Leben mit Alkohol – Herausforderungen und Chancen - Rudolf Klein - E-Book

Leben mit Alkohol – Herausforderungen und Chancen E-Book

Rudolf Klein

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Beschreibung

Mit dem Alkohol ist das so eine Sache: Was der eine für normal hält, erscheint dem anderen als zu viel und gefährlich. Partner:innen, Freund:innen und Arbeitgeber:innen bringen da oft ganz unterschiedliche Vorstellungen zum Ausdruck. Wer hat recht? Wie findet man heraus, ob und wie viel Alkohol gut ist? Dieses Buch hilft, mehr über das Trinkverhalten herauszufinden – das eigene oder das eines anderen. Dazu gibt es Kriterien und Erklärungen an die Hand, im Mittelpunkt stehen aber Fragen zu individuellen Aspekten: Welche Gedanken, Erklärungen und Bewertungen verbinde ich mit dem Trinken? Welches Leben wurde bisher gelebt, und ist es das, das man leben wollte? Was sollte so bleiben, was könnte sich ändern? Welche Optionen gibt es, und welche Risiken und Chancen sind damit verbunden? Neben einer Anleitung zur Selbstdiagnose bietet das Buch auch konkrete Handlungsstrategien an. Fallbeispiele, Fragenkataloge und Erläuterungen helfen, das Trinkverhalten zu beeinflussen und bekömmlichere Umgangsweisen zu finden – mit oder ohne Alkohol.

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Rudolf Klein

LEBEN MITALKOHOL

HERAUSFORDERUNGEN UND CHANCEN

2021

Fachbücher für jede:n

Reihe „Fachbücher für jede:n“

Reihengestaltung und Satz: Nicola Graf, Freinsheim, www.nicola-graf.com

Umschlaggestaltung: Heinrich Eiermann

Umschlagfoto: cc pixabay

Redaktion: Veronika Licher

Printed in Poland

Druck und Bindung: Drukarnia Dimograf

Erste Auflage, 2021

ISBN 978-3-8497-0399-8 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8339-6 (ePUB)

© 2021 Carl-Auer-Systeme Verlag und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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INHALT

VORWORT

1ALKOHOLABHÄNGIGKEITEN ERKENNEN

Erster Brief

Genug ist nicht genug? – Kritische Trinkmengen

Trinken ist Trinken? – Unterschiedliche Trinkmuster

Konflikttrinken

Periodisches Trinken

Spiegeltrinken

Problem oder Krankheit? – Blicke der Profis

Riskanter Konsum

Schädlicher Gebrauch

Alkoholabhängigkeitssyndrom

Verborgene Schätze? – Übersehene Kompetenzen

Blut ist dicker als Alkohol? – Wie sich das Trinken in der Familie auswirken kann

Fazit

2ALKOHOLABHÄNGIGKEITEN VERSTEHEN

Zweiter Brief

Krisen und existenzielle Krisen

Krisen und Rausch

Henne oder Ei: Wie begünstigen Krisen problematisches Trinken und umgekehrt?

Ei oder Henne: Wie begünstigen Krisen Alkoholabhängigkeiten und umgekehrt?

Was ist passiert, was ist geschehen?

Die magischen Drei – Vorstellungen über die Welt

Vorstellungen von Kontrolle

Vorstellungen von Sicherheit

Vorstellungen von Unverletzlichkeit

Fazit

3SICH AUS ALKOHOLABHÄNGIGKEITEN LÖSEN!?

Dritter Brief

Der Prozess einer Veränderung – eine Wanderung

Wenn Hoffnung blockiert

Nicht mehr da und noch nicht dort

Schritte einer Veränderung

Was meint »Vorfinden«?

Was meint »Befinden«?

Was meint »Einfinden«?

Was meint »Finden« und »Abfinden«?

Was meint »Erfinden«?

Impulse zur Veränderung: Anregungen, Beobachtungen, Fragen

Vorfinden

Warum jetzt?

Befinden

Glaube ich, dass ich ein Alkoholproblem habe?

Was klappt noch?

Wie eng bin ich mit dem Trinken verbunden?

Einfinden

An welchem Punkt stehe ich?

Wofür könnte sich eine Veränderung lohnen – und wofür nicht?

Welche Einflussfaktoren sollte ich bei einer Veränderung bedenken?

Was überhöre und übersehe ich manchmal?

Wie unterbreche ich Gedanken an das Trinken – falls ich es wollen sollte?

Brauche ich Unterstützung beim Entzug vom Alkohol?

Wer legt welche Ziele fest, und welche passen zu mir?

Finden und Abfinden

Welche Rolle haben traumatische Erfahrungen in meinem Leben gespielt, und auf welche Weise könnte ich sie für Wachstumsprozesse nutzen?

Auf welche Art behindere ich meine eigene Entwicklung?

Können wir ein Paar bleiben?

Können wir uns (wieder) trauen?

Von Schuld und Verantwortung: Die Beziehung zu meinen Kindern

Erfinden

O’zapft is!: Anzapfen (noch) unentdeckter Kräfte

Sich besinnen: Stolz und Würde

Fazit

ÜBER DEN AUTOR

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

dieses Buch ist in erster Linie für Menschen geschrieben, die über ihr eigenes Trinkverhalten nachdenken möchten. Ihr Interesse als Leserin oder Leser könnte unterschiedliche Gründe haben. Vielleicht haben Sie das eigene Trinkverhalten beobachtet und sich gefragt, ob Sie in angemessener Weise Alkohol zu sich nehmen. Vielleicht gehen Sie aber auch davon aus, dass Sie zu viel oder zu oft trinken, und sorgen sich um Ihre Gesundheit, Ihre Partnerschaft, Ihre Familie oder vielleicht um Ihren Job. Möglicherweise machen sich aber auch andere Menschen Gedanken und Sie wurden innerhalb der Familie, von Ihrem Arzt, Ihrem Arbeitgeber, Kollegen oder Freunden darauf angesprochen.

Denn das Trinken kann man nicht ausschließlich als Verhalten eines einzelnen Menschen verstehen. Es hatte von Beginn an Auswirkungen auf Ihre Mitmenschen und hier v. a. auf Ihre Angehörigen. Und deren Reaktionen hatten wiederum Konsequenzen für das Trinkverhalten. Das Trinken hinterlässt also sowohl Spuren bei den trinkenden Personen als auch in den jeweiligen privaten Beziehungen zu Partnern, Kindern, Eltern und Geschwistern.

Wie sich auch immer die Dinge entwickelt haben mögen, offensichtlich sind Sie auf der Suche nach Antworten auf Fragen rund um dieses Thema:

Was zeichnet Vorstufen einer Alkoholabhängigkeit aus?

Woran erkennt man eine Alkoholabhängigkeit?

Wie kann man die Entwicklung hin zu einer Alkoholabhängigkeit verstehen?

Was könnte bei einer Lösung des Problems hilfreich sein?

Fragen über Fragen. Das Buch versucht auf diese Fragen Antworten zu liefern und ist folgendermaßen aufgebaut: Sie werden im ersten Kapitel erfahren, wie sich eine Alkoholabhängigkeit entwickeln und bemerkbar machen kann. Dabei werden Sie erkennen, dass es »die« Alkoholabhängigkeit nicht gibt. Jeder Mensch hat seine eigene individuelle Geschichte und damit sind die Ausdrucksformen des abhängigen Trinkens unterschiedlich. Um dieser individuellen Vielfalt gerecht zu werden, wäre es sogar korrekter, von Alkoholabhängigkeiten zu sprechen.

Sie werden weiter erfahren, dass sich der Alkoholkonsum im Laufe der Zeit verändern und es fließende Übergänge zwischen einem sozialverträglichen, einem riskanten, einem schädlichen und einem abhängigen Trinken geben kann. Und bei aller Sensibilisierung für etwaige Problemlagen möchte ich Sie einladen, diejenigen Lebensbereiche nicht aus dem Auge zu verlieren, die trotz allem funktionieren, mit denen Sie zufrieden sind, die so bleiben können und sollen, wie sie sind.

Im zweiten Kapitel werden Sie Perspektiven zum Verständnis des problematischen Trinkens kennenlernen. Es ist erklärungsbedürftig, wieso Menschen in einer Art trinken, dass die negativen körperlichen, seelischen und sozialen Folgen scheinbar überwiegen, und sie dennoch nichts ändern. Es könnte also plausible und triftige Gründe für ein problematisches Trinken geben. Hierzu werden systemische Erklärungsmodelle angeboten. Systemisch bedeutet, das problematische Trinken als ein Phänomen zu verstehen, das durch ein Zusammenspiel von seelischen, körperlichen und sozialen Prozessen entsteht und aufrechterhalten wird. Man bezeichnet diesen Erklärungsansatz etwas umständlich als biopsychosoziales Modell. Entsprechend werden zum einen die Auswirkungen des Alkoholkonsums auf den Körper, die Psyche und das soziale Umfeld erläutert und zum anderen, wie diese wiederum das Trinkverhalten beeinflussen können.

Im dritten Kapitel werden Sie Überlegungen, praktische Ideen und Fragen kennenlernen, die für das Anstoßen von Veränderungen nützlich sein können – falls Sie das möchten. Es handelt sich um Anregungen und Fragestellungen, mit denen Sie sich mit sich und mit Ihren familiären Beziehungen auseinandersetzen können. Sie werden aber auch Überlegungen und Hinweise finden, auf welche Weise Angehörige in die Alkoholproblematik eingewoben sein können und welche Fragestellungen sich dabei eröffnen. Eines sollten Sie bedenken: Veränderungen sind manchmal leicht, manchmal schwer und manchmal unmöglich. Niemand kann zu Beginn eines solchen Prozesses genau sagen, wie er sich gestaltet und wie er enden wird. Es gibt keine 100%ige Verlaufs- oder gar Erfolgsgarantie. Niemand kann wissen, welche Vorgehens- und Umgangsweisen sich für Sie persönlich als nützlich erweisen werden.

Eine Alkoholproblematik oder gar -abhängigkeit hat aber für Sie mindestens eine große Chance: Sie haben die Veränderung und die Nichtveränderung höchstpersönlich und komplett in Ihrer Hand – niemand hat mehr Einfluss als Sie selbst. Eine einseitige Steuerung bzw. eine Veränderung durch andere, seien es Angehörige, Kollegen, Freunde, Ärzte oder Therapeuten, ist unmöglich. Diese können unterstützen, hilfreich, manchmal auch hinderlich erscheinen. Einseitig beeinflussen können sie Sie jedoch niemals. Insofern könnten Sie in einer Auseinandersetzung mit diesem Thema den Startschuss für eine weitgehend selbstbestimmte Entwicklung entdecken.

Bevor Sie sich nun dem weiteren Inhalt zuwenden, noch eine Art »Gebrauchsanweisung« für die Lektüre: Sie können das Buch von Anfang bis zum Ende zügig durchlesen. Sie können aber auch quer einsteigen und dort anfangen, wohin Sie Ihr Interesse am meisten zieht, und sich damit auf Ihre Art im Buch lesend und nachdenkend fortbewegen. Sie können bei einigen Fragen längere Zeit verweilen, andere wiederum »links liegen lassen« und vielleicht später darauf zurückkommen. Wie bei allen Prozessen der inneren Auseinandersetzung hat jeder Mensch seinen eigenen Stil. Das ist gut so und dazu möchte ich Sie ermutigen.

Möglicherweise werden Sie über die dargestellten Anregungen hinaus Hilfen benötigen. Dafür stehen Ihnen flächendeckende Hilfesysteme in Deutschland zur Verfügung. In jedem Landkreis gibt es ambulante und/oder teilstationäre bzw. stationäre Einrichtungen, die für diese Problemlagen spezialisierte und nützliche Unterstützung anbieten können.

Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre!

Rudolf KleinMerzig, im März 2021

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ALKOHOLABHÄNGIGKEITEN ERKENNEN

Erster Brief

Liebe Leserin, lieber Leser,

Sie haben sich nach der Lektüre des Vorworts zum Weiterlesen entschieden. Nun geht es um das Erkennen einer möglichen Problemlage. Die Bewertung des Trinkverhaltens als Problem ist aber gar nicht so einfach und wird nicht selten von Angehörigen, Freunden und Kollegen anders eingeschätzt als durch die Betroffenen selbst. Häufig sind diese Unterschiede Grundlage heftiger Konflikte, v. a. innerhalb von Partnerschaft und Familie. Eines ist und bleibt dennoch sicher: Die wichtigste Person, die das Trinken bewerten muss, sind Sie selbst.

Ihr Trinkverhalten als eher problematisch oder als eher unproblematisch einzustufen, ist letztlich nichts anderes, als sich selbst höchstpersönlich zu diagnostizieren. Dazu benötigen Sie Kriterien, die problematisches von unproblematischem Trinken zu unterscheiden helfen. Darüber hinaus spielt neben den Bewertungskriterien eine nicht unbedeutende Rolle, zu welchem Zeitpunkt sich diese Frage stellt. Manchmal erscheint etwas als erhebliches Problem und manchmal sieht man die Dinge lockerer, obwohl sich nichts geändert hat. Die eigenen Bewertungen können variieren. Es ist daher kein Wunder, wenn Sie mehrere Monate, manchmal Jahre benötigen, bis Sie zu einer Antwort kommen.

Manchen wird das als eine Art Zögern oder gar Hinauszögern erscheinen, manche werden von Verleugnung des Problems sprechen. Doch hat das Zögern und Zaudern einen guten Grund. Denn mit der Feststellung eines Problems ist nicht selten eine Lebensentscheidung verbunden – sowohl für Sie als auch für Ihre Angehörigen. Das Leben kann dann nämlich nicht mehr so weitergehen, wie es bisher gelaufen ist. Der Gewinn einer Erkenntnis bedeutet gleichzeitig einen Verlust. Und wer verliert schon gerne?

Dieser Prozess verändert auch den Blick auf sich selbst: Vielleicht beginnen Sie sich zu schämen, wenn dies nicht schon vorher der Fall war. Vielleicht müssen Sie sich etwas eingestehen, was Sie bislang vermeiden konnten. Vielleicht fühlen Sie sich schuldig – aus welchen Gründen auch immer. Und vielleicht ängstigen Sie sich, weil Sie noch nicht wissen (können), wie es jetzt anders weitergehen soll. Gefühle also, die man lieber nicht fühlt. Nur eines sollten Sie bedenken: Die Scham und die Schuld werden nicht weniger, wenn man glaubt, der Auseinandersetzung mit sich ausweichen zu können. Im Gegenteil: Es wird eher schlimmer und fördert u. U. das Trinken in unguter Weise.

Daher brauchen Sie Zeit, um in Ruhe zu prüfen und immer wieder erneut zu prüfen, ob sich ein Trinkproblem entwickelt hat. Falls Sie nach eingehender Analyse zu dem Ergebnis kommen sollten, dass Sie ein Problem in Ihrer Art des Trinkens sehen, sind Sie dann auch eher bereit, sich für eine Veränderung zu engagieren. Sie müssen aber nicht. Sie können versuchen, alles bleiben zu lassen, wie es ist – mit dem Unterschied, dass Sie jetzt mehr wissen.

Wenn Sie prüfen möchten, ob das Trinkverhalten als problematisch gelten kann, lassen sich fünf unterschiedliche, sich gegenseitig ergänzende Perspektiven heranziehen:

die Beobachtung der Trinkmenge

die Beschreibung von Trinkmustern

die klassische diagnostische Perspektive

die Fokussierung von Kompetenzen und Ressourcen

die Beobachtung und Berücksichtigung sozialer Beziehungen.

Ich wünsche Ihnen eine unbestechliche Selbstbeobachtung!

Genug ist nicht genug? – Kritische Trinkmengen

Um eine erste Grobeinschätzung des eigenen Trinkverhaltens zu bekommen, kann man sich an den Empfehlungen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) orientieren. Hier werden Richtwerte für einen sogenannten risikoarmen Konsum benannt. Danach dürfen Männer durchschnittlich bis zu 24 g reinen Alkohol pro Tag zu sich nehmen, was etwa einem halben Liter Bier, einem Viertel Wein oder 2 Gläschen Schnaps entspricht. Für Frauen gilt jeweils die Hälfte dieser Mengenangaben.

Mit diesen Angaben kann man relativ gut ausrechnen, ob man mit seinem Konsum eher im risikoarmen oder eher im riskanten Bereich unterwegs ist. Natürlich gibt es auch individuelle Unterschiede bezüglich der Verträglichkeit von Alkohol. Das ändert aber nichts am Risiko, weil niemand wissen kann, ob man zur risikoarmen Gruppe gehört oder nicht. Man merkt es erst, wenn es zu spät sein kann.

Neben diesen Angaben zur täglichen Trinkmenge sollte man bei einem risikoarmen Konsum zusätzlich drei Fähigkeiten berücksichtigen:

Man sollte zwei alkoholfreie Tage pro Woche einlegen und keine größere Menge innerhalb sehr kurzer Zeit konsumieren.

Man sollte die Fähigkeit zur Punktnüchternheit besitzen, also die Fähigkeit, zu bestimmten Zeiten geplant nüchtern zu sein.

Man sollte den Alkoholkonsum nicht einsetzen, um psychische Belastungen wegzutrinken.

Trinken ist Trinken? – Unterschiedliche Trinkmuster

Bei dieser Art von Selbstbeobachtung geht es um Unterschiede von Trinkmenge, Trinkhäufigkeit und Trinkanlässen, wobei es fließende Übergänge zwischen den jeweiligen Trinkstilen geben kann. Dennoch können sie für die Beobachtung des eigenen Trinkverhaltens eine gewisse Orientierung geben.

Konflikttrinken

HERR KRAUSE, 58 JAHRE, Chef einer mittelständischen Firma, war fast rund um die Uhr mit seinem Geschäft verbunden. Er hatte das Unternehmen gegründet, wusste am besten über den Produktionsablauf Bescheid, organisierte das Marketing, schulte und motivierte die Mitarbeiter mit großem Einsatz. Er lebte für die Firma und Ausnahmen erlaubte er sich am Feierabend und in Urlauben.

Anfangs suchte er an Feierabenden regelmäßig seinen gut bestückten Weinkeller auf, entschied sich für eine »Belohnungsflasche«, nahm vorsorglich eine zweite mit, falls die erste zu schnell ausgetrunken sein sollte, und versuchte damit seinen stressigen Alltag abzuschütteln.

Im Laufe der Zeit setzte er den Alkohol bereits während des Tages im Büro ein. V.a., wenn es mal wieder Fehler in der Produktion gab. Manchmal spülte er seinen Ärger damit weg, manchmal löste er seine Selbstbeherrschung auf. Dann wertete er im angetrunkenen Zustand seine Mitarbeiter ab, schrie sie an und beschämte sie vor versammelter Mannschaft. Seine Ehefrau, Mitarbeiterin im Betrieb, versuchte solche »Ausraster« zu korrigieren, mahnte immer öfter das Trinken an, wurde aber mit Angriffen deutlich unter der Gürtellinie abgewehrt. Die Ehe verschlechterte sich zusehends. Die sich erhöhende Konfliktspannung in der Ehe und die Scham wegen seiner Ausraster »behandelte« er mit einer erhöhten Alkoholmenge, die sich im Laufe der Jahre bis zu vier Flaschen Wein täglich steigerte.

Wenn man konflikthaft trinkt, nimmt man sich zwar vor, den Konsum niedrig zu halten, macht aber häufig die Erfahrung, dass man doch deutlich mehr trinkt und nicht selten einen Vollrausch erlebt. Anlässe sind meist Schwierigkeiten in der Partnerschaft, der Familie, Konflikte mit Freunden, Enttäuschungen über eigene Fehler oder die anderer, Ärger mit Kollegen und Vorgesetzten. In den Rauschzuständen kann es durchaus zu Gewalttätigkeiten und anderen Ausfallerscheinungen kommen. Anfangs ist dieser Trinkstil innerhalb privater Beziehungen beobachtbar. Im Laufe der Zeit fällt er auch im beruflichen Bereich auf.

Periodisches Trinken

HERR MEIER, EIN 47-JÄHRIGER Angestellter, lebt mit seiner Frau und den beiden Kindern in geordneten Verhältnissen. Bereits als Jugendlicher trank er an Wochenenden exzessiv und kam oft im Vollrausch zu seinen Eltern nach Hause. Nach seiner Heirat nahm das wöchentliche Trinken deutlich ab, wurde aber durch massiven mehrtägigen Konsum im Abstand von drei bis vier Monaten ersetzt. Manchmal lagen Trinkphasen weiter auseinander, manchmal enger zusammen. Kurz vor Therapieaufnahme kamen diese Episoden im Durchschnitt monatlich vor. Sein Trinken nahm extrem riskante Ausmaße an, indem er im volltrunkenen Zustand auf Parkbänken seinen Rausch ausschlief, gelegentlich von der Polizei aufgegriffen wurde und keine Erinnerung mehr an den Vorabend hatte. Die Ehefrau übernimmt es seit Jahren, ihn im Verlauf solcher Phasen beim Arbeitgeber zu entschuldigen und das Fernbleiben mit einer Erkrankung zu erklären.

Gründe für dieses exzessive und gefährliche Trinken kann er nicht nennen. Überwiegend beendet er diese Episoden mit großer Willenskraft und Unterstützung seiner Frau, gelegentlich wird er zur Entgiftung hospitalisiert.

Wenn man periodisch trinkt, weiß man um sein Trinkproblem und lebt daher über gewisse Zeiträume hinweg abstinent oder trinkt lediglich geringe Mengen. Diese Phasen werden jedoch immer wieder durch Phasen heftigen Trinkens unterbrochen, die mehrere Tage umfassen können. Die Anlässe für diese erneuten Trinkphasen sind meist nicht bewusst. Erstaunlich ist dabei, dass man immer wieder unter großen Willensanstrengungen einen Entzug vom Alkohol schafft und es einem gerade wegen dieser enormen Mühe vollkommen schleierhaft ist, weswegen man eine erneute Trinkphase begonnen hat.

Spiegeltrinken

FRAU MÜLLER, 55 JAHRE ALT, wird vom Krankenhaussozialdienst vermittelt. Sie wurde vor zwei Wochen wegen einer akuten Blinddarmentzündung eingeliefert und unmittelbar danach operiert. Die Blinddarmentfernung verlief chirurgisch unauffällig. Problematisch hingegen waren ihre körperlichen Entzugserscheinungen nach dem Aufwachen aus der Narkose. Sie wurde medikamentös behandelt, um die Entzugserscheinungen zu reduzieren. Ein hinzugezogener Psychiater eröffnete ihr, dass er sie für abhängig halte und ihr dringend eine einschlägige Behandlung empfehle.

Sie erzählt im Erstgespräch, dass sie täglich Alkohol konsumiert. Sie beginnt damit ab 14.00 Uhr, weil sie halbtags arbeitet und dann zu Hause ankommt. Sie teilt ihr Trinken über den Nachmittag ein und beendet das Trinken meist so gegen 20.00 Uhr. Danach schaut sie noch etwas Fernsehen und schläft dann ein.

Als Spiegeltrinker trinkt man meist über längere Zeiträume hinweg kontinuierlich eine bestimmte Alkoholmenge und stabilisiert damit eine konstante Alkoholkonzentration im Blut. Das eigene Trinkverhalten erscheint einem vollkommen unproblematisch. Auch Angehörige und Kollegen erleben das so. Ergeben sich jedoch unvorhergesehene, das Trinken unterbrechende Ereignisse wie z. B. chirurgische Eingriffe mit stationären Aufenthalten, können Irritationen wie Zittern, Schweißausbrüche, Nervosität, Unruhe, Übellaunigkeit u.Ä. auftreten und auf eine körperliche Abhängigkeit hinweisen. Man wird u. U. von diesen körperlichen und seelischen Reaktionen überrascht. Entsprechend kann man nicht glauben, von behandelnden Ärzten auf einen zu hohen Alkoholkonsum angesprochen zu werden, und weist diese »Vorwürfe« nicht selten empört zurück.

Problem oder Krankheit? – Blicke der Profis

Üblicherweise wird zwischen einem riskanten Konsum, einem schädlichen Gebrauch und einer Abhängigkeit unterschieden. Die Grenzen zwischen diesen unterschiedlichen Beschreibungen sind fließend. Das bedeutet, dass es sowohl Übergänge vom sogenannten normalen Trinken über einen riskanten Konsum hin zum schädlichen Gebrauch und schließlich zur Abhängigkeit geben kann und umgekehrt.

Diese Beschreibungen stammen aus einem Klassifikationssystem für psychische Störungsbilder namens ICD-10, das von der Weltgesundheitsorganisation entwickelt wurde und im Laufe der Jahre immer wieder überarbeitet wird. D. h., es fallen manchmal Diagnosen weg, manche werden verändert und es kommen neue hinzu. Diagnosen sind also nicht »objektiv wahr«, sondern sie entstehen auf der Grundlage gesellschaftlicher Bewertungsprozesse.

Alkoholspezifische Diagnosen werden im Gesundheitssystem der Bundesrepublik Deutschland von Fachleuten wie Ärzten, Psychotherapeuten und Suchttherapeuten getroffen, indem sie sich bei der Beurteilung des Trinkverhaltens einerseits an den Schilderungen ihrer Patienten und Klienten und/oder deren Angehörigen und andererseits an den vorgegebenen Diagnosekriterien orientieren.