Was rettet - Irmtraud Tarr - E-Book

Was rettet E-Book

Irmtraud Tarr

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Beschreibung

Wer Verluste verkraften muss, braucht Kraftquellen, die jederzeit verfügbar sind. Die renommierte Psychotherapeutin Irmtraud Tarr konzentriert sich in ihrem neuen Buch auf den Wert solcher Rituale und Gewohnheiten, die in schweren Zeiten unversehrt bleiben. Es sind pragmatische, urmenschliche Überlebensstrategien, die in Schmerz und Trauer stärken und einen Hoffnungsraum bilden. Eingewebt hat Irmtraud Tarr Berichte über ihre eigenen Verlusterfahrungen und antwortet so auf die Frage, wie man sich erneut auf das Leben einlassen kann.

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Irmtraud Tarr

Was rettet

Leben mit Verlusten

Patmos Verlag

Inhalt

I Verlust erleiden, begreifen, verstehen

In jeder Krise lebt ein Spielraum

Von allen guten Geistern verlassen

Schicksalsschläge sind Schläge

Achterbahn der Gefühle

Verluste zeigen, wer wir sind

Würde und Respekt

Leicht sein

Stark und zugleich verletzlich

Neues in die Welt bringen

Ins Offene gehen

Krise als Möglichkeit

II Vier Säulen

1. Freundschaft

2. Rhythmen, Rituale, Resonanzen

3. Phantasie

4. Kunst

III Hoffnungs- und Spielräume

Es geht weiter – aber anders

Sich dem Neuen öffnen

Trost und Trotz

Inneres Zuhause

Wieder wünschen

Lachen macht leicht

Goldmomente

Alles fließt

IV Neu orientieren

Lust, lebendig zu sein

Schatzinseln

Geschichten, die es auch gibt

»Alle Jahre wieder, nur nicht dieses Jahr«

Literaturverzeichnis

Über die Autorin

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

I Verlust erleiden, begreifen, verstehen

In jeder Krise lebt ein Spielraum

So hatte ich mir mein Leben nicht vorgestellt. Es sollte immer weiter so gehen mit meinem Mann, den Freunden, der Familie, den Gästen, der Musik und den immer neuen Projekten. Aber plötzlich ging ein Riss durch mein Leben. Die emotionale Fallhöhe hätte nicht größer sein können. Meine fünf nächsten Menschen starben innerhalb von drei Monaten: meine Mutter, meine drei engsten Freunde und mein Mann. Durchgerüttelt und allein stand ich da und hätte es als gerecht empfunden, wenn die Erde sich aufgetan und mich verschlungen hätte. Zum Glück konnte ich zunächst nur einen gewissen Grad des Unglücks fassen.

Die Zukunft rückte in weite Ferne und die Pandemie, die Anfang 2020 alle Länder überrollte, war nahe. Ich erlebte sowohl innen als auch außen eine Zeit der Fragilität und der abrupten Veränderungen. Ich wurde Zeugin eines Umbruchs, der normalerweise nur in Zeitlupe zu beobachten ist. Was ich für den sicheren Grund gehalten hatte, war sowohl innen als auch außen weggebrochen.

Dieses Buch entstammt einer tiefen persönlichen Erfahrung. Ich spreche als eine, die den Tod innerhalb kürzester Zeit mehrfach erlebt hat, die Erkenntnisse aus Kenntnissen gewonnen hat, die das fast Unaussprechbare ausspricht. Ich erzähle nicht nur von dem, was mir und anderen zugestoßen ist, die nach Krisen des Verlusts und der Verlassenheit stark und zugleich zerbrechlich sein können. Ich möchte auch, dass die nun Abwesenden zu Anwesenden werden und bleiben.

Je älter wir werden, desto weniger sind wir gefeit gegen unerwartete, kritische Lebensereignisse, Schicksalsschläge, Verluste, Krankheiten, Abschiede. Selbst das beschaulichste Dasein wird mitunter heftig durchgerüttelt. Krisen, Krankheiten, Katastrophen, die uns das Leben zumutet, unterbrechen den gewohnten Tagesablauf. Überraschende Wendungen brechen blitzartig über uns herein. Manchmal schleichen sie sich unspektakulär an, in Gestalt chronischer Schmerzen, Lustlosigkeit oder schwelender Beziehungskrisen, die unser Leben grundlegend verändern. Gemeinsam ist ihnen, dass sie immer mit Verlusten einhergehen. Immer verliert man etwas: den Partner, die Eltern, den Freundeskreis, die Gesundheit, die finanziellen Grundlagen, die sozialen Bezüge. Man muss sich neu verorten in seinem Rollenverständnis, im Beziehungsgeflecht und in gesellschaftlichen Bezügen. Und in der Art und Weise, wie man sich selbst bisher wahrgenommen und erlebt hat. Man muss sich selbst neu definieren und finden im Verhältnis zu sich selbst und zu anderen. Das bedeutet: Man ist gezwungen, ein neues Leben zu leben.

Das Unvorhersehbare und Unberechenbare bestimmen unser Leben weit mehr, als wir es uns eingestehen wollen. Es geschieht nicht immer, was wir wollen – trotz aller Bemühungen. Und es geschieht oft genug das, was wir gerade nicht wollen – trotz aller Absicherungen. Verluste und Krisen sind Umbruchsituationen und Weichenstellungen. Sie widerfahren uns, überraschen und überfallen uns, führen uns an unsere Grenzen und verändern unseren Erwartungshorizont. Es mag gelingen, ihnen einen tieferen Sinn zu geben. Meist entziehen sie sich aber einem begreif- und verstehbaren Warum.

Sich mit dem Unerwarteten, Unvorhersehbaren abzufinden und zu versöhnen, heißt anzuerkennen, dass wir den größten Teil unserer Lebensgeschichte nicht selbst schreiben, sondern Schicksal, Zufall und Notwendigkeit schreiben an ihr mit. Unser Weg ist nicht programmierbar und auch nicht prognostizierbar. »Nichts wird wieder sein wie zuvor!« Diese Aussage trifft für alle Lebenskrisen und Verluste zu. Sie verändern unser Leben schlagartig und nachhaltig. Je tiefgreifender die Lebenskrise ist, desto mehr wird die eigene Identität erschüttert, und desto länger braucht man, bis man sie aus den Fragmenten wieder neu zusammengefügt hat. Die Frage ist nur: Wie? Zum Besseren? Zum Schlechteren?

Was in schmerzhaften Krisen weiterhilft, was an inneren und äußeren Quellen unversehrt bleiben kann, welcher Wert bestimmten Fähigkeiten, Fertigkeiten, Gewohnheiten, Ritualen zukommt, all dies offenbart sich oft erst, wenn die gewohnten Sicherheitsnetze zusammenbrechen. Widerfährt uns ein Verlust, kommt unser Innerstes zum Vorschein. Die Alltagsmasken fallen ab. Wir verlieren unsere normalen Halterungen. Wir verlieren die Kontrolle. Wir sind verwundet. Es zeigt sich, aus welchem Holz wir geschnitzt sind. Selbst in aussichtsloser Lage sind wir aber nicht nur passive Opfer. Es gibt immer einen Spielraum der Wahrnehmung, der emotionalen Färbung und der Deutung des Geschehenen und der Intensität des Schmerzes.

Was in dunklen Verlustzeiten, die alle Ebenen der eigenen Existenz betrifft, rettet, zeigt sich oft erst im Rückblick. Entscheidend ist die Frage: Wie reagiere ich auf Widerfahrnisse? Was sind meine inneren und äußeren Ressourcen? Auf welche Fähigkeiten, Fertigkeiten und Gewohnheiten kann ich zurückgreifen? Was sind meine Gestaltungsräume? Was gibt mir neuen Sinn? Was rettet?

Wenn das Undenkbare geschehen ist, die Blase der Unverwundbarkeit geplatzt ist, werden wir zu einem transformativen Leben gezwungen. Wir machen Erfahrungen, die unser Selbst- und Weltbild verändern, um weiterzugehen und weiterzumachen. Es ist nicht nur harte Arbeit, sondern auch ein innerer Kampf, sich neu zu finden und zu erschaffen. Oder dies zu vermeiden. Ob man zerbricht oder es schafft, daran zu wachsen, hängt vom Zusammenspiel faszinierender geistiger und emotionaler Faktoren ab, die vor allem eines leisten: Sie ordnen das Koordinatensystem von Werten, Zielen und Einstellungen neu. Wie gelingt es, eine Verlustkrise nicht nur zu überstehen, sondern daran zu wachsen? Wie schafft man es, wieder zu ­vertrauen, ohne das Erfahrene zu verleugnen? Wie kann man bestimmte Haltungen kultivieren, die das Widerfahrene erträglich und bearbeitbar machen?

Um herauszufinden, was rettet, habe ich mich mit meiner eigenen und den Geschichten anderer beschäftigt, die es geschafft haben. Was sie auszeichnet: Sie gewinnen die Unterstützung anderer. Sie besitzen Erinnerung, Phantasie, Humor, und Zuversicht. Sie haben Mut zum Richtungswechsel. Sie verstehen sich auf die Kunst, Eindruck in Ausdruck zu verwandeln. Sie haben ein Händchen für das Schicksal, obwohl sie es nie ganz in den Griff bekommen. Sie üben sich im Aushalten oder lehnen sich kämpferisch auf. Sie durchschauen die Illusion der Selbstoptimierung.

Der kürzlich verstorbene Stephen Hawking hat es gelebt. Ihm gelang dieses Pendeln zwischen der Unfreiheit seiner schweren Erkrankung und der inneren Freiheit, seinen eigenen Lebenssinn zu entdecken. Statt sich selbst zu bevorzugen, brannte er für die großen Fragen der Kosmologie. Seine Botschaft an uns: Auch wir können das Beste aus Widerfahrnissen machen, wenn wir uns den Spielraum aneignen, der in jeder Verlustkrise liegt. Wir müssen es nicht einfach hinnehmen, sondern wir sind Gestalter unseres Lebensskripts.

Wir können lernen, eine konstruktive Haltung gegenüber Krisen der Verlassenheit und Einsamkeit zu kultivieren. Wir können Halt in haltloser Zeit gewinnen, wenn wir fragen: Was rettet mich heute? Was hat Menschen früher gerettet? Was lässt sich daraus ableiten für uns heute? Um diesen Spielraum des Trotzdem, um unsere Schatzinsel, die trotz allem unversehrt bleibt, um die Dynamik des Wandels im Verhältnis zu uns selbst und unserer Welt geht es in diesem Buch.

Irmtraud Tarr, 21. Januar 2021

Von allen guten Geistern verlassen

In den vielen schweren Stunden, als Eds Seele die Behausung verließ und es mir schien, als würde auch mein Leben zu Ende gehen, geschah mehr, als ich je zuvor erlebt hatte. Wer beim Sterben eines Nächsten dabei ist, weiß, wie unaussprechlich ergreifend und aufwühlend dieses Geschehen ist. Mir war es, als wäre ich Zeugin eines wahrhaft heiligen, großen, dunklen Übergangs geworden, der in ein Leuchten überging. Als wäre ich im Eigentlichen angekommen. Man ist nach dem Tod seines Liebsten jemand anders als vorher. Bislang glaubten wir an die Unsterblichkeit der Liebe, zu groß war die Verlustangst um dieses Leben, von dem wir eigentlich wussten, dass wir es nicht besitzen. Um der Unbegreiflichkeit, der Sprachlosigkeit, der hermetischen Grenze des Todes, aber auch der Wucht dieses Erschreckens überhaupt standzuhalten, musste ich eine eigene Stimme finden, die das Erlebte zum Ausdruck bringt.

Erst als man mit mir zu sprechen begann, wuchs meine Verzweiflung, mein Aufbegehren gegen diesen Einbruch, den ich wie einen Totaleinsturz meines über vier Jahrzehnte zusammengewachsenen Liebesgebäudes empfand. Von allen guten Geistern verlassen. Vor einem Monat von meiner Mutter verlassen, dann von meinen drei Freunden und nun von meinem Mann, den ich seit meinem fünfzehnten Lebensjahr kenne, mit dem ich seit vierzig Jahren zusammenlebe.

Ich hatte einen nachsichtigen Gott verloren. Es war ein Gefühl ortlosen, diffusen Schmerzes. Der totale Schiffbruch meiner Seele. Allein gelassen von denen, die mir am nächsten standen. Mein ganzes Leben war infrage gestellt.

Auf dem Weg vom Herzzentrum, in dem Ed gestorben war, nach Hause flog eine braune, leere Papiertüte durch die Luft. Sie wurde mir zum Sinnbild für Eds Abschied. Nun muss Ed nichts mehr tragen, füllen, aufbewahren, pflegen, besitzen. Jetzt ist er frei, jetzt kann er durch die Lüfte tanzen und im himmlischen Orchester als Solist Trompete spielen, was er sein ganzes Leben und in der ganzen Welt getan hatte. Ich muss weitergehen. Von nun an und für immer bin ich ohne ihn. Ob ich das vermag?

Wie stark und niederschmetternd Gefühle von Verlassenheit und Einsamkeit sich anfühlen, zeigt sich schon im Tierreich. Mir fallen die Videos der Tierforscherin Jane Goodall ein, auf denen man sehen kann, wie Schimpansenkinder beim Tod der Mutter kein Fressen mehr anrühren, sich quasi selbst verhungern lassen und schließlich vor Kummer sterben. So viel kann für ein Tier Verlassenheit bedeuten. Und wie viel mehr erst für uns, die wir ein Bewusstsein unserer Sterblichkeit besitzen?

Je höher die Sensibilität und je subtiler die Fähigkeit zu fühlen, desto mehr erschrickt, erschaudert die Seele und stülpt sich bei Verlusten nach innen. Jede Verlustkrise hat etwas zu sagen: Es kann nicht mehr so weitergehen wie bisher, damit noch etwas noch weitergehen kann. Wer am Ende ist, muss radikal neu anfangen. Wo kein Weg mehr ist, soll wenigstens ein Wille sein, dass sich überhaupt eine neue Antwort formen kann.

Krisen haben etwas Unausweichliches. Man wird an eine Grenze geführt, die zunächst ein Schock, ein regelrechter Überfall ist. Die Grenze verlangt nach einer Stellungnahme, die auf die Frage hinausläuft: Wer bin ich jetzt selbst? In der Antwort darauf offenbart sich das Rätsel, das Geheimnis oder auch die Unkenntlichkeit des eigenen Wesens, weil man sich vernichtet fühlt und in seinen antwortenden Kapazitäten sowohl innerlich als auch äußerlich überfordert ist.

Krisen sind Ausnahmesituationen, Grenzsituationen, Zwangssituationen, in denen man auch selbst zur Ausnahme wird. Sie fordern Entscheidungen, obwohl man noch keine Lösungen und neuen Wege kennt. Sich mit diesen Entscheidungen zu konfrontieren, heißt wahrnehmen und wahrhaben, was ist, obwohl man noch keine Antworten hat, sondern vor allem Fassungslosigkeit, Kontrollverlust und Angst vor dem Neuen empfindet. Hinzu kommt der Schmerz, den jeder in seiner eigenen Qualität und Intensität erlebt. Manche verstecken ihn, trauen sich nicht, ihn mitzuteilen, andere lassen sich überfluten von den Wogen des Schmerzes. Jeder Schmerz hat seine eigene Färbung und Tiefe. Jeder leidet an einem Widerfahrnis auf seine eigene Art. Jeder muss bei sich selbst erfassen, begreifen und einordnen, was er fühlt. Sich selbst zu begreifen und neu mit sich vertraut zu werden, braucht viel Zeit, intimen Kontakt und Einfühlung in die eigene Persönlichkeit. Am Anfang steht zunächst einmal Verwirrung. Man ist wie gelähmt, betäubt, steht unter Schock und Entsetzen. Dieses Gefühl hat aber nicht nur eine biologische Seite, sondern auch einen Sinn. Es geschieht einem nicht nur ein Verlust, man deutet und wertet ihn auch. Man erleidet nicht nur passiv und hilflos, man leidet auch aktiv, indem man dem Geschehen einen Sinn gibt, es deutet und interpretiert unter einem neuen Sinnhorizont.

Man wird zum Gestalter eines Spielraumes, in dem sich ein tieferer Sinnhorizont entwickeln oder finden kann. Leid ist nicht abstrakt, sondern gestaltbar, je nachdem, wie man es empfindet. Allein die Frage: Was hat mich getroffen? Hat das Leiden mich, oder habe ich es? In diesen Fragen steckt ein Stück Freiheit. Die Freiheit: Ich muss es nicht passiv erleiden. Ich kann es wahrnehmen, deuten und gestalten. Ich kann entscheiden, ob ich mein passives Erleiden in ein starkes aktives Leiden verwandle. Die Frage ist, wie und was möchte ich sein. Diese Frage kann man nur sich selbst beantworten. Was im subjektiven Erleben jedes Einzelnen stattfindet, kann man nicht über einen Kamm scheren. Es hängt davon ab, wie man das Leiden emotional und kognitiv bewertet. Und vor allem kommt es darauf an, wie viel soziale Unterstützung man erhält und über welche inneren Ressourcen man verfügt. Man kann schwer geschädigt, aber man muss nicht zwingend beschädigt werden.

Schicksalsschläge sind Schläge

Haben wir unser Schicksal selbst in der Hand? Oder hat es jemand oder etwas anderes in der Hand? Es gibt ja auch die sogenannten Umstände, höhere Mächte oder Murphys Gesetz: »Was schiefgehen kann, geht schief.« Schon allein die Frage beinhaltet einen Widerspruch. Einen Schlag hat man nicht in der Hand, sondern er passiert einfach. Er widerfährt uns, weil wir vom Gesetz des Lebens ebenso betroffen sind wie die Pflanzen und die Tiere. Zu den Bedingtheiten des Lebens gehört nun einmal, dass alles, was lebt, begrenzt, verletzbar und vergänglich ist. Nur wer diesen Gedanken nicht aushält, flüchtet sich in den Glauben, wir könnten alles selbst lenken und beeinflussen, wenn wir es nur richtig anstellen.

Schicksalsschläge werden als etwas erlebt, das von außen kommt, meistens ganz plötzlich und ohne Vorankündigung. Schicksalsschläge greifen in unser Leben ein, ob wir es wollen oder nicht, und geben ihm eine andere Wendung. Man führt sie nicht selbst herbei, sondern sie widerfahren einem. Jeder Schicksalsschlag ist etwas, was das eigene Ich, die eigene Lebensnische, in der man zu Hause war, mit einem Schlag zerschmettert und einen getroffen, überwältigt oder verwundet zurücklässt.

Was ist das Spezifische eines Schlages? Ein Schlag ist meist kurz, heftig, überraschend und er erschreckt uns. Wenn wir den Aussagen moderner Wissenschaftler glauben dürfen, dann begann die Welt mit einem großen Schlag, dem Urknall. Oft fängt etwas Neues mit einem Schlag an, oder etwas Gewohntes endet mit einem unerwarteten Schlag. Man denke nur an den berühmten Paukenschlag, mit dem etwas Neues beginnt. Am meisten aber fürchten wir die Schläge, die uns das Leben austeilt.

Wir schlagen um uns in tiefster Verzweiflung und wollen Unliebsames, Unangenehmes mit einem Schlag beendet wissen. Es gibt Schläge, die zum Tod führen: der Schlaganfall, der Hirnschlag, der ausbleibende Herzschlag. Mit einem Schlag kann unser Leben beendet sein. In einem Blitzschlag konzentrieren sich viele tausend Volt Spannung, die Bäume, Häuser und Leben auslöschen.

Aber auch die zündende Idee oder die Liebe auf den ersten Blick kommen mit einem Schlag. Und so manche Schlagzeile rüttelt uns auf. Manche Schläge wiederholen sich. Der Pulsschlag zeigt an, dass wir noch leben. Und in der Musik kann ein Schlag eine neue Qualität gewinnen, wenn er wiederholt wird und sich zum Rhythmus oder Metrum entwickelt. Nicht zu vergessen die Schlagsahne, die den sonntäglichen Kuchen krönt. Und schließlich teilt das Schlagen der Uhr unser Leben in 31 536 000 Sekundenschläge pro Jahr ein.

Diese kleinen Denkanstöße sollen anregen, die erstaunliche Partitur von »Schlägen« zu studieren. Interessant daran ist, Schläge können beides sein: Neuanfang und Ende, Leben und Sterben. Die Geburt unserer Welt, die Entstehung von Leben, die Historie, die Entwicklung jedes Wesens, sie alle sind eine Symphonie von unvorhersehbaren Ereignissen, Wendungen und Schlägen.

Wovon hängt es ab, wie sehr wir uns von etwas schlagen lassen? Es hängt davon ab, ob wir glauben, wir haben unser Leben selbst in der Hand. Wer sich unverrückbar fest im Sattel wähnt, für den muss alles, was außerhalb der Vorhersehbarkeit und Kontrolle liegt, besonders verunsichernd und verstörend sein. Wer zudem noch davon ausgeht, dass er dem Schicksal ein Schnippchen schlagen kann, wenn er sich richtig verhält, für den muss es besonders kränkend sein, wenn es ihn trifft. Und wer meint, jede Situation meistern und beherrschen zu können, ist natürlich höchst irritiert, wenn er sich plötzlich überraschenden Wendungen ausgeliefert fühlt.

Was das eigene Leben betrifft, so könnte man sich für eine geringere oder höhere Selbstzerstörungsgeschwindigkeit entscheiden. Aber weitaus das meiste in der Welt und in der eigenen Lebenswelt geschieht ohne unser Dazutun. Allem, was stärker ist als wir selbst, sind wir tendentiell ausgeliefert. Eine besondere Haltung scheint notwendig, dass wir uns nicht erschlagen lassen oder geschlagen geben. Doch selbst wenn wir unseren Weg nicht allein bestimmen, so können wir ihn dennoch auf unsere ganz persönliche Weise gehen. Wir können Bündnisse mit anderen Weggenossen schließen, um nicht allein auf unseren Wegen zu sein. Und selbst wenn sich alle Wege dramatisch verengen, so bleibt auch auf dunkler Strecke die Möglichkeit, so etwas wie Hoffnungsschimmer oder kleine Glücksmomente zu entdecken.

Das zeigen Schicksale wie das von Helen Keller, die ihr Augenlicht und ihr Gehör schon in jungen Jahren verlor. Statt ihr Schicksal zu verfluchen, führte sie ein nahezu normales Leben, studierte, schrieb Bücher und setzte sich für die Rechte ihrer Schicksalsgenossen ein. Katja Berens beschreibt in ihrem Buch, dass Helen Farben riechen konnte, zum Beispiel war Pink für sie »wie die Wange eines Babys oder eine sanfte Brise«, Gelb »wie die Sonne, lebendig und voller Versprechungen« und Häuser nahm sie aufgrund ihrer Geruchsgeschichte wahr, »es hat mehrere Schichten von Gerüchen wegen der Bewohner, Pflanzen, Parfums und Stoffe«. Selbst Städte konnte sie identifizieren: »lange Straßen, Fußgänger, Gerüche aus Fenstern, Tabak, Gas, Früchte, Autos – ein Schwirren, das mich schaudert.« Auf die Frage, weshalb sie so glücklich sei, meinte sie: »Ich lebe jeden Tag, als wäre er mein letzter. Das Leben ist so reich an Herrlichkeit.« War sie vom Schicksal geschlagen? Von ihren körperlichen Funktionen her gesehen – ja. Von ihrem Wesen her gesehen – nein. Ihre Behinderung hat ihre Sinne für andere Welten der Wahrnehmung geweckt, die sie die Welt mit einer Intimität und Genauigkeit erleben ließen, dass sie ihr Leben als reich empfand. Aufgrund ihrer Geschichte ging sie davon aus, dass jeder Mensch »Meister seines Schicksals« sei.

Auch wenn sie es später relativierte, dass nicht jeder über die Möglichkeit verfügt, an Schwierigkeiten zu wachsen, könnte ihre Geschichte dennoch ein Ansporn sein, unsere Begrenztheiten nicht einfach hinzunehmen, sondern unsere Sinne für Neues zu öffnen. Statt Konzepten unseren eigenen Wahrnehmungen, statt Abstraktionen unserem sinnlichen Wissen zu vertrauen.

Auch für Benjamin Disraeli, britischer Schriftsteller und ehemaliger Premierminister, war das Leiden ein wichtiges Lebenselement: »Viel sehen, viel leiden und viel studieren sind die drei  Pfeiler des Lernens.« Und etwas pfiffig stand es auf einem amerikanischen Aufkleber: »Oh no! Not another one of life’s lessons!«

Achterbahn der Gefühle

Die Nacht kam, es raschelte in den Bäumen. Wie liebend gern hätte ich sein Gesicht in meine Hände genommen und gewärmt. Die Wucht seines Fehlens überwältigte mich. Ich saß auf einem Stein am Teich und betrachtete den Sternenhimmel. Wenn wenigstens ein Stern mir zugeblinzelt hätte, so wie Ed es früher tat. Doch dann begann ich plötzlich einen Blick auf mir zu spüren. Einen Blick, der von mir erwartete, dass ich ihn erwiderte. Eine Katze hatte sich ganz nahe zu mir gesellt und schaute mich ernst und durchdringend an. Ich strich ihr übers Fell, und im Moment der Berührung hatte ich für einen Augenblick das Gefühl, Ed noch einmal erreichen zu können. Dann verabschiedete ich mich von ihr und wartete, dass es wieder Morgen sei.

In der Tat geht es nach dem Verlust geliebter Menschen zunächst einfach ums Weiterleben, Weitergehen, Weitermachen, Träume erlauben. Das Nächstliegende möglichst gut machen – Tag für Tag. Immer wieder durch schwarze Löcher und dunkle Stunden hindurchgehen, sich in sie hineinknien. Damit meine ich, ihnen wirklich auf den Grund zu gehen, statt auf halbem Weg umzukehren.

Ich hatte das Ende schon länger geahnt oder gefürchtet, weil ich die Schatten seiner Krankheit in seinen Augen, in seinem blassen Gesicht und seinem geschwächten Körper ablesen konnte. Den Tod eines geliebten Menschen kann man zwar ahnen und denken, aber dieses Denken bleibt so lange abstrakt, wie dieser beweglich ist und lebt, weil man das Ende denkend nicht erreichen kann. Meine Mutter und mein Mann – beide starben in meinen Armen. Erlebt habe ich dabei, dass in diesen Stunden so Unbegreifliches geschieht, dass ich sagen möchte: Es geschieht mehr als im ganzen Leben vorher. Eines war für mich am eindrücklichsten: Kurz vor dem Ende des dunklen Kanals gibt es so etwas wie eine letzte Willensfreiheit, die dem Sterbenden überlässt, wie er gehen will. Beide zeigten mir mit ihren Gesten, dass sie mich körperlich ganz nahe bei sich haben und mit mir allein sein wollten.

Unfreiwilliges Abschiednehmen ist immer ein wenig wie selbst sterben. Stille im Raum, das Schweigen des Todes nach dem letzten Atemzug. Zurückbleiben – sprachlos, halb betäubt, gelähmt. »Es ist aus«, höre ich mich sagen. Die Worte greifen ins Leere. Was bleibt? Bis zur nächsten Stunde kommen und so Stunde um Stunde überleben.

Aber gerade in der Aussichtslosigkeit erwarten einen Begegnungen, zeigen sich kleine Wunder, die ich bis dahin nicht einmal bemerkt hätte. Die Katze, die sich wie aus einer anderen Welt zu mir am Teich gesellte. Das Essen, das jemand vor meine Haustüre gestellt hatte, der Zettel, den Ed kurz vor seinem Klinikaufenthalt auf meinen Schreibtisch gelegt hatte. Die hingekritzelte Karikatur mit dem großen Tier und dem Mädchenkopf und dem schönen Text: »Life is difficult, but you are loved!« Alles wurde Omen, erhielt eine neue Bedeutung.

In dieser neuen Lebenssituation, in der man zunächst überwältigt und hilflos ist, steht man an einem Wendepunkt, wie es der Begriff Krise auch nahelegt, der eine schwierige, entscheidende Lage bezeichnet. Zwei Geister spielen hier eine wichtige Rolle: die Geister der Wahrnehmung und der Vorstellungskraft. Die Erkenntnis, dass nicht der Verlust für das Weiterleben entscheidend ist, sondern die Art und Weise, wie man sich als Verlassene darauf einstellt und damit umgeht, ist befreiend. Ich muss es nicht stumm erleiden. Ich kann es gestalten. Es gibt einen Spielraum, eine Lücke, die man mit sich selbst füllen kann. Ich selbst muss bei mir erfassen und ordnen, was ich empfinde. Was uns zerstört, ist nicht der Verlust, die Verlassenheit an sich, sondern die Vorstellung, die wir uns von ihr machen. Wir leben von und sterben an unseren Vorstellungen.

Auch der Theologe Dietrich Bonhoeffer spricht auf wunderschöne Weise von dieser Lücke: »Es gibt nichts, was uns die Abwesenheit eines uns lieben Menschen ersetzen kann, und man sollte das auch gar nicht versuchen, man muss es einfach aushalten und durchhalten. Das klingt zunächst sehr hart, aber es ist doch zugleich ein großer Trost, denn indem die Lücke wirklich unausgefüllt bleibt, bleibt man durch sie auch miteinander verbunden.« Es sei also verkehrt, die Lücke ausfüllen zu wollen, sondern gerade indem sie unausgefüllt bleibt, bewahren wir die Verbindung zu den Geliebten, wenn auch unter schlimmen Schmerzen. Vielleicht wächst unser Herz sogar weiter, auch wenn die Lücke bleibt, solange man sich liebevoll ihrer annimmt.

Je tiefer und größer die Liebe, desto schwerer fällt die Trennung. Mir schienen die vierzig Jahre, die wir miteinander gelebt haben wie eine Ewigkeit. Der Tod eines geliebten Menschen ist etwas zutiefst Menschliches, etwas Tieftrauriges, etwas Erschütterndes. Aber er ist auch etwas Wunderschönes, was einen das Leben in der Tiefe erfahren und durchleben lässt. Ohne diese überwältigenden Gefühle wären nie die Oratorien Bachs, die Gedichte Rilkes, die großartigen Bücher, die Gemälde, »Der Schrei« des Malers Munch, die unvergesslichen Filme und philosophischen Abhandlungen entstanden.

Not lehrt beten, sagen die Alten. Zunächst einmal hat sie mich eher betteln und vor allem suchen gelehrt. Kein Tag, ohne dass ich nicht irgendetwas gesucht habe, bis ich irgendwann begriff, dass dieses Suchen meinem Liebsten galt. Das stille Entsetzen darüber, dass das Leben, das ich hatte, wirklich vorbei ist. Nie wieder wird er nach mir rufen, wenn er heimkommt, nie wieder werde ich den Klang seiner Trompete hören, nie wieder werde ich ihm die Haare schneiden, nie wieder werde ich ihm beim Geräusch seines Autos entgegenlaufen.

Wie leer ein Haus sein kann, wenn der Liebste fehlt! Wo früher Orte des Glücks und der Nähe waren, finde ich lauter verwaiste Orte. Unser Esszimmertisch war früher der Mittelpunkt unserer langen abendlichen Gespräche, der weinseligen Nächte mit Freunden, des Lachens, des Musikhörens, des Geschichtenerzählens und Vorlesens. Nun wirkt der Esstisch so merkwürdig leer, als würde er mich fragen: Was hast du jetzt mit mir vor? Wirst du Musik und Mahlzeiten hier wieder genießen können? Wieder aus dem Bauch lachen können? Wieder blödeln?

Was mir zunächst auffiel, war eine merkwürdige Wesensveränderung. Früher war ich optimistisch, entscheidungsfreudig, spontan, manchmal sogar wagemutig und äußerst selbständig. Fast wie unangreifbar. Heute bin ich unsicher geworden. Ich mag neuerdings Regentage, weil man da unbemerkt weinen kann. In meinem Tun liegt ein Zögern, ein sich Sträuben und Stemmen gegen Neues. Ich nenne es mein »Woody-Allen-Syndrom«, weil ich ängstlich erwarte, dass etwas schiefgeht, und total überrascht bin, wenn etwas dennoch gut ausgeht. Oder weil ich befürchte, dass ich jedem Besucher den Abend versauen könnte mit meinen Tränen. Oder umgekehrt, dass ich die Leute nun aus Mitleid auf meine Seite bekomme, weil sie mich als Verlassene empfinden.

Ich hatte die Phasenmodelle der Trauer (J.Bowlby, E.Kübler-Ross, V.Kast) schon vorher studiert und kann mich jetzt in dieser Art von Normierungen nicht mehr wiederfinden. Ich eigne mich einfach nicht für solche vorgegebenen Phasen – erst kommt das Verleugnen, der Zorn, das Verhandeln, die Depression und schließlich die Akzeptanz, bitte nicht umgekehrt –, weil solche vorgegebenen Phasen dazu tendieren, Maßstäbe und Normen für ein richtiges Trauern aufzustellen.

Mein Erleben war eher das einer Surferin, die von den Wellen der Trauer mitgerissen wurde. Eine Erfahrung und Auffassung, die auch der Trauerforscher George A. Bonanno in fesselnder Weise erforscht hat. Niemand hatte mir verraten, dass die Trauer in Wellen heranrollt, in denen man sich fühlt, als würde man fast ertrinken. Oft kommen diese Trauerattacken wellenförmig wieder und wieder, bis sie irgendwann in ihrer Intensität nachlassen. Wie schmerzhaft diese Wellen der Unruhe sein können. Das Ziehen in der Brust, die kalten Hände, die Menschenscheu, die Einsamkeit und vor allem die Angst, die so viele Gründe kennt. Da ist die Angst, verschlungen zu werden von dieser Trauerwelle, die einen so unberechenbar und ungebeten überrollt. Angst vor der Schwäche, die womöglich lange anhält, Angst vor der Überforderung, das Leben allein zu meistern, Angst, nicht mehr dazuzugehören, Angst vor der schwarzen Einsamkeit trotz der vielen, die mir nahe sind. Und schließlich die Angst, das zu verlieren, was mich ausmacht, nämlich anderen beizustehen, die keinen Ort oder Ausdruck für ihre Not finden. Was uns Angst macht, zeigt, wer wir sind.

Wie geht man mit diesen Ängsten um? Mir fällt der schöne, angstlösende Satz von Ed ein: »Shut your eyes and see!« (»Schließe die Augen und schau nach innen!«) Und schon glätten sich die Wogen. Ich werde ruhig. Ich wehre mich zwar nicht gegen ihr Aufkommen, um sie nicht erst recht zu verfestigen, aber ich nehme mir vor, dass ich diese Ängste vorerst auf kleiner Flamme oder am besten gar nicht koche.