Eigensein entdecken - Irmtraud Tarr - E-Book

Eigensein entdecken E-Book

Irmtraud Tarr

4,8

Beschreibung

„Eigensein halte ich für die wichtigste Aufgabe schöpferischen Älterwerdens", sagt Irmtraud Tarr und lädt ein zum lustvollen, lebensfrohen Älterwerden: finden, was das Ureigene ist, eigene Grenzen abstecken, neue Aussichten wagen, pfiffig älter werden, sich vorwagen und den eigenen Raum einnehmen, den Herbst in die Seele nehmen, frei navigieren und reichlich Früchte ernten. Wer Irmtraud Tarrs Anregungen aufnimmt, erfährt: es ist schön, eigen zu sein und ungehemmter, als wir es vielleicht sein sollten. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, nicht tun zu müssen, was man nicht tun will, und sich von innen nach außen zu kehren, statt sich von außen nach innen bestimmen zu lassen. Auch auf Bäume klettern ist eine Möglichkeit ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 244

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (16 Bewertungen)
12
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Imtraud Tarr

Eigensein entdecken

Lustvoll älter werden

Impressum

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung: www.vogelsangdesign.de

Umschlagmotiv: © Serg Zastavkin, © lily, fotolia.com

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-80115-0

ISBN (Buch) 978-3-451-61228-2

Gewidmet Kai, meinem Retter am 19.12.2012

Inhalt

Lustvoll älter werden

Eigensein entdecken

Was ist mir wichtig?

Das lasse ich mir nicht gefallen!

Muss ich wirklich?

Der rote Knopf

Verbotene Früchte

Querdenken

Offen um jeden Preis?

Eigene Grenzen abstecken

Leben, statt gelebt zu werden

Immer weiter wachsen?

Ich bin doch kein Huhn!

Mein Kopf gehört mir!

Neue Aussichten wagen

Hier stehe ich, ich kann auch anders!

Fenster zum Leben öffnen

Das Beste wiederfinden

Vom Sex

Glühende Wärme

Pfiffig älter werden

Hinschauen, statt zu resignieren

Kleine Sünden

Der Realität trotzen

Ferne, Finca, Feigenbaum

Statt mit Flügeln auf Besen fliegen

Ich bin, wie ich bin

Einwilligen

Sich vorwagen

Den eigenen Raum einnehmen

Sich hinwegsetzen

Eigensinnige Typen

Weiber-Tollheit

»Das tut’s doch!«

»Ich darf!«

»Vergiss es einfach!«

»Das Leben ist ernst!«

»Spieglein, Spieglein an der Wand«

»Ich brauche Luft«

Herbst in die Seele nehmen

Vom Pfeifen im dunklen Wald

Überstehen ist alles

Zu sich selbst Nein sagen

Ist Schweigen wirklich Gold?

Das dünne Eis der Vergeblichkeit

Aller Unfug ist schwer

Statt altersmilde immer frecher

Frei navigieren

Mut zur Neugier

Loslassen macht heiter

List ist weiblich

Früchte ernten

Reiz der Nonchalance

Freunde sind Wunschkinder

Spielen macht frei

Tanzen macht schön

Sich freischwimmen

Zu sich selber finden

Einen Rückzugsort entdecken

Im Baumhaus – eine Imaginationsübung

Auf Empfang sein

Frei sein

Wahr nehmen

Sich abfinden

Ohne Handtasche

Frech, lustvoll, lebensfroh

Literatur

Lustvoll älter werden

Was wäre die Alternative? Älter werden wir sowieso. Dann doch lieber neugierig, lustvoll und vielleicht auch verwegen: Jetzt geht es darum, das Eigensein zu entdecken und zu leben. All das, was bisher vielleicht zu kurz gekommen ist. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung ist diese Zeit nicht der Übergang in die wohlverdiente und wohltemperierte Ruhe, sondern der Beginn tiefer Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Eigenseins. Damit meine ich den konstruktiven Eigensinn, eine vitale Lebensform, die hilft, sich auf sich selbst, auf seinen eigenen Verstand und auch auf sein Mitgefühl zu besinnen.

Meine Botschaft heißt ganz schlicht: Es ist schön, eigen zu sein. Nicht nur für Frauen, auch für Männer. Das Älterwerden ist prädestiniert dafür, sich endlich zu erlauben, eigen zu sein. Mehr noch: sich selbst zu lieben, die eigenen Freunde und überhaupt das Leben. Eigensein verändert einen. Man wird klarer, deutlicher, bekommt Prägnanz und eigene Konturen – ein eigenes Gesicht. Das hängt auch mit biologischen Prozessen zusammen: Unser Körperschwerpunkt sinkt nach unten ins Becken. Wir ruhen mehr unten in der Küche des Seins, wo es brodelt, gärt, stoffwechselt, verdaut und köchelt, als im Obergeschoß des Handelns. Man füllt sich immer mehr mit sich selbst aus, gewinnt an Tiefe, denkt differenzierter und lacht präziser. Einerseits ist man nun Vorbild, Mentorin, Wegbegleiterin, Respektsperson, andererseits wird man selbst wieder ein wenig zum Kind.

Eigensein klingt vielleicht ein wenig altmodisch, aber ich ziehe diesen Begriff vor. Besonders heute, da flexible Anpassung an ständig neue Anforderungen zur Überlebensstrategie geworden ist. Was also ist Eigensein? Eigensein ist für mich eine Haltung und umfassender als das modisch strapazierte Wort »Eigensinn«, das als Reizwort reflexartige Abwehr auslöst, weil ihm der Geschmack von »eigenartig«, »starrköpfig«, »merkwürdig«, »nicht normal« anlastet. Das Wort »Eigensein« hingegen drückt eine Bewegung aus. Eine Bewegung, die einen mit sich selbst, dem eigenen Innenleben und den anderen unterwegs sein lässt. Dieses Unterwegssein mit sich und den anderen halte ich für die wichtigste Aufgabe schöpferischen Älterwerdens. Es geht also weder um die Nützlichkeit neuer Altersideologien oder Spätförderprogrammen – was man unbedingt tun oder gefälligst lassen sollte – noch sehe ich in Älteren nutzbare Ressourcen oder altes Eisen. Ich trete einen Schritt zurück und beschäftige mich damit, wie wir dem Machbarkeitsdiktat widerstehen, um unsere lebendige Unruhe zu bewahren.

Was verbindet Menschen untereinander, die den Mut haben, eigen zu sein? Vielleicht die Tatsache, dass sie sich nicht blind anpassen, sondern im Gegenteil ihren eigenen Weg gehen. Manchmal sogar ohne Rücksicht auf Verluste. Was sie tun, tun sie, weil sie es so wollen. Und weil sie der Versuchung widerstehen, gefälligst doch lieber das zu tun, was erwartet wird. Sie tun, was sie für sich für richtig halten. Sie bestärken uns darin, dass wir nicht in einer Gesellschaft leben wollen, in der nur Effizienz, Nützlichkeit, Habenwollen, Angepasstheit und Brauchbarkeit gefragt sind.

Eigensein geht auf unser klassisches Trotzalter zurück, durchwirkt unser ganzes Leben und wird im Alter prägnanter, reflektierter und schöpferischer. Es beginnt mit einem Nein. Mit der Verweigerung und dem Gefühl, etwas anderes zu wollen, als das, was von uns erwartet wird. In der Psychologie wird dieses Verhalten »Reaktanz« (Brehm 1966) genannt. Dahinter steckt der Wunsch, die bedrohte Freiheit zu bewahren und Kontrolle über das eigene Leben zurückzugewinnen. Nicht tun zu müssen, was man nicht tun will, sich von innen nach außen zu kehren, statt sich von außen nach innen bestimmen zu lassen. Hier liegt der Ursprung unseres Ichs und das Potential, eigenwillige und erstaunliche Wege zu gehen hin zu einem vitalen, schöpferischen Leben.

Oft ist es das ungelebte Leben, das uns zum Eigenen führt, zur Frage: Stehe ich zu mir selbst? Bin ich mir selbst treu? Am schlimmsten sind die Krisen, die uns begreifen lassen, dass wir leben, ohne wirklich zu leben. Wir realisieren meist erst mit den Jahren, dass wir unser Leben nicht gewagt haben. Aber noch ist es nicht zu spät, so zu sein, wie man es gern wäre.

Ich ermutige zum Eigensein, weil jedes bewusste Nein ein Ja zu sich selbst ist. Älterwerden kann nicht heißen, so zu werden wie die anderen, sondern das zu finden, was das Ureigene ist. Gelingt es, die Energie dieser Trotzkraft zu nutzen, dann besitzen wir eine mächtige Kraft für unseren persönlichen Weg. Außerdem macht es Freude: die Freude, frecher, lustvoller, lebensfroher und ungehemmter zu sein, als wir es sein sollten. Die Freude, die uns so wundervoll eigene Gesichtszüge annehmen lässt.

Deshalb hängt Eigensein mit seelischer Abrüstung zusammen. Statt zu kontrollieren, mitzurennen, sich zu verbiegen und zu verzerren kommt es auf entspannten leisen Sohlen daher: sein lassen, annehmen, aufhorchen, aufhören, hinhorchen. Wir finden es, wenn wir mit anderen oder mit uns selbst schreibend, träumend, lesend unterwegs sind, ohne uns zu verlieren. Vielleicht kann man so – statt Bequemlichkeit und Eintönigkeit – ein zweites Mal ein Stück Lebendigkeit der Kindheit erleben, aber aus einer anderen Perspektive. Wer könnte es besser sagen als Wilhelm Busch: »Früher, da ich unerfahren und bescheidner war als heute, hatten meine höchste Achtung andre Leute. Später traf ich auf der Weide außer mir noch mehre Kälber, und nun schätz’ ich, sozusagen, erst mich selber.«

Die Idee zu diesem Buch entstand auf einem Feigenbaum. Wie so oft kletterte ich hoch, um die überreifen Feigen, die ohnehin niemand erntete, zu pflücken. Plötzlich hörte ich, wie eine Nachbarin zur anderen auf mich deutend sagte: »Allerhand! Dass die sich das zutraut!« »Na und«, dachte ich, und hielt lieber den Mund. Plötzlich erinnerte ich mich an den herrlichen Satz Astrid Lindgrens: »Es steht nicht in Moses Gesetzen, dass alte Weiber nicht auf Bäume klettern dürfen!« Darum geht es in diesem Buch.

Schon bald realisierte ich, dass man diesem Thema nicht nur den kleinen Finger reichen kann. Es nimmt die ganze Hand. Im wahrsten Sinn des Wortes. Denn kurz vor der Mitte des Buches holte mich eine knochenharte Version der kletternden Frauen ein. Durch einen Knochenbruch im Unterarm stand ich vor der Wahl: aufgeben oder einhändig weiterschreiben. Da mein Geist jedenfalls nicht merklich beeinträchtigt war, entschied ich mich für das, was man von bäume-kletternden Frauen erwarten kann: weiterschreiben.

Eigensein entdecken

~

Was ist mir wichtig?

»Eigen sein« – das ist schnell gesagt. Fast alle wollen es. Aber was bedeutet es eigentlich? Eigen sein, das ist wie aufwachen. Bei sich sein, wach sein, berührbar sein, erschütterbar sein und trotzdem unbeirrbar bleiben. Es heißt, zwischen eigenen und fremden Gefühlen, zwischen eigenem und fremdem Wollen unterscheiden zu können. Sich selbst zu durchschauen und sich mit sich selbst immer besser auszukennen. Als Weg in diese Richtung schlage ich Ihnen zunächst eine Art Selbstbefragung vor, die Ihnen zumindest in groben Zügen Übersicht über sich selbst verschafft.

Fragen Sie sich:

Was ist mir wichtig?

Die folgenden Punkte, die ich meinen Klientinnen verdanke, lesen Sie bitte lieber nicht. Sie könnten ja manipuliert werden:

Meine Freunde

Sommer

Meine Familie

Baden im Meer

Im Bett lesen

Frisches Brot

Spaziergang im Wald

Mein Café

Käsefondue

Kirche

Gartenwirtschaften

Kabarett

Abendessen mit einem Lieblingsmenschen

Weintrinken mit Freunden

Mittagsschlaf

Sonnenblumen

Meine Couch

Komplimente

Sich kaputt lachen

Nun fragen Sie sich:

Was mag ich nicht?

Früh aufstehen

Abschminken

Steuererklärung

Pflichteinladungen

Rechnungen

Putzen

Dosenfutter

Schlampige E-mails

Maschinengeräusche

Sahnetorten

Wohnwagen

Handy-Telefoniererei

Technik

Kaugummikauer

Formulare

Unsinns-Vehikel

Telefonumfragen

Zahnarzt

Kleingedrucktes

Billigtarife

Dresscode

Zelten

Büstenhalter

Haben Sie doch weitergelesen? Vielleicht sind Sie ein wenig irritiert. Selbstverständlich haben Sie die Freiheit, diese Punkte zu lesen oder eben nicht. Mit dieser Einleitung wollte ich Reaktanz auslösen, wenn auch nur minimal. Sie wollten diese Ideen lesen, und nun schränke ich Sie von vornherein ein. Was ist wahrscheinlich geschehen? Sie werden noch motivierter gewesen sein, sie zu lesen, weil Sie selbst entscheiden möchten, was Sie machen oder was Sie wollen. Vielleicht gelang es Ihnen über diesen kleinen Umweg nun, selbst herauszufinden, was Ihre eigenen Ideen sind. Oder Sie werden vielleicht protestieren: »Passt mir nicht!« »Ist bei mir ganz anders!« »Ich lass mich nicht in irgendwelche Punkte stecken!« »Ich will selbst bestimmen!«

Damit sind wir mitten im Thema. Wird einem die Freiheit genommen oder ist sie bedroht, so entsteht der Drang zur Wiederherstellung der Freiheit – das nennt man Reaktanz. Reaktanz haben Sie gerade praktiziert, indem Sie trotz der Bitte, die einzelnen Punkte nicht zu lesen, wahrscheinlich weitergelesen haben. Sie haben sich vielleicht ein wenig geärgert, aber vielleicht gelang es Ihnen so leichter, auf eigene Ideen zu kommen. Denn Sie haben ganz recht. Es ist Ihre Entscheidung, zu machen, was Sie wollen. Egal, was andere sagen, meinen oder raten. Jede Anpassung, an was auch immer, ist pure Zeitverschwendung, vor allem wenn man erst einmal über sechzig ist.

Das lasse ich mir nicht gefallen!

Sicher kennen Sie solche Situationen, in denen jemand eine Gemeinsamkeit mit Ihnen hinausposaunt, ohne dass Sie vorher um Ihre Zustimmung gefragt wurden oder darum gebeten haben. Vielleicht ist es die Formel »Wir Frauen … wir als Familie … wir Lehrer … wir Nachbarn … wir Krebskranke … wir Jogger … wir Alten«. Sobald man selbst zur angesprochenen Gruppe gehört, stellt sich bei vielen eine Art Irritation ein. Selbst wenn wir dem Gesagten zustimmen, geraten wir in eine gewisse Trotzigkeit, weil wir nicht ungewollt vereinnahmt werden wollen. Wir wollen nicht, dass jemand über uns verfügt. Wir wollen nicht eingemeindet werden. Und schon gar nicht, dass Äußeres über unser Inneres gestülpt wird. Wie kommt der andere dazu, eine Gemeinsamkeit mit mir zu verkünden, ohne meine Zustimmung zu haben? Wir wollen gefragt werden und selbst beurteilen und entscheiden.

Nehmen wir das Beispiel Flugsicherheit. Im Prinzip ist wahrscheinlich jeder von uns dafür. Ich kenne jedenfalls niemanden, dem es gleichgültig ist, in die Luft gejagt oder gesprengt zu werden. Dennoch reagiert man gereizt, wenn man die Schuhe, den Gürtel oder die Jacke ausziehen soll. Selbst wenn man frisch deodoriert und normalgewichtig ist und auch sonst nichts zu verbergen hat, ist man genervt. Geradezu reflexartig gerät man in die Haltung: »Das geht zu weit. Das ist zu intim. Das geht euch nichts an.« Mit anderen Worten: Die Abneigung gegen diese Art Kontrolle hat nichts mit Querulantentum zu tun, sondern mit einer bestimmten Weltsicht, die sich nichts aufzwingen lassen möchte. Auch nicht die wohlmeinende Sorgfaltspflicht der Durchleuchtung des eigenen Körpers. Es geht um das rechte Maß und die Verhältnismäßigkeit im Respekt vor der Intimität des Einzelnen.

»Ich möchte mich nicht durchleuchten lassen, ich bin doch kein Koffer!« »Ich lasse mich nicht wiegen, ich bin doch kein Stück Fleisch oder Fisch.« Diese Art ästhetischer Widerwille gegen jegliche Form von Vereinnahmung zeigt, dass eben alles eine Frage des Maßes ist. Es muss Grenzen geben. Es muss Bremsen geben. Und vor allem: Es kommt auf die verträgliche Dosis an. Die Frage ist doch: Was ist der Situation und der menschlichen Würde angemessen? Eine Gesellschaft, in der alles auf Transparenz hinausläuft, macht Angst. Nicht, weil die einzelnen Maßnahmen ungerechtfertigt sind, sondern weil sie für etwas stehen, das uns widerstrebt. Wir wehren uns dagegen, dass uns eine bestimmte Lebensweise aufgezwungen wird. Insofern sollte eine wahrhaft demokratische Gesellschaft dieses »Nein!«, dieses »So nicht!« ermutigen. Wenn wir nicht motiviert werden, unsere Freiheit zu verteidigen, was bewahrt uns dann vor der Einheitsgesellschaft mit Einheitsmeinungen und damit vor dem Totalitarismus?

Im ersten Kapitel haben Sie es an sich selbst erfahren. Reaktanz nennt man in der Psychologie dieses Abwehrverhalten gegen jegliche Art der Freiheitsbeschneidung. Erfunden wurde der Name »Reaktanz« 1966 von dem Sozialpsychologen Jack W. Brehm. Reaktanz bedeutet, vereinfacht gesagt: Auf Einschränkungen, auf psychischen Druck oder auf Verbote reagieren wir mit genau dem Gegenteil von dem, was von uns erwartet wird. Reaktanz äußert sich durch Trotz, erhöhte Anstrengung, Widerspruch, Aggression oder demonstratives Ersatzverhalten. Die meisten, die ich befragte, wussten zwar, wie es sich anfühlt und was es heißt, sich gegen Verbote und Einschränkungen zu wehren, aber sie kannten den Begriff »Reaktanz« nicht, obwohl er ein wichtiger Sammelbegriff für ein Verhalten ist, das wir alle mehr oder weniger praktizieren. Im Unterschied zum Widerstand und zum Trotz, die mit Widerspenstigkeit oder Aufmüpfigkeit assoziiert werden und umfassender sind, ist Reaktanz eine positive, produktive Kraft, die zunächst einmal schlicht sagt: »Da muss ich reagieren«, »Nicht mit mir«, »Das lasse ich mir nicht gefallen«, »Das geht mir gegen den Strich«, »Das geht zu weit«. In diesen Sätzen schält sich das Eigene heraus. Man will etwas anderes als das, was gewollt wird. Man spricht für sich selbst, statt mitzumachen. Man verteidigt die bedrohte Freiheit und will selbst über das eigene Leben bestimmen. An dieser Stelle erwacht unser Ich.

Muss ich wirklich?

Bin ich nun verantwortungslos, wenn ich mich in meinem Alter diesen Appellen, ich solle meine »inneren Werte« messen lassen, entziehe? Muss ich wirklich ständig wissen, wie meine Knochendichte, meine Lungenkapazität, mein Blutdruck, meine Blutwerte, mein Kalorienverbrauch, mein BMI beschaffen sind? Natürlich muss man sie nicht ständig wissen, aber dennoch sind diese immer wieder zu hörenden Fragen und Bedenken ernst zu nehmen, weil in ihnen die Ursache von Krankheit als persönlicher Schuld wieder anklingt. Vor allem im Alter werden wir heute durch Angebote und Anreize motiviert, uns mehr denn je um unsere Gesundheit zu kümmern. Und messen lässt sich ja mittlerweile ziemlich viel, und zwar nicht nur präventiv, sondern einfach aus Neugier oder Interesse für den eigenen Körper. Aber wehe, wir kümmern uns nicht genügend oder nur nach Bedarf, dann dürfen wir uns auch nicht beschweren! Dann sind wir ja selbst schuld, weil wir nicht genügend Selbstsorge und Selbstvermessung geleistet haben. Der oft zitierte Spruch, dass jeder seiner Gesundheit Schmied sei, bedeutet ja nicht nur, dass jeder selbst zu seinem Wohlbefinden beitragen soll, sondern verrät auch zwischen den Zeilen: »Selbst schuld, wenn du nicht regelmäßig ins Fitness-Studio gehst, täglich Obst isst, meditierst und viel joggst.«

Was wir alle tun sollen ist schließlich das, was uns allen fehlt. Wenn man also Gesundbleiben in Form von ständiger, anstrengender Aktivität verordnet, so führt dies genau zu dem, was eigentlich bekämpft werden soll: Bevormundung der Einzelnen im Gewand der verordneten Eigenverantwortung. Und das erzeugt Abwehr, Trotz oder Widerstand. Eine Lehrerin, die kurz vor ihrer Pensionierung stand, fragte, ob sie ein Trotzkopf sei, da ihr diese Propaganda »Fit im Alter«, »Unruhestand«, »Immer aktiv« heftig gegen den Strich ging. Sie befürchtete, dass die Schulpflicht in neuem Gewand einfach weitergehen würde: kulturell interessiert, sportlich, gepflegt und adrett gekleidet, sexuell aktiv, ehrenamtlich tätig, unternehmungslustig. Sie hasste dieses Getue: »Seit ich pensioniert bin, habe ich gar keine Zeit mehr … habe ich mehr denn je zu tun … ist mein Terminkalender voller denn je.« Ob sie ein Trotzkopf ist, lässt sich nicht eindeutig beantworten, zumal es kein objektives Maß gibt, wann Treue sich selbst gegenüber zu kindischem Trotz wird und wann persönliche Vorlieben zur nervenden Plage für andere werden. Ihr Gefühl, etwas anderes zu wollen als das, was angepriesen wird, ist hingegen durchaus nachfühlbar, denn diese grassierende Fitnesspropaganda erzeugt Überdruss. Was wir ständig hören gähnt uns irgendwann an und macht schläfrig.

Was aber ist die Alternative? Ab Beginn der Pensionierung schlagartig desinteressiert, faul, hässlich, fett, asexuell, lethargisch und unbeweglich zu werden? Oder sollte sie ihre Erfahrungen aus der Schulzeit ab sofort Haushalt und Familie zur Verfügung stellen? All das verspricht ja nicht gerade einen entspannten, vergnüglichen Lebensabend. Es gab ihr zu denken, dass sie ihre eigene »Alters-Kür« erfinden könne. Sich für Neues befreien. Zu fragen: Was ist für mich stimmig? Das konnte sie akzeptieren. Immerhin wusste sie, was sie nicht wollte. Ihr Unbehagen zeigte ihr, was für sie nicht in Frage kam. Es war der Anfang hin zu etwas Neuem.

»Muss ich mir das wirklich anhören?«, fragte eine Krankenschwester, die selbst Patientin in ihrem Krankenhaus wurde. Natürlich wusste sie, dass sie sämtliche Risikofaktoren pflegte: zu wenig Schlaf, Ziehharmonikakost – entweder zu viel oder zu wenig –, rauchen. Dennoch kränkte es sie, als ihre Kolleginnen meinten: »Du bist doch selbst schuld!« Dass ihr diese Schuldzuweisung keine Ruhe ließ beziehungsweise sie verletzte und trotzig machte, ist nicht verwunderlich. Eine solche Aussage ist in der Tat rücksichtslos und herzlos, selbst wenn sie der Sache nach stimmen mag. Was angebracht wäre, ist Mitgefühl oder Mitleid und nicht Schadenfreude getarnt als Belehrung oder Besserwisserei. Außerdem steckt in dieser kollegialen Schuldzuweisung eine Entwertung, als sei Krankheit vermeidbar, wenn man sich nur richtig verhält. Dahinter steckt die selbstgerechte Idee von einem gesunden Leben, die alle anderen, die nicht so leben, vom Mitgefühl ausschließt. Allzu große Selbstgefälligkeit statt Mitgefühl erzeugt Trotz und führt in die Distanz und Entfremdung.

Wer solche oder ähnliche Situationen erlebt hat, muss damit fertig werden. Manche gehen zum Therapeuten oder zur besten Freundin, andere beten oder vergraben den Schmerz tief in ihrer Seele. Der Krankenschwester half es, ihre Gefühle auszudrücken und den Mut zu fassen: »Jetzt sage ich ihnen, was ich denke. Diese Gemeinheit lasse ich nicht auf mir sitzen.«

Ein drittes Beispiel stammt aus meiner Praxis. Eine 59-jährige Frau räsonierte lange über die Gefahren des drohenden globalen Wassermangels. Ich hörte ihr geduldig zu und widerstand der Versuchung verständnisvollen Einvernehmens, weil ich gelernt habe, dass es besser ist, eine gute Psychotherapeutin zu sein als eine nette Frau. Irgendwann rutschte mir das Wort »Wasserfall« heraus, was angesichts ihrer Besorgnis wie ein dummer Ausrutscher erschien. Aber dieses Wort stellte plötzlich eine Verbindung zu ihrer Lebensgeschichte her. Es war nämlich ihre wasserfallartige Sprechweise – sie meinte, dass in ihrer Ahnenreihe wohl irgendjemand ein Wasserfall gewesen sein müsste –, mit der sie sämtliche Männer aus ihrem Leben nachhaltig vertrieben hatte.

Selbst wenn die Geschichte stark verkürzt ist, so demonstriert sie doch, wie Reaktanz sich äußern kann. Es war nämlich nicht der globale Wassermangel, der sie wirklich bedrohte, sondern der Mangel an dauerhaften Beziehungen zu Männern, der ihr zu schaffen machte, den sie mit Wortkaskaden abwehrte, bis sie begriff, wie sie selbst dazu beitrug, dass sie das »Wasser« in ihrem Leben so schmerzlich vermisste.

In allen drei Geschichten ging es den Frauen darum, etwas anderes machen zu wollen als das, was von ihnen gewollt wurde. Auch wenn ihr Unbehagen eher verschwommen war, so wussten sie doch zumindest, was sie nicht wollten. In dem Moment, in dem man dieses Nein ahnt oder spürt, in diesem Riss entstehen neue Konturen des Ichs.

Der rote Knopf

Willkommen im Ferienclub! Treten Sie ein! Machen Sie es sich bequem! Fühlen Sie sich wie zu Hause! Oder sogar noch besser als zu Hause! Essen und trinken Sie, so viel Sie wollen! Entspannen Sie sich! Lassen Sie sich gehen! Gönnen Sie sich jede Gaudi! Singen, klatschen oder tun Sie so albern, wie Sie nur können! Hier ist alles erlaubt! Das Wetter ist perfekt! Der Swimmingpool ist geheizt! Nur eine Kleinigkeit: Bitte drücken Sie nicht den roten Knopf! Wir haften nicht für die Folgen, wenn Sie es tun! Ignorieren Sie ihn einfach und alles ist bestens! Also viel Spaß im Club! Bleiben Sie, solange Sie wollen.

Wie geht es Ihnen mit dieser Einladung? Ich kann nur sagen, dass mich trotz aller Angebote solch ein Verbot sofort neugierig oder trotzig machen würde. Was hat es mit dem roten Knopf auf sich? Warum wurde er überhaupt erwähnt? Soll ich, soll ich nicht? Wenn ich ihn nicht drücke, dann womöglich ein anderer? Vielleicht findet hier ein Experiment statt? Fragen über Fragen. Eigentlich gibt es nur einen Weg, um herauszufinden, was es mit dem roten Knopf auf sich hat. Die können mich mal …!

Man kann es Ungehorsam, Widerspenstigkeit, Rebellion oder Aufmüpfigkeit nennen, das Muster ist immer das gleiche: Etwas ist verboten und gerade deswegen reizt es erst recht, das Verbotene zu tun. Verbote wie der besagte rote Knopf üben eine geradezu magische Kraft auf uns aus. Mehr noch, sie führen direkt dazu, dass wir genau das tun, was wir unterlassen sollten. Wenn ab morgen verboten wird, auf der Straße zu essen, dann werden sicher viele von uns eine merkwürdige Straßen-Esslust verspüren. Oder wie die Autorin Elke Heidenreich meinte: »Ich finde die Welt dermaßen grau und verwaltet und mit Vorschriften gepflastert, dass ich unbedingt wieder Laster haben muss.«

Wann immer wir bevormundet werden, reagieren die meisten ärgerlich, trotzig, rebellisch. Wenn diese Haltung fast automatisch abläuft, sodass man sich kaum von ihr lösen kann, dann bedeutet das, dass an diesen Reaktionen starke Gefühle hängen, die einem natürlich auch auf die Nerven gehen können, weil sie etwas Zwanghaftes an sich haben. Man ist nicht mehr frei, zu unterscheiden, ob man dem Verbotenen zustimmen soll oder nicht. Das macht einen auch wieder unfrei.

Dennoch verbirgt sich hinter dieser Rebellion eine gesunde Kraft, die sich gegen Einschränkungen oder Zumutungen jeder Art zur Wehr setzen will. Wir wollen über unser Leben selbst bestimmen. Wir wollen nicht, dass jemand uns vorschreibt, was wir zu tun oder zu lassen haben. Wir wehren uns gegen das, was uns verbiegen oder manipulieren will oder kann. Deswegen lohnen sich Verbote langfristig gesehen nicht.

»Du sollst kein Fleisch essen!« »In deinem Alter solltest du dich gediegen anziehen!« »Du sollst keine Geheimnisse haben!« »Du sollst in der Öffentlichkeit nicht weinen!« »Du sollst nicht fett essen!« »Du solltest keine langen Autofahrten mehr machen!« Wir wollen keine Nötigung, keine Drohung, keine kategorischen Sätze, aber auch keine Bevormundung, die unseren Lebensentwurf inklusive unserer Eigenheiten, Vorlieben und Abneigungen betrifft. Schließlich sind viele Seiten unseres Lebensbuches schon gefüllt, eng oder weit geschrieben, manche Sätze mit Fragezeichen, andere mit Schreizeichen, manche in Schönschrift, andere hingeschmiert. Für uns gibt es keinen Tintenkiller, der die Seiten nachträglich korrigiert. Und wir wollen uns nicht mehr diktieren lassen, was wir zu schreiben haben.

In dem Moment, in dem wir anfangen, unser Lebensbuch selbst weiterzuschreiben, ändert sich viel. Wir sind nicht mehr die, die wir waren. Wir sind mehr als das, was unsere Gene und Lebenserfahrungen aus uns gemacht haben. Wir sortieren unser Lebensbuch nach eigenen Gesichtspunkten. Wir werden das, was wir aus uns machen, was uns wichtig ist, wofür wir uns begeistern und brennen.

Wie geschieht das? Mit großer Wachheit. Indem wir ernst nehmen, was unsere Ahnungen, Gefühle und Intuitionen uns mitteilen wollen und herausfinden, was uns schöneres, aufregenderes, tieferes Leben verspricht. Es braucht Mut, Selbstverständliches nicht als selbstverständlich hinzunehmen, Verordnetes nicht zu wollen und das zu leben, was einem selbst entspricht. Letztlich geht es darum, das Beste wiederzufinden: unsere eigene Stimme. Der Philosoph Peter Bieri hat es treffend beschrieben: »Die Kultur, wie ich sie mir wünschte, wäre eine leisere Kultur … in der die Dinge so eingerichtet wären, dass jedem geholfen würde, zu seiner eigenen Stimme zu finden.«

Sich selbst zuzuwenden hieß für die 60-jährige Architektin, die ihrer Meinung nach zu viele Kompromisse einging, entschieden gegen diesen Standardvorwurf vorzugehen: »Wenn das jeder täte!« Sie entlarvte ihn als Ausdruck der Beschränktheit, in der die innere Provinzialität sich auch in der Architektur widerspiegeln sollte. Es gelang ihr, ein höchst eigenwilliges Gebäude zu entwerfen, das sie trotz kleinkarierter Gegenwehr mit Zähigkeit durchsetzte. Woran ihre eigenen Ideen so oft scheiterten, war für sie die Unfähigkeit anderer, sich vorzustellen, dass andere anders leben und denken können als sie selbst. Ihre Devise war: »Kill your darlings«. Damit meinte sie den Verzicht auf diese selbstgenügsamen Selbstbeschreibungen: »Ich bin halt so«, »Ich habe es immer schon so gemacht«, »Kann ich mir nicht vorstellen«, »Das kann ich nicht«, die letztlich eine aggressive Form der Selbstzufriedenheit offenbaren, die aus der Selbstreduzierung eine Tugend macht. Sie hatte erkannt: Starrheit hat nichts mit Eigensein und Entwicklungsfortschritt zu tun. Im Gegenteil, man kann nicht früh genug damit beginnen, der beginnenden Rigidität entgegenzuwirken. Indem man beispielsweise, wie sie, seine Lebenspläne und Bücher neu ordnet und nach eigenen Gesichtspunkten sortiert. Indem man aufhört zu sagen: »Dafür bin ich zu alt!« oder »Es lohnt sich nicht mehr!« oder »Jetzt ist es sowieso zu spät!«

Verbotene Früchte

Ist Reaktanz nicht der Beweis, dass wir zur Freiheit geboren sind? »Ohne Reaktanz würden wir uns alle nach und nach in Gemüse verwandeln«, meint der Journalist Harald Martenstein. Letztlich begann die Menschheitsentwicklung mit einer Geschichte der Reaktanz. Ich greife zurück auf die älteste Reaktanzgeschichte der Menschheit – die Genesis. Eva hat den Anfang gemacht, indem sie dem Verbot Jahwes »Du darfst alle Früchte essen, nur die eine nicht!« dieses trotzige »Jetzt tue ich es gerade!« entgegensetzte. Mit ihrem Ungehorsam entdeckte sie die Lust am Widerspruch, die Kraft der Negation. Adam ließ sich verführen und nahm den köstlichen Apfel von ihr an. Und so begann die Geschichte der Reaktanz. Sie beherrscht die Evas und Adams seither je nach Veranlagung mehr oder weniger. Fast scheint es, dass Reaktanz – diese Mischung aus Verbot und Abwehr – die Schöpfung erst richtig angefacht hat. Jedenfalls ließe sich unsere Menschheitsgeschichte durchaus als Geschichte der Reaktanz auffassen, zumindest hat Reaktanz schon immer für den Wirbel gesorgt, durch den Schöpfer und Geschöpf in Kraft und Kreativität miteinander verbunden oder verstrickt werden. Es gibt zu denken, dass die ersten Verhaltensweisen, die wir von unseren Urahnen erfahren, diese Mischung aus Verführbarkeit und Reaktanz war.

Auch in Märchen wird der Reiz des Verbotenen immer wieder thematisiert. So in dem bekannten Märchen vom bösen Grafen Blaubart, der seiner Frau vor der Abreise den Schlüsselbund überreichte und ihr großzügig gestattete, alle Türen zu öffnen und sich umzuschauen, »Nur diesen einen, den kleinsten der Schlüssel, den darfst du nicht benutzen. Vergiss das nicht!« Wahrscheinlich würde es uns ähnlich gehen wie seiner Frau: Unsere Gedanken würden genau um diesen Schlüssel kreisen. Warum sollte ich eigentlich nicht? Was kann da wohl dahinter stecken? Wird schon nicht so schlimm sein, oder? Vielleicht merkt es ja niemand? Und wenn ich es versuche? Nein, lieber nicht! Wieso sollte ich mir Vorschriften machen lassen? Der kann reden, was er will, ich will selbst entscheiden.

Diese inneren Dialoge könnte man endlos weiterspinnen, aber irgendwann siegt doch die Neugier oder der Trotz. Vielleicht kommt man ja irgendwie davon. Wie kann man anders herausfinden, was dieser Schlüssel verbirgt, als ihn auszuprobieren?

Schon von klein auf lernen wir, dass es Dinge gibt, die verboten sind, die man nicht tun darf. Schon mit zwei Jahren beginnen Kinder, Widerstand zu leisten gegen Anforderungen und Verbote, besonders, wenn diese von ihren Eltern kommen. Fordert man sie auf, etwas Bestimmtes zu unterlassen, tun sie garantiert genau das Gegenteil. Gibt man ihnen ein bestimmtes Kuscheltier, so wollen sie ein anderes. Nimmt man sie auf den Arm, so wollen sie heruntergelassen werden. Lässt man sie laufen, so wollen sie auf dem Schoß sitzen. Jeder trägt diese Veranlagung je nach Temperament mehr oder weniger in sich. Kleinkinder reagieren auf diese Disziplinierungsversuche noch vehement mit der eigenen Stimme und dem bekannten Gekreische. Später, in der Pubertät, knallen die Türen, tönen ohrenbetäubende Sounds durch die Wohnung, vergiftet trotziges Schweigen das häusliche Klima, und die Mopeds rattern mit Höchstgeschwindigkeit durch die Dörfer. Und wenn man an die vielen Mythen und Geschichten denkt, die Erwachsene faszinieren, so geht es stets um Verstöße gegen irgendwelche Grenzen und Verbote. Man denke an Ikarus, der mit aller Macht der Sonne entgegenstrebte, bis seine wächsernen Schwingen schmolzen und er kläglich abstürzte. Oder an den Indianerjungen, der sich zum König der Adler aufschwingen wollte, dessen geborgtes Federkleid von einem Windstoß abgerissen wurde und ihn zu Boden stürzen ließ.

Immer wieder ist es dieser übersteigerte Wunsch, genau das zu tun, was verhindert werden soll. Verbote wirken kontraproduktiv. Ein Beweis, wie grundlegend das Recht auf freie Willensentscheidungen für unser Wohlbefinden und unsere Würde ist. Jede Einschränkung von Freiheit hat Folgen für unser moralisches Empfinden. Wir wollen die Wahl haben und selbst entscheiden. Wird diese Voraussetzung beschnitten, reagieren wir auf diesen Verlust mit Empörung, Entrüstung und Groll. Wir sehen uns als Menschen, denen etwas genommen wurde und nehmen sogar negative Konsequenzen in Kauf, um unsere Freiheit wieder herzustellen. Diese Reaktionsbildung ist ein Beweis, dass Wahlfreiheit nicht nur ein abstraktes Postulat ist, sondern etwas, das wir erleben und das den Rang einer intuitiven Überzeugung besitzt. Wir wollen tun, was wir selbst wollen, auch wenn es sich als schlechte Wahl herausstellt. »Selber machen!« sagen die Kleinen, »Ich lass mir nichts sagen!« tönen die Jugendlichen, »Das möchte ich selbst beurteilen!« meinen die Älteren.