Hast du vielleicht schon ein paar clevere Ideen, wie wir einen oder zwei Gänge hochschalten können?«

»Wunder hab ich nicht auf Lager, Ideen schon!« Alwy beugte sich wieder nach vorn, rutschte zu Tina hinüber und reichte ihr eine Liste, auf der sie die wichtigsten Punkte festgehalten hatte. »Wenn wir es schaffen, ›Cake Couture‹ über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt zu machen, haben wir eine reelle Chance.«

Tina entkam ein freudloses Lachen. »Hast du unser mageres Budget für Werbung vergessen?«

»Hab ich nicht. Wir müssen es ohne viel Geld schaffen.« Alwy breitete die entsprechenden Unterlagen vor Tina aus. »Erfahrung, Standort und Visionen schön und gut, aber wenn wir erfolgreich sein wollen, müssen wir wesentlich mehr Menschen erreichen als bisher.«