Leben macht Sinn - Irmtraud Tarr - E-Book

Leben macht Sinn E-Book

Irmtraud Tarr

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Beschreibung

Eigentlich könnte man glücklich sein, ist es aber nicht. Hat man was Wesentliches vergessen?Antworten auf die Kernfragen des Lebens: Wer bin ich selbst? Wozu lebe ich?" Irmtraud Tarr zeigt, wie es gelingen kann, Sinn zu entwickeln in Momenten, in denen uns etwas Gutes begegnet - mitten im Leben.

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Irmtraud Tarr

Leben macht Sinn

Was uns bewegt und weiterbringt

Kreuz

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-7831-8042-8

ISBN (Buch) 978-3-7831-3447-6

Vorwort

Die Frage nach dem Sinn ist die Kernfrage unserer Zeit. Unsere Sehnsüchte haben sich auf eine höhere Ebene verlagert. Fragen und Hoffnungen werden heute freigesetzt, die früher nur Minderheiten – Bildungsbürgertum, Adel, Intellektuellen – vorbehalten waren. Wer bin ich selbst? Wozu lebe ich? Wohin geht es mit mir? Wie kann ich mich am besten entfalten? Wir wollen uns selbst und das Leben besser verstehen. Wir wollen uns orientieren und ausrichten auf unseren Wegen. Diese Suche nach Orientierung und Ausrichtung zielt auf uns selbst, auf unsere Würde und unseren Eigensinn.

Früher war Sinn etwas Vorgegebenes, Transzendentes, von Gott her Bestimmtes. Heute ist es uns überlassen, sozusagen in göttlicher Einsamkeit unseren eigenen Sinn zu suchen. Jeder bastelt sich selbst seinen Sinn, manchmal nach dem religiösen Lustprinzip. Und wenn das nicht trägt, dann wählt man eben etwas anderes. Möglich ist vieles. Das ist anstrengend und tragisch. Tragisch, wenn man bedenkt, wie Menschen einst in eine große Geschichte eingebunden waren und sich für Figuren in einem kosmischen Drama hielten, die erschaffen wurden, die sündigten, sich schuldig machten und erlöst wurden. Anstrengend, weil wir uns heute wie Schauspieler ohne Regisseur und Handlungsanweisungen auf der Bühne bewegen und eigene Szenen, Dramen und Komödien improvisieren. Wir sind selbst dafür verantwortlich wie dieses Schauspiel oder diese Soap Opera ausfällt. Dies kann jedoch auch entlastend wirken, da uns niemand mehr Vorschriften machen oder Sinn von oben herab verordnen kann.

Hierzu passt die Geschichte von dem Mann, der sein Auto in die Werkstatt bringt. Als er es wieder abholen will, meint der Mechaniker: »Ich konnte die Bremsen nicht reparieren, deswegen habe ich die Hupe lauter gestellt!« Spiegelt dieser Witz nicht unser menschliches Dilemma? Niemand löst für uns das Sinnproblem, also versuchen wir irgendwie durchzukommen, anzukommen, weiterzukommen. Immerhin können wir hupen, auf uns aufmerksam machen und unser Bestes geben, um auf unseren Wegen wenigstens gehört zu werden.

Unser Sinnbedürfnis hat sich verlagert. Statt im Objektiven oder Transzendenten suchen wir Sinn in der Liebe, in den Kindern, im Sport, in der Selbstveränderung. Der Blick richtet sich nicht mehr nach oben, sondern in die Welt mit ihrer Überfülle an Sinnangeboten. Hannah Arendt definiert das moderne Leben als »Tyrannei der Möglichkeiten«. In dieser Formel drückt sich treffend aus, dass alles, was wir tun, aus riskanten Entscheidungen besteht. Wir müssen es mutig mit diesen überwältigenden Angeboten aufnehmen, um wachsen und gedeihen zu können, um irgendwann, vielleicht in ferner Zukunft, über uns selbst hinauszuwachsen. Das ist für viele eine Überforderung, die sich oft in der Frage äußert: Was soll das alles? Wie viele kennen dieses nagende Gefühl, dass es mehr geben muss, als dieses kurze Leben hergibt? Und die Melancholie, die sich nach einem Erfolg einstellt, dieses Gefühl »Das ist es doch nicht«? Oder sie realisieren, dass der hohe Preis an Stress und Aufwand in keinem Verhältnis zum Erfolg steht.

Immer wieder treffe ich auf Menschen, die von sich sagen: »Eigentlich müsste ich total glücklich sein. Bin ich aber nicht. Ich finde alles so sinnlos.« Auch Menschen, die gesund, wohlhabend und in Frieden leben, können diesen Mangel empfinden. Vor allem in der zweiten Lebenshälfte, wenn man seine angestrebten Ziele erreicht hat, meldet sich der Hunger nach diesem »Mehr«, das nur schwer fassbar und in Worte zu bringen ist. Aber fragt sich nicht jeder hin und wieder, ob er beim Mithalten des herrschenden Lebenstempos nicht etwas anderes, Wesentlicheres verpasst?

Das Zauberwort »Sinn« funkelt hart und faszinierend wie ein buntes Prisma, das das Licht einsammelt. Es erzählt unendlich viele Geschichten, die alle eines gemeinsam haben: Menschen fragen nach Sinn, wenn sie Orientierung brauchen, wenn sie aus dem Vertrauten herausfallen, wenn Krisen sie beuteln, wenn sie Ungenügen und Mangel empfinden, oder wenn sie mit Umbrüchen, Schicksalsschlägen, Krankheit oder Tod konfrontiert werden. Die Frage nach dem Sinn verdichtet sich, wenn wir vor schweren Entscheidungen stehen, wenn Enttäuschungen uns treffen, wenn wir scheitern, und wenn das Leben grau und eintönig geworden ist. Das sind Situationen, die besonders prädestiniert sind, dass man fragt: Wozu? Aber ebenso dringlich werden Sinnfragen, wenn wir uns mit unserer Zukunft beschäftigen. Wenn wir fragen: Was mache ich aus meiner Lebenszeit? Was will ich eigentlich? Wo führt das hin, wenn ich so weitermache? Ist das sinnvoll, was ich tue? Bin ich auf dem richtigen Weg?

Die Sinnfrage ist also eine typisch menschliche Frage, die sich besonders dann stellt, wenn wir an Wegkreuzungen stehen, wenn Wege zu Ende gehen oder wenn wir uns auf unseren Wegen verirrt oder verloren haben. Im letzten Grund aber hängt sie mit unserem Wissen zusammen, dass all unsere Wege irgendwann enden werden, dass nichts bleibt, wie es ist, dass alles vergänglich ist, dass wir sterblich sind. Das sind keine angenehmen Gedanken, aber sie geben unserem Leben Tiefe, Weite und Gelassenheit, denn sie erlauben uns, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, ihren Wert zu schätzen, und uns an ihnen zu erfreuen. Insofern bereichert uns dieses Wissen, es macht uns menschlicher, bescheidener und lässt uns mit einem heilsamen Sinn für unsere Lebenszeit und unsere Grenzen leben.

Da das Leben in seiner Ganzheit einige Nummern zu groß ist, und wir selbst Teil dieses Lebensflusses sind, kann »der Sinn des Lebens« nicht Gegenstand dieses Buches sein. Nicht weil die Frage zu tiefsinnig ist, sondern weil sie den Begriff »Sinn« zu sehr strapaziert und überdehnt. Geht man nämlich an dessen sprachliche Wurzel, so findet man das germanische sinpa – Weg, Reise, Gang. Sinn bedeutet also ursprünglich etwas Dynamisches, das mit Bewegung, Weggehen zu tun hat, mit unterwegs sein, eine Richtung einschlagen. Sinn ist vom sinnlich Erlebten, Erfahrenen bestimmt und durchaus konkret zu verstehen: als persönliche Wegerfahrung oder Orientierung, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen. Es geht also um die Frage: Welche Erfahrungen mache ich auf meinem Weg?

Sinn ist keine übergeordnete Idee aus einem Guss, sondern es gibt viele Sinne, die wir auf unseren Wegen mit anderen erfahren, begreifen und verstehen lernen. Wir wägen Konsequenzen gegeneinander ab und fragen uns, ob unser Tun der Mühe wert ist. Wir treffen Entscheidungen, was zu tun oder zu lassen ist, wo Prioritäten zu setzen sind, und was für Menschen wir sein oder werden wollen. Aus diesen Fragen entsteht Sinn, der zurück in die Vergangenheit und nach vorn in die Zukunft reicht. In unseren Erfahrungen von unseren zurückgelegten Wegen – allein und mit anderen – spiegelt sich Sinn, den wir deuten und bewerten, so dass sich mit der Zeit ein stimmiges Selbstbild herauszuschälen vermag. Ganz akut werden diese Fragen an Lebensübergängen.

Während die Tagesordnung der ersten Hälfte unseres Weges vor allem um soziale Fragen kreist: Wie kann ich losgelöst von den Eltern eine eigene Identität entwickeln? Was will das Leben von mir? Wo bin ich angefragt?, muss man schon eine Zeit lang gelebt haben, um sich den Fragen der zweiten Lebenshälfte zu widmen: Was braucht meine Seele? Welche Spur möchte ich hinterlassen? Wer bin ich selbst? Wozu bin ich da? Bei diesen Fragen geht es um Bestandsaufnahme, die uns häufig zum Loslassen vertrauter Seinsweisen zwingt und auf einen Veränderungsweg schickt. Das eigene Selbst unter den Schichten von Rollen und Verpflichtungen zu finden, braucht eine Selbstzuwendung, die den Blick für das Wesentliche öffnet. Die Suche führt jetzt in größere Sinnräume, die über uns hinausweisen. Es geht um die Annäherung an unser inneres Wesen, um den Sinn seiner eigentlichen Bestimmung.

Diese Herausforderung anzunehmen, dazu möchte dieses Buch anstiften. Der Buchtitel verrät meine Ausrichtung: dass wir uns auch in schweren Zeiten dem Wandel nicht verweigern und erstarren, dass wir trotz allem weitergehen und fragen: Was will das Leben von mir? Es gibt kein Diktum, das uns die Ernsthaftigkeit und auch die Lächerlichkeit unseres Lebens abnehmen könnte. Deswegen erscheint mir diese Einstellung »sinn-voller« als eine, die Ansprüche oder Forderungen an das Leben stellt. Mit dem Sinn geht es uns ähnlich wie mit der Gesundheit. Beide machen nicht extra auf sich aufmerksam, sondern wirken im Verborgenen. Nur Hypochonder beobachten sich ständig. Für die anderen gilt es, die Chancen zu ergreifen, sich ins tätige Leben zu werfen, und zwar so wach und intensiv wie möglich, so dass das Leben Sinn macht.

Dieses Buch ist kein Ratgeber im Stile von »How to«. Sie werden weder erfahren, wie Sie den perfekten Partner oder Freunde gewinnen noch Gott finden. Dafür werden Sie Denkanstöße, Anregungen und vielleicht neue Perspektiven erhalten, die Sie zu eigenen Fragen inspirieren. Lesen und nachdenken helfen weiter und sind insofern selbst ein Beitrag zum Sinn. Damit komme ich zum Kern. Die Sinnfrage zu stellen ist keine esoterische Spielerei, sondern eine Lebensfrage: Wie möchte ich leben, dass ich am Ende sagen kann: es war ein sinn-volles Leben? Und das können nur Sie selbst beurteilen.

Was uns fehlt

Oft schleicht sich gerade auf dem Höhepunkt des Lebens plötzlich die Melancholie durch das Fenster ein. Viele kennen sie, diese alte Dame in Schwarz, die plötzlich im Raum ist und alles in Frage stellt. Zu spät, um ihr die Türe zuzuschlagen. Dann erscheint plötzlich all das, was bislang für sinnvoll und wichtig gehalten wurde, sinnlos, fragwürdig und zweifelhaft. Erinnerungen werden wach, an all das, was entschwunden, gescheitert oder entrissen worden ist. Trauer über das, was man nicht gelebt hat. Die Pläne, die man geschmiedet hat, deren Sinn man nicht mehr versteht, die Umwege und Irrwege, die in Sackgassen mündeten, die Freundschaften, die sich im Sande verloren haben, die abservierten Liebschaften, die abgelehnten Chancen. Alles erscheint wie Spiegelungen auf dem Wasser, wenn der Himmel sich zuzieht. Es ist die Zeit der Dämmerung, wenn sich die Schatten des Lebensweges in die Länge ziehen, wo Menschen zweifeln und fragen: Wozu das alles? Wofür ist das gut? Wie geht es weiter?

Selbst die Erfolgreichen, die tapfer an sich selbst und ihre Leistungen glauben, kennen solche Momente – diese kleinen aber unheilvollen Risse und Löcher, die sich plötzlich auftun inmitten des Hochsommertages, wenn die Sonne ihren Zenit erreicht und das Schweigen im Hause wie eine Bombe tickt, oder im Herbst, wenn die Sonne nicht mehr wärmt, die Winde durch die Straßen fegen und das Herz rastlos und unruhig schlägt. Und plötzlich die Frage im Raum steht: Und das soll alles gewesen sein?

Andere sind einsam und warten sehnsüchtig darauf, dass der Anrufbeantworter endlich blinkt. Vielleicht haben sie eine Katze zum Streicheln oder eine Zeitung, in der sie stundenlang Werbeangebote oder Schnäppchen aus der großen, emsigen Welt studieren. »Ich fühle mich wie ein gebrochener Baum in einem leeren Wald. Allein in der großen Wohnung. Ich bin weder Geliebte noch Freundin, noch Ehefrau, noch Schwester, nicht mal mehr Tochter. Wenn doch jemand vorbeikäme …« So die Beschreibung einer Frau, die das Gefühl hatte, ihre Konturen zu verlieren, wenn nicht endlich jemand kommt, der sie aufrichtet oder wenigstens mit ihr spricht.

Andere merken, dass das Leben, das sie führen, nicht mehr zu ihnen passt. Sie haben das Gefühl: »Ich lebe nicht, ich werde gelebt.« Manche von ihnen steigen einfach aus, lassen ihre Sicherheit und ihre Karriere sausen, weil sich in ihnen so viel an ungelebten Wünschen und Sehnsüchten angestaut hat, dass sie keinen anderen Ausweg mehr sehen. Es kommt zum Ausbruch, zum »Dammbruch« wie ein Manager sagte. Oder zur verzweifelten Explosion, weil sich zu viel Sinnloses angehäuft hat und niemand da war, der die Anzeichen hätte lesen und abfangen können.

Bei anderen ist es der Blick in den Spiegel, der die Seele kränkt. Die Welt der Chancen stehe nur noch den Jüngeren zu, empfindet die 60-jährige Geschäftsfrau: »Meistens werde ich einfach übersehen. Ich kann mich schon gar nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal geflirtet habe.« Kleider, Kosmetik, Kochen, Kuren – ein Leben, in das sie irgendwie hineingeraten war, das sie früher in Euphorie versetzte, wärmt nicht mehr. Es hinterlässt nur noch einen bitteren Geschmack, weil sie auf nichts anderes gesetzt hat.

Und dann gibt es dieses schale Gefühl in langjährigen Ehen. Der Partner ist eigentlich ganz in Ordnung, man hatte auch viele schöne Jahre. Endlich ist das Haus abbezahlt, und man könnte sogar mehrmals pro Jahr in den Urlaub fahren. Aber statt immer mehr vom Gleichen hätte man doch lieber etwas mehr von dem, was Erfüllung oder Gefühle schenken würde und das Leben lebenswert macht … mehr Sinn.

Wahrscheinlich gibt es kaum jemanden, der nicht gelegentlich fragt, was das alles soll. Manchmal reicht schon eine endlos weite Landschaft von sattem Grün – und man ertappt sich bei der Frage, was dieser tägliche Wahnsinn, dem man in seinem Büro ausgesetzt ist, eigentlich soll. Auch wenn der Gott der Kindheit längst keine Hilfe mehr ist, so haben doch viele die Hoffnung, dass es vielleicht doch etwas gäbe, das »so ähnlich wie Gott« einem irgendwie Halt und Ausrichtung geben möge. Immerhin sind es laut Umfrage (Tutsch 2000) rund 95 %, die sich von Zeit zu Zeit Sinnfragen stellen.

Kurz nach dem zweiten Weltkrieg, so beobachtete der Psychotherapeut Paul Watzlawick in Triest, herrschten Chaos und Verzweiflung. Die Stadt quoll über von Flüchtlingen, Familien waren auseinandergerissen, Wohnungsnot herrschte. Dennoch registrierte die Polizei gerade mal 14 Suizide pro Jahr. Einige Zeit später, als sich die Situation stabilisiert hatte – den Menschen ging es wirtschaftlich besser, sie fuhren wieder Auto, das Kulturleben erwachte, die Cafés wurden wieder besucht – war die Suizidrate auf 10 pro Monat angestiegen.

Offensichtlich haben Menschen, wenn ihr Leben existentiell gefährdet ist, viel weniger Sorge um Sinnsuche und Sinnprobleme. Und wer im Schweiße seines Angesichts für das blanke Überleben sorgen muss, leidet wahrscheinlich nicht an Sinnkrisen. Erst wenn die Existenz sichergestellt ist, beginnen Menschen sich mit Sinnfragen zu beschäftigen. Deswegen haben in den westlichen Gesellschaften, in denen Wohlstand für viele herrscht, Sinnfragen und die »Sehnsucht nach Sinn« (Berger) Konjunktur. Entlastet vom Existenzkampf wachsen die Erwartungen und Ansprüche an das eigene Leben. Wenn Ziele sich als Illusionen erweisen, Pläne platzen, Vorhaben scheitern, Wünsche sich nicht erfüllen, konkurrierende Optionen überfordern, dann gerät das Leben heute mehr als früher unter Sinnlosigkeitsverdacht.

Was hat das Gefühl der Sinnlosigkeit mit dem unstillbaren Durst nach Sinn zu tun? Ein Grund liegt darin, dass wir aus einem umfassenden Sinnsystem herausgefallen sind und keinen großen Zusammenhang mehr erleben. Wenn wir nicht erfolgreich sind, gibt es kaum etwas, das uns auffängt. Wir sind auf uns selbst verwiesen und haben das Gefühl, in der großen unüberschaubaren Welt nichts zu sein oder weniger als andere zu sein. Deswegen fühlen Menschen sich innerlich leer und wollen das große Loch mit irgendetwas füllen. Und selbst denen, die im Wohlstand leben, verspricht schon das magische Wort »Sinn« ein inneres Erfülltsein, das über bloßes Wohlergehen hinausgeht.

Wie kommt es überhaupt zu Sinnfragen? Meist beginnt es ganz harmlos. Man ist unter Leuten bei irgendeinem geselligen Miteinander und plötzlich ist da dieses Empfinden, das alles überschattet. Eine Stimmung von Sinnlosigkeit, die alles vermiest und in Frage stellt: Wofür bin ich hier? Was tue ich hier eigentlich? Wie bin ich wirklich? Man wartet auf eine Antwort, aber stattdessen herrscht Schweigen, Leere. In diesem Grübeln deutet sich etwas an, das uns von den Pflanzen auf Gottes Acker unterscheidet. Wir machen uns Gedanken darüber, was und wie wir sind und zweifeln, ob wir wirklich so sind, wie wir denken, dass wir seien. Diese Gedanken lassen sich nicht wegpredigen. Aber sie lassen sich verstehen. Denn auf den Gedanken, »wie bin ich wirklich«, kommen wir nur durch die Erfahrung, dass wir auch anders sein könnten. Weil wir wissen, dass wir irgendwie geworden sind: aus Widerfahrnissen und Zufällen, die zusammen eine gewisse Notwendigkeit ergeben, mit der man irgendwie umgehen und fertig werden muss. Wir sind unterwegs, und können unsere eingeschlagenen Wege auch ändern. Natürlich nicht beliebig, aber es gibt auch keinen vorbestimmten Weg, sondern jene eigenartige Mischung aus Selbstbestimmung und Notwendigkeit, die jeden Reisenden nun eben auszeichnet.

Um die Frage: »Bin ich auf einem guten Weg?« kommen wir nicht herum, aber sie hat etwas Befreiendes: wenn ich nämlich erkenne, was ich nicht beeinflussen kann, entdecke ich meine Möglichkeiten, meinen Weg zu ändern – und umgekehrt. Das ist zwar nicht viel, aber auch nicht wenig. Je dichter wir umstellt sind von verordneten Bedingungen, je mehr wir gefangen sind in der Agenda von anderen, desto unruhiger meldet sich die Frage nach dem Wofür, Wozu – nach dem Sinn in eigener Hand. Wie kann und will ich eigentlich leben?

Das hängt damit zusammen, dass wir Menschen die einzigen Wesen sind, die Sinn und Lebenswerte brauchen, um überhaupt leben zu können. Wir sind nicht einfach Natur, sondern wir haben ein Bedürfnis, uns zu orten und zu orientieren. Wir wollen einen Grund zum Leben haben. Wir wollen wissen, wozu wir da sind, was unsere Aufgabe in diesem Leben ist. Wir sind »zum Sinn verurteilt«, postuliert der Philosoph Merleau-Ponty. Fehlt uns der Sinn, so haben wir es schwer, uns in der Welt zu bewegen. Es fehlt die Orientierung auf unseren Wegen. Es fehlt der Zusammenhang. Ein Leben ohne Sinn wäre ein bloßes Dahinleben.

Der berühmte Psychotherapeut und Begründer der Logotherapie, Viktor E. Frankl, sieht die epidemisch anwachsende Dreifaltigkeit aus Depression, Aggression und Sucht als Ausdruck eines »fundamentalen Sinnlosigkeitsgefühls«. Trotz der sich ausbreitenden Sinnkrisen fällt es Menschen dennoch zunehmend schwer, von Sinn auch nur zu sprechen, geschweige denn, sich zur Sinnsuche zu bekennen. Es ist heute offenbar leichter, über Gewalt und intime Details zu sprechen als über Sinnfragen, betont Heiko Ernst in »Psychologie heute«. Woher kommt diese Scheu? Ich nehme an, dass sie damit zusammenhängt, dass wir nur ungern zugeben, dass wir Suchende und Fragende sind. Oder gar in einem Sinn-Vakuum stecken. Vielleicht erinnern wir uns auch nicht gern selbstkritisch an manche unserer sinnverheißenden Wege, die sich trotz anfänglicher Begeisterung als Sackgassen herausstellten. Eine Soziologin erinnert sich: »Ich kann mich heute nur amüsieren über meine Heilssehnsüchte. An was habe ich nicht alles geglaubt? Erst waren es die Bücher von Castaneda, dann Sai Baba, dann das ›Familienstellen‹ von Hellinger. Immer war ich wie berauscht und dachte, das ist jetzt endlich der richtige Weg. Bis dann die große Nüchternheit einkehrte und ich merkte – eigentlich hat sich nicht viel geändert.«

Unterwegs sein

Bei meinen eigenen Gesprächen fiel mir auf, wie meine Gesprächspartner entweder in verlegenes Lachen ausbrachen, oder angestrengt nach phantasievollen Antworten auf meine Frage suchten, was ihr Leben sinnvoll macht. »Ich bin das Auge, durch das Gott scheint«, »Ich bin hier wegen meiner Taten in früheren Leben.« Es sind große Antworten. Als wären gute Freunde, Kinder erziehen, Briefe schreiben, lesen, wandern oder Gartenarbeit kaum der Rede wert. Hinter diesen großen Antworten wird auch eine Angst sichtbar, die eigene Ratlosigkeit zu offenbaren. Aber nicht nur Angst, auch Abwehr wird spürbar, wenn Antworten die Frage ins Lächerliche oder Ironische zu ziehen suchen: »Sinn ist, wenn man trotzdem lacht«, »Ich gehöre zur ›Generation sinnlos‹«, »Ich beneide die Leute, die glauben können. Ich hätte auch gern so etwas, aber ich weiß, dass es falsch ist«, »Alles menschliche Krücken«, »Lieber ohne Sinn, als an irgendeinen Schwachsinn glauben.« Auch in diesen Antworten liegt die Ahnung, dass eine Frage weder durch Schweigen noch durch Distanzierung oder durch Anstrengung totzukriegen ist. Eigentlich könnte man jedoch unbefangen darüber reden. Doch wir betreten hier eine intime Zone, in der jeder auch allein bleibt.

Dennoch ist die Sinnfrage eine notwendige Frage. Nicht nur in schlechten Zeiten, auch in guten Tagen. Eine Frage, die heute besonders brisant ist, weil so viele orientierungslos geworden sind. Was früher Ausnahmezustand war, ist heute fast Dauerbrenner. Von allen Fragen berührt die Sinnfrage die Menschen am meisten, weil sie ständig in Entscheidungen, Veränderungen und neue Beziehungen verwickelt sind. »Im Moment habe ich mal gerade drei Baustellen – Umzug, Geldnotstand, Dreiecksbeziehung. Wie bitte soll man da noch zu seiner Mitte finden?« – so die Aussage einer Frau, die in einer Werbeagentur arbeitet. Nicht nur die ständig neuen Lebensbaustellen, sondern dass sie auf sich selbst gestellt sind, macht so viele ratlos und rastlos. Deswegen fällt es Menschen auch nicht leicht, darüber zu sprechen. Darüber sprechen zu können, würde ja voraussetzen, sich auszukennen – orientiert zu sein.

Als Psychotherapeutin erfahre ich tagtäglich in meiner Praxis, wie sich dieses Thema wie ein roter Faden durch die meisten Leben zieht. Für meine Tätigkeit passt die Metapher: Psychotherapie ist begleitete »Weg-Erfahrung«. Das Bild vom Weg habe ich sehr bewusst gewählt. Meist wird Therapie ja dann aufgesucht, wenn Orientierung und Wege abhanden gekommen sind, wenn Erfahrungen nicht mehr verarbeitet werden können, oder wenn man stecken geblieben oder in einer Sackgasse gelandet ist. Ob innerhalb oder außerhalb der therapeutischen Werkstatt: Fragen des Weges, der Orientierung oder des Orientierungsverlusts berühren immer auch die Sinnfrage.

Betrachten wir unser Leben als Reise. Unsere Reise ist das Leben. Schritt für Schritt durchreisen wir unsere Lebensstrecke. Wir wissen nicht, wie lang sie sein wird; wir wissen nur, dass sie eines Tages enden wird. Wir gehen einen Weg nach dem anderen, jeder Weg hält seine unvergleichlich eigenen Aussichten, Überraschungen und Abenteuer bereit, und auf jeder Wegstrecke nehmen wir die Mitreisenden, die Zeit, den Raum auf andere Weise wahr. Es gibt Wegstationen, da fragen wir sehr eindringlich nach dem Wozu und dem Wohin. Es gibt andere, da tritt diese Frage in den Hintergrund. Jeder Lebensweg hat seine eigenen Höhen und Tiefen, Lagerplätze und Plateaus, Durststrecken und Höhenflüge, deren schrittweise Erfahrung und Erkundung uns zu dem machen, der wir sind. Wir sind nicht allein auf unseren Wegen, und wenn, dann höchstens kurzfristig, oder weil wir uns verirrt haben. Wir sind unterwegs mit der Generation, mit der wir aufgebrochen sind, deren Reihen sich gegen Ende immer mehr ausdünnen werden. Die anderen Menschen tragen und beflügeln uns mit ihren Wünschen und ihrem Elan, sie fordern uns heraus und stecken uns an mit ihren Ängsten und Unsicherheiten. Unsere Wege kreuzen sich auch mit anderen Generationen – älteren und jüngeren. Diese Begegnungen sind bewegend, spannend, manchmal auch traurig, weil sie uns an vergangene Wegstrecken erinnern, und weil sie uns neue Landschaften eröffnen, von denen wir bisher nichts kannten – außer die Neugier und die Faszination, die ihr Einblick in uns erregen.

Manche Wegabschnitte erzeugen ein Gefühl von Angekommensein. Wir wollen bleiben, rasten, zur Ruhe kommen, einfach da sein. Andere wollen wir ungeduldig verlassen, oder wir werden vertrieben, weil Neues in Angriff genommen werden will. Es gibt Hindernisse auf unseren Wegen, Anstrengungen, Mühen und manchmal auch harte, verbissene Kämpfe, die wir durchzustehen haben. Diese endlos scheinenden Strecken, wo uns die Verzweiflung und die Übellaune heimsuchen, gehören genauso dazu wie die Phasen der Fülle, der Ernte und der Freigiebigkeit, die im Nu davonfliegen. Vielleicht gestalten sich die Richtungswechsel unauffällig, fast unmerklich, aber betrachtet man sie aus der Rückschau, so merkt man, wie sich ein eigensinniger, persönlicher Lebensweg über die Jahre abgezeichnet hat.

Wie ein siamesischer Zwilling gehört auch das Schwere zur Weg-Erfahrung. Schlimme Erfahrungen, Leid, Verluste und Grenzsituationen können uns derart erschüttern, dass alles, was bisher galt, von einer Minute auf die andere unbedeutend erscheint. Wir würden alles hergeben oder tun, um wieder Halt und Trost zu gewinnen. Aber wir können nicht mehr ausweichen. Plötzlich stellt sich die Sinnfrage mit aller Eindringlichkeit. Wir realisieren: Sinn ist nicht da draußen und will einfach nur gefunden werden. Im Gegenteil: Sinn erfahren wir, indem wir ganz präsent sind und intensiv wahrnehmen, was gerade ist und das Erlebte, Erlittene als Erfahrung verarbeiten.

Diese Erfahrung lässt sich ganz einfach und alltäglich im Blickkontakt machen. Wahrscheinlich hat jeder schon einmal die Erfahrung gemacht, was der Unterschied ist zwischen einem flüchtigen Registrieren und einem Blick, bei dem man einander so intensiv wahrnimmt, dass beide plötzlich ein positives Gefühl von Stimmigkeit oder Übereinstimmung erleben. Es entsteht etwas, das jedes nüchterne Registrieren überschreitet – eine Erfahrung, die Sinn macht. Entscheidend ist, dass wir selbst dazu aktiv beitragen. Sinn erfährt man nicht als passiver Zuschauer, sondern in der Begegnung, indem man achtsam, konzentriert hinschaut.

Sinnschöpfer sind wir

Einen schönen Satz habe ich bei Martin Luther gefunden: »Woran du nun dein Herz hängst und worauf du dich verlässt, da ist eigentlich dein … ›Sinn‹.« Diese Antwort kehrt überraschend um, woran wir uns vielleicht bisher gewöhnt haben. Nämlich die Vorstellung, Sinn sei immer schon da und wir müssten einfach nur lernen, ihn zu entschlüsseln. Interessant ist es, ihn gerade umgekehrt zu denken. Wir machen das zu unserem Sinn, worauf wir unser Vertrauen setzen, was uns Bedeutung und Zusammenhang gibt, wofür es sich zu leben lohnt. Wir legen Sinn in die Dinge und bestimmen selbst, was für uns Sinn macht und was nicht. Immer spielen, wie Luther sagt, unser Herz, unsere Sehnsüchte, Wünsche, unsere Blickrichtung eine sinnstiftende Rolle. Wir können uns zu keinem Zeitpunkt völlig davon lösen. Nehmen wir ein ganz banales Beispiel: Stellen Sie sich eine Vase vor. Sie identifizieren sie: Das ist eine Vase. Nun finden Sie vielleicht, dass diese Vase besonders hübsch ist und Sie an einen Freund erinnert, der sie Ihnen geschenkt hat. Sie bewerten sie: »Gefällt mir«, »macht mich glücklich« und geben ihr eine bestimmte Bedeutung – Ihren persönlichen Sinn.

Oder ein Gedicht beispielsweise können Sie für schwachsinnig halten und finden, dass es zu nichts nütze ist. Vielleicht entdecken Sie darin aber auch einen bisher verborgenen Sinn, der Sie anspricht und innehalten lässt. Wahrscheinlich werden Sie nicht ins Grübeln geraten, sondern recht konkret sagen können, welchen Sinn, welche besondere intensive Qualität die Vase und das Gedicht für Sie haben.

Sinn ist also nichts Abstraktes, Losgelöstes, sondern hängt mit unserer Wahrnehmung und der Bewertung im Wechselspiel mit unserer Außenwelt zusammen. Sinn kann nur höchstpersönlich erfahren werden. Weder vom Arzt verschrieben noch von oben verordnet. Im Unterschied dazu kann man beim metaphysischen Sinn, der abgehoben von der konkret erfahrbaren Sinnlichkeit ist, schon ins tiefschürfende Grübeln geraten. Ich denke dabei an so tiefsinnige Fragen wie: Warum ist etwas und nicht Nichts? Was ist der Sinn des Leidens? Ist das Nichts ein Seiendes? Das möchte ich Ihnen nicht zumuten, da ich den Begriff des Sinns nicht überstrapazieren möchte.

Pater Zoche spricht davon, dass Sinn sozusagen kostenlos vorhanden ist, wenn wir uns auf den Weg machen, neue Pfade erkunden und uns den Herausforderungen stellen. Insofern beschreibt der Ausdruck »etwas macht Sinn« ganz treffend den aktiven Prozess des Sinnfindens. Ein anschauliches Beispiel dafür stammt von einem Mann, der gern in seiner Freizeit angeln geht. »Der Sinn des Lebens ist für mich: Pavarotti hören, die Sonne auf dem Gesicht spüren, eine Flasche Wein trinken, und dann noch eine zweite …, den Geruch eines neuen Autos riechen, die Luft über dem Ozean, Fische fangen und mit den Fischen heimkommen – nicht mit irgendeiner Fischgeschichte.«

Der Angler beschreibt es treffend. Sinn heißt: eine