Lebe deine eigene Melodie - Irmtraud Tarr - E-Book

Lebe deine eigene Melodie E-Book

Irmtraud Tarr

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Beschreibung

Älterwerden kann auch positiv sein! Nachdenken über sich selbst

Ich werde älter – na und!? In der Lebensmitte bekommt unser Leben deutlichere Konturen: Erfolge, Fehlgriffe, Erlittenes und Selbstverschuldetes zeigen die Grenzen und Unwägbarkeiten unseres persönlichen Geschicks. Nun geht es nicht mehr darum, möglichst viel zu erreichen, sondern darum, Beschränkungen als Voraussetzung für eine aufmerksame, tiefe Begegnung mit sich selbst und anderen zu akzeptieren. Jetzt ist die Zeit, sich mit Leib und Seele einer Sache zu verschreiben und zu entscheiden, wer wir sein, wie wir leben wollen. Noch ist die Zeit nicht knapp, aber zum Verschwenden zu kostbar: Sie will mit Sorgfalt gelebt werden. Irmtraud Tarr zeigt in ihrem erfrischend eigensinnigen Buch, wie wir uns den Geschenken öffnen können, die die Zeit des Älterwerdens bereithält – damit dieser Lebensabschnitt zu einem Ort der Fülle und Erfüllung wird.

  • Ein kluges Buch zum Thema Älterwerden – jenseits aller Ratgeberliteratur
  • Die positiven Aspekte der Freiheit des Alterns erkennen

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Seitenzahl: 227

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Irmtraud Tarr, Dr. phil., Lehrtherapeutin, Musiktherapeutin, Psychotherapeutin für Kinder- und Jugendliche. Konzertorganistin mit internationaler Tätigkeit und Aufnahmen für Tonträger, Funk und Fernsehen. Autorin zahlreicher erfolgreicher Bücher in mehreren Sprachen.

www.irmtraud-tarr.de

Inhaltsverzeichnis

Über den AutorÄlterwerden – Geschenk oder Zumutung?Klare AugenCopyright

Älterwerden – Geschenk oder Zumutung?

Mein Buchtitel »Lebe deine eigene Melodie« verlangt nach einer Definition. Manche verbinden mit dem Wort »Melodie« etwas, das nur Musiker angeht. Ich spreche von einer Melodie, die mit innerer Bewegung, mit Lebendigkeit zu tun hat, die im weitesten Sinn dieses lebenslange Unterwegssein, dieses auf dem Weg zu sich selbst sein, meint – etwa im Gegensatz zur Bequemlichkeit, zur Trägheit, Eintönigkeit und Gleichgültigkeit. Der Schaukelstuhl, das möchte ich bewusst machen, ist nicht der richtige Platz in dieser Lebensphase. Es genügt nicht, sich lediglich um das eigene Blumenbeet zu kümmern, Älterwerden heißt nicht starr, stur werden und Ruhe bewahren, sondern neugierig, engagiert, innovativ und kämpferisch sein. Für mich selbst bedeutet die eigene Melodie leben ganz konkret das, was ich Tag für Tag praktiziere: im Teich schwimmen, Orgel üben, träumen, lesen, schreiben und mein Erfahrungswissen an andere Menschen weitergeben. Ohne diese täglichen inneren und äußeren Bewegungen wäre für mich das Älterwerden nicht denkbar.

Mein 60. Geburtstag fühlte sich längst nicht so prickelnd, optimistisch und ausgelassen an wie mein 50. Ich fühlte mich zwar noch nicht alt, aber eben auch nicht mehr jung. Eine merkwürdige Mischung aus Melancholie, Nachsicht und freche Gelassenheit umhüllte die Feierlaune. Stimmt es womöglich doch, dass sich das Aufregende im Leben nur zwischen 25 und 40 abspielt? Werde ich jetzt alt? Bin ich schon alt? Was erwartet mich in diesem Stadium von nicht mehr jung und noch nicht alt?

Haben wir nicht alle diese Sätze im Ohr: Älterwerden ist die Hölle. Älterwerden ist ein Massaker. Älterwerden ist eine Demütigung. Ab jetzt geht es nur noch bergab. Trübe Augen, schwache Ohren, zitternde Knie. Jemand müsste den Spiegel abdecken. Werde erst mal älter, dann wirst du schon sehen!

Was ist denn das Älterwerden? Ein paar Lebensjahre mehr? Der Anfang vom Ende? Der Rest des Lebens? Das Ende des Tunnels? Eine Frau beschrieb es pfiffig: »In diesem alten Bilderrahmen bin ich eine undefinierbare Dreißigbis-Vierzigjährige, schlank wie der Morgen, schön wie der Abend. Natürlich war ich nie schlank und schön, aber das ist es, was ich tief innen fühle.« Eine andere meinte: »Ich finde, das beste Alter ist immer gerade das, was man gerade hat. Auch wenn ich nur noch in den Spiegel schaue, wenn es unbedingt sein muss, kann ich mich gar nicht entsinnen, je so intensiv im Hier und Jetzt gelebt zu haben.« Oder wieder eine andere: »Ich fühle mich nicht besonders alt, denn ich erlebe immer wieder Offenbarungen, die zugleich ganz gewöhnlich und ganz großartig sind – die Blume, die ich früher übersehen hätte, das Lächeln des Mädchens im überfüllten Markt mit diesem Ausdruck von Heiterkeit und Frieden, das ich bis heute erinnere.«

Im jungen Alter holt uns unweigerlich eine Überraschung ein. Die Art und Weise, wie wir die Welt und das eigene Leben auffassen, ist nicht mehr dieselbe wie zuvor. Eine tiefgehende, fast unmerkliche Metamorphose findet statt, an der wir als Opfer und Täter mitwirken. Oder wie der Essayist Dieter Wellershoff meinte: »... wie ein Betrug, an dem man selbst beteiligt war. Als Betrüger und Betrogener.« Es ist schwer zu begreifen, was es heißt, »in die Jahre zu kommen«. Keiner hat uns auf diesen neuen Geisteszustand vorbereitet, der so gemischte Gefühle hervorruft.

Kann man beschreiben, wie eine reife Birne schmeckt? Wohl kaum, man muss schon selbst eine essen. Plötzlich realisiert man nämlich, was nicht gewesen ist, was man versäumt oder vermasselt hat, wozu der Mut, die Energie oder die Liebe fehlten. Oder man beschleunigt auf der Lebensstraße, stopft sich voll mit Terminen, Listen und Routinearbeiten, kontrolliert jedes Anzeichen körperlichen Verfalls, um die Angst vor dem Alter in Schach zu halten. Und wer die Arbeit gehasst hat, für den rückt jetzt die große Entlastung in greifbare Nähe. Endlich spielen, wandern, bummeln, golfen, lange frühstücken, Zeitung lesen, Klavier üben, mit den Enkelkindern blödeln. Endlich schlichter, gelassener und leichter leben.

Für manche ist diese Lebensphase die Zeit der Krisen, des Ausgebranntseins, der Konflikte in Partnerschaft und Familie, und vor allem des Alleinseins. Das bisher gelebte und ungelebte Leben treffen hart aufeinander und ringen um eine Zukunft, die ungewiss und unsicher ist. Viele aber empfinden diese Lebensphase als Zenit ihres Lebens, und spüren eine ganz neue Kraft und Freiheit in sich. »Endlich darf ich mir gehören«, sagt eine Ingenieurin, die sich nun selbstständig macht und beratend tätig sein wird, um mehr Zeit für ihre kreativen Potenziale zu finden. Wie viele andere bestätigt sie, dass zwar die körperlichen Kräfte nachlassen, dafür aber im Innern neue Kräfte heranwachsen, die für größere Klarheit, Konzentration und Kreativität sorgen.

Abgesehen von den oft grotesken Maskeraden zwanghaften Jungbleibenwollens und der Angst vor Demenz oder Senilität, ist das junge Alter der privilegierte Ort, sein Leben neu zu ordnen und zu gewichten. Allerdings bedarf es bewusster Entscheidungen, denn die neuen Weichenstellungen sind keineswegs vorprogrammiert. Wir selbst haben das Steuer nun in der Hand, keiner »richtet es« mehr für uns. Entweder wir werden wiedergeboren oder beginnen zu sterben, prognostizierte die Psychotherapeutin Katrin Wiederkehr.

Wiedergeboren werden oder sterben ist in der Tat die Entscheidung, die diesen Lebensabschnitt bestimmt. Wir begreifen allmählich, dass unsere Tage gezählt sind und deshalb jeder Tag zählt. Wir werden unruhiger, wo »tote« Zeit ist und beziehen den Satz »alle Menschen müssen sterben« vielleicht erstmalig auf uns persönlich. Wir ertappen uns, wie wir die Todesanzeigen nun aufmerksamer studieren. Und wenn unsere Katze, der Goldhamster oder ein Verwandter sterben, dann dämmert es uns unausweichlich, dass dies irgendwann auch das eigene Schicksal sein wird. Wir realisieren Endlichkeit als eine Tatsache des Lebens. Vor diesem dunklen Hintergrund erstrahlt plötzlich die Kostbarkeit der Lebenszeit. Der Schritt ist zwar nicht mehr so federnd, aber er sucht sich seine eigenen Wege von der verschwenderischen Weite in die Tiefe, von der Zerstreuung in die Sammlung. Wir fahren langsamer, aber dafür sehen wir viel mehr. Wir beginnen hinzuschauen, zu fragen und zu verstehen. Wie bin ich eigentlich zu mir selbst gekommen? Wieso kam alles so, wie es kam? Warum habe ich gerade diesen Weg eingeschlagen? Ist es das, was ich wirklich gewollt habe? Hier bin ich gelandet, was bleibt mir noch? Die Zeit des Rückblickens, der bewussten Hinnahme, des »Werde, der du bist« ist nun unabweisbar.

Eine neue Dimension von Eigensinn und Freiheit tut sich auf. Wir lassen uns nicht mehr dreinreden und tun das, was wir für richtig halten. Unser eigenes Maß bestimmt unseren Rhythmus. Der Anpassungsdruck nach außen wird geringer, weil wir nicht mehr alles im Griff haben müssen, und weil wir dem Leben trotz Enttäuschungen und Verletzungen mit gelassener Zuversicht trauen, ohne es beherrschen zu müssen. Die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich bringt es auf den Punkt: »Das Angenehme am Altern ist, dass man weiß, wer man ist.«

Wo ein Weg endet, beginnt eine andere Reise. Eine Reise, die nicht in der alten Kraft nach vorn drängt, sondern in die Tiefe der Selbstbegegnung. Älterwerden befreit von der naiven Empfänglichkeit für Ideologien, Meister, Gurus, Gruppen und Dogmen. Wir wollen uns selbst ein Urteil bilden, weil wir unseren eigenen Gefühlen und Erfahrungen zu trauen gelernt haben, die uns die unterschiedlichsten Begegnungen, Naturerlebnisse, Kunst und Literatur zuspielen.

Unsere Wünsche ändern ihre Richtung. Sie verlieren an Schärfe und Dringlichkeit und gehen ins Hoffen über, das nach vorn alles offen, voller Möglichkeiten lässt und auf Vertrauen baut. Ein milderes, wärmeres, ruhigeres Klima ist zu wittern. Es sind nicht mehr die spektakulären Ereignisse, die uns in Hochstimmung versetzen. Waren es die großen Herausforderungen, eine neue Liebe oder ein bedeutender Erfolg, die früher zu Euphorien führten, so sind es nun andere, unscheinbare Wunder, die wir vorher vielleicht nicht einmal bemerkt hätten – der sorgsam gedeckte Tisch, ein Baum, ein Stein, eine warme Hand, ein Lächeln, eine Wolkenformation. Sie versetzen uns in Schauer, wie damals in Kindertagen, als mich beim Anblick von Wespennestern wohlige Gänsehaut überfiel.

Die Sinne werden feiner, selektiver, nuancierter. Der Blick wird weicher, empfänglicher. Wir sehen zwar nicht mehr so scharf im Nahbereich, dafür sehen wir auch vieles nicht mehr so eng und gewinnen eine Weitsicht, die uns hilft, die Dinge aus der historischen Perspektive zu sehen. Auch der Verlust an Hörschärfe hat seine praktische Seite, man entwickelt eine Selektivität, die einen feinspüriger macht für das, was man hereinlassen oder weglassen will. Die Berührungen werden behutsamer, unvoreingenommener, weniger zupackend. Es geht nicht mehr darum, möglichst viel zu verschlingen und anzuhäufen, sondern um den Sinn für Grenzen, Eigenmaß und Unterschiede. Wir beschränken und schützen uns, nicht im Sinne von Askese oder Beschneidung, sondern weil uns mehr daran liegt, tiefer und aufmerksamer uns selbst und anderen zu begegnen.

Die Wahrnehmung wird offener, weil sie nicht mehr überlagert ist von selbstbezogener Erfolgs- und Leistungsmotivation. Die Energien, die vorher gebunden waren durch Anpassungsbereitschaft, Beschäftigung mit dem Eindruck auf andere, Zwang, sich zu beweisen und Bedürfnis nach sozialem Applaus, werden allmählich frei und schaffen Raum für neue Offenheit und »Durchlässigkeit für das Wesentliche« (Wiederkehr 1999).

Die Auflösung alter Orientierungen zeigt sich auf unterschiedliche Weise, die mit der persönlichen Ausstattung und Lebensgeschichte zusammenhängen. Für die einen ist diese Phase die Zeit der Ernte, der Reife und der Erfüllung, in der es um die Besitznahme und den klugen Einsatz erworbenen Wissens geht. Manche fühlen die bisher ungelebte Kraft ihrer Rebellion, die sich gegen Anpassung und einseitige Rollenzuweisung wehrt, während sich andere an eingeschliffenen Abläufen festklammern oder den resignierten Rückzug in vorzeitiges Altern antreten. Gemeinsamkeit dieser individuellen Geschichten ist die gefühlte oder gefürchtete Erkenntnis, dass Wachstum nicht mehr in der alten Kraft nach vorn drängen kann, sondern in die Tiefe gelenkt und an Dichte gewinnen soll.

Damit ist das junge Alter zugleich die Zeit, die durch das Verlangsamen der Rhythmen das tiefe Genießen möglich macht. Wir genießen noch alles, aber eben anders als früher, weil nichts mehr selbstverständlich ist. Genuss ist immer der Augenblick, wäre er unbegrenzt, so wäre er kein Genuss.

In den Jahren bekommt unser Leben deutlichere Konturen. Erfolge, Bewältigtes, Überstandenes, Fehlgriffe, Nicht-Gelungenes, Nicht-Erreichtes, unfair Erlittenes und Selbstverschuldetes zeigen die Grenzen und die Doppelgesichtigkeit unseres persönlichen Geschicks. In diesen Balanceakten zwischen Gelingen und Misslingen entwickelt sich unser Schicksal, seine Erfüllung oder sein Scheitern. Wir erlangen Kenntnis von den Rhythmen und Gesetzen, die unser Schicksal bestimmen, die zu schlichten Einsichten führen: »Nicht alles Unglück kommt, um uns zu schaden.« »Nichts ist für immer.« »Auch das geht vorbei.« Wir haben uns in einer Nische der Wirklichkeit eingenistet, die uns selbst gehört. Wir finden den Mut, das Dumme beim Namen zu nennen, weil wir spüren, jetzt ist die Zeit, sich für Wesentliches und Erkanntes einzusetzen: sich mit Leib und Seele einer Sache hinzugeben, in einer Aufgabe aufzugehen, und zu entscheiden, wer oder wie wir sein wollen.

Noch ist die Zeit nicht knapp, aber zum Verschwenden ist sie zu kostbar. Die Tatsache, dass wir heute ein gesegnetes Alter von 80, 90 Jahren erreichen können, ist ein Geschenk des Fortschritts, das wir dankbar annehmen und mit Sorgfalt leben.

Ich werde einige Schlüsselqualifikationen herauskristallisieren, die für diese Lebensetappe wesentlich sind. Im Zentrum steht die Beziehung, die wir zu uns selbst haben, denn von ihr hängt es ab, wie eigensinnig, entscheidungsfreudig, mutig, schöpferisch und gelassen wir diese Lebensetappe bewältigen. Wir haben die Wahl, ob wir uns »unser« Leben zurückerobern und die werden, die wir sind, oder ob wir in den Sümpfen von unbewussten, unreflektierten Verlusten, Verfall, Verletzungen und Vorwürfen versinken. Öffnen wir uns für die Geschenke, die diese Zeit bereithält. Woher sollten wir sonst die Kraft nehmen für unseren Weg?

Im Aufspüren von Erfahrungen, Entdeckungen und Wahrnehmungen, wurde mir immer deutlicher, dass dieses Buch keine starre Gliederung in Ober- und Unterkapitel verträgt. Es war eine Entdeckungsreise, die fernab von Handbüchern und Ratgebern, weit entfernt vom Funktionalismus ein Unterwegssein bedeutet, dessen Merkmal der Wandel ist. Deswegen geht ein Kapitel in das nächste über, weil dieses Vorgehen eher dem entspricht, was in uns vorgeht, wenn wir älter werden. Die Fähigkeit zur Verwunderung, zum Staunen, zum Wandel, zur eigenen Melodie lässt sich nicht in sauber gegliederte Abschnitte einteilen. Stattdessen gönnen wir uns Zeit zum Unterwegssein, zum Abschweifen, zum Assoziieren, Träumen und Nachdenken, um Markierungen, Zeichen und kleine Wunder unter den Bergen von Erfahrungen wiederzuentdecken.

Klare Augen

Ich beginne mit einer Geschichte, die sich in Washington DC an einem kalten Morgen abspielte:

Ein Mann mit einer Geige postierte sich in einer Metrostation und spielte einige Werke von Bach während ungefähr einer Stunde. In dieser Zeit gingen an die zweitausend Menschen an ihm vorbei, die meisten von ihnen waren auf dem Weg zur Arbeit. Nach drei Minuten registriert ihn ein Mann, hält für ein paar Sekunden an, und geht rasch weiter. Nach vier Minuten wirft eine Frau einen Dollar in seinen Hut und setzt ihren Weg blicklos fort. Nach sechs Minuten hält ein junger Mann, hört ein wenig zu, schaut auf seine Uhr und geht. Nach zehn Minuten kommt ein kleiner Junge gerannt und lauscht staunend, aber seine Mutter reißt ihn weg. Widerwillig folgt das Kind und dreht sich immer wieder nach ihm um. Mehrere andere Kinder folgen seinem Beispiel, aber sie werden ebenfalls von ihren Müttern weggezerrt. Nach 45 Minuten stehen für eine kurze Weile etwa sechs Personen um den Geiger herum und lauschen ein paar Minuten. Zweiunddreißig Dollar liegen nach einer Stunde in seinem Hut. Der Geiger beendet sein Spiel – niemand beachtet ihn, niemand applaudiert, niemand gibt ihm auch nur einen Funken Anerkennung.

Der Geiger war Joshua Bell, einer der größten Geiger der Welt. Zu seinem Repertoire gehören die virtuosesten Werke der musikalischen Weltliteratur, und der Wert seiner Geige liegt bei etwa 3,5 Millionen Dollar. Zwei Tage vorher spielte er vor dem restlos ausverkauften Theater in Boston, wo die Eintrittskarten durchschnittlich hundert Dollar kosteten.

Die Geschichte ereignete sich tatsächlich. Sie war Teil eines wissenschaftlichen Experiments zur menschlichen Wahrnehmung, zu Geschmack und Prioritäten. Sie bringt mich auf die Frage: Wie viele kostbare Momente verpassen wir sonst, wenn wir nicht einmal Zeit haben, einem der weltbesten Geiger beim meisterlichen Bachspiel auf einem der wertvollsten Instrumente zuzuhören?

Vielleicht illustriert diese Geschichte, die mir die Sprache verschlug, treffender als abstrakte Worte die Kraft der Wahrnehmung, die unser Erleben im reiferen Alter formt. Es fällt auf, dass die Kinder in dieser Geschichte instinktiv stehengeblieben sind und mit aufmerksamer Neugier dem Geiger zuhörten. Ihre Sicht ist noch ganzheitlich. Alles was Erwachsene später ignorieren, verleugnen oder bekämpfen, hat noch Platz und Bedeutung für Kinder. Wenn Mütter sie zwingen sich abzuwenden, bringen sie ihnen bei, all das auszusondern, was die eingeübten Gewohnheiten und perfekten Tagesplanungen stören könnte. Künftig rückt an die Stelle von Spontaneität und seelenruhiger Aufmerksamkeit der hektische Wirbel von Aktivitäten, Erledigungen und Terminen. So kommt man zwar irgendwie über die Runden, aber im Alter der Reife, wenn der Blick klarer und weiter wird, verändert sich die Sichtweise.

Wir haben die Chance, die banalen Abläufe aufzubrechen und an die ursprünglichen Verbundenheiten wieder anzuknüpfen. »Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder«, diese biblischen Worte sind keineswegs ein dümmliches Lob auf die niedliche Unschuld der süßen Kleinen. Sie sind vielmehr klar und weise. Was wir einst an ganzheitlicher Wahrnehmung besaßen, ohne darüber zu reflektieren, ist auch das, was wir uns an Lebendigkeit durch Einsicht, Einübung und Überwindung wieder aneignen können.

Sich unter den Schichten von Verpflichtungen und Konventionen für andere Welten der Wahrnehmung zu wecken, braucht eine Zentrierung nach innen, eine Selbstzuwendung, die nicht zu verwechseln ist mit egoistischer Selbstbezogenheit oder narzisstischer Selbstbeschäftigung. Die Zuwendung zum Selbst geht in eine andere Richtung. Indem wir uns freimachen von Banalitäten, Erwartungen, Zwängen, Effizienz und den nötigen Leerraum schaffen für das Spiel anderer Bilder, wird das Selbst zum Resonanzraum für Eindrücke und Ahnungen, von denen wir uns vielleicht lange nicht mehr berühren ließen. Die Welt spricht neu zu uns. Wir finden die geheimnisvolle Begegnung mit den Dingen wieder, sei es eine Geste, ein tiefer Blick, ein Wesen, ein Stein, ein Baum, eine Stimmung, Wasser, Feuer oder Erde. Die Geistesblitze werden wesentlicher, weil wir nicht mehr so sehr von uns selbst besessen sind. Das heißt nicht, dass wir uns von der Welt abwenden und Verantwortlichkeiten und Aktivitäten abgeben, aber unsere Einstellung verändert sich. Sie ist nicht mehr verhaftet mit den Schlacken von Selbstsucht, Selbstbestätigung und Konkurrenzdruck. Wenn wir uns selbst relativieren, erhalten wir Zugang zu anderen Reichtümern. Wir können uns eher für das Panorama dieser Welt öffnen, weil der Umweg über Selbstbezogenheit und Rentabilität nicht mehr so viele Energien bindet.

Eine 59-jährige Geschäftsfrau schrieb mit ihren Füßen in den Sand: »Es gibt mich.« Früher lag sie am Strand, um sich die knackige Bräune für ihre Auftritte zu erarbeiten, nun zieht sie ihre eigene Spur in der Wärme des Sandes. »Auf die unzähligen Sonnenbrände bin ich nicht mehr scharf, nur weil ich möglichst schnell braun werden wollte. Jetzt bin ich in dem Alter, wo ich darauf pfeifen kann, rumzulaufen wie ein braunes Huhn.« Weniger mit der Bestätigung durch andere beschäftigt, spüren wir eher, was Resonanz in uns erzeugt. Resonanz bedeutet »anklingen, wider-hallen, zurück-tönen«. Echos, die wir jetzt hören, handeln nicht mehr nur von uns, sondern von dem, was zu uns spricht. Da wir weniger erwarten, erhalten wir viel. Wir verabschieden uns von den Halterungen nüchterner Rationalität, um zu streunen, wohin unsere intuitive Einfühlung uns führt. Atmosphären, Stimmungen erfassen uns, weil wir uns nicht mehr dazwischen schieben mit unseren Denksystemen und Kostümproben.

Wurden wir vorher durch Resonanz von außen und Gefallen-um-jeden-Preis in unserer Bedürftigkeit genährt, rückt nun die Resonanz von innen an ihre Stelle. Unsere Seelenlandschaft wird eigensinniger und reicher. »Ich bin zwar immer noch dieselbe, aber ich fülle mich jetzt mehr mit mir selbst aus«, so beschrieb es eine Klientin.

Wahrzunehmen was ist, hinzuschauen was uns begegnet, ist gewiss keine leichte Sache, haben wir doch jahrelang geübt, mitzurennen, uns selbst zurückzustellen, uns in Aktionitis zu ersäufen und mit uns selbst beschäftigt zu sein. Lebenserfahrung hat unseren Blick geschärft. Die rosarote Brille, die vorher die Welt schmeichelhaft tönte, ist den offenen Augen gewichen. Wir nehmen nicht nur besser wahr, wir zeigen auch mehr, wer wir sind. Die Schleier der Hormone haben sich gelichtet, das macht die Augen klarsichtiger, wacher und direkter.

Damit komme ich zur Geschichte vom Beginn zurück. Die Kunst und die Lust, sich dorthin zu sehnen, wo wir sind und uns dem zu öffnen, was ist, scheint mir das Geheimnis lebendigen Älterwerdens. Auf dem Weg dorthin erwarten uns, wie es die Geschichte von Joshua Bell zeigt, atemberaubende Begegnungen, wenn wir uns aufmachen und diesen Weg ganz und gar wollen. Jetzt ist die Zeit, sich dem zu überlassen, was das Leben für uns heranschwemmt. Wir selbst werden lebendiger, wenn wir staunend und erkennend dem begegnen, was uns Menschen zurufen, was die Musik uns zuspielt, und was die vielen tausend Bilder zu uns sprechen, die von unserem Blick gerahmt werden wollen. Wer verlangt von uns, dass die Dringlichkeiten sich nicht wandeln dürfen, wenn draußen die Sonne, der Wind, der Geruch der Wälder nach uns rufen? Mit klaren Augen ist das junge Alter eine seelische Revolution.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

1. Auflage

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Coverfoto: © Duncan Smith / Corbis

eISBN 978-3-641-08294-9

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