Leben, lieben, sterben ohne Gott - Rudolf Krämer-Badoni - E-Book

Leben, lieben, sterben ohne Gott E-Book

Rudolf Krämer-Badoni

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Beschreibung

Wie sieht ein Leben ohne monotheistische Gottesvorstellung aus, das sich nicht in der Tabuisierung des Todes und in allgemeiner Verdrängung der Lebens- und Todesproblematik verliert? Rudolf Krämer-Badoni zeigt den Weg, wie wir uns von atavistischen Relikten aus der Frühzeit der Menschheit befreien können – ein notwendiger Prozeß der Selbsterkenntnis für ein selbstbestimmtes Handeln. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Rudolf Krämer-Badoni

Leben, lieben, sterben ohne Gott

FISCHER E-Books

Inhalt

Laura [...]VorwortDie Wahrheit der »Mutter schändlicher Taten«Täglich eine schwarze MesseKeinen Illusionentausch!Die Vitalität und das BöseChristen, Juden, MuslimeGesunde VielgöttereiDer einzige reine MonotheismusDas Ende der jüdischen GeduldSie sahen einen gelben SternAutobiographisches Zwischenstück oder Am mächtigsten alleinKein Gedenken den ehrlosen HenkernFluß und Gebirg in der SeeleEr will keine AuferstehungGeburtstagDie bittere Wahrheit der FrauenDie Frauen werden endlich wachZuletzt zieht die Frau immer den kürzeren (1974)Shere Hites monumentale Untersuchung»Männer, zerbrecht eure Ketten!«Gentleman’s AgreementEr aber gab nicht aufDie Wahrheit des todernsten LebensTod, wo ist dein StachelDer feige Respekt der LegislativeIch empfehle Ihnen SelbstmordDer standhafte Hunger des Malers MüllermannAls Junggeselle stirbt sich’s leichterAbschiedOpferNachschrift

Laura

Vorwort

»Der fundamentale Charakter dieser Religion [des Christentums] erfordert ihre Ablehung. Das ist das einzige, was wir dem Christentum schulden.« Mit diesen Worten endete mein letztes Buch (Judenmord, Frauenmord, Heilige Kirche. München 1988).

Die hier vorliegende Schrift geht einen entscheidenden Schritt weiter. Jetzt geht es um die Religion überhaupt, die den Menschen offenbar als Bedürfnis eingeboren ist. Und wieso und warum? Und was bewirkt die Religion? Und ist sie überwindbar? Oder muß sie sogar überwunden werden?

So manche Leser und Kritiker sind erstaunt über diese »plötzliche«, unerwartete »Wendung« des stets als Katholik geltenden Autors. Ich gestehe, daß ich selbst zwar nicht erstaunt, aber unruhig dieselbe Frage spürte: Ist das alles, was du da forschst und denkst, nicht etwas ganz Neues in deinem Lebenslauf und Lebenswerk?

Gewiß, ich schrieb eine Essaysammlung Die Last katholisch zu sein (1967). Aber das hieß doch immer noch: katholisch. Und ich schrieb eine Biographie des Ignatius von Loyola (1964). Die aber hatte einen Haken. Der Verleger, Dr. Bachem, fragte mich einige Monate nach der Veröffentlichung, ob ich ihm erklären könne, wieso in seiner so erfolgreichen Hagiographienreihe angesehener Schriftsteller (Verkauf zwischen 30000 und 50000 Exemplare) der Ignatius bei siebenhundert Stück stehengeblieben sei und fast keine Rezensionen erhalte. Ich konnte es ihm erklären. Im Vorwort schon stand, daß diese Biographie einen rein politischen Zweck verfolge: Wie ist ein Mensch beschaffen, der, fast ohne es zu wollen, eine Weltbewegung aufhält? Und über die Jesuiten nach Ignatius stehe nichts Gutes drin. Da genügt ein bißchen jesuitische Mundpropaganda, und – er müsse das Buch wohl einstampfen, es tue mir leid, aber er hätte es ahnen müssen.

Was ich über die Jesuiten damals noch nicht wußte, steht in diesem und dem vorigen Buch.

Ein »richtiger« Katholik oder Christ war ich also nie. Ich lehnte stets das Mitreden der Kirchen in der Politik ab. Und das tue ich heute noch viel entschiedener. Sie haben lange und blutig genug Politik gemacht und haben erst vor den aufgeklärten Regierungen gekuscht. Die Prinzipien sind geblieben.

Das sage ich heute. Aber habe ich nicht bis vor wenigen Jahren doch immer noch am Christentum zu retten versucht, was zu retten schien? Habe ich früher je die Kirche im Fundament angegriffen? Je die Frauenbewegung und ihr Postulat der Selbstbestimmung unterstützt? Je die Versöhnung mit den Juden für unmöglich erklärt? Je den freiwilligen Tod gefeiert?

Das sind die wichtigsten Themen überhaupt, weil sie die christliche Herrschaftsstruktur der europäischen Kultur und Unkultur bloßlegen. Und dieses Bloßlegen und seine Konsequenz ist der »Schritt weiter«, zu dem mich mein Lebensweg gedrängt hat.

Selbst wenn das, was ich heute schreibe, ein totaler Bruch mit allem, was ich bisher machte, wäre, so spräche das natürlich nicht gegen das, was ich heute mache. Aber – beim Stöbern in alten Schriften entdeckte ich, daß sich das alles längst angekündigt und kristallisiert hat. Über meine Erzählungen, die ich völlig vergessen hatte, staunte ich sehr. Der Leser findet einige davon in den diskursiven Text eingestreut.

Überhaupt ist für mein Leben entscheidend, daß ich zwanzig war, als die Nazis an die Macht kamen, und daß ich meinen ersten Roman Jacobs Jahr in jener Zeit schrieb und auf dem Höhepunkt des militärischen Erfolgs der Nazis veröffentlichte. Dieser Schlüsselroman, in dem eine wichtige Figur »ins Exil« flieht, erfuhr soeben in der Aufsatzsammlung Literatur im Exil des amerikanischen Germanisten Guy Stern eine sorgfältige Analyse. Der Verleger ließ damals das Buch aus Furcht vor Repressalien nicht an den Buchhandel ausliefern.

Mein ganzes Denken und Schreiben ist naturgemäß (jedenfalls meiner Natur gemäß) vom Erlebnis des nationalsozialistischen Deutschland geprägt.

Also kein Bruch in diesem Leben. Was ich hier vorlege, ist die pfeilgerade ins Ziel treffende Konsequenz.

 

R.K.-B.

Wiesbaden, im Juni 1989

Die Wahrheit der »Mutter schändlicher Taten«

Täglich eine schwarze Messe

[1967]

In einer Altstadtkneipe, wo ich rasch eine Cola trinken wollte und mich plötzlich unter zweideutigen Gestalten fand, von denen ich nicht hätte sagen können, ob sie Zuhälter waren oder Schläger oder Lehrlinge, die den starken Mann spielten – dafür muß man ein geübtes Auge haben –, saß an einem Tischchen ganz allein ein älterer Herr; ich setzte mich zu ihm und kam mir dabei etwas feige vor. Er nickte mir freundlich zu, und wir kamen bald in ein stichwortartiges Gespräch. Er schien sich hier auszukennen, jedenfalls sagte er, es sei seine Pflicht, sich hier auszukennen; und als ich ihn fragte, ob er von der Kripo sei, sagte er, er sei Bischof. Aber da bezahlte er schon und ging und ließ ganz nebenbei eine Einladung fallen, ich wisse ja, wo das alte Palais sei. Ich war baff, das kann man sich gut vorstellen. Und gar nicht lange danach meldete ich mich telephonisch an und fand mich verabredungsgemäß zwischen fünf und sechs im bischöflichen Palais ein.

Wir saßen in einer gemütlichen Ecke in der Bibliothek, und ich sagte, um keinen falschen Eindruck aufkommen zu lassen, seine ungewöhnliche Geste habe mich überrascht und interessiert, deshalb sei ich hier, aber leider könne ich nicht mit einem guten alten katholischen Kirchenglauben und wahrscheinlich mit überhaupt keinem Glauben dienen – ich sage das, damit kein falscher Eindruck aufkomme.

Er schenkte uns beiden von dem vorzüglichen Scharzhofberger ein, der schon auf dem Tisch bereitstand, und sagte, da wolle auch er gleich dafür sorgen, daß bei mir kein falscher Eindruck aufkomme, und mir etwas aus seiner Amtspraxis berichten, ich hätte ja sicher ein Stündchen Zeit.

Und er berichtete. Ich unterbrach ihn nicht, denn er hatte eine Art, so vor sich hin oder in sich hinein zu sprechen, daß für Zwischenfragen gar keine Aussicht bestand. Ich hatte auch gar nicht das Bedürfnis, ihn zu unterbrechen. Die einzigen Unterbrechungen bestanden darin, daß er manchmal nachgoß und einmal klingelte und eine neue Flasche bringen ließ. Ich will versuchen, seine Geschichte, so gut es geht, zu rekonstruieren. Sie gehört insofern zu meiner Biographie, als sie ein unvergeßlicher Teil meines Erinnerungspakets geworden ist. Er fing so zu sprechen an, als sei ich im Bilde, und er könne mittendrin beginnen:

 

Schon aus kosmetischen Gründen solle niemand zulassen, daß sich Genuß oder Kummer in den Gesichtszügen niederschlügen … Diese schwerverständliche Behauptung oder witzige Bemerkung oder pädagogische List schien mir reichlich stark, aber was heißt heutzutage stark, heutzutage gibt es keine verbindliche Methode mehr. Wenn der Pfarrer damit die jugendlichen Selbstbefriediger beruhigen wollte, so war’s vielleicht genau das richtige Wort. Obwohl mir selbst so etwas nie eingefallen wäre. Und dabei waren wir gleichaltrig und per du. Deshalb war auch an Verhör nicht zu denken, sondern es würde wohl eine verständnisvolle Unterhaltung, aber doch eine Unterhaltung wie zwischen Fremden, denn da ist man gleichaltrig und per du, und dem einen fällt so etwas Glänzendes ein, dem anderen dagegen wäre es im Traum nicht beigekommen.

So fragte ich ihn also, kaum daß er eingetreten war und wir ein paar fröhliche, althergebrachte und folglich rituell gewordene Grußworte ausgetauscht hatten, ob er damit gemeint habe, die jungen Leute sollten sich nichts Folgenschweres weismachen lassen und sich nicht im Ernst bekümmern, also sozusagen: Fort mit dem Geschwätz von der Nerven- und Rückenmarksschwächung! Denn Natur ist Natur, oder, genauer gesagt, der Sexus ist in dem Alter von belebender, Pardon, benebelnder Wirkung, und von schwerer Verfehlung kann mithin die Rede nicht sein, sondern das kommt über einen wider Willen oder ohne Willen oder sonstwie – oder ob er nicht doch mehr damit gemeint habe, etwa gar eine Verniedlichung der Reue, aber das sei kaum anzunehmen, wir kannten uns doch seit jungen Jahren, und über diesen Punkt sei ich ganz beruhigt. Nur müsse ich ihn sozusagen der Ordnung und einer Beschwerde halber fragen, und das sei hiermit pflichtgemäß geschehen, ich könne aber schon an seinen fröhlichen Augen sehen, daß es sich um etwas Erfreuliches handle, und etwas anderes sei ja auch nicht zu erwarten gewesen.

Aber da kam nun keineswegs das erwartete Erfreuliche, sondern die erstaunliche Gegenfrage, ob mir nicht aufgefallen sei, daß er sein schweres Asthma völlig los sei (was mir in der Tat und komischerweise nicht aufgefallen war), und ob ich mir denken könne, wie eine solche Gesundung auf Knall und Fall vor sich gehe und was sie zu bedeuten habe.

Da ich mir darauf selbstverständlich keinen Vers machen konnte und ihn ermunterte zu erzählen, traute ich meinen Ohren nicht, als ich nun zu hören bekam, genau in dem Augenblick einer epochemachenden Entdeckung sei die Krankheit verschwunden, und die Entdeckung lautete: völliger Verlust des Glaubens – und das war so unglaublich, daß ich mich setzen mußte und dem Pfarrer, mit dem ich von Jugend auf befreundet und per du war, nur stumm bedeuten konnte, weiterzureden.

Der Pfarrer erzählte haargenau den Hergang, diesen ganz und gar unglaublichen Hergang, der schon früher mit geistigem Unbehagen, unerklärlichem Druck und eben diesem Asthma begonnen habe und dann eines Tages, im Sanatorium, am hellichten Vormittag, als er gerade die ersten Blattspitzen an den Bäumen vor dem Fenster betrachtet habe, dann also plötzlich in die klare Erkenntnis, eigentlich richtiger Entdeckung gemündet sei, daß ihm der Glaube radikal, total abhanden gekommen sei, nicht erst in diesem Augenblick, denn es habe ja schon früher unmerklich begonnen, nur eben in diesem besonderen Augenblick habe er es entdeckt, und da sei er nun und teile es mit und sei zu hören bereit, was da für Formalitäten zu erfüllen seien. Er habe nicht die geringste Neigung, irgend etwas Spektakuläres zu unternehmen, wieso und wozu auch, er glaube eben nicht mehr, und damit habe sich die Sache, und er meine … Aber ich winkte ab und sagte ziemlich müde, plötzlich sehr müde, warum er damit überhaupt zu mir komme, denn er erwarte ja wohl nicht, daß ich aus meinem großen Nikolaussack eine Anzahl Sprüche und Tröstungen hervorziehe, die kenne er selbst genauso gut, die brauche er von seinem Bischof nicht. Wozu er also gekommen sei, außer daß er vielleicht seiner Sache doch nicht ganz sicher sei. Ja – ja, gewiß, sagte ich eilig, als ich sah, daß er etwas sagen wollte, gewiß, gewiß, ich sei ganz überzeugt, daß er seiner Sache sehr wohl sicher sei, das sei nur eine Floskel gewesen, um das Verwunderliche seines Erscheinens auszudrücken, zu unterstreichen oder so etwas. Und als der Pfarrer sagte, er teile mir das nur deshalb mit, weil ich der Boß sei, mußte ich doch tatsächlich lachen, so traurig mich die ganze Sache auch stimmte, aber ich lachte wie befreit, wenn auch nur für diesen Moment befreit, und wiederholte ein paarmal schäkernd das Wort »Boß« und wurde dabei wieder ernst und sagte ihm auf den Kopf zu, er wisse also nicht, was er jetzt tun solle, und hoffe insgeheim, von seinem Bischof ein Licht aufgesteckt zu bekommen, eine Anregung zu erhalten. Die solle er haben, denn offensichtlich sei er deshalb und aus keinem anderen Grund gekommen, und dabei entschlüpfte mir ein kurzes Lächeln der Genugtuung, weil der Pfarrer nämlich einmal kurz genickt hatte, und meine Anregung war also, er möge einfach in seine Pfarrei zurückkehren und weitermachen, wie wenn nichts gewesen wäre. Und nun war ich es, der wie ein Kartenspieler mit Trümpfen in der Hand hätte dasitzen können, als ich den Jugendfreund, mit dem ich so lange schon per du war, staunen und glotzen sah, und ich gab ihm obendrein noch eine Art Erklärung und bekannte freimütig, auch ich selbst sei nicht Tag und Nacht von dem gleichen Glaubenseifer, nein, besser von der gleichen Glaubenskraft beseelt, oder ob er sich das vielleicht anders vorstelle, Mensch sei schließlich Mensch, und den Glauben könne man nicht befehlen, oder vielmehr manchmal bleibe einem gar nichts anderes übrig, als den Glauben zu befehlen. Aber wie dem auch sei, ich schlüge ihm vor, einfach weiterzumachen und keinem Menschen von seinen Zweifeln, ja gewiß, er brauche mich nicht zu korrigieren, ich hätte verstanden, also: keinem Menschen von seinem Unglauben etwas verlauten zu lassen. Er möge es immerhin einmal versuchen, der Himmel möge wissen, was dabei herauskomme, aber mir falle wirklich nichts anderes ein, und im übrigen wolle ich inbrünstig für ihn beten und bitte ihn gleichzeitig um Entschuldigung wegen der Erwähnung dieses Vorhabens, von dem er ja nun nichts mehr halte. Dies sei mein Vorschlag und bei Licht besehen wohl kein so überaus erstaunlicher Vorschlag, denn schließlich stehe heutzutage sowieso alles kopf, nach diesem komischen Konzil, mit der entsetzlich aufgescheuchten Theologie, wo der Glaube an den seiner Gottheit schon zu Lebzeiten bewußten Jesus sich immer mehr verflüchtige und am Ende nichts mehr weiter übrigbleibe als der Glaube der Kirche an den Glauben der Urgemeinde, die an den Glauben des Petrus glaubte, der an eine Art Ostererscheinung glaubte, und das könnten genausogut fliegende Untertassen gewesen sein, also alles stehe kopf, warum solle dann ich nicht nach dieser unkonventionellen Auskunft greifen und meinem Pfarrer, der unversehens den Glauben verloren habe, den Rat erteilen, einfach trotzdem auszuharren. Er möge mir den pastoralen Ausdruck »ausharren« erlauben, denn selbstverständlich sähen wir beide die Sache von etwas verschiedenen Standpunkten, aber was mache das schon, wir verstünden uns ja, so als Jugendfreunde und so lange schon per du.

Na also, ich sähe, der Ratschlag komme ihm ganz gelegen, und nun wollten wir die Sache überhaupt nicht mehr erwähnen, und ich erlaubte mir, ihn mit meinem Segen zu entlassen.

Der Pfarrer ging tatsächlich einverstanden davon, und ich blieb erschöpft und verwirrt zurück und versuchte zu beten, was aber nicht gelang, und so ließ ich ihn eilig noch einmal zurückrufen und fragte ihn, ob er schon lange nicht mehr beten könne, und erhielt die abenteuerliche Antwort: Doch, er bete, nämlich das Vaterunser, wenn er nicht einschlafen könne, darauf schlafe er stets sofort gut ein. Dann ging er endgültig und ließ mich nicht weniger, sondern noch mehr verwirrt zurück – kein Wunder, ein Mensch, der das Vaterunser als Schlafmittel benutzt, ist für einen Bischof kein Beruhigungsmittel.

So gingen wir nun beide unserer Wege, ich reichlich verzweifelt in meine Hauskapelle und der Pfarrer durch die nach Frühjahr duftende Luft, die trotz Luftverschmutzung nach Frühjahr duftende Luft geradewegs in sein Pfarrhaus, wo er von einem kircheneifrigen Menschen erwartet wurde, der ihm besorgt eine Nachricht anvertraute: Der Pfarrer sei in Frankfurt in einem Nachtlokal gesehen worden, und er armer Mensch brauche für seine Seelenruhe und als Hilfe zum öffentlichen Auftreten gegen diese Nachricht ein klärendes Wort vom Herrn Pfarrer. Dieses klärende Wort erhielt er auch auf der Stelle, nämlich in Form einer Frage, nämlich, ob er armer, von dieser Nachricht verwirrter Mensch sich etwas daraus machte, wenn umgekehrt über ihn, den Laien, die Nachricht verbreitet werde, er sei im Frankfurter Dom, die Messe lesend, gesehen worden. Das verblüffte den kircheneifrigen Menschen zuerst, beruhigte ihn dann aber völlig und entlockte ihm ein Abschied nehmendes fröhliches, ja übermütiges Lachen.

So hatte der Pfarrer endlich seine Ruhe und konnte ins Haus gehen und seiner Sekretärin, die seit der Erkrankung der Haushälterin auch den Haushalt ein bißchen versorgte, im Vorbeigehen zurufen, sie möge das Abendbrot machen, und konnte sich an seinen Studiertisch setzen und in der Napoleon-Biographie von Jacques Bainville weiterlesen, weil dieser Napoleon für ihn ein interessantes Phänomen war, nicht als Feldherr, sondern weil er den Franzosen die Religion wieder erlaubt hatte mit der Bemerkung, er habe nicht gedacht, daß die Leute so hartnäckig am Aberglauben hingen; also nur aus politischer Taktik, ohne daß er selbst glaubte, und das war’s, was dem Pfarrer interessant erschien. Und doch war dies der letzte Abend der Napoleon-Lektüre, denn er fragte sich, was ihn Napoleon und dessen Unglaube angingen, wieso er und wozu er Napoleon nötig habe, und somit war auch das abgetan. Es gab Wichtigeres.

Er mußte auch an seine Predigten denken, die jetzt ganz anders aussahen, sachlicher, unbefangener, eiskalter. Aber sonderbarerweise wirkten sie auf die Zuhörer nicht wie kaltes Eis, sondern wie heißes Eisen, und nicht nur auf die Leute aus seiner Pfarrei, sondern auf viele andere, für die er plötzlich modern wurde, die Leute rennen ja bekanntlich immer der Mode nach, Billy Graham und Ernst Bloch und Herbert Marcuse; und es kam noch sonderbarer. Von überall reisten Neugierige an, so daß er sich fragte, was er denn Besonderes sage, wenn er sage, sie sollten sich kein X für ein U vormachen, dieser Wüstenheilige meine es todernst mit der freiwilligen Armut, er rufe die heilige Anarchie in seiner patriarchalischen Welt aus und passe da hinein wie die Faust aufs Auge, genau wie in die heutige Lebensweise: An morgen nicht denken und sich um Eltern und Kinder nicht kümmern und keine Steine auf andere werfen und sich um nationale Unterdrückung nicht kümmern, das führe damals so gut wie heute ins Chaos, aber darüber brauche sich keiner der Anwesenden graue Haare wachsen zu lassen, die Welt werde sowieso nicht überfüllt mit freiwillig Armen, es seien nur immer wenige dazu aufgelegt, das bekannte Salz der Erde, und um diese wenigen gehe es dem strengen Mann, der immer ich-aber-sage-euch sage und sich allerhöchste Legitimation zuspreche. Aber sie sollten sich bitte auch umgekehrt kein U für ein X vormachen und den Prediger in der Wüste womöglich für den Vorsitzenden des Roten Kreuzes oder der UNO oder der sozialistischen Partei halten, denn dem strengen Frohbotschafter gehe es darum, daß der Vorsitzende der sozialistischen Partei, der meinetwegen oder vielmehr seinetwegen ruhig Vorsitzender der sozialistischen Partei bleiben könne, persönlich und freiwillig ein Armer werde und sich um seine Eltern und um seine Kinder nicht kümmere und für seine Person nicht an morgen denke und so weiter. Sie sollten sich das alles durch den Kopf gehen lassen und entweder buchstäblich Ernst machen oder buchstäblich aufhören, sich großmäulig Christen zu schimpfen, das sei nämlich eine Schande, auch wenn die Schande rund zweitausend Jahre alt sei und von der Kirche periodisch gesegnet werde. Und wenn ihm nun einer entgegenhalte, bei Gott sei kein Ding unmöglich, so antworte er ihm überhaupt nicht, sondern erlaube sich, ihn komisch anzusehen, amen – und herunter von der Kanzel und die Leute sitzen- und stehengelassen! Und da saßen und standen die Leute mit hochroten heißen und zornigen und erstaunten und hilflosen Köpfen und gingen und reisten wieder nach Hause und machten so weiter, außer einigen wenigen, die um eine Unterredung nachsuchten und riesige Spenden machten oder ihm ihre Pläne zur Änderung des Lebens unterbreiteten. Einmal kam sogar ein führender Atheist, der irgendeine Union gegründet hatte, und sagte mit unsicherer Stimme, einen solchen Mann habe er noch nie kennengelernt, der Pfarrer sei vermutlich der einzige wirkliche gläubige Christ auf der Welt, und er selbst habe nun einen Stachel im Fleisch. Der Pfarrer fragte den atheistischen Unionsgründer, ob er denn so viel Fleisch habe, ob er denn seiner Revoltierbarkeit so sicher sei, er meine damit, ob er denn zum Umspringen mit sich selbst fähig sei, denn wenn er das nicht sei, dann könne er ihm zu einer Richtungsänderung nicht raten, das sei nämlich eine Sache für Wilde, für Raubtiere, und zwar für solche, die sich selbst an der Gurgel packten. Der Unionsgründer wurde noch verwirrter und schien zu begreifen, daß es nicht mit Respekt und Respektlosigkeit, sondern daß es nur mit Tun getan ist, aber, so meinte er, das sei wohl eine katholische Variante, in der evangelischen Kirche genüge der Glaube, sola fides.

Doch da wurde er gutmütig ausgelacht, denn im Gegenteil, die Evangelischen seien womöglich noch karitativer, dort heiße das diakonisch, und der Unterschied bestehe nur in der Motivierung oder Erwartung. Die Katholiken erhofften sich nämlich allzuleicht irgendwelche Verdienste im Himmel, was aber jetzt ebenfalls nachlasse, man habe in Rom die Reformation nachzuholen begonnen, wenn auch nur begonnen, aber immerhin.

Und so reiste dieser Mann dann ab und schickte ihm in Zukunft regelmäßig seine Bücher und die Bücher seiner Freunde und schrieb ihm Briefe und hatte seinen ursprünglichen Elan verloren, und es war deutlich zu sehen, daß er gewonnen werden wollte, genauso wie der andere, der englische Kommunist, der eines Tages zum Pfarrer ins Studierzimmer trat und ihm mitteilte, er glaube nicht mehr an den Kommunismus, und auf die lachende Frage, ob er seinen Kommunismus für einen Glauben halte, ohne Überraschung »Ja« sagte, und auf die Frage, ob seine Existenz von der Parteikasse abhänge, ohne zu zögern, ebenfalls »Ja« sagte. Da schlug der so plötzlich modern gewordene Prediger ihm vor, er solle einfach so weitermachen wie bisher, auch wenn er nicht mehr glaube, das sei ja doch alles ganz gleichgültig, er könne sich im übrigen sein Leben nach seinem Geschmack einrichten. Aber die Wirkung dieses Vorschlags war erstaunlich. Der Mann machte es plötzlich kurz und wünschte, in die Kirche aufgenommen zu werden. Er brauche diesen Halt. Er sei ganz bereit, sich aufzugeben und sich in die Sache zu werfen. Das sei es ja gerade, worin er von der kommunistischen Praxis frustriert worden sei. Hier aber, hier und jetzt, in der von solchen Männern erneuerten Kirche, hier sehe er seine Impulse, für die er nichts könne, voll akzeptiert, und je schwerer es ihm dann fallen werde, um so besser. Er wolle ja mit seiner moralischen Kraft gar nicht protzen, er suche ja geradezu einen Glauben, der über seine Kraft gehe, aber immer mit Forderungen an seine moralische Kraft und nicht mit Forderungen an seine Kraft zur Schlauheit und Taktik und dialektischen ruse. So wurde der Mann also Katholik und fuhr nach England zurück und machte dort ein ungeheures Aufsehen – für vierzehn Tage, dann hatte sich auch das wieder gelegt, denn keine globale Institution läßt sich länger als vierzehn Tage durch einen Skandal den Spaß verderben.

Aber auch das war noch nicht alles, es gab auch umgekehrte Fälle, Leute, die aus der Kirche austraten und es eigens ihm mitteilten, im Tone von Bitte-sehr-da-hast-du’s. Er lachte beim Lesen dieser Briefe, so daß es die Sekretärin schauderte, obwohl sie ihn längst kannte und in ihn verliebt war, da ja jede Sekretärin sich in ihren Chef verliebt, und mit ihm schlief und endlich glücklich zu sein glaubte. Aber trotz alledem wurde sie von Zeit zu Zeit von Schauder gepackt. So erging es ihr auch eines Abends bei Freunden, die ihn zu einer Fernsehveranstaltung eingeladen hatten und zu denen er sie mitnahm, denn zu manchen Leuten nahm er sie mit und sagte, was sie denn abends machen solle, allein im Pfarrhaus, ohne Umgang, weil fremd hier, und die Leute fanden das richtig. Er nahm sie also auch zu dem Fernsehabend mit, wo Eugen Kogon, der bewährte fortschrittliche Katholik, als Diskussionsleiter mit Kirchenleuten und anderen fortschrittlichen Leuten und dem total fortschrittlichen Atheisten Max Bense über die Welt von morgen ohne Glauben mit Fragezeichen oder so ähnlich diskutierte.

Und da schauderte es sie wieder, als der Mann, dem sie als Sekretärin und Haushälterin und liebende Frau diente, plötzlich zu lachen anfing und sich gar nicht mehr beruhigte, und zwar an der Stelle, wo der total fortschrittliche Atheist Max Bense gegen die Religion zu toben anfing und schrie, die Probleme dieser Welt könnten nur wissenschaftlich gelöst werden, die Kirche aber, seit zweitausend Jahren immer erst dagegen und dann notgedrungen hinterher, aber nie vorneweg, diese Kirche aber … und noch lauter tobte, als ein etwas hilfloser Jesuit vom Dienst an Leprakranken sprach, und triumphierend tobte, die Lepramittel seien von der Wissenschaft hergestellt – worauf dem Jesuiten nichts einfiel. Da also lachte der Pfarrer und sagte, ihm hätte es Spaß gemacht, bei dieser Diskussion mitzuwirken, dann hätte er nämlich, falls er vor Lachen noch hätte reden können, dem total fortschrittlichen Atheisten Max Bense klargemacht, daß er soviel Lepramedizin, wie er wolle, wissenschaftlich herstellen könne, aber wenn er die Leute nicht habe, die ihr Leben riskierten und unter den Leprakranken Dienst machten, dann müsse er sich seine wissenschaftlichen Lepramittel an den total fortschrittlichen Hut stecken. Und er sagte lachend, was denn das überhaupt für ein spaßiger Mensch sei, der sich bis zur Raserei gegen die Religion ereifere, der sei ja gar kein Atheist.

Dabei lachte und lachte er immer mehr, je weniger den versammelten Fernsehchristen einfiel. Nur der bewährte fortschrittliche Katholik Eugen Kogon fragte den total fortschrittlichen Atheisten Max Bense, was er denn dagegen habe, daß auch die Christen, jedenfalls heute, dieselben Dienste leisteten wie die Wissenschaft. Nun fiel dem Bense nichts ein, er kam nur noch mit irgendeinem Sätzchen aus irgendeiner Rede irgendeines Papstes an.

Da lachte der Pfarrer schon wieder und beschrieb so genau, wie ein wirklich Ungläubiger aussieht, daß seine Sekretärin von der Angst gepackt wurde, die Freunde würden plötzlich alles begreifen und dann natürlich auch ihr Verhältnis durchschauen, und das war schon keine Angst mehr, das war Verzweiflung. Sie schwitzte nämlich außerdem vor Scham über diese ganze Heimlichkeit und fand sie unbedingt unwürdig. Am nächsten Morgen, als der Pfarrer vom Messelesen zurückkam, stellte sie ihn und sagte ihm das alles. Er nahm sie in den Arm und tröstete sie und sagte, wenn sie’s unbedingt wolle, mache er alles bekannt, lege seinen schwarzen Rock ab und heirate sie. Nur habe er seinem Bischof vorderhand versprochen, alles beim alten zu belassen. Allerdings wisse der Bischof nicht über ihr Eheleben Bescheid. Doch so, wie es jetzt sei, sei das eben noch immer sein Job, den habe er gelernt, dafür habe er die charismatischen Weihen, und das sei das Einfachste für ihn. Wenn sie aber wolle, bitte sehr, denn für ihn sei sie nicht irgendein Weibsbild, sondern seine Frau. Da schluchzte sie, weil sie ihm ja keine Kinder gebären dürfe, er aber antwortete mit veränderter starker und harter Stimme, in dieser Welt wolle er allerdings keine Kinder, auch nicht, wenn sie eines Tages standesamtlich getraut seien, das könne sie vielleicht verstehen, ohne daß er ihr einen Vortrag über den Zustand dieser Welt halte. Abgesehen davon bleibe es dabei, daß er alles ändern werde, wenn sie es so nicht mehr schaffe.

Und da geschah es, daß sie, die selbst nicht glaubte, aufblickte und leise sagte, sie habe Angst, denn er lese täglich eine schwarze Messe. Das sagte sie also, obwohl sie selbst ganz ungläubig war. Sie sagte es auch mit Hoffnung, die in der Tat sofort erfüllt wurde, denn er zog sie auf seinen Schoß und erklärte ihr geduldig, schwarze Messen seien bösartige Verhöhnungen, während er weder Hohn noch Heuchelei treibe, sondern eine für die Gläubigen wirksame Messe lese. Die Weihen nämlich, die für Gläubige durch ihn hindurch wirksam seien, besitze er und könne sie für Gläubige gar nicht verlieren, so daß also diese Messen voll wirksame Mysterien seien, für Gläubige, und daß er selbst nicht glaube, spiele für die Gläubigen überhaupt keine Rolle. Darum habe er vorhin keinen zynischen Scherz gemacht, als er von seinem Job gesprochen habe, sondern die volle und ernste Wahrheit gesagt, denn für ihn sei das, was für die Gläubigen ein gnadenspendendes Mysterium sei, ein rechtmäßig erlernter und verliehener Job, ob sie das verstehen könne. Und wenn sie’s zwar verstehe, aber dennoch davor Angst habe, sei er der letzte, der sie auslache, denn für sie als religiös aufgewachsenes und nunmehr ungläubiges Mädchen dürfe das alles ruhig noch mit teilweisen Tabuängsten belegt sein, wo schon der so total fortschrittliche Atheist Max Bense nicht ein gelassener Atheist zu sein fertigbringe, sondern das alles so tobend von sich geben müsse, daß man, wenn man ihn so schreien höre, fast wieder zum Glauben an Dämonen kommen müsse. Damit sei sie hoffentlich für heute beruhigt.

Und damit war sie denn auch für diesmal beruhigt, und er entkleidete das gut gewachsene Mädchen, das so lange nicht gewußt hatte, wie gut sie gewachsen war, und liebkoste sie, was sie dringend brauchte, denn erst durch die Liebkosungen war sie allmählich zu sich selbst gekommen, hatte ihr verschrecktes Wesen abgelegt und normale geistige und gesunde gemütliche Qualitäten entwickelt und schließlich mit Lust begriffen, daß sie eine schöne Frau war. Er sagte, sie sei die unkonventionellste Frau von der Welt geworden, falls ihr das zu hören Spaß mache, denn außer daß es Spaß machen könne, sei es die Wahrheit. Sie lächelte erleichtert, und wenn sie lächelte, besonders wenn sie dabei nackt und gelockert dalag, war ihr Charme unübertrefflich, so sagte er zu ihr und fügte hinzu: Falls man das Wort »unübertrefflich« überhaupt benutzen dürfe, aber in einigen Fällen werde man’s wohl dürfen, man könne es ja einschränken und hinzusetzen, so sei es für ihn, der mit wenig Erfahrung, wenn auch nicht ganz ohne Erfahrung in die Ehe gegangen sei, denn so, wie man sich das gewöhnlich vorstelle, sei es ja nun ganz und gar nicht.

Jedenfalls gehörte zu dem etwas ungewöhnlichen Job dieses Menschen natürlicherweise eine so ungewöhnliche Ehe, solange er den Job beibehielt, und das schien noch nicht so bald ans Ende zu kommen, nach dem Gespräch zu urteilen, das er kurz danach mit mir hatte; ich wünschte Zwischenbilanz zu ziehen. Da waren ja immerhin einige nicht alltägliche Bekehrungen, wie ich mich im Bischofsjargon ausdrückte, wofür ich mich aufgrund seines erstaunten Brauenhebens auf der Stelle entschuldigte, wir waren ja von Jugend auf befreundet und per du, aber ich schlug vor, jeder möge in seiner Sprache reden, die Sprache des andern könne man ja mit Zitatcharakter benutzen. Da seien also diese Bekehrungen. Der Pfarrer wollte darin nichts Besonderes sehen und sagte zitatenartig, Ungläubige würden gläubig, Gläubige würden ungläubig, das sei doch wie überall. Aber da lachte ich und sagte, das hätte er nicht sagen sollen, das nähme ich seiner Intelligenz nicht ab, da sei doch ein riesengroßer Unterschied zwischen seinen Erfolgen und den Erfolgen der übrigen Confratres, deren Herde immer die gleiche bleibe, während in seiner Herde die Lauen abfielen, dafür aber gemütsstarke Menschen hinzuträten. Das sei doch ein unbestreitbarer Unterschied. Der komme wahrscheinlich von der Tatsache, daß hier ein Mann an der Arbeit sei, der die Konsequenzen des Evangeliums leidenschaftslos durchdenke und ebenso leidenschaftslos die Situation des heutigen Menschen durchschaue, ohne fromme Brille, völlig fern von salbadernder Nabelschau, meilenweit vom Herunterleiern eingeübter Phrasen. Gewiß, gewiß, das alles aus dem Mund eines tief gläubigen Priesters würde einem Bischof ruhigere Nächte verschaffen, aber die Wege des Herrn seien unerforschlich, und es sei eben die Last dieses Bischofs, Schafe in den Pferch zu bekommen, die ihm von einem zweideutigen Hirten zugetrieben würden. Und somit schlüge ich ihm also vor, weiter- und weiterzumachen, falls er es noch weiter leisten könne. Ich gestand ihm ganz offen, daß ich damit auch eine hintersinnige Hoffnung für den zweideutigen Heiligen selbst verbände, und die Gebete für ihn seien, wenn ich beten könne, die stürmischsten des Jahrhunderts, und wenn ich nicht beten könne, betete ich trotzdem, wir hätten ja gelernt, auf das Gefühl komme es nicht an, und so weiter noch eine ganze Weile. Währenddessen ging dem Pfarrer der Gedanke durch den Kopf, ob er mir seine Verheiratung mitteilen solle, und sei es nur, um zu sehen, ob ich mir vorzustellen vermöchte, wie sich das alles im tagtäglichen Leben ausnehme, oder ob ich wie ein bluffender Spieler aufspringen und ihm zurufen würde, er habe ja das vorige Mal gar nicht Trumpf bekannt. Er unterließ es dann, nicht aus Angst, denn Angst hatte er keine, sondern aus Gleichgültigkeit gegenüber einer verhältnismäßig unwichtigen Sache und auch aus Nettigkeit gegenüber einem Mann, mit dem er von Jugend auf befreundet und per du war, aber ohne zu ahnen, daß ich mir das alles längst selbst ausgerechnet hatte. Der Pfarrer kehrte zu seiner Arbeit zurück und machte so weiter, häufig unter Überlistung eifriger Kirchen- und Organisationsleute, er tat nur das Nötigste, und das war schon anstrengend genug.

Aber das alles ging nicht mehr allzulange, da er eines Nachts, nachdem er am Abend wieder einmal ausgiebig gelacht hatte, bei seinen Fernsehfreunden und in Gegenwart seiner Frau, Sekretärin genannt, und zwar gelacht hatte über Theologendiskussionen, das Dogma der Erbsünde betreffend, das im Zusammenhang mit der Entwicklungsgeschichte des Menschen nicht mehr aufrechtzuerhalten war oder doch nicht mehr so wie bisher und dadurch die Theologen zu komischen Verrenkungen nötigte, ernsthafte Männer, ja sogar gescheite und vernünftige Männer zu den komischsten Spekulationen nötigte, nachdem er also ausgiebig darüber gelacht hatte und die Freunde und seine Frau, Sekretärin, damit angesteckt hatte, da er also eines Nachts, nachdem er in dieser Weise vergnügt gewesen war, im Schlaf plötzlich noch einmal lachte, einen kurzen Hustenanfall bekam und Schmerzen in der Brust und im linken Arm verspürte und seine Frau nach heißen Tüchern in die Küche schickte, aber schon tot war, als sie mit den heißen Tüchern zurückkam und einen Arzt rief, der aber nur noch einen Totenschein mit der Todesursache Herzinfarkt auszustellen hatte und sich in den nächsten Tagen wunderte, warum ich ihn mehrmals kommen ließ und ihn sorgfältig darüber befragte, ob es sich nicht um einen heftigen Asthmaanfall gehandelt haben könnte, was aber offenbar Unsinn war, obwohl der Arzt, wenn er den Schein nicht schon ausgestellt hätte, meinem merkwürdigen Bedürfnis, wie er sagte, denn anders könne er diese dringliche Befragung schon nicht mehr nennen, unter Umständen entgegengekommen wäre, denn was mache das schon groß, aber nun war es nicht mehr zu ändern, und ich mußte mich beruhigen und ließ den Mann in Ruhe.

Allmählich wurde der Pfarrer von den Leuten vergessen, aber nicht von allen, und als nach einigen Jahren eine Anfrage aus Rom bei mir eintraf, was ich von der Eröffnung des Seligsprechungsprozesses halte, da war ich dafür, weil ich dachte, warum ich eigentlich nicht dafür sein sollte, da ja die Wege des Herrn unerforschlich seien, und was wolle da unsereiner schon wissen und überhaupt …

Damit war der Bericht des Bischofs und die zweite Flasche Scharzhofberger zu Ende, er klingelte und ließ eine dritte kommen, und ich saß da, gedankenvoll und mit dem Geschmack des vorzüglichen Weins auf der Zunge und im Kopf, und sah den Mann an, der das alles sehr langsam erzählt hatte, so, als horche er in sich hinein und erzähle das alles sich selbst, sozusagen zum Vergleichen mit seinen Erinnerungen. Ich konnte nichts Besonderes an seinem Ausdruck feststellen, keine besonderen Kennzeichen, er hatte ein normales, ernstes, aufmerksames Gesicht, ein Mann wie Sie und ich.

Ich sagte nicht viel, während wir die dritte Flasche tranken, er erkundigte sich nach meinen Arbeiten, politischen Ansichten, das ergab nicht viel, und als er sah, daß ich nachdenklich war, sagte er, ich könne ihn ja wieder einmal besuchen – sehr rücksichtsvoll, sehr höflich.

Als ich schon am Gehen war, fragte ich ihn noch, woher er denn so genau wisse, was der Pfarrer gesagt und getan habe, besonders diese ganz privaten Szenen, von denen er berichtet habe. Er antwortete, es gebe doch da die Witwe, wenn er sich im Jargon des verstorbenen Pfarrers ausdrücken dürfe, den er in diesem Fall voll akzeptiere, diese Witwe habe er zu sich genommen, eine gescheite und patente Person, sehr nützlich, wirklich sehr nützlich.

Keinen Illusionentausch!

In Judenmord, Frauenmord, Heilige Kirche (1988) habe ich das zwangsläufig zur totalitären Perversion führende Scheinfundament des Christentums genau herausgearbeitet und mich dadurch selbst gezwungen, jegliche Spielart des Christentums grundsätzlich abzulehnen. Der Leser kann sich mit der Lektüre dieses Buches den Mut erwerben, die tröstliche religiöse Illusion abzulegen.

Diesen Mut muß man sich in unserer vom Christentum durchtränkten Kultur tatsächlich »erwerben«. Wer in magischen Fesseln mit göttlichen Sanktionen aufgewachsen ist, muß zur Selbstbefreiung erhebliche moralische Kraft aufbringen. Es sei denn, der alte Glaube falle von selbst in sich zusammen. Das gibt es, aber auch dann bleibt häufig eine Scheu vor dem entschlossenen Nein. Zur Überwindung solcher Scheu bietet jenes Buch eine Hilfe.

Gebildete Christen nehmen möglicherweise ein derartiges Buch erst gar nicht in die Hand, selbst wenn sie gelegentlich von Zweifeln an ihrem Glauben beschlichen werden. Der eine denkt vielleicht: Das wird die alte positivistische Aufklärung sein, die sich neuerdings selbst ad absurdum geführt hat. Ein anderer: Schärfer als Nietzsche kann niemand die Sklavenmoral des Christentums denunzieren, aber ich sehe auch heute wie eh und je viele Künstler und Gelehrte herzlich gern Sklaven Christi sein. Oder auch: Da werden vielleicht die Argumente des Karl Marx aufgenommen, der die Religion »das Opium des Volkes« nannte, das ganze Problem seit Feuerbach als erledigt ansah und eine freie Föderation freier Menschen prophezeite – die Karikatur dieser Prophetie kann jedermann seit fast hundert Jahren täglich besichtigen.

Nimmt aber ein gebildeter Christ jenes Buch trotzdem in die Hand, wird er verblüfft entdecken, daß darin nichts von solchen oder ähnlichen oder irgendwelchen anderen Kronzeugen vorkommt. Und warum nicht? Weil die Überwinder der tröstlichen Illusion ihrerseits in illusionäre Menschheitsutopien abgeschwenkt sind. Es gilt jedoch auch nach dem Weglegen der einen Illusion ohne neue Illusionen zu leben. Der Mensch wird weder Übermensch noch ein Wesen mit sagenhafter Menschen oder gar Menschheitsliebe, er bleibt einfach ein Mensch wie wir alle. Sollte er in Jahrtausenden oder Jahrmillionen eine Mutation fertiggebracht haben, dann wollen wir ihm heute schon gratulieren, aber bis dahin haben wir es mit uns und unseresgleichen zu tun.