Leben mit Auschwitz - Andrea von Treuenfeld - E-Book

Leben mit Auschwitz E-Book

Andrea von Treuenfeld

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Beschreibung

75. Jahrestag der Befreiung

2020 jährt sich der Tag der Befreiung von Auschwitz zum 75. Mal. Seit 75 Jahren müssen Überlebende und deren Nachfahren, muss die Welt, müssen die Deutschen mit dem Zivilisationsbruch leben, den der Name "Auschwitz" markiert. Das Buch folgt dieser Geschichte.
Die Überlebenden des Holocaust konnten über das Geschehene oft nicht sprechen. Doch die Traumata des Erlittenen wirkten auch im Stillen und gerade dort: Überlebende und ihre Kinder beschwiegen das Unfassbare, um einander zu schützen und dem Schrecken nicht oder nicht noch einmal begegnen zu müssen.
Anders die Generation der Enkel. Sie stellt den Großeltern nicht nur Fragen, auf die sie auch Antworten bekommt. Sie erlebt Auschwitz zudem als ein historisches Faktum, das in den 75 Jahren, die seit der Befreiung des Lagers vergangen sind, beschrieben und analysiert, interpretiert und bearbeitet wurde. Was aber heißt und bedeutet Auschwitz dann für diese Dritte Generation?
Dieses Buch versammelt Zeugnisse von Enkelinnen und Enkeln von Auschwitz-Überlebenden. Es sind oft berührende, manchmal erschütternde und immer nachdenkenswerte Berichte darüber, wie wirkmächtig das Geschehen von damals im Leben von Menschen auch heute noch ist. Auschwitz war nicht nur gestern, Auschwitz ist heute – immer noch und bleibend.

  • Wegmarken der Wahrnehmung von Auschwitz "nach Auschwitz"
  • Geschichten hinter der Geschichte

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Seitenzahl: 292

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ANDREA VON TREUENFELD

LEBEN MIT AUSCHWITZ

MOMENTE DER GESCHICHTE UND ERFAHRUNGEN DER DRITTEN GENERATION

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2020 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlagmotiv: Holocaust-Mahnmal, Berlin; Foto: © Marco Scisetti – shutterstock.com

ISBN 978-3-641-25947-1V001

www.gtvh.de

FÜR ANTONIA

Inhalt

Vorwort oder »Der Sänger von Auschwitz«

Einführung

Das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz

Vanity Katz

Rebecca de Vries

1945-1959

Hinrichtung Rudolf Höß

»Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau«

Primo Levi: »Ist das ein Mensch?«

Krakauer Auschwitz-Prozess

»Internationales Auschwitz Komitee (IAK)«

Daniel Neumann

Barbara Bišický-Ehrlich

1960-1969

Erster Frankfurter Auschwitz-Prozess

Zweiter Frankfurter Auschwitz-Prozess

Dritter Frankfurter Auschwitz-Prozess

Daniel Langbein

Judith, Cornelia, Andreas Faessler

1970-1979

Seligsprechung des Paters Maximilian Kolbe

Auffinden der Leiche Josef Mengeles

Gedenkstätte als Weltkulturerbe

Oliver Umlauf

Alexander Nachama

1980-1989

Auschwitz-Album der Lilly Zelmanovic

Claude Lanzmann: »Shoah«

»Internationale Jugendbegegnungsstätte Oświęcim/Auschwitz (IJBS)«

»March of the Living«

Art Spiegelman: »Maus«

Tatjana Schmidt

Leroy Schwarz

1990-1999

Strafbarkeit der »Auschwitzlüge«

Steven Spielberg: »Shoah Foundation«

»Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus«

Nicolas Endlicher

Jenny Claus

2000-2009

Abweisung der Irving-Klage

Fotograf von Auschwitz

Das »Höcker-Album«

Original-Baupläne von Auschwitz

Das Schild »Arbeit macht frei«

Selina Zehden

Rebekka Goldstein

2010-2019

»to Bremembered«

»Erinnerungsort Topf & Söhne«

Lüneburger Auschwitz-Prozess

Detmolder Auschwitz-Prozess

»… was Auschwitz war«

Glossar

Literatur

Vorwort oder »Der Sänger von Auschwitz«

In ihrem Buch widmet sich Andrea von Treuenfeld einem bedeutenden Thema, der Frage nämlich, was Enkelinnen und Enkel von Überlebenden der Nazi-Verfolgungen von den Erfahrungen ihrer Großeltern wissen und welche Bedeutung dieses Wissen in ihrem heutigen Leben in der Bundesrepublik Deutschland für sie hat. Es ist der Autorin gelungen, eine Reihe von Menschen mit zum Teil sehr unterschiedlichen Familienhintergründen für ihr Vorhaben zu gewinnen, sodass hier jene zu Wort kommen, deren Vorfahren als politische Gegner des Nationalsozialismus, als Roma und Sinti oder als Juden verfolgt wurden. Unter den Vorfahren mancher Interviewter gab es allerdings auch überzeugte Nazis bzw. Nazi-Mitläufer, was speziell diese Familiengeschichten interessant macht. Aus eigener Forschungserfahrung weiß ich, wie schwierig es ist, Menschen zu finden, die dazu bereit sind, ihre persönliche Geschichte durch solche Gespräche öffentlich zu machen. Dies gilt in ganz besonderer Weise für Jüdinnen oder Juden in diesem Land.

Die in diesem Band versammelten Interviews sind »vor Halle« geführt worden. Ist es doch zu befürchten, dass der furchtbare Anschlag auf die Synagoge in Halle am Yom Kippur dieses Jahres, dem Versöhnungstag, eine Zäsur im post-nationalsozialistischen deutsch-jüdischen Verhältnis darstellen wird. Wohl nur aufgrund eines fast wundersam erscheinenden Schlosses der Synagogentür, das den Schüssen des Täters standhielt, wurde ein Massaker verhindert. Ich vermute, dass viele der in der Synagoge eingesperrten Jüdinnen und Juden Bilder vor Augen hatten, die der Erinnerung an die Shoah entstammen, wie Nazi-Täter Synagogen anzündeten, in die sie ihre Opfer hineingetrieben und eingesperrt hatten.

Es waren »nur« zwei Menschen, die bei diesem Anschlag den Tod fanden, weil der Mörder wie unter Zwang morden musste: Über das Nicht-Gelingen seines eigentlichen Vorhabens war er derart verärgert, dass er ein zufälliges Opfer, das im Moment des Geschehens seinen Weg passierte, und einen Mann, der sich in einem Döner-Laden befand, hinrichtete – ein Vorgehen, das die Morde des sogenannten nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) fortführt.

Würden sich die gleichen Personen, wenn man sie heute – »nach Halle« – befragte, in Bezug auf ihr Lebensgefühl im heutigen Deutschland anders äußern als zuvor?

Leserinnen und Leser des vorliegenden Buches werden mit den Schrecken der Nazi-Verfolgungen konfrontiert, wie sie sich in den unterschiedlichen Familien zugetragen haben und auf je spezifische Weise an die Dritte Generation tradiert wurden. Dass diese Tradierung nicht vornehmlich über die Sprache und das Sprechen, sondern vor allem auch nonverbal im Beziehungsleben erfolgt, ist Ausgangspunkt des von uns am Sigmund-Freud-Institut entwickelten psychoanalytischen Konzepts des Szenischen Erinnerns der Shoah (vgl. Grünberg und Markert 2016). Hier kommt man mit den Abgründen der menschlichen Existenz in Berührung, »wohin die Sprache nicht reicht« – wie es Hans Keilson (1984) formuliert hat. Der mit diesen Fragen beschäftigte Psychoanalytiker, der mit diesem Modell und dem, was man Übertragung nennt, arbeitet, muss diese Dimension in den Beiträgen der Protagonisten dieses Buches vermissen. Wichtige Aspekte dessen, was sich während der Aufzeichnungen zwischen und in den Beteiligten, den Befragten und der Interviewerin, zugetragen hat, bleiben somit unerkannt. Wie wurde die Autorin als Interviewerin erlebt? Welche Affekte, Gedanken und Fantasien haben die Schilderungen in der Autorin selbst ausgelöst? Auf welche Weise haben die Gespräche sie mit ihrer eigenen Familiengeschichte während des Nationalsozialismus konfrontiert?

Dies muss jedoch kein grundlegender Mangel sein. Denn, indem die Autorin sich auf diesem Wege als »Medium« nicht öffentlich macht, schafft sie für Leserinnen und Leser einen Wahrnehmungs- und Erlebnisraum, der es diesen ermöglicht, gewissermaßen auf analytische Weise ein tieferes unbewusstes Erleben in der Übertragung an sich und in sich selbst wahrzunehmen. Die Leerstelle wäre demnach ein Gewinn, der offen gelassene Leerraum eine Möglichkeit, ihn mit eigenen Fantasien und Bildern zu ergänzen und zu spezifizieren. Damit gliche diese Vorgehensweise der Autorin der Traumdeutungsmethode Fritz Morgenthalers (1986), demzufolge der Traumbericht bei Hörenden/Lesenden des Traums sich Adressaten schafft, die nun mit dem Träumer anhand seines Traumes eine gemeinsame Szene erzeugen, in der Träumer und Traumhörende gemeinsam repräsentiert sind. Die von Andrea von Treuenfelds Interviews angeregten LeserInnen finden sich damit in dieser gemeinsamen Konstruktion wieder. Sie können sich nun fragen, wer bin ich und wer hätte ich sein können – eine neue Methode der Selbstaufklärung.

Eine solche »Szene«, die sich entsprechend unseres Konzepts des Szenischen Erinnerns der Shoah in mir hergestellt hat, möchte ich im Folgenden kurz exemplarisch skizzieren. Das in diesem Buch abgedruckte Gespräch mit dem Enkel des Berliner Kantors Estrongo Nachama hat mich in besonderer Weise mit dem Traumatischen in Berührung gebracht. Er war der einzige Überlebende seiner Familie aus dem griechischen Saloniki. Alle anderen wurden von den Nazis ermordet. In dem Interview ist zu erfahren, dass er sich im Konzentrationslager Auschwitz gemeldet hatte, als ein Handwerker gesucht wurde. Wegen seiner handwerklichen Geschicklichkeit und in der Hoffnung auf zusätzliche Nahrungsrationen meinte er, die gestellte Anforderung wohl erfüllen zu können. Für seine Notlüge wurde Nachama empfindlich bestraft. Die Folter bestand darin, ihn an den Füßen aufzuhängen und auf diese einzuschlagen, sodass er infolge der Misshandlungen nie wieder in der Lage sein sollte, längere Zeit ohne Schmerzen zu gehen.

Gerettet hat ihn offenbar seine wundervolle Gesangsstimme. Die Nazi-Schergen ließen ihn zu ihrer Unterhaltung in Auschwitz singen. So konnte er weiteren Selektionen entgehen. Er blieb am Leben. Nach der Befreiung habe ihn jemand in Berlin wiedererkannt: »Bist du nicht ›Der Sänger von Auschwitz‹?«, sei er gefragt worden. Und so wurde Nachama am Ende zu dem bekannten Oberkantor der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

Nachamas Verfolgungsgeschichte war mir vor dem Lesen des Gespräches in diesem Band nicht geläufig. Ihn jedoch kannte ich von CDs und von Auftritten im Fernsehen. Und einmal bin ich ihm wohl Anfang der 90er-Jahre persönlich begegnet, bei einer Veranstaltung in Berlin, an die ich mich nicht mehr genau erinnere. Sehr genau erinnere ich hingegen das Folgende:

Ich sehe, wie sich Estrongo Nachama sehr unbeholfen in Richtung zum Sitzplatz in meiner Nähe bewegt. Er ist übergewichtig. Unsere Blicke treffen sich. Er lächelt mir mit einer Wärme zu, die ich noch heute zu spüren meine. Dann kaufe ich eine CD mit Gebetsgesängen von ihm, die ich bis zum heutigen Tage gern höre. Mit seiner Stimme, mit seinem eigentümlichen Gang, mit seiner freundlichen Ausstrahlung und Wärme seines Blickes hat er mir – ohne Worte – etwas von dem erlittenen Leid vermittelt, aber auch, dass er an Traditionen festhält und vor allem »trotzdem Ja zum Leben sagt« (vgl. Viktor Frankl 1987). Ist Estrongo Nachama »Der Sänger von Auschwitz« geblieben?

Mir selbst fehlen angemessene Worte zu beschreiben, welch’ tiefe Verbindung ich zu ihm entwickelt habe. Wie sehr sie mich aber prägte und mein Beziehungsverhalten beeinflusste, hat mir meine schwerst behinderte Tochter vermittelt. Sie liebt Nachamas Kiddusch nach Louis Lewandowski. Auf einer Autofahrt zu meinen Eltern, die Überlebende der Shoah waren, »musste« ich das gleiche Stück immer wieder für sie spielen: über vierhundert Kilometer, immer und immer wieder.

Dr. Kurt Grünberg

Literatur

Frankl, V.E. (1987): … trotzdem ja zum Leben sagen: ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, München.

Grünberg, K. / Markert, F. (2016): Child Survivors – Geraubte Kindheit. Szenisches Erinnern der Shoah bei Überlebenden, die als Kinder oder Jugendliche Opfer der Nazi-Verfolgung waren, Psyche, 70 (5), 411-440.

Keilson, H. (1984): Wohin die Sprache nicht reicht, Psyche 38, 915-926.

Morgenthaler, F. (1986):Der Traum. Fragmente zur Theorie und Technik der Traumdeutung, hg. v. Paul Parin, Frankfurt am Main / New York.

Einführung

»Verbrechen an der Menschheit verjähren nicht«, hat Angela Merkel anlässlich des 70. Gedenktages der Befreiung von Auschwitz gesagt. »Wir haben die immerwährende Verantwortung, das Wissen über die Gräueltaten von damals weiterzugeben und das Erinnern wachzuhalten.«

Diese Sätze sind heute aktueller denn je. Gegen das Vergessen muss die Geschichte des größten Konzentrations- und Vernichtungslagers, das innerhalb weniger Jahre der größte Friedhof der Welt wurde, immer wieder neu erzählt werden. Dazu gehört auch, wie dieser Ort in den Jahrzehnten nach seiner Befreiung am 27. Januar 1945 wahrgenommen, das Geschehene aufgearbeitet wurde.

Aber so wichtig diese Fakten – die Momente der Geschichte – sind, sie können nur im Zusammenhang mit den Geschichten jener Menschen stehen, die Auschwitz erlebt haben, überlebt haben. Denn nur sie konnten Zeugnis ablegen von der Brutalität des Erlittenen und dem Ausmaß des Genozids. Den Verlusten in der eigenen Familie setzten sie die Gründung neuer Familien entgegen – und gaben die aus der Zeit der Verfolgung, Demütigung und Todesangst resultierenden Traumata an ihre Nachkommen weiter. Doch anders als die Zweite Generation, die der Kinder, die noch sehr viel stärker geschützt werden sollte und umgekehrt auch die verletzten Eltern schützen wollte und deshalb das Schweigen der Überlebenden akzeptierte, stellte die Dritte Generation Fragen. Und bekam (meistens) Antworten.

Inwieweit hat die Tatsache, dass der Großvater, die Großmutter Auschwitz-Überlebende sind, die eigene Geschichte geprägt, habe ich deshalb Enkelinnen und Enkel gefragt und dabei möglichst wenig Einfluss auf den Gesprächsverlauf genommen, denn es sind ihre Narrative und die ihrer Familie. Auschwitz ist definitiv ein Teil der Biografie dieser Menschen, denen ich dafür danke, dass sie mich in unseren Gesprächen an ihrem Leben teilhaben ließen.

Danken möchte ich auch Dr. Kurt Grünberg, der sich als Psychoanalytiker in seiner Praxis und als Mitarbeiter des Siegmund-Freud-Instituts in Frankfurt am Main mit der Tradierung der Traumata der Überlebenden der Shoah an die nachfolgenden Generationen beschäftigt und sein Wissen in das von ihm verfasste Vorwort dieses Buches hat einfließen lassen.

So wie das auf dem Cover des Buches abgebildete Stelenfeld in Berlin das »Denkmal für die ermordeten Juden Europas« darstellt, ist Auschwitz das Synonym für die Shoah (»Brandopfer«), wie Juden es benennen. Doch Auschwitz ist auch das Synonym für den Porajmos (»Verschlingen«), wie Sinti und Roma den Mord an ihrem Volk bezeichnen, ebenso natürlich auch für die Qualen und den gewaltsamen Tod von Kommunisten, Kriegsgefangenen, Homosexuellen, Zeugen Jehovas und anderen Verfolgten. Auschwitz als bekanntestes KZ ist aber auch das Synonym für unzählige andere Orte des Leidens und des Sterbens. Sobibor, Treblinka, Majdanek, Chelmno auf polnischem Boden, Bergen-Belsen, Dachau, Ravensbrück, Buchenwald auf deutschem Gebiet – um nur einige zu nennen.

Viele Großeltern der von mir befragten Enkelinnen und Enkel haben nicht nur Auschwitz aushalten müssen, sondern auch weitere KZs. Deshalb ist dieses Buch stellvertretend geschrieben für alle anderen Lager und für alle anderen Leidenswege unter der NS-Herrschaft. Gewidmet ist es all jenen, die diesem »Verbrechen an der Menschheit« zum Opfer fielen.

Andrea von Treuenfeld

Das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz

Mit dem Überfall Deutschlands auf Polen begann am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg. Drei Tage später nahmen deutsche Truppen die im Süden des Landes gelegene Stadt Oświęcim ein und gaben ihr wieder den Namen, den sie bis Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts getragen hatte: Auschwitz.

Drei Kilometer von ihrem Zentrum entfernt war bereits zwei Jahrzehnte zuvor ein Lager für Saisonarbeiter entstanden. Heinrich Himmler*, auf der Suche nach einem geeigneten Gelände für ein weiteres Konzentrationslager, entscheidet sich für dieses Areal, trotz der zerfallenen Häuser und Holzbaracken. Mit seiner Anbindung an die Bahnstrecke Wien-Krakau und der abgeschotteten Lage entspricht es genau den Vorstellungen des Reichsführers SS, und am 27. April 1940 befiehlt er die dortige Errichtung des Konzentrationslagers Auschwitz. Nach mehreren kleinen Lagern, darunter auch Oranienburg (März 1933) und Esterwegen (Sommer 1933), die meist nach wenigen Monaten wieder aufgelöst wurden, sowie Dachau (März 1933), Sachsenhausen (Juli 1936), Buchenwald (Juli 1937), Flossenbürg (Mai 1938), Mauthausen (August 1938), Neuengamme (Dezember 1938), Ravensbrück (April 1939), Stutthof (September 1939) wird es das größte von den Nationalsozialisten errichtete Lager dieser Art werden: gedacht, zumindest anfangs, für die Festsetzung sogenannter »unerwünschter Elemente«.

Der Posten des Standortkommandanten fällt Rudolf Höß* zu, der schon in Dachau und in Sachsenhausen an exponierter Stelle seinen Dienst versehen hat. Angeblich ist es seine Idee, über dem Lagertor den zynischen Spruch »Arbeit macht frei« anbringen zu lassen, eine Inschrift, die schon in einigen anderen Lagern über den Eingang montiert wurde.

Am 20. Mai 1940 kommen die ersten Deportierten: dreißig deutsche sogenannte »Kriminelle«, unter ihnen Bruno Brodniewicz, der nicht nur der erste Lagerälteste wird, sondern auch die Nummer 1 erhält – und wegen seiner Grausamkeit anderen Inhaftierten gegenüber den Beinamen »Der schwarze Tod«. Im Juni trifft ein Transport mit 728 politischen Gefangenen ein, durchweg Polen, wie auch die Häftlinge der nachfolgenden Transporte. Sie alle sind dazu bestimmt, in Zwangsarbeit den Auf- und Ausbau des Lagers voranzutreiben.

Denn das KL Auschwitz, wie es offiziell heißt, wächst schnell. Angelegt wird es zunächst auf 10.000 Gegner des NS-Regimes. Neben dem Häftlingslager, in NS-Sprache »Schutzhaftlager«, entstehen Werkstätten und Landwirtschaft, Wirtschaftsgebäude und Siedlungen für die Wachmannschaften und ihre Familien. Bereits Ende des Jahres umfasst das sogenannte »SS-Interessengebiet« vierzig Quadratkilometer, umgeben von Stacheldraht und Wachtürmen.

Am 1. März 1941 besucht Heinrich Himmler erstmals Auschwitz und befiehlt Rudolf Höß den weiteren Ausbau: Die Zahl der aufzunehmenden Inhaftierten soll sich verdreifachen. Nicht sicher ist, ob bei dieser Gelegenheit oder erst später der Befehl an den Kommandanten ergeht, ein weiteres Lager zu errichten. Im Herbst desselben Jahres wird jedenfalls das nahe gelegene Dorf Brzezinka, zu Deutsch Birkenau, zerstört. Auf seinem Boden entsteht nach dem Stammlager Auschwitz I das KL Auschwitz II – ein gigantisches, von sowjetischen Zwangsarbeitern in großer Eile errichtetes Barackenlager.

Für seine Architektur ist ausgerechnet ein Schüler des von den Nationalsozialisten verbotenen Bauhaus verantwortlich. Der Österreicher Fritz Ertl, Mitglied der NSDAP und der SS, setzt sein in Dessau erlangtes Wissen in Auschwitz-Birkenau um und entwirft neben gemauerten Baracken auch fensterlose Holzställe, karg und funktional, in die bis zu 750 Menschen einquartiert werden. Unter ständigem Hunger und primitivsten Bedingungen – auf den dreistöckigen Holzpritschen teilen sich mehrere Häftlinge einen Schlafplatz, Waschmöglichkeiten und Latrinen sind anfangs nicht vorhanden, Läuse und Ratten vermehren sich ungehemmt, Epidemien sind die Folge – wird hier das vom Berliner Reichssicherheitshauptamt beabsichtigte massenhafte Sterben zur Normalität.

Unter der Leitung des Chefs des RSHA, Reinhard Heydrich*, beschließen am 20. Januar 1942 auf der später so bezeichneten »Wannsee-Konferenz« fünfzehn hochrangige Mitglieder der NSDAP und der SS die »Endlösung der Judenfrage«: Synonym für die geplante Deportation und Vernichtung der elf Millionen europäischen Juden.

Ab Frühjahr 1942 treffen dann auch die ersten Massentransporte in Auschwitz ein. Bei der Selektion als »arbeitsfähig« aussortierte Menschen werden nicht sofort getötet, sondern registriert. Nachdem ihnen – wie auch jenen, die direkt nach ihrer Ankunft umgebracht werden – das Gepäck schon bei dem Heraustreiben aus den Viehwaggons, in denen sie tagelang, manchmal auch wochenlang unterwegs waren, von den SS-Wachmannschaften genommen wird, müssen sie sich ausziehen und duschen, desinfizieren und am ganzen Körper rasieren lassen. Ihre eigene Kleidung wird ausgetauscht gegen die blaugrau-gestreifte der Häftlinge, Schuhe sind ab jetzt sommers wie winters klobige Holzpantinen.

Ab Mitte 1942 wird Juden und ein halbes Jahr später auch allen anderen Deportierten – davon verschont bleiben nur die sogenannten »Reichsdeutschen« – eine Nummer auf den linken Unterarm tätowiert. Eine Schikane, die in keinem anderen KZ praktiziert wird. Selbst im Lager geborene Babys und Kleinkinder werden, sofern man sie nicht sofort tötet, dieser schmerzhaften Prozedur unterzogen. Weil ihr Unterarm zu klein ist, kennzeichnet man sie auf dem Oberschenkel.

Zur weiteren Kennzeichnung oder Unterscheidung werden farbige Dreiecke, »Winkel«, ausgegeben, die mit der Spitze nach unten auf Brusthöhe aufgenäht werden müssen. Gelb steht für Juden, rot für politische Gefangene, grün für Kriminelle, schwarz für »Asoziale«, zu denen zeitweise auch Sinti und Roma zählen, lila für Zeugen Jehovas, im Nazi-Jargon Bibelforscher genannt, rosa für Homosexuelle. Zusätzlich gibt ein Buchstabe Auskunft über das Herkunftsland.

In der Hierarchie der sogenannten »Häftlingsselbstverwaltung« sind es meist die »Grünen«, die, von der SS bestimmt und somit zu ihren direkten Handlangern gemacht, als Lagerälteste das Sagen haben und Privilegien wie einen eigenen Schlafraum, größere Essensmengen und bessere Kleidung genießen. Ihnen unterstellt sind die Blockältesten und denen die Stubenältesten. Arbeiten innerhalb und außerhalb des Lagers beaufsichtigen Kapos*.

Der Lager-Alltag ist in erster Linie ein Überlebenskampf. Morgens und abends oftmals stundenlang auf dem Appellplatz stehen, in Kolonnen zur Arbeit in Kiesgruben oder Werkhöfen marschieren, bis zur totalen Erschöpfung und auch bei gefährlichen Tätigkeiten ohne jeglichen Schutz viele Stunden körperliche Arbeiten leisten, auf dem Rückweg die Toten des Tages zurückschleppen, zu essen gibt es dünne Wassersuppe und wenig, meist schon verschimmeltes Brot. Begehrt sind die Schichten in der Näherei, in der Verwaltung, in der Küche sowieso und in »Kanada« – von den Häftlingen so genannt, weil es in ihren Vorstellungen das Land des Luxus und des Überflusses ist. Tatsächlich findet sich in diesem riesigen Depot alles, was die Häftlinge nicht haben: Kleidung, Wertsachen und Lebensmittel, gestohlen den Menschen, die längst »durch den Kamin gegangen sind«, wie es in der Lagersprache heißt. Ungeachtet des Verbots aus Berlin bedient sich die SS hier, allen voran Rudolf Höß, der auf diese Weise auch seine in der Villa neben dem KZ-Gelände wohnende Familie versorgt. Die meisten dieser Güter werden jedoch ins Reich geschickt. Ebenso wie das zu Barren gegossene Gold der herausgebrochenen Zähne der Leichen und die Tonnen Haare, die als Füllmaterial für Matratzen verwendet werden.

Bestrafungen für willkürlich beanstandete »Vergehen« der Häftlinge sind vielfältig und eine grausamer als die andere. Prügel, Folter, Strafexerzieren, was eine stundenlange Tortur von Kniebeugen, Rennen oder Kriechen bedeutet, Versetzung in die Strafkompanie, in der die Häftlinge bei schwerster Arbeit und unter Schlägen meist zu Tode geschunden werden. Oder aber auch Arrest in Block 11. Der sogenannte »Todesblock« ist eine der Backstein-Baracken im Stammlager, in dessen Keller das Gefängnis, der »Bunker«, untergebracht ist. Tausende von Häftlingen, die die Dunkel- oder Stehzellen sowie die Misshandlungen durch die Wachmannschaften noch überstehen, werden anschließend vor der »Schwarzen Wand« erschossen, die Block 10 und Block 11 verbindet. Nach der Befreiung des Konzentrationslagers wird es die Stelle sein, an der man auch Jahrzehnte später immer wieder Kränze niederlegt.

In diesem Kellergefängnis sterben Ende 1941 bei einem »Probeeinsatz« des Insektizides Zyklon B etwa 850 Inhaftierte, die meisten von ihnen sowjetische Kriegsgefangene. Das Blausäuregas, das anfangs tatsächlich zur Schädlingsbekämpfung verwendet wird, wirkt schon in geringen Mengen tödlich. Um das Morden effektiver zu gestalten – die Mehrheit der deportierten Menschen, etwa achtzig Prozent, wird bei den Selektionen als »nicht arbeitsfähig« eingestuft und geht den direkten Weg in den Tod –, werden die Vergasungen in das nun abgedichtete Krematorium (später Krematorium I) verlegt, wo die Leichen anschließend eingeäschert werden.

In Auschwitz-Birkenau dienen erst das »rote Haus« mit einem Fassungsvermögen von 800 Personen, dann auch das »weiße Haus« mit einem Volumen von 1200 Personen als provisorische Gaskammern. Die darin Ermordeten werden in Massengräber geworfen oder verbrannt. Im Sommer 1943 ersetzt man diese ehemaligen Bauernhöfe durch die vier neugebauten großen Krematorien (II-V). Sie sind ausgestattet mit je einem Entkleidungsraum, einer Gaskammer und hochmodernen, von der Erfurter Firma »Topf & Söhne« (siehe Seite 238) entwickelten Öfen zur Leichenverbrennung. Insgesamt, so deren Berechnung, sind sie ausgelegt für die Einäscherung von täglich mehr als 4.500 Getöteten.

Für diese Arbeit teilt die SS sogenannte »Sonderkommandos« ein, deren Größe proportional zu der Anzahl der ankommenden Menschen steigt. Es sind meist jüdische Lagerinsassen, denen die Aufgabe des Vergasens und des Beseitigens der Leichen zufällt. Als unmittelbare Zeugen des systematischen Mordens sind sie streng isoliert untergebracht und werden nach einigen Wochen, spätestens Monaten, erschossen und durch ein neues »Sonderkommando« ersetzt.

Auschwitz-Birkenau wird ständig erweitert, die Zahl der Züge mit den Viehwaggons steigt. Im Sommer 1942 wird das erste Frauenlager errichtet. Im Dezember desselben Jahres unterzeichnet Heinrich Himmler den »Auschwitz-Erlass«, der die Deportation der europäischen Sinti und Roma besiegelt. Im Februar 1943 trifft der erste Transport ein und wird in einem weiteren abgetrennten Bereich, dem »Zigeunerlager« oder »Zigeunerfamilienlager«, untergebracht. Die Lebensbedingungen der insgesamt 23.000 hier zusammengepferchten Menschen sind dermaßen schlecht, dass viele von ihnen sehr schnell an Typhus sterben oder verhungern. Im Mai 1944 kommt der Befehl zur »Liquidierung« des Lagers, so die offizielle Wortwahl. Doch am Abend des 2. August 1944 stoßen die Wachmannschaften, die die Verbliebenen in die Gaskammern treiben sollen, auf heftigen Widerstand. Die Eingesperrten, unter ihnen viele Kinder, wehren sich trotz ihres geschwächten Zustands. Gegen die Brutalität der SS-Männer haben sie allerdings keine Chance: Noch in der Nacht werden die letzten 4.000 Sinti und Roma ermordet.

Im September 1943 wird ein zweites Familienlager installiert: das der 17.500 aus Theresienstadt überstellten Juden. Im März und Juli des Folgejahres werden die meisten von ihnen vergast, 3.000 noch »arbeitsfähige« in andere KZs verschickt.

Im Sommer 1944 erreicht das Massenmorden einen unfassbaren Höhepunkt. Von den 437.402 in Ungarn festgesetzten Juden wird der größte Teil nach Auschwitz-Birkenau gebracht, zwischen dem 15. Mai und dem 18. Juli rollt Zug um Zug in das Lager. Bei der Selektion an der eigens für diese Transporte erbauten »Judenrampe« werden 320.000 Menschen sofort in die wenige Gehminuten entfernten Gaskammern gezwungen. Die Krematorien sind überlastet, Leichen werden zeitweise auch in Gruben verbrannt. Die »Sonderkommandos« arbeiten an manchen Tagen im 24-Stunden-Schichtdienst.

Ab 1942 wird der Arbeitseinsatz von Häftlingen in der Rüstungsindustrie verstärkt. Bereits zu Beginn des Jahres 1941 beschließt der in Frankfurt am Main ansässige Chemiekonzern IG Farben den Bau einer Fabrik zur Herstellung von Buna, ein synthetisches Gummi für die Kriegswirtschaft. Die Wahl fällt auf ein Gelände unweit des Stammlagers, und die SS lässt sich die zur Verfügung gestellten Arbeitskräfte für den Aufbau der Anlage gut bezahlen. Als der Bedarf an Zwangsarbeitern steigt und sich der Weg vom und zum Lager als zeitaufwändig und somit unrentabel erweist, entsteht ein neues Lager: das KL Auschwitz III oder auch Auschwitz-Monowitz. Zum ersten Mal ist ein privates Unternehmen der Betreiber eines Konzentrationslagers, das sich allerdings bezüglich der Bewachung, Abschottung und katastrophalen Unterkunfts- und Versorgungsbedingungen in nichts von den beiden benachbarten KZs unterscheidet. Neben Auschwitz-Monowitz entstehen kleinere Außenlager. Bis Kriegsende wächst ihre Zahl auf vierzig, die anfangs dem Kommandanten des Stammlagers unterstehen.

Im November 1943 wird jedoch jedes der drei Auschwitz-Lager eigenständig und Rudolf Höß abgezogen. Seinen Posten übernimmt für ein halbes Jahr Arthur Liebehenschel*, der seinerseits im November 1944 von Richard Baer* abgelöst wird, der dann zusätzlich die Leitung Birkenaus übernimmt, das von Friedrich Hartjenstein* und ab Mai 1944 von Josef Kramer* geführt wird. Kommandant von Monowitz und dessen Nebenlagern ist bis zu der Auflösung Heinrich Schwarz*.

Als die Rote Armee Richtung Westen vorrückt, beginnt im Sommer 1944 in Auschwitz die erste Phase der Räumung. Baumaterial sowie Waren aus den Vorratslagern werden ins »Altreich« transportiert und ein Teil der Häftlinge auf die Konzentrationslager in dessen Gebiet verteilt: Buchenwald und Groß-Rosen, aber auch Bergen-Belsen, Sachsenhausen, Ravensbrück und Neuengamme im Norden sowie Flossenbürg, Dachau, Mauthausen und Natzweiler im Süden. Mit Beginn des Winters 1944 wird in Auschwitz-Birkenau das Vergasen eingestellt. Die SS beginnt, die Spuren der industrialisierten Menschenvernichtung zu verwischen, lässt Verbrennungsöfen abbauen, Massengräber einebnen und belastende Dokumente in Flammen aufgehen.

Am 17. Januar 1945 setzt die euphemistisch als »Evakuierung« bezeichnete zweite Phase der Räumung ein. Um einerseits keine Zeugen zu hinterlassen und diese andererseits als Arbeitskräfte in den noch bestehenden Lagern weiterhin auszunutzen, werden aus Auschwitz I, II und III sowie allen Nebenlagern völlig ausgemergelte und in Lumpen gehüllte Häftlinge in Bewegung gesetzt. Schätzungen gehen von 58.000 Menschen aus, die sich in Gruppen und bei eisigen Temperaturen auf den Weg machen müssen. Tausende von ihnen sterben noch auf diesen Todesmärschen an Entkräftung und durch Genickschuss der sie begleitenden SS.

Am Morgen des 27. Januar 1945 erreichen sowjetische Truppen Auschwitz-Monowitz, am Nachmittag weitere Rotarmisten das Stammlager und kurz darauf Auschwitz-Birkenau. In allen drei Konzentrationslagern stoßen sie auf unzählige Leichen. Und auf insgesamt etwa 7.000 Überlebende, darunter 500 Kinder, apathisch die meisten. Viele von ihnen sterben noch in den nächsten Tagen.

Das Stammlager von Auschwitz ist für 30.000 Häftlinge konzipiert, das sich ständig erweiternde Auschwitz-Birkenau für 200.000 und Auschwitz-Monowitz für 10.000. Von den 1,3 Millionen Menschen, die in diese Konzentrationslager verschleppt werden, sterben dort 1,1 Millionen: 900.000 nicht registrierte, die in den Selektionen für den sofortigen Tod durch Gas bestimmt werden; 200.000, die Hunger, medizinische Experimente, insbesondere die des Josef Mengele*, Krankheiten, Folter und Hinrichtungen nicht überleben. Eine Million der Getöteten sind Juden.

Für die wenigen Geretteten richten sowjetische Soldaten mithilfe des Polnischen Roten Kreuzes in den Blöcken und Baracken Krankenstationen ein.

Aus Auschwitz wird wieder Oświęcim.

Vanity Katz

Schihe Katz

Vanity Katz

Geboren am 5. Februar 2002 in Frankfurt am Main

Abiturientin in Frankfurt am Main

Enkelin der Ides und des Schihe Katz

Ides Katz

Geboren als Ides Steinmetz vermutlich am 14. Dezember 1932 in Absche (Tschechoslowakei, heute Ukraine)

1939 Zwangsumsiedlung in das Ghetto in Solotwyno (Tschechoslowakei, heute Ukraine)

Deportation nach Auschwitz

27. Januar 1945 Befreiung in Auschwitz durch sowjetische Truppen

1945 Rückkehr nach Solotwyno

Mai 1972 Emigration nach Frankfurt am Main

Gestorben am 10. Juli 2017 in Frankfurt am Main

Schihe Katz

Geboren vermutlich am 20. Dezember 1927 in Solotwyno (Tschechoslowakei, heute Ukraine)

1939 Zwangsumsiedlung in das Ghetto in Solotwyno

1940 Deportation nach Auschwitz, Bergen-Belsen, Dachau, Mauthausen, Auschwitz

27. Januar 1945 Befreiung in Auschwitz durch sowjetische Truppen

1945 Rückkehr nach Solotwyno

Mai 1972 Emigration nach Frankfurt am Main

Gestorben am 19. März 2014 in Frankfurtam Main

Als ich geboren wurde, hat mich mein Opa nicht mehr losgelassen. Von Tag eins an war er mit mir. Er hat mich überall abgeholt, überall hingefahren, kam manchmal eine Stunde zu früh zur Schule, weil er unbedingt einen guten Parkplatz haben wollte, damit ich keinen weiten Weg zu seinem Auto hatte. Später habe ich ihn jeden Abend angerufen, weil er wissen wollte, ob bei mir alles gut ist. Ich hatte eine sehr, sehr enge Bindung zu meinem Opa.

Und seit ich klein war, hat er mit mir über seine Geschichte geredet. Hat mir immer mal wieder stückweise etwas erzählt. Aber ich hab’s nicht verstanden. Weil ich nicht wusste, was damals passiert ist. Deshalb konnte ich auch nicht begreifen, warum er so abgemagert war, warum er Seife essen musste, Kartoffelreste essen musste. Warum man ihn geschlagen hat. Warum gerade ihn, was hat er gemacht?

Meine Eltern wollten nicht, dass er mit einer Fünfjährigen so genau darüber redet. Aber er hat es halt gemacht. Er ist zu uns nach Hause gekommen mit Büchern. Bücher über den Zweiten Weltkrieg, die er sich in den Jahren danach gekauft hat, in denen auch Bilder waren. Er saß mit mir, ich war inzwischen vielleicht zehn, auf dem Sofa und sagte: »Schau dir das an.« Und ich habe diese Bilder gesehen: Berge von Leichen, die aufeinanderlagen. Damals habe ich dann schon gewusst, was war, weil ich irgendwann angefangen habe zu fragen. Ich habe gemerkt, wie wichtig es ist, diese Geschichte zu kennen, um sie meinen Kindern, meinen Enkelkindern weitererzählen zu können.

Zur selben Zeit habe ich versucht, mit meiner Oma darüber zu reden, aber da ging gar nichts. Meine Oma hat nie darüber gesprochen, selbst mit meinem Papa oder meinem Onkel nur wenig. Vielleicht wollte meine Oma nicht mit mir darüber reden, weil ich so jung war. Sie hat es vor mir komplett ausgeblendet, komplett. Wenn sie in der Nähe war, hat auch mein Opa das Thema nie angesprochen, weil er wusste, sie will nicht darüber reden. Wenn ich sie gefragt habe, hat sie gesagt, sie kann sich daran nicht mehr erinnern. Erst jetzt, nachdem ich selbst in Auschwitz war und da die alten Kachelöfen gesehen habe, habe ich erfahren, dass sie sich hinter einem der Öfen versteckt hat und so Auschwitz überlebt hat. Meiner Schwester hat sie das mal erzählt, vielleicht, weil sie viel älter ist – ich habe zu meiner Schwester neun Jahre Unterschied und zu meinem Bruder sechs.

Ich erinnere mich, dass meine Großeltern – ich habe sie »Seidi« genannt und »Babi«, das ist jiddisch für Opa und Oma; sie sprachen jiddisch miteinander und mit mir, und ich habe auf Deutsch geantwortet – beide eine Nummer hatten. Auch darüber hat meine Oma nie geredet, aber meinen Opa konnte ich danach fragen. Mir ist aufgefallen, dass sie, wenn sie rausgegangen sind, ein Pflaster drüber geklebt haben, oder dass er die Ärmel nur bis zur Nummer hochgekrempelt hat. Er wollte einfach nicht, dass man Fragen stellt. Er hat auch nie mit Fremden über seine Geschichte geredet. Nur mit seiner Familie.

Und anscheinend war ich die, mit der er am besten darüber reden konnte. Wir haben Stunden zu zweit einfach gesessen und uns unterhalten. Und dafür bin ich ihm sehr dankbar. Ich war schon immer diejenige, so jung ich war, die zeigen wollte, dass ich die Starke bin und ihn beschützen kann. Ich habe mich auch sehr um ihn gekümmert, wenn er Schmerzen hatte. Deshalb habe ich ganz früh schon meiner Mama gesagt, dass ich einen Erste-Hilfe-Kurs machen will, und seit ich klein bin, will ich Ärztin werden. Ich komme aus einer Ärztefamilie und ich habe schon als Kind gelernt, welches Medikament man wann nimmt. Ja, ich glaube, meine Eltern waren immer erstaunt, dass ich so viel wissen wollte. Ich habe meinen Opa auch gefragt, wo die Handbremse im Auto ist. Weil ich immer Angst hatte, wenn er im Auto ohnmächtig wird, einen Herzanfall bekommt oder so etwas, dass ich dann nicht reagieren kann.

Ich wollte alles für meinen Opa tun. Ich habe auch alles für ihn getan. Aber nach meiner Bat Mizwa* gab es manchmal Tage, an denen ich nicht mehr mit ihm war, weil ich mit Freunden unterwegs war. Das ist eine Zeit, die ich bedauere. Denn kurz darauf, im März, ist er gestorben. Ich denke sehr, sehr oft darüber nach, was wäre, wenn ich davor noch mehr Zeit mit ihm verbracht hätte.

Ich habe mich auch einmal, ein einziges Mal, mit meinem Opa gestritten. Als er irgendwann zu uns kam und ich nicht da war und er auch ein, zwei Tage nichts von mir gehört hatte, war er richtig wütend: »Mit deinen Freunden kannst du Zeit verbringen, aber du schaffst es nicht, mich einmal am Tag anzurufen!« Das war ganz schlimm für mich, ihn so zu erleben. Deshalb habe ich ihn dann jeden Tag um zwanzig Uhr angerufen, um ihm zu sagen, dass es mir gut geht. Weil er das gebraucht hat. Ebenso wie er es gebraucht hat, mir seine Geschichte zu erzählen. Aus diesem Grund habe ich ihm auch zugehört. Ich hatte schon ein enges Verhältnis zu ihm. Das habe ich auch zu meinen Eltern, und zum Glück ist bei denen alles gut, aber es ist schon was ganz Besonderes gewesen mit meinem Opa.

Und ja, als er dann gestorben ist, das war seltsam. Es war ein Mittwoch, und an dem Tag davor konnte er mich nicht von der Schule abholen, und deshalb ist er zu mir nach Hause gekommen, um mich zu sehen. Er hat mir erzählt, dass es ihm super gut geht, dass er sich fühlt wie neugeboren, er keine Beschwerden hat. Er hatte sonst immer leichte Knieschmerzen oder Kopfschmerzen, es gab nie Tage, an denen es ihm wirklich hundert Prozent gut ging. Aber an diesem schon. Ich habe mich von ihm verabschiedet, und er ist aus der Tür gegangen. Das war das letzte Mal, das ich ihn gesehen habe. Am nächsten Tag hatte er einen ganz normalen Kontrolltermin wegen seiner Herzbeschwerden. Deshalb ist er mit meinem Papa ins Krankenhaus gefahren, und es war auch bei der Untersuchung alles bestens. Sie sind gegangen, und er ist umgekippt – hatte einen Herzinfarkt – und in die Arme von meinem Papa gefallen. Obwohl sie vor dem Krankenhaus standen, konnte man nichts mehr machen. Mein Opa hat mir schon immer gesagt, er will auf gar keinen Fall zuhause sterben, er will auf gar keinen Fall im Krankenhaus sterben, er will nicht unter Schmerzen sterben. Er will einfach, so hat er es gesagt, tot umfallen. So, wie es passiert ist, freut es mich, weil er letztendlich – nach so viel Leid – das bekommen hat, was er wirklich verdient hat. Meine Oma hat uns im Nachhinein erzählt, er habe sich von ihr verabschiedet wie noch nie. Normalerweise hat er »Tschüss« gesagt. An diesem Tag hat er zu ihr gesagt: »Ides, leb lang und gesund!« Und ist gegangen, am 19. März 2014. Seitdem bin ich jede Woche auf dem Friedhof. Weil er mir so fehlt. Es war wirklich eine unbeschreibliche Beziehung, die wir hatten. Mein Opa war ein Teil von mir und ist es auch noch immer.

Wann er geboren ist, wusste er übrigens nicht. Weil er seine Daten ändern musste. Er war ja, als er nach Auschwitz kam, erst zwölf – und Kinder wurden direkt umgebracht. Seine Eltern haben ihm gesagt, er solle sich älter machen. Er hat sich dann als Neunzehnjähriger ausgegeben, und das musste auch in seinen Papieren stehen. Über die Jahre hat er dann vergessen, wann genau er geboren ist. Wir haben seinen Geburtstag am zweiten Chanukkalicht* gefeiert, weil er sich erinnerte, dass er ihn, damals noch mit seiner Familie, immer zu Chanukka* gefeiert hatte. Meine Opa hatte vier Geschwister und meine Oma sechs. Beide kamen aus sehr orthodoxen Familien. Deshalb essen auch wir koscher, trennen milchig und fleischig. Meine Tradition beizubehalten, das ist mir unheimlich wichtig. Weil meine Großeltern uns das vorgelebt haben.

Ich habe lange gebraucht, um zu verarbeiten, was mein Opa mir erzählt hat. Dass er, weil man dachte, dass er tot ist, auf einen Leichenberg geschmissen wurde. Er neben diesen Leichen lag und noch gerade so atmen konnte. Immer, wenn ich so etwas gehört habe, habe ich keine Luft mehr bekommen. Deshalb war auch der »March of the Living«*, an dem ich im Mai 2019 teilgenommen habe, so unglaublich schwer für mich. Schon als wir nach Auschwitz gefahren sind, ich wollte nicht diesen Bus verlassen. Weil ich so geweint habe. Und dann stand ich vor dem Tor und habe keine Luft bekommen. Weil ich einfach nicht verstehen konnte, warum das passiert ist. Das fragt sich jeder. Aber zu wissen, dass ich gerade da bin, wo meine Großeltern ihre schlimmste Zeit verbracht haben, das war schrecklich.

Bevor ich hingefahren bin, wusste ich nicht, dass Auschwitz so groß war. Man hört es immer, aber es ist was ganz Anderes, wenn man selber da ist. Sie mir dort vorzustellen, ich konnte es nicht. Trotzdem wollte ich schon immer dahin. Für meine Großeltern. Damit ich ihnen zeige, auch wenn sie es nicht mehr erlebt haben, wie wichtig sie mir sind, wie wichtig mir ihre Geschichte ist. Deshalb war ich auch die ganze Zeit für mich selbst, ich bin allein den Weg von Auschwitz nach Birkenau gelaufen, keiner war um mich herum, weil ich die Zeit für mich gebraucht habe. Um an meinen Opa, meine Oma zu denken.

Und auch, um zu fotografieren. Ich war in der elften Klasse und einer meiner Leistungskurse war Kunst. Wir hatten die Aufgabe, ein Magazin zu gestalten, und konnten entscheiden, ob über Mode oder ein soziales Phänomen. Mir fiel meine Entscheidung sehr leicht. Ich habe sofort gesagt, ich will darüber berichten, was damals war. Unser Thema war Fotografie, deshalb hatte ich meine Kamera dabei und habe alles dokumentiert. Jetzt bin ich sehr froh, dass ich das gemacht habe. Aber als ich in Polen war, war das eine große Last für mich, weil ich die ganze Zeit geweint habe. Das war unglaublich schwer, Fotos zu schießen und seine Gefühle so rauszulassen. Aber ich habe mir immer gesagt, wie wichtig es ist und dass mein Opa das bestimmt gewollt hätte.

Mit seiner Geschichte und diesen Bildern habe ich das Magazin gestaltet. Es heißt »Amul is gewejn – Die dritte Generation«, was jiddisch ist für »Es war einmal«. Mit hineingenommen habe ich auch das Gedicht »Ich war ein Stern« von Inge Auerbacher*. Weil es die Trauer dieser Zeit zeigt. Aber wenn sie schreibt »Kein Zeichen der Schande ist er, mein Stern / Ich trage ihn mit Stolz, ich trage ihn gern«, heißt das: Ich bin so stolz darauf, ein Jude zu sein. Und wirklich, ich bin so stolz darauf.

Das Magazin habe ich meinen Großeltern gewidmet. Es soll zeigen, was war, aber auch, dass mein Opa und meine Oma ein neues Leben aufgebaut haben mit Kindern und mit Enkelkindern. Und letztendlich wirklich glücklich waren. Ich weiß nicht, woher sie noch diese Energie genommen haben. Beide waren sie Kämpfer, aber mein Opa war derjenige, der nach vorne geguckt hat. Und er hat nicht nur für seine Kinder und Enkelkinder alles gemacht, sondern auch für andere. Wenn man noch heute Leute fragt, die meinen Opa gekannt haben, das Erste, was alle sagen, ist: »Das war ein Mensch, den gibt es nicht zweimal.«

Deshalb hier ein Auszug aus dem Magazin:

Die Qualen eines KZ-Überlebenden

Mein Opa Schihe Katz wurde am zweiten Channukalicht* des Jahres 1927 geboren. Er hatte einen älteren Bruder, Mechel, und eine ältere Schwester, Chaja.

Die Familie lebte in der kleinen Stadt Solotwyno in Russland (damals Tschechoslowakei, d. Verf.), und auch entfernte Verwandte befanden sich in der Nähe. Man traf sich deshalb sehr oft im Haus meines Großvaters und ging gemeinsam zur Shil*. In Solotwyno lebten sehr viele Juden, darunter auch sehr fromme.

Mein Opa musste schon früh anfangen zu arbeiten, um seinem Vater Chaim beim Geldverdienen zu helfen. So lud er schon im Alter von zwölf Jahren schwere Lasten von Feldkarren ab und verrichtete körperlich anstrengende Feldarbeit.

Zu dieser Zeit wechselte die Stadt sehr oft ihre Staatszugehörigkeit. Erst war sie tschechisch, dann marschierten die Ungarn ein. Durch diesen Wechsel änderte sich auch der Antisemitismus.

Unter den Ungarn war der Antisemitismus am größten. Die jüdische Bevölkerung traute sich bald schon nicht mehr auf die Straße.

Mein Opa hatte mir einige Geschichten erzählt. Einmal musste er zum Beispiel mit ansehen, wie die Unterpolizei einen Juden mit Bart auf der Straße anhielt und ihn grundlos verprügelte. Dabei schrien sie:

»Du isst ungarisches Brot, dann sprich auch ungarisch!«

Danach schnitten sie seinen Bart ab.

Die Familie meines Großvaters lebte in einem schönen großen Haus. Sie hatten Pferde, Gänse und andere Tiere.

Bald schon durften Juden keine Pferde mehr besitzen. Jeder, der ein Pferd haben wollte, konnte sich nun eins bei den Juden holen. Auch die Gänse, die die Familie zum Mästen besaß, wurden von Nachbarn gestohlen, was einen großen Verlust darstellte. Zur Polizei konnten sie jedoch nicht gehen, da sie Juden waren, denn Juden hatten nicht das gleiche Recht wie Nicht-Juden und durften sich über nichts beschweren.

Bald kam der Befehl, ein Ghetto zu errichten. Eine Linie wurde durch das Städtchen gezogen. Auf der einen Seite sollten Juden leben, auf der anderen, größeren Seite die Christen. Mein Opa und seine Familie lebten auf der jüdischen Seite und konnten so in ihrem Haus bleiben. Bis zuletzt blieben sie dort wohnen, auch wenn sie es während der Zeit im Ghetto mit anderen Menschen teilen mussten. Aus vielen verschiedenen Dörfern wurden Juden eingesammelt und in das Ghetto gedrängt. Im Haus meines Opas lebten zwischen acht und zehn Menschen in einem Zimmer. Durch das eigene Haus konnte die Familie noch zusammenbleiben. Seiner Schwester Chaja ist als Einziger die Ausreise nach Palästina geglückt und daher war sie nicht im Konzentrationslager.

Nachdem die Familie einige Zeit im Ghetto gelebt hatte, sollten sie an einen anderen Ort gebracht werden, um zu arbeiten. Sie durften Gepäck mitnehmen, doch Koffer gab es nicht, sodass man Decken zusammenknotete und darin Töpfe und Haushaltsgeräte verstaute. Auch die Kinder bekamen etwas zu tragen, und wenn es nur ein Eimer Wasser war. Es war Mai, Schawuot*, das wusste mein Opa noch, als sie sich alle auf einem Platz versammeln mussten. Nach einer Nacht, die sie in Lagerhallen eines Flughafens verbracht hatten, wurden sie an einem Bahnhof in Viehwaggons verladen. Das Gepäck sollten sie stehen lassen, es würde ihnen nachgeschickt werden, was allerdings nie passierte. Eine tagelange, nicht auszuhaltende Fahrt mit dem Zug begann. Der Zug fuhr nach Auschwitz.

Beim Aussteigen wurden Schihe und sein Vater von den Frauen und Kindern getrennt. Zwar war auch er zu diesem Zeitpunkt mit zwölf Jahren noch ein Kind, doch packte ihn sein Vater am Arm und zog ihn mit sich auf die Seite der Männer. Er ließ den Arm erst los, als sie an Mengele*, dem berüchtigten Arzt, der grausame Versuche an lebenden Menschen vollzog, vorbei waren. Von Auschwitz und den anderen Lagern, in denen mein Opa war, erzählte er mir von grauenvollen Ereignissen. Doch ich werde hier nur ein kurzes Gespräch erwähnen.

Kurz nach ihrer Ankunft in Auschwitz trafen sie einen alten Bekannten aus ihrem Städtchen wieder, der schon früher deportiert worden war. Der Vater fragte, was mit ihm geschehen sei, und der Mann gab zur Antwort: »Frag nicht. Was sie mit uns getan haben, ist unaussprechlich.«

Mein Großvater wurde von Auschwitz aus in mehrere Arbeitslager deportiert. Er musste in Bergen-Belsen, in Dachau und in Mauthausen schwer arbeiten, fast ohne Essen auskommen und ohne warme Kleidung. Vor Hunger musste mein Opa sich von Abfällen, die er heimlich unter Lebensgefahr aus Mülleimern herausgeholt hatte, ernähren. Manchmal war es auch nur ein Stück Seife, das er zum Essen hatte. Er erzählte mir auch davon, dass er keine Schuhe hatte, sodass er sich selbst aus Holz und verrosteten Nägeln etwas für die nackten Füße hergestellt hatte. Als er schon fast zu Tode gehungert war und nicht mehr für die Arbeitslager zu gebrauchen war, wurde mein Opa zurück nach Auschwitz deportiert, um dort im Vernichtungslager getötet zu werden. Er erkrankte an Typhus und wurde nicht vergast. Stattdessen warf man ihn halbtot auf einen Leichenberg, weil man davon ausging, dass er sowieso nicht mehr lange zu leben habe und das Vergasen eine Verschwendung gewesen wäre. Das war das große Glück meines Großvaters.

Am nächsten Tag wurde mein Opa aus Auschwitz befreit. Die Alliierten-Soldaten fanden ihn per Zufall auf dem Leichenberg, denn sie bemerkten, dass er noch atmete. Er lag im Koma und wurde in ein Lazarett gebracht. Da war er fast 18 Jahre alt.

Nachdem er mehrere Monate im Krankenhaus verbracht hatte, machte er sich auf den Weg nach Hause.

Die Reise war sehr schwierig, weil er immer noch krank war. Doch aufgeben wollte er nicht. Er musste zurück zu seiner Familie. Bei seiner Ankunft stand sein altes Haus leer. Ein Nachbar teilte ihm mit, dass sein Bruder Mechel noch am Leben sei und bald kommen würde. Mein Opa wollte ihm entgegengehen und traf ihn auf dem Weg. Er fragte seinen Bruder, wohin er gehe. Und dieser gab zur Antwort, dass er sich beeilen müsse, Schihe sei nach Hause gekommen. Der eigene Bruder Mechel, der Einzige aus der Familie, der überlebt hatte, konnte ihn nicht erkennen. So sehr war mein Opa von den Qualen in den Konzentrationslagern verändert worden.

Mein Opa wohnte auch später noch im selben Haus und gründete dort seine Familie. Er baute für die Familie ein zweites, größeres Haus auf dem Grundstück, wo sie bis zur Auswanderung blieben.

(Aus: »Amul is gewejn – Die dritte Generation«, 2015)

Als ich das Magazin vorgestellt habe in meinem Kunstkurs, haben viele gesagt: »Ich hatte Gänsehaut, als du darüber geredet hast.« Andere haben sich die Geschichte nochmal durchgelesen, sind zu mir gekommen und haben kein Wort gesagt, sondern mich einfach umarmt. Sie wollten noch mehr und noch mehr erfahren. Ich habe das als meine Verpflichtung, als meine Aufgabe gesehen, davon zu berichten. Denn mein Opa wollte immer schon, dass ich etwas über ihn veröffentliche. Weil es ihm sehr, sehr wichtig war, dass jeder darüber Bescheid weiß.

Deshalb habe ich mich auch entschieden, über dieses Thema zu schreiben. Weil ich merke, wie wenig die Leute darüber wissen. Das ist mir selber in Polen aufgefallen: Wenn mir Zahlen, Fakten erzählt wurden – ja, da wurden sechs Millionen Juden umgebracht –, dann konnte ich mir darunter nichts vorstellen. Aber wenn man Zeitzeugen-Geschichten hört, ist das der Moment, in dem einem bewusst wird, wie es damals wirklich war. Was die Menschen damals gefühlt haben. Das ist dann nochmal eine ganz andere Dimension.

Rebecca de Vries

Erna de Vries

Rebecca de Vries

Geboren am 24. November 1983 in Frankfurt am Main

Koordinatorin für Flüchtlingsarbeit der Evangelischen Kirche in Berlin

Enkelin der Erna und des Josef de Vries

Erna de Vries

Geboren als Erna Korn am 21. Oktober 1923 in Kaiserslautern

6. Juli 1943 Deportation nach Auschwitz-Birkenau, Zwangsarbeit im Außenlager Hermannsee

16. September 1943 Deportation nach Ravensbrück

Ab Mitte April 1945 Todesmarsch bis Mecklenburg

Mai 1945 Befreiung durch amerikanische Truppen

Ab Herbst 1945 in Köln

Seit Februar 1947 Lathen/Emsland

Februar 2016 Zeugin im Detmolder Auschwitz-Prozess*

Josef de Vries

Geboren am 19. Dezember 1908 in Lathen/Emsland

1939 Deportation nach Neuengamme

1941 Deportation nach Sachsenhausen

1943 Deportation nach Auschwitz

Anfang 1945 Flucht

1945 Rückkehr nach Lathen/Emsland

Gestorben am 8. April 1981 in Lathen/Emsland

Liebe Omi, heute denke ich besonders an dich. Ich hoffe, du weißt, dass du uns alle sehr geprägt hast und wir nicht die gleichen Menschen wären, wenn du deine Erlebnisse nicht mit uns geteilt hättest. Ich leite mein Weltbild und meine Versuche, ein guter Mensch zu sein, sehr stark aus dem ab, was du uns vermittelt hast. Ich bin sehr stolz, deine Enkeltochter zu sein.

(Aus einem Brief von Rebecca de Vries an ihre Großmutter Erna de Vries zum 72. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz)

Die Geschichte meiner Großmutter habe ich bewusst, also mit Verständnis dafür, was es bedeutet, erst als Teenager gehört. Aber auch vorher schon hat sie uns relativ viel erzählt. Wir haben ja auch die Nummer auf ihrem Arm gesehen und danach fragt man natürlich. Es gab immer auf kindliches Verständnis abgestimmte Erklärungen, aber es wurde nichts verharmlost. Natürlich habe ich das im Kopf dann zusammengefügt – ohne es in einen konkreten historischen Kontext setzen zu können – zu einem losen und grob miteinander verbundenen Bild von Gefahr. Aus der kindlichen Perspektive ist das im Endeffekt so wie Gruselgeschichten.

Wenn meine Großmutter uns diese Geschichten erzählte, dachte sie sicherlich, dass es kindgerecht genug sei, weil sie ja selbst relativ jung war, als ihr das widerfahren ist. Dass es zum Beispiel eine Zeit gab, in der sie einen Stern tragen musste, oder dass sie dieses und jenes nicht durfte. Sie hat nicht von Auschwitz erzählt, sie hat nicht von Vernichtung und Mord erzählt, sondern eben Dinge, die harmloser waren im Vergleich. Das waren dann Anekdoten, die wieder und wieder erzählt wurden. Aber sie bemühte sich immer zu erwähnen, dass es auch anständige Menschen gab. Das ist ihr auch heute noch sehr wichtig. Wenn sie etwa erzählt, wie unangenehm es ihr war, den Stern zu tragen. Nicht etwa, weil sie Jüdin war, sondern weil das so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat und sie natürlich lieber inkognito gewesen wäre. Und dass es da einen Ladenbesuch gab, und sie was kaufen wollte, und man sie nicht respektvoll behandelt hat. Und dann, als sie rausgegangen war, hat eine alte Dame sie in den Arm genommen und gesagt: »Kindchen, tragen Sie Ihren Stern mit Stolz.« Solche Sachen hat sie uns erzählt. Sachen, von denen ich vermuten würde, dass sie selbst glaubt, dass das positive Aspekte sind.

Meinen Großvater habe ich nicht kennengelernt, er ist gestorben, bevor ich geboren wurde. Dementsprechend habe ich die Situation nicht erlebt, von der meine Mutter und ihre Geschwister sprechen: dieser ständige Dialog zwischen meinen Großeltern zu diesem Thema. Sie hatten sicher das Gefühl, sie halten das Erlebte von den Kindern fern. Weil es ja nur kleine Kommentare sind, weil es ja nur ab und zu Anekdoten sind, weil sie nicht über das Allerschlimmste sprechen, schützen sie die Kinder und die verstehen nicht, worum es geht. Und genauso, wie wenn Eltern sich streiten und denken, die Kinder bekommen das nicht mit – die Kinder bekommen alles mit –, haben meine Mutter und ihre Geschwister alles mitbekommen. Auch weil das Thema immer wieder aufgegriffen wurde mit: »Erinnerst du dich noch daran?« Oder die Bedeutung von Essen, das mit Hungern in Verbindung gebracht wurde. Die Bedeutung von Sicherheit, im Zusammenhang mit der Tatsache, in einem Dorf zu leben, in dem man natürlich wusste, wer Nazi war, wer Mitläufer war, wer anständig war. Elemente, die in einen praktischen Umgang immer wieder die Vergangenheit mit hereinbrachten. Ich denke schon, dass das eine sehr belastende Normalität war und für alle Geschwister eine schwierige Situation.

Meine Großmutter und mein Großvater waren schwer traumatisiert. Wenn man mehrere Jahre Erniedrigung, Folter, extremen Kontrollverlust, auch Todesangst erlebt, wenn man plötzlich in dem Land, in dem man sich zuhause gefühlt hat, kein vollwertiger Bürger mehr ist, wenn man entrechtet wird, wenn man merkt, wie die Menschen, die um einen herum leben, langsam zur Gefahr werden, dann ist das sehr traumatisch. Die Zeit im Lager, die Leichenberge und natürlich der Verlust von Familienmitgliedern, das ist wie eine sehr intensive Kriegserfahrung. Ich kenne im Freundeskreis viele Familien, in denen die Großeltern Partner geheiratet haben, die ähnliche Erfahrungen hatten. Es gibt bestimmte Dinge, die kann man nicht erklären, man kann darüber nicht sprechen mit jemanden, der das nicht emotional nachvollziehen kann. Und so war es auch bei meinen Großeltern, dass das ein ganz starkes, verbindendes Element war. Ihre täglichen Gespräche waren wie eine konstante Therapiesitzung. Ich glaube, der Grund, warum meine Großmutter so frei über ihre Erlebnisse sprechen kann, ist, weil sie mit einem Menschen, der das genau verstanden hat, jahrzehntelang diese Gespräche geführt hat. Und mit Freunden natürlich, die dasselbe Schicksal hatten. Im Nachbardorf lebte eine Familie, die eine ähnliche Geschichte hatte. Und es gab noch vier Familien in der Region, mit denen hat man sich oft getroffen. Alle Überlebenden hatten relativ viel Kontakt miteinander. Sie sind auch regelmäßig gemeinsam zur Synagoge nach Osnabrück gefahren, und die Kinder hatten gemeinsam Religionsunterricht.

Meine Großmutter hatte auch Freundinnen, mit denen sie den Todesmarsch überlebt hat. Die hat sie zufällig während eines Besuches bei Freunden in Israel wiedergetroffen – und das ist eine verrückte Geschichte. Meine Tante in Israel hat im Bus ein deutsches Buch gelesen. Es hat sich eine Frau neben sie gesetzt und gefragt: »Du liest auf Deutsch? Kommst du aus Deutschland?« »Ja.« »Ich auch. Wo kommst du denn her?« »Aus Norddeutschland.« »Ich auch. Wo denn in Norddeutschland?« So ging das immer hin und her, bis die Frau irgendwann total aufgelöst war und gesagt hat: »Ich komme aus Haren!« Das ist das Nachbardorf von Lathen und der Geburtsort meines Urgroßvaters. »Wer sind deine Eltern?« Und dann: »Ich kenne Josef de Vries, schreib ihm bitte sofort. Das ist mein Name, meine Adresse. Er wird sich an mich erinnern. Und wenn deine Eltern das nächste Mal nach Israel kommen, müssen sie mich besuchen.«

Und dann waren meine Großeltern in Israel und haben sie besucht. Natürlich hat mein Großvater mit ihr nur darüber geredet, was in Lathen und Haren passiert ist, wer überlebt hat und wer wie umgekommen ist. Für meine Großmutter war das nicht so interessant, aber dann hat die Gastgeberin gesagt: »Es kommen nachher noch andere Gäste, auch aus Deutschland.« Und dann kam eine Frau rein, ist auf meine Großmutter zugegangen – und sie haben realisiert, dass sie zusammen auf dem Todesmarsch waren. Über sie hat sie noch andere Frauen getroffen, die auch auf dem Todesmarsch gewesen waren.

Vor ein paar Jahren waren wir in Netanya*. Meine Großmutter kam zu Besuch, und ich habe meinen damaligen Freund mitgebracht. Und dann saßen da vier ältere Damen und haben Kuchen gegessen und ihn angeguckt und sich deutsch darüber unterhalten, ob er zu mir passt. Als er diesen Test bestanden hatte, haben sie ihn laut und fröhlich gefragt: »Weißt du, wo wir uns kennengelernt haben?« »Nein.« Und alle im Chor: »Auf dem Todesmarsch.« Das war völlig normal, darüber zu sprechen. Und es war auch ein wichtiges Gesprächsthema unter diesen Frauen, natürlich.

Als ich klein war, waren wir oft in Netanya, es gab da eine Ferienwohnung. Ich bin morgens mit meiner Großmutter losgegangen, erst Rugelach* kaufen in einer Bäckerei von einem Auschwitz-Überlebenden, dann Zeitung kaufen in einem Laden von einem Auschwitz-Überlebenden. Das war wie ein Netzwerk, und man hat sich auf Deutsch unterhalten. Dementsprechend hat man sich dann nicht mit meinem Bruder und mir hingesetzt und erzählt: »So und so war das.« Wir saßen mit am Tisch und haben den Gesprächen zugehört, es gab keine rote Linie. Und so hat sich in Puzzleteilen schon relativ viel ergeben.

Meine Großmutter ist als Einzelkind in Kaiserslautern aufgewachsen. Ihr Vater ist früh gestorben, die Mutter hat dann das Geschäft weitergeführt. Als die Situation sich zuspitzte, musste sie die Schule verlassen und in eine jüdische Sonderklasse wechseln. Später hat sie im Jüdischen Krankenhaus in Köln eine Ausbildung zur Krankenschwester angefangen. Während sie ihre Mutter in Kaiserslautern besuchte, fanden die Deportationen aus diesem Krankenhaus statt.

Irgendwann kam die Nachricht, dass auch ihre Mutter deportiert werden sollte. Sie wurde abgeholt, war noch in Saarbrücken im Gefängnis. Und meine Großmutter hat sich dazu entschieden, sie zu begleiten. Hat sich sehr beeilt, um es noch zu schaffen, rechtzeitig da zu sein, um mit ihr zu fahren. Da hat man ihr gesagt: »Du weißt aber, wo es hingeht?« Sie wusste es, man hatte es ihr mitgeteilt, weil sie sich ja quasi freiwillig hat deportieren lassen. Und sie wusste auch, was Auschwitz bedeutet, weil sie heimlich BBC gehört hat. Wenn man sich ein bisschen dafür interessiert hat, was da passiert, dann konnte man ziemlich leicht herausfinden, wohin diese Menschen aus der Nachbarschaft plötzlich alle verschwanden. Trotzdem ist sie mitgegangen, in der Hoffnung, ihre Mutter dort unterstützen zu können. Das hat sie dann versucht, aber es war nicht möglich.

Sie musste in dem Außenlager Hermannsee Schilf aus einem See sammeln und hat sich an den scharfen Kanten des Schilfs die Beine verletzt. Die Wunden entzündeten sich – Wanzen und fehlende Hygiene – so stark, dass sie selektiert wurde zur Vergasung. Weil sie nicht mehr als »arbeitsfähig« durchgegangen ist. Sie war schon im Todesblock, wo alle darauf vorbereitet wurden, den letzten Schritt zu gehen … Und dann wurde ihre Nummer aufgerufen. Mit ein paar anderen Leuten wurde sie aus der Gruppe genommen und in das Frauenlager Ravensbrück verlegt. Lange Zeit wusste sie nicht, warum. Inzwischen vermutet sie, dass es vielleicht daran gelegen hat, dass ihr Vater nicht Jude war. Und dass man die »Halbjuden« noch zur Arbeit gebrauchen konnte. Wobei man sich das trotzdem nicht erklären kann, warum eine Handvoll Leute kurz vor der Vergasung wieder rausgenommen wurde. Es gibt dafür keinen Grund, der einleuchtend ist. Bevor sie dann nach Ravensbrück verlegt wurde, konnte sie sich noch von ihrer Mutter verabschieden, die in Auschwitz vergast wurde.

In Ravensbrück hat sie für Siemens arbeiten müssen. Auf dem Todesmarsch von dort ist sie schließlich durch die Amerikaner befreit worden. Sie ist nach Hause gelaufen und hat versucht, Familienmitglieder zu finden. Es gab entfernte Verwandte in Köln, bei denen sie auch während ihrer Ausbildung im Krankenhaus gewohnt hatte. Bei denen war sie einige Zeit und hat überlegt, was sie jetzt machen soll. Und dann hat sie meinen Großvater kennengelernt.

Mein Großvater kam aus Lathen und war verheiratet gewesen und hatte einen sechsjährigen Sohn. Seine Frau, sein Sohn und seine Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Weil er schon früh von einem geschäftlichen Konkurrenten angezeigt und deswegen deportiert wurde, war er sehr lange im KZ, sechs Jahre lang. In Neuengamme und Sachsenhausen und zwei Jahre auch in Auschwitz. Dadurch kannte er natürlich viele Häftlinge, auch die, die an der Rampe gearbeitet haben, die Leute entladen haben. Er hatte darum gebeten, dass man ihm sagt, wenn irgendjemand mit seinem Familiennamen ankommt. So hat er seinen Bruder gefunden. Aber als seine Frau, sein Kind, seine Eltern gekommen sind, hat er das nicht mitbekommen.

In den letzten Wochen, als es viele Fliegerangriffe gab, wurden er und sein Bruder dazu eingeteilt, die zerstörten Schienen zu reparieren. Und bei einem dieser Angriffe ist er geflohen. Er allein, der Bruder wollte nicht, dem war das zu riskant. Dadurch, dass alle in Deckung gegangen sind, auch das Wachpersonal, wurde ihm nur hinterhergeschossen. Aber man hat ihn nicht mehr erreicht. Er ist in den Wald gerannt und hat nach ein paar Stunden ein Bauernhaus erreicht. In dem hat er sich nicht wohlgefühlt, hatte Angst, dass die ihn verpfeifen. Aber beim zweiten hat er gesehen, dass die Hilfe auf dem Hof brauchten und hat da gearbeitet und im Stall geschlafen. Das ging für ein paar Tage. Und dann war der Krieg zu Ende.

Auch er ist nach Hause gelaufen. Über Prag, wo er ein Fahrrad geklaut hat und mit dem eine Zeit lang weitergefahren ist. Meine Oma erzählt immer, dass er sich so schuldig gefühlt hat, weil er dieses Fahrrad gestohlen hat. Ein paar Monate später war er zuhause, wo schon sein Bruder auf ihn wartete und darauf, ob noch jemand von der Familie kommt. Es kam niemand.

Über gemeinsame Bekannte hat er dann zufällig meine Großmutter kennengelernt. Sie war noch in Köln und er hat sie gebeten, zu ihm zu kommen, nach Lathen. Als Großstadtmädchen war sie erstmal nicht so sonderlich begeistert von den sehr simplen Umständen im Dorf und dem fehlenden Kulturangebot. Hat sich aber dann doch dazu entschieden.

Mit zehn, zwölf Jahren habe ich angefangen, Fragen zu stellen. Weil ich diese gehörten Puzzleteile zusammenbringen wollte. Und auch, weil das ein Alter ist, in dem einem Fragen gestellt werden. Ich war auf meiner katholischen Schule die einzige Jüdin, und das bedeutete, dass im Religionsunterricht, im Geschichtsunterricht der Lehrer sich immer wahnsinnig unwohl fühlte, wenn dieses Thema kam. Und dass dann die Überlegung war, mich mit einzubeziehen, indem ich erzählen sollte, was denn in meiner Familie war. Ich habe das als sehr unangenehm empfunden, weil ich da nicht als Relikt der Geschichte sitzen wollte, sondern als Schülerin. Da wird man sehr früh festgelegt auf so eine Rolle und man merkt auch sehr früh, dass man wenig Wahl hat. Deshalb hatte ich irgendwann das Gefühl, wenn das schon so ist, dann muss ich dem auch was entgegensetzen, kann nicht sagen: »So genau weiß ich das nicht.« Es war dann wirklich einerseits durch die Erzählungen und andererseits durch Anstöße aus dem Schulunterricht, dass ich angefangen habe, mehr Fragen zu stellen.

Aber ich habe nicht meine Eltern gefragt, sondern meine Großmutter. Sie ist immer froh, wenn man fragt. Auch heute noch. Das ist auch ein großer Unterschied zwischen ihr und vielen anderen Überlebenden: dass sie keine Hemmungen hat, darüber zu sprechen. Der letzte Satz, den ihre Mutter in Auschwitz zu ihr gesagt hat, war: »Du wirst überleben und du wirst erzählen, was man mit uns gemacht hat.« Das ist sehr stark drin, dass sie denkt, es ist ihre Verpflichtung, das nicht für sich zu behalten, sondern zu mahnen und darüber zu sprechen. Dadurch, dass sie das relativ gut verarbeitet hat – so gut, wie man so eine Situation verarbeiten kann –, kann ich ihr eben auch Fragen stellen, ohne das Gefühl zu haben, sie damit zu verletzen. Oder sie damit in eine Erinnerung zurückzuwerfen, die für sie schmerzhaft ist.