Leben mit "kaputtem Akku" - Johanna Krapf - E-Book

Leben mit "kaputtem Akku" E-Book

Johanna Krapf

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Beschreibung

Menschen, die von Myalgischer Enzephalomyelitis / Chronischem Fatigue Syndrom (ME/CFS) betroffen sind, fragen sich immer wieder, warum ihr Leiden oft weder ernst genommen noch korrekt erkannt wird. Nicht nur die Symptome machen ihnen zu schaffen, sondern auch das Nichtwissen der Gesellschaft und der im Gesundheitswesen Tätigen. Hinzu kommt die fehlende finanzielle Unterstützung durch die Sozialversicherungen. Deshalb kämpfen die Betroffenen – rund 332.000 in Deutschland und der Schweiz – an mehreren Fronten. Die Autorin berichtet über das Leben von acht ME/CFS-Betroffenen und zwei Long-Covid-Patient:innen, deren Leiden viele Parallelen zu ME/CFS aufweist. Ein Interview mit betreuenden Eltern ergänzt die Porträts. Zwischenkapitel und einige Sachtexte am Ende des Buches liefern Wissenswertes rund um Diagnose, Behandlung und Umgang mit den Krankheiten sowie weitere Hintergrundinformationen.

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@ privat

Johanna Krapf, geb. 1956, studierte Anglistik und Germanistik an der Universität Zürich, ist als Autorin tätig und hat mehrere Bücher u. a. zu den Themen Gehörlosigkeit sowie Tourettesyndrom publiziert. Sie ist Mutter dreier erwachsener Kinder und lebt in Rapperswil-Jona in der Schweiz.

www.johanna-krapf.ch

Johanna Krapf

Leben mit „kaputtem Akku“

Biografien von Menschen mit Myalgischer Enzephalomyelitis / Chronischem Fatigue Syndrom und Long Covid

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

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Satz und Gestaltung: Martin Vollnhals, Neustadt a. d. Donau

Umschlagabbildung: © wundervisuals/istockphoto.com

Umschlaggestaltung: Marion Ullrich, Frankfurt a. M.

ISBN: 978-3-86321-623-8

eISBN: 978-3-86321-584-2

Alle Rechte vorbehalten

„Leben mit ‚kaputtem Akku‘“ wurde großzügig unterstützt durch

Sponsor:innen auf der Schweizer Crowdfunding-Plattform Wemakeit

Inhalt

Einleitung

Persönlicher Brief von Maria Wiedmer, Mélina Imdorfs Nichte, an Bundesrat Berset, den Schweizer Gesundheitsminister

Mélina Imdorf

Ursachen von ME/CFS

Jacqueline Keller

Diagnosekriterien/Symptome

Jacqueline Rölli

Verlauf der Krankheit

Protazy Rejmer

Behandlungsansätze (eine Information, keine Anleitung!)

Nicole Spillmann

ME/CFS in der Schweiz

Nenad Kovačić

Ausschlussdiagnostik

Interview mit Evi und Urs Rölli, Jacqueline Röllis Eltern

Tipps für den Umgang mit ME/CFS

Porträts von zwei Long-Covid-Betroffenen

Long Covid und ME/CFS

Erläuterungen und Fachbegriffe

Nachwort von Raphael Jeker

Bibliografie

Einleitung

„Entschuldige, wie heißt die Krankheit schon wieder, an der die Menschen leiden, die du in deinem Buch porträtierst?“ So wurde und werde ich immer wieder gefragt, wenn ich jemandem von meinem Projekt mit ME/CFS-Betroffenen erzähle.

„Sie heißt ME/CFS.“

„Ämme1 was?“

„M – E Schrägstrich C – F – S. Die Buchstaben stehen für Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue Syndrom. Das ist eine seit Jahrzehnten von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) anerkannte neuroimmunologische Multisystemerkrankung.“

„ME/CFS – noch nie gehört. Eine seltene Krankheit also?“

„Eben nicht. Allein in der Schweiz leiden rund 30.000 Menschen daran, in Deutschland etwa 250.000. Man geht von einer Prävalenz (Rate der Erkrankten) von 0,2 bis 0,4 Prozent aus.“

„Das kann doch nicht sein – so viele Leute? Warum kenne ich denn niemanden?“

„Vielleicht hängt das damit zusammen, dass viele von ihnen, wenn sie erkranken, einfach von der Bildfläche verschwinden. Rund 25 Prozent sind nämlich ans Haus gebunden, auf einen Rollstuhl angewiesen oder gar bettlägerig.“

Meist muss ich nun weiter ausholen, angefangen mit dem schwierigen Namen der Krankheit über ihre Definition bis hin zu der langen Liste von Symptomen. Nicht selten verheddere ich mich dabei in der Fülle von Zahlen und medizinischen Fachausdrücken, der wenigen Fakten und der vielen Hypothesen.

Auch ME/CFS-Betroffene selbst müssen immer und immer wieder Rede und Antwort stehen. Während ich jedoch gern über mein neues Projekt berichte, da mich das Interesse meiner Bekannten freut, fühlen sich die Betroffenen durch die Fragen genötigt, sich zu rechtfertigen und glaubhaft zu versichern, dass sie nicht simulieren, sondern schwerwiegend krank sind, dass sie zum Beispiel Schmerzen und ein vernebeltes Hirn haben, jede körperliche und geistige Anstrengung mit einer Zustandsverschlechterung bezahlen und ständig erschöpft sind, als wäre ihr Akku kaputt.

„Leben mit ‚kaputtem Akku‘“ möge dazu beitragen, dass das Wissen über ME/CFS verbreitet wird. Das Buch möge die Gesellschaft für die höchst belastende Situation der Betroffenen sensibilisieren und diese in ihrem Kampf um die Anerkennung von ME/CFS als eine körperliche Multisystemkrankheit unterstützen.

Doch warum ist denn diese Tatsache, dass es sich bei ME/CFS um eine körperliche Krankheit handelt, überhaupt so zentral? Ist ein psychisches Leiden nicht genauso ernst zu nehmen wie ein körperliches? Natürlich ist es das; jedes Leiden, sei es psychisch oder körperlich, ist individuell und kann nicht gemessen werden. Es geht ja auch gar nicht um ein Abwägen. Zudem bilden Körper und Seele eine Einheit und beeinflussen sich gegenseitig. Aber wenn die körperlichen Symptome der ME/CFS-Betroffenen als Depression, chronische Erschöpfung, Burnout oder posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert und sie als psychisch Kranke gesehen werden, dann werden sie nicht an die richtigen Spezialist:innen weiterverwiesen, und ihre Behandlung – mit einer Psychotherapie etwa und/oder mit Psychopharmaka – wird erfolglos oder gar kontraproduktiv sein.

„Leben mit ‚kaputtem Akku‘“ soll aber auch einen Einblick geben in die schwierigen Lebensumstände der ME/CFS-Betroffenen: Wie hat sich Nenad Kovačić gefühlt, als ihn die Krankheit dazu zwang, die mit viel Herzblut aufgebaute, florierende Designagentur zu verkaufen? Was geht in Jacqueline Rölli vor, wenn sie in einem abgedunkelten Zimmer auf ihrem Bett liegt – mit Sonnenbrille und Ohrstöpseln, um Licht und Geräusche abzublocken, und kaum fähig, den Löffel zum Mund zu führen, geschweige denn, ohne Hilfe zur Toilette zu gehen? Was macht es mit Mélina Imdorf, wenn alle möglichen Spezialist:innen sie für gesund erklären, obwohl sie schwer krank ist?

Bevor ich die konkrete Arbeit an meinem Buchprojekt aufnahm – ein Konzept entwickeln, ME/CFS-Betroffene suchen, die sich porträtieren lassen wollen, einen Finanzierungsplan aufstellen, ein erstes Interview führen und verfassen und so weiter –, besuchte ich Mélina in Mühlethurnen, einem Dorf in der Nähe von Bern. Denn sie war es gewesen, die mich auf diese rätselhafte Krankheit aufmerksam gemacht und den Wunsch geäußert hatte, ich möge ein Buch darüber schreiben, um die Gesellschaft aufzuklären und Verständnis für die Betroffenen zu wecken. Dieser Besuch in Mélinas Zuhause sollte meine Sicht auf die Krankheit verändern:

In der lichtdurchfluteten Wohnküche mit Ausblick in die Berge am Horizont, auf die saftigen Wiesen mit den friedlich grasenden Pferden, darüber die ruhig ihre Runden drehenden Milane, ist mir sofort wohl. Wir sitzen am Esstisch und plaudern angeregt: über Mélinas Ausbildung zur Rhythmiklehrerin, über ihre Liebe zu den Pferden, über ihre Leidenschaft zu tanzen, von der sie nur noch träumen kann, über ihre Odyssee quer durch den Dschungel der Schweizer Medizinlandschaft, über ihr jetziges Leben. Mélina vergleicht es mit einem Leiterspiel: Sie würfelt täglich und weiß nie, ob sie nach dem Würfeln auf einem Feld mit einer vorwärts führenden Leiter oder auf einer rückwärts gewandten Rutschbahn landet, ob ein guter Tag auf sie wartet oder einer voller Schmerzen und bleierner Müdigkeit.

Mélinas Augen glänzen, während sie erzählt, und ich frage mich, warum. Sehe ich ihr inneres Flämmchen, von dem sie sagt, sie müsse es sorgsam hüten und nähren, damit sie den Alltag bestehe und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht verliere? Sind es meine Anteilnahme, mein Interesse, mein Da-Sein, die Mélina guttun und das Lichtlein angezündet haben? Ist es die Trauer über das verpasste Leben, das ihre Augen feucht werden lässt? Oder ist es vielleicht gar die Krankheit, die einen fiebrigen Glanz erzeugt?

Immer wieder muss ich mir in Erinnerung rufen, dass Mélina krank ist, denn bis auf dieses leise Leuchten in ihren Augen, bis auf ihre zarte, fast durchsichtige Erscheinung kann ich es ihr nicht ansehen. Sie wirkt recht vital, kann durchaus energisch auftreten und hat keinerlei sichtbare Behinderung. Sie kann gehen, kann alle Glieder bewegen und sieht und hört bestens, ja, vielleicht sogar zu gut, denn manchmal macht ihr eine Überempfindlichkeit auf Lichtreize und Geräusche zu schaffen.

Doch das ist ja gerade ein zentrales Problem der ME/CFS-Betroffenen – zusätzlich zu der Krankheit selbst natürlich –, dass man ihnen diese nicht ansehen kann. Dass man ihnen nicht glaubt. Dass man sie auffordert, sich zusammenzureißen. Dass die allermeisten Hausärztinnen und -ärzte noch nie von der Krankheit gehört haben. Dass sich, auch wenn nach Jahren endlich die Diagnose ME/CFS gestellt wird, kaum Fachpersonen finden lassen, die sich mit der Krankheit auskennen, und dass es noch keine angemessene Behandlung gibt, sondern nur die einzelnen Symptome gelindert werden können – von einer Heilung ganz zu schweigen.

Ich sitze also Mélina gegenüber und versuche nachzuvollziehen, was sie durchmacht. Und ich muss zugeben: Ich schaffe es nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, was es heißt, höchstens ein paar Hundert Meter gehen zu können, ohne vor Anstrengung erschöpft zu sein; was es heißt, jeden noch so kurzen Spaziergang mit einer Verschlimmerung der Beschwerden und Schmerzen bitter bezahlen zu müssen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sich anfühlen mag, wenn meine Armmuskeln so rasch ermüden würden, dass ich mein Haar nicht selbst föhnen könnte, wenn ich beim Falten der Wäsche nach weniger als zehn Kleidungsstücken eine Ruhepause einlegen müsste, wenn mein Kopf nach drei Minuten vor dem Computer zu explodieren drohte.

Natürlich, ich sehe das als Tagesbett eingerichtete Sofa in der Wohnküche, ich nehme wahr, wie Mélina immer wieder gähnt, obwohl sie gerade erst von einem längeren Mittagschlaf aufgestanden ist, und wie müde sie das Plaudern macht. Aber ihre ständigen Kopfschmerzen und die schlimmen Verhärtungen der Nackenmuskulatur nachzuempfinden, die nur nach der einmal pro Woche erfolgenden Physiotherapie für kurze Zeit nachlassen, das fällt mir nicht leicht.

Dass mich jedoch dieselben Vorurteile prägen, die Mélina und alle an einer unsichtbaren Krankheit leidenden Menschen verletzen, diesen Vorwurf hätte ich vehement abgestritten – bis sie mir zwei Wochen nach diesem ersten Besuch klar und deutlich vor Augen geführt wurden. Ich traf mich zu einem Plauderstündchen mit einer Bekannten. Sie fragte mich nach meinem neuen Buchprojekt, und ich erkundigte mich nach ihren gesundheitlichen Problemen, mit denen sie kämpft, seit ich sie kenne: Mal war es eine Grippe gewesen, mal eine Erkältung, mal eine Lungenembolie, mal ein rätselhafter Fieberschub, diesmal nun geschwollene Lymphdrüsen und immer auch eine tief sitzende Müdigkeit. Natürlich nahm ich einmal mehr Anteil an ihren Problemen und wünschte ihr, wie schon so oft, gute Besserung, viel Kraft und neue Energie. Was mich allerdings erneut befremdete: Warum saß sie immer zu Hause rum, anstatt die wunderschöne Gegend, in die sie eben umgezogen war, zu erkunden? Insgeheim dachte ich: Wenn du hinaus in die Natur gingest, würde das deiner Gesundheit bestimmt zuträglich sein. Der Anblick der Berge, der Duft der Wiesen und das Plätschern der Bächlein – sie würden dich erfreuen. Jeden Tag ein kurzer Rundgang an der frischen Luft, am Wochenende ein Spaziergang und hin und wieder vielleicht sogar eine bescheidene Wanderung oder eine Fahrradtour, das müsste doch wohl drin liegen. Dann könntest du besser schlafen und würdest weniger häufig krank. So dachte ich, aber natürlich verkniff ich mir jegliche Bemerkung.

An diesem Abend nun, als sich meine Bekannte über ihren Irrweg durch das Gesundheitswesen, über inkompetente Ärzte und Ärztinnen und die ständig wechselnden Diagnosen beklagte, fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen: Wie ähnlich war doch ihre Leidensgeschichte derjenigen der ME/CFS-Betroffenen! (Übrigens würde später von ärztlicher Seite her der Verdacht geäußert werden, dass es sich bei ihr um ein Long-Covid-Syndrom handeln könnte.) Ich fühlte mich ertappt wegen meiner geheimen Gedanken: Entsprachen diese nicht ganz genau den Vorurteilen, mit denen ME/CFS-Betroffene ein ums andere Mal konfrontiert sind und die ich mit meinem Buch abbauen möchte?

Vorurteile sind sehr heimtückisch: Sie sitzen oft so tief, dass man sich ihrer nicht bewusst ist und sie folglich auch nicht angehen kann. Vielleicht lassen sich ja die Leser:innen von „Leben mit ‚kaputtem Akku‘“ dazu bewegen, in sich hineinzuhorchen und den eigenen Vorurteilen nachzuspüren? Es sind zwei getrennte Lebenswelten: diejenige der in der Gesellschaft (mehr oder weniger) funktionierenden Menschen und diejenige der chronisch Kranken, die aus dem Alltag und aus der Zeit gefallen sind, die von der Gesellschaft nicht ernst genommen, ja, die oft überhaupt nicht mehr wahrgenommen werden. Es ist allerhöchste Zeit, dass ME/CFS-Betroffene nicht mehr als Hypochonder abgestempelt werden, dass sie nicht jahrelang am finanziellen Abgrund balancieren müssen, da in der Schweiz ihr Anspruch auf eine Invalidenrente (IV) nicht anerkannt wird. Und es ist wichtig, dass Geld für die Erforschung der Krankheit, für die Suche nach Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten sowie nach einem wissenschaftlich gesicherten Biomarker bereitgestellt wird.

In „Leben mit ‚kaputtem Akku‘“ finden sich sechs Porträts von jüngeren und älteren ME/CFS-Betroffenen, deren Erkrankung ganz unterschiedliche Verläufe und Schweregrade aufweist. Vier Frauen stehen zwei Männern gegenüber, da Erstere mindestens doppelt so häufig an ME/CFS erkranken wie Letztere. Ein Interview mit einem betreuenden Elternpaar bietet eine Außenperspektive und macht bewusst, dass viele ME/CFS-Patient:innen auf den Beistand ihrer nächsten Angehörigen angewiesen sind, da das Sozialwesen, zumindest was ihre spezielle Situation betrifft, schmählich versagt. Zahlreiche Sachtexte runden das Bild ab. Zusätzlich habe ich zwei an Long Covid leidende Personen interviewt, um auf die Gemeinsamkeiten der beiden Syndrome hinzuweisen. Ob es sich bei Long Covid um einen Subtyp von ME/CFS handelt, wird zurzeit rege erforscht, so etwa in Deutschland, Großbritannien und in den USA.

Mein tiefster Dank gilt den porträtierten Personen für ihr Vertrauen und ihre Bereitschaft, mir Einblick in ihr Leben mit der Krankheit zu geben, insbesondere aber Mélina Imdorf, die das Projekt angeregt und mich während des ganzen Prozesses der Erarbeitung begleitet hat.

Mein Dank geht auch an den Verein ME/CFS Schweiz, der mir von Anfang an finanziell und beratend zur Seite stand.

Ebenso möchte ich mich bei Dr. Raphael Jeker bedanken, der die Sachtexte gegengelesen und ein Nachwort verfasst hat.

Eine Liste der Sponsor:innen findet sich auf Seite 5. Sie haben an das Projekt geglaubt und es mit ihren Beiträgen ermöglicht. Vielen Dank!

Ein herzliches Dankeschön richtet sich auch an die Lektorin Ute Maack und, last but not least, an den Mabuse-Verlag für die wunderbare Zusammenarbeit.

Johanna Krapf, September 2021

1 Das aus den Anfangsbuchstaben ME/CFS zusammengesetzte Kurzwort (Akronym) wird als „Ämmezeäffäss“ ausgesprochen.

Persönlicher Brief von Maria Wiedmer, Mélina Imdorfs Nichte, an Bundesrat Berset, den Schweizer Gesundheitsminister:2

Und Bundesrat Alain Berset hat ihr folgendermaßen geantwortet (persönliche Kommunikation):

2 „Lieber Alain berset,

Meine Tante hat ME/CFS Ich wollte dich fragen Ob du etwas dagegen machen kanst. Oder der IV sagen das meine tante Mehr geld braucht Sie kann Ja auch nicht mehr richtig arbeiten. Und muss oft sehr lange zeit nur im bett liegen. Und dann noch zu etwa 100 verschiedenen Ärtzten gehen.

Liebe grüsse Von Maria“

(Da Maria keine Kopie des Originals behalten hat, hat sie den Brief im Nachhinein aus ihrem Gedächtnis nochmals aufgeschrieben.)

Mélina Imdorf

Leiterlispiel

Ich kann nichts mehr essen. Messer bohren sich in meinen Kopf. Bitte, hört auf zu klappern mit Besteck und Geschirr. Seid still. Warum schreit ihr denn so? Jeder Laut ein Messer. Meine Augen brennen. Ich will weg.

Endlich Ruhe. Ich bin vom gemeinsamen Essen mit meiner Familie und Johanna, die extra hierher nach Mühlethurnen gekommen ist, damit ich ihr meine Geschichte erzählen kann, zurück in meine Wohnung geflüchtet. Jetzt liege ich auf dem Bett, im abgedunkelten Zimmer. Mein Kopf schreit, ansonsten ist es still. Ich bin allein, fühle mich getrennt von der Welt. Ich döse ein.

Die anderen habe ich einfach am Esstisch in meinem Elternhaus zurückgelassen. Tut mir leid, aber es musste sein. Mein Körper machte nicht mehr mit. Früher war das anders, früher, als ich noch tanzen konnte, da fühlte ich mich so wohl in meinem Körper, da konnte ich alles mit ihm ausdrücken: Rhythmus, Leidenschaft, Lebensfreude.

Jetzt lässt er mich schon nach der geringsten Anstrengung im Stich und reagiert jedes Mal mit einer tiefen Erschöpfung und heftigen Schmerzen: Gestern fuhr ich rasch zum Stall, um meinem Pferd Sämi – eigentlich gehört er den Eltern – nahe zu sein. Nicht um ihn zu reiten, ach was, das kann ich doch schon lange nicht mehr. Nicht einmal, um ihn zu striegeln, nur um ihn zu sehen und zu spüren. Und heute bezahle ich nun den Preis dafür: schwere Muskeln und Kopfweh. Deshalb kann ich das Interview nicht zu Ende führen, und Johanna wird nochmals anreisen müssen. Deshalb? Nein, stimmt nicht, ich hätte mich ohnehin nicht mehr konzentrieren können. Wir haben wahnsinnig lange gearbeitet. Zwei Stunden. Länger. Zweieinviertel Stunden! Kunststück, dass mein Gehirn glüht. Dass meine Augen aus dem Kopf quellen.

Mein Vater meinte, wir könnten das Interview am Computer beenden. Am Computer! Wie soll das denn gehen, wenn sich der Bildschirm schon nach fünf Minuten zu bewegen beginnt, das Bild auseinanderbricht und sich die Splitter in meine Augen bohren?

Beschreibung im Arztbericht: chronische Kopfschmerzen vom Spannungstyp, Migräne, lang andauernder Erschöpfungszustand, kein Anhaltspunkt für eine spezifische körperliche Ursache.

Eigentlich könnte die Diagnose schon seit acht Jahren feststehen: Ich leide an ME/CFS, das heißt, an einer organischen Krankheit. Doch diese Tatsache wird von den meisten Ärztinnen und Ärzten in der Schweiz, die mich untersucht haben, einfach ignoriert beziehungsweise sie (aner-)kennen die Krankheit nicht und sehen hinter all den körperlichen Symptomen ausschließlich die Psyche. Klar spielt diese hinein. Das will ich gar nicht abstreiten. Körper und Psyche sind nicht voneinander zu trennen. Warum habe gerade ich eine solch heftige – eine solch heftige körperliche – Krankheit bekommen? Diese Frage beschäftigt mich sehr. Dennoch muss zwischen der Rolle der Psyche und der organischen Krankheit, die mich seit Jahren fest im Griff hat, unterschieden werden. Letztere ist kein psychiatrisches Problem, sondern ein neuroimmunologisches Syndrom, und entsprechend können die Symptome – migräneartige Kopfschmerzen, schwere Erschöpfung, verhärtete Muskeln, eine Schlafstörung, Halsweh und anderes – nicht mithilfe einer Psychotherapie angegangen werden, sondern ihre Behandlung muss auf einer medizinischen Analyse basieren.

Die Frage nach der Rolle der Psyche, so interessant sie auch sein mag, lenkt die Aufmerksamkeit weg von den körperlichen Symptomen und deren Behandlung, aber auch von möglichen körperlichen Ursachen – Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus oder mit Borrelien etwa –, und hin zu der psychischen Disposition.

Gleichwohl frage ich mich immer wieder, welchen „Nutzen“ ich aus der Krankheit ziehe, und schlage damit einen Bogen von ihr zu meiner Kindheit, denn die Krankheit hat dazu geführt, dass ich jetzt, im Gegensatz zu damals, sehr viel Aufmerksamkeit erhalte! Dank ihr werde ich wahrgenommen, und das tut mir gut, in meiner Kindheit hingegen stand ich meist im Hintergrund. Ich wurde im September 1981 als klassisches Sandwichkind geboren. Meine beiden Brüder nahmen in der Familie sehr viel Platz ein. Da war der knapp zwei Jahre ältere Dominic, der schon als kleiner Bub jede Entscheidung hinterfragte und ständig gegen den Strom schwamm – Hauptsache anders als alle anderen –, was immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen und später zu endlosen Diskussionen führte. Mühsam war das, echt mühsam. Und dann der drei Jahre jüngere Daniel, der bei seiner Geburt fast gestorben wäre und danach noch lange Zeit kränkelte. Mit diesem schwierigen Start ins Leben hingen vermutlich auch seine ausgeprägte Ängstlichkeit und die Jahre andauernde Durchschlafstörung zusammen. Jedenfalls verlangten die beiden Buben meinen Eltern alles ab, und vor allem meine Mutter, die am Tourettesyndrom leidet, war oft am Ende ihrer Kräfte. Also fiel mir die Rolle des ruhigen, angepassten und schüchternen Kindes zu – was allerdings nicht heißt, dass ich nicht sehr genau wusste, was ich wollte, und dass ich meine Wünsche nicht durchgesetzt hätte. Klavierunterricht zum Beispiel und Reitstunden; darauf bestand ich als Neunjährige so lange, bis meine Eltern einwilligten. Und mit diesen beiden Hobbys glich ich aus, was mir an Aufmerksamkeit fehlte: Bei den Pferden holte ich mir Nähe und Wärme, indem ich eine Bindung zu ihnen aufbaute, und das Klavierspiel diente mir als Oase, in die ich mich flüchten konnte, wenn ich Abstand vom Alltag brauchte. Täglich übte ich bis zu zwei Stunden, freiwillig wohlverstanden, und vergaß alles um mich herum. So traten auch Probleme, zum Beispiel schulische, ganz automatisch in den Hintergrund und fühlten sich nach dem Üben nicht mehr so quälend an.

Ich spürte aber nicht nur sehr genau, was mir selbst guttat, sondern ich nahm auch die Bedürfnisse der anderen wahr, in erster Linie die meiner Mutter. Ich hatte immer irgendwie das Gefühl, ich müsse dafür sorgen, dass es ihr gut gehe, ich müsse sie schützen. Denn ich sah, mit wie viel Liebe sie sich um alles kümmerte, wie sie ihr Bestes gab, dass sie manchmal überfordert war, obwohl sie sich ganz uns Kindern und dem Haushalt widmen konnte. Sie ging nämlich erst wieder auswärts arbeiten, und das nur tageweise, als ich in die Pubertät kam. Mein Vater hingegen, der einen Vollzeitjob hatte, war viel weniger präsent.

Es mag jetzt den Anschein machen, als wäre meine Kindheit schwierig gewesen. Das will ich damit jedoch nicht sagen. Sie waren schön, meine Jahre hier in Mühlethurnen: Ich durfte ganz Kind sein, durfte nach Herzenslust spielen, drinnen und draußen, frei und unbeschwert, und es störte meine Mutter überhaupt nicht, wenn ich jeden Abend vor Dreck starrte. Sie freute sich über die kreativen Ideen der Kinder und mischte sich nicht in unser Spiel ein, aber sie war da, wenn sie gebraucht wurde. Doch ich beanspruchte ihre Zeit und Aufmerksamkeit selten, da ich ein braves Kind war.

In der Schule hielt ich mich ebenfalls im Hintergrund. Ich war im Klassenverband integriert, stand aber nie im Mittelpunkt des Geschehens. Auch wird mir, wenn ich mein bisheriges Leben überblicke, klar: Ich habe meistens nur eine Freundin gehabt und in der Regel nicht sehr lange dieselbe, denn ich bin wiederholt im Stich gelassen worden. Aber allein bin ich selten gewesen. Jedenfalls wenn ich von der Gegenwart absehe …!

Zurück zur Schule: Da ich, schüchtern wie ich war, weder dort noch zu Hause je um Unterstützung bat, erfüllten meine Leistungen, als es um einen allfälligen Übertritt in die Sekundarschule3 ging, die Anforderungen nicht. Vermutlich war ich aber auch einfach noch nicht reif genug. Also blieb ich in der Volksschule bis zum Ende der obligatorischen neunjährigen Schulzeit, was den Vorteil hatte, dass ich nie unter Druck geriet und im Großen und Ganzen gern zur Schule ging. Meine Eltern ließen mich gewähren und vertrauten darauf, dass ich meinen eigenen Weg finden würde. Und damit hatten sie recht, denn im Anschluss an die Volksschule durfte ich ein zehntes Schuljahr in Bern besuchen und holte dort den verpassten Sekundarschulabschluss nach.

Heute weiß ich, dass ich viel besser lernen kann, wenn ich den Lehrstoff mit Musik verbinde, wenn ich zum Beispiel ein Gedicht, das ich auswendig lernen muss, mit einer Melodie unterlege. Musik beziehungsweise Rhythmik war denn auch der Schlüssel zu meiner Zukunft. Nicht dass mir das nach dem Ende der Schulzeit bewusst gewesen wäre, sondern der Zufall oder das Schicksal wollte es, dass mir in der Berufsberatung beim Durchblättern eines Ordners mit allen möglichen Berufsbildern der Titel „Rhythmiklehrperson“ ins Auge stach. Das war es, was ich werden wollte: Der Beruf hatte mit Kindern zu tun, das war die Hauptsache, und Rhythmik tönte gut. Was genau er beinhaltete, fragte ich mich nicht. Ich absolvierte also das vorgeschriebene einjährige Praktikum – als Kleinkindererzieherin in einer Kinderkrippe – und nahm anschließend die vier Jahre dauernde Ausbildung an der Fachhochschule für Musik und Theater in Biel in Angriff. Dort kamen endlich meine Stärken zum Zuge: Bewegung und natürlich die Musik respektive das Klavierspiel. Die Bewegung war für mich seit der Pubertät immer wichtiger geworden, sodass ich fast jeden Abend in den Thuner Discos tanzen gegangen war und mich nächtelang auf Technopartys ausgetobt hatte, während sich meine Eltern zu Hause Sorgen machten. Und die Musik war seit meinen ersten Klavierstunden eine Konstante in meinem Leben gewesen.

Ich genoss das Studium in vollen Zügen. Die rhythmisch-musikalische Erziehung ist eine ganzheitliche Pädagogik und richtet sich in erster Linie, aber nicht nur, an Kinder. Durch den spielerischen Einsatz von Musik, Sprache und Bewegung – durch das ganzheitliche Erleben und fantasievolle Gestalten von Versen, Reimen, Liedern, Bewegungsspielen und Tänzen – wird das Kind in seiner natürlichen Musikalität, in seinem Bewegungsvermögen, in seiner Sprach- und Persönlichkeitsentwicklung gefördert, und seine Sinne, vor allem Auge, Ohr und Tastsinn, sowie die Körper-, Zeitund Raumwahrnehmung werden verfeinert. (Der therapeutische Aspekt der Rhythmik wurde in meiner Ausbildung nur am Rande tangiert.)

Doch nach dem Abschluss der Ausbildung im Jahr 2003 fand ich keine Stelle, denn im Kanton Bern wurde damals das Fach Musikgrundschule/Rhythmik an den Schulen noch kaum angeboten. Also arbeitete ich erst einmal als Springerin in einem Kinderhaus, was mir zwar nicht schlecht gefiel, aber eigentlich nicht meinem Berufsziel entsprach. Nach zwei Jahren schließlich war ich bereit, um dessentwillen „auszuwandern“, und übernahm in Zürich eine sechsmonatige Stellvertretung als Rhythmiklehrerin. Sie sollte sich als Sprungbrett für meine berufliche Zukunft erweisen, denn danach erhielt ich meine ersten festen Stunden, allerdings nicht alle an einer einzigen Schule, da die wenigsten Gemeinden eine Vollzeit arbeitende Lehrperson in Rhythmik brauchen. Das heißt, ich arbeitete mit größeren und kleineren Pensen in verschiedenen Gemeinden, in verschiedenen Kantonen gar, und war somit ständig auf dem Sprung von Schulhaus zu Schulhaus. In keinem Team war ich richtig integriert, ich musste mit vielen Klassenlehrpersonen zusammenarbeiten und unterrichtete unzählige Kinder. Das war, wen wundert’s, eine Herausforderung. Doch ich liebte meine Aufgabe: Sie gab mir die Möglichkeit, mich ganz auf die Kinder einzulassen und meine Kreativität auszuleben. Ja, ich hatte meine Berufung gefunden!

Sechs Jahre arbeitete ich als Rhythmiklehrerin, bevor mich die Gesundheit im Stich ließ, sechs zwar recht strenge, doch sehr gute Jahre. Deshalb möchte ich betonen, dass die späteren gesundheitlichen Probleme nichts mit dem Arbeitsdruck zu tun hatten. Es ging mir prima in dieser Zeit – ich wohnte in Gunzgen im Kanton Solothurn –, und auch mein Hobby, das Tanzen, kam trotz der beruflichen Herausforderung nicht zu kurz. Dank einer Kollegin, die mich zu einer Tanzshow mitgenommen hatte, entdeckte ich die Faszination des Paartanzes und besuchte nun Kurse, um die verschiedenen Tänze kennen- und beherrschen zu lernen. Ich stand also mit beiden Beinen im Leben, hatte einen tollen Job und ein neues Hobby, den Paartanz, als ganz plötzlich alles anders kam: Ich wurde telefonisch zu der Besprechung eines Papillomavirus-Tests (er dient der Prävention von Gebärmutterhalskrebs) aufgeboten, dem ich mich routinemäßig unterzogen hatte und der positiv ausgefallen war. Resultat der Besprechung: Ich musste eine Biopsie machen lassen.

Die Biopsie, wegen einer Zellveränderung durch Papillomaviren: höllisch, ohne Betäubung, höllisch, am Gebärmutterhals, höllische, traumatisierende Schmerzen!

Bei dieser Biopsie schnitt der Arzt Zellgewebe heraus – drei einfränklergroße Hautstücke waren es! –, ohne eine lokale Betäubung vorgenommen zu haben, sodass mein Geist zeitweise meinen Körper verließ, damit ich die höllischen Schmerzen nicht mehr wahrnehmen musste. Danach war ich nicht mehr dieselbe Person wie vorher. Ich verließ die Praxis und torkelte wie in Trance zum Bahnhof, fuhr zu meinen Eltern nach Mühlethurnen, setzte mich dort ins Auto und kehrte in meine Wohnung zurück. Es grenzt an ein Wunder, dass ich keinen Unfall baute. Ich kann mich jedenfalls an nichts mehr erinnern. Am folgenden Tag ging ich arbeiten, als wäre nichts gewesen. Oberstes Ziel: das Erlebnis ausblenden, die Erinnerung aus meinem Kopf kriegen, nur ja nicht darüber nachdenken. Auch die nachfolgende kleine Operation, bei der die entarteten Zellen weggelasert wurden, ließ ich anstandslos über mich ergehen, und zwar unter Vollnarkose, da ich auf keinen Fall irgendetwas davon mitbekommen wollte. Alles war mir egal, solange nur die Bilder der Höllenqual nicht in mir aufstiegen. Diese Entscheidung für eine Vollnarkose war allerdings vermutlich ein verheerender, folgenschwerer Fehler, denn die Narkose könnte einer der Auslöser meiner ME/CFS-Erkrankung gewesen sein.

Nach der Operation erholte ich mich nie mehr vollständig. Am Anfang dachte ich, das müsse wohl damit zusammenhängen, dass ich zu früh zur Arbeit zurückgekehrt war, weil meine Vorgesetzte mich unter Druck gesetzt hatte. Sie hatte behauptet, es sei an mir, eine Stellvertretung für die 14 Tage Krankenurlaub zu organisieren (was natürlich nicht stimmte). Als ich auf die Schnelle niemanden fand, der oder die für mich einspringen konnte, und da die Chefin nicht gewillt war, die Stunden ausfallen zu lassen, unterrichtete ich sie eben selbst. Keine gute Idee! Gar keine gute Idee, denn von da an fühlte ich mich ständig müde, und auch der Schlaf brachte mir nicht die gewünschte Erholung. Doch vorläufig machte ich mir deswegen noch keine Sorgen: Das sei die Frühlingsmüdigkeit, trösteten mich meine Bekannten, und außerdem standen die Sommerferien vor der Tür, danach würde bestimmt alles wieder beim Alten sein. Voller Elan und sogar mit einem größeren Pensum als vorher startete ich ins neue Schuljahr. Die Müdigkeit ließ jedoch nicht mehr von mir ab, ich litt ständig unter Kopfschmerzen, und eine eigenartige, sehr schmerzhafte Verhärtung der ganzen Nacken- und Rückenmuskulatur, die von einer Sekunde auf die andere meinen Rücken in eine Schiefhaltung brachte, überfiel mich nun immer öfter. Schließlich, nach einem besonders schweren Anfall, suchte ich die Notfallstation auf, wo ich aber nur mit ein paar Tipps – ich solle mich in der Badewanne entspannen und Salbe einreiben – abgespeist wurde. Danach ging ich zum Hausarzt, der ebenfalls sehr bald mit seinem Latein am Ende war und mich weiterverwies ans Spital Olten. Der dortige Neurologe machte diverse Tests, doch herauskam – nichts! Es sei alles in Ordnung mit mir.

Symptome: starke Müdigkeit, täglich heftige Kopfschmerzen, hin und wieder für kurze Zeit Muskelschmerzen in unterschiedlichen Körperteilen.

Immer häufiger hatte ich nun Probleme mit der Konzentration. Da stand ich dann mit vernebeltem Kopf vor den Kindern, konnte meine Stundenpräparation nicht abrufen, und ihre Fragen drangen nicht zu mir durch – und trotzdem sollte mit mir alles in Ordnung sein? Verzweifelt suchte ich wieder den Hausarzt auf. Dieser schrieb mich für zwei Wochen krank. Aber als es mir nachher immer noch nicht besser ging, war ich bei ihm nicht mehr willkommen. Also wandte ich mich, weil ich unbedingt ein Arztzeugnis brauchte, wieder an den Neurologen im Spital Olten, doch da war ich an der falschen Adresse. Er könne mich nicht krankschreiben, ich sei ja gesund, ich solle zum Hausarzt gehen: Hausarzt – Neurologe – Hausarzt, eine Endlosschleife, die damals ihren Anfang nahm und mich bis heute von Abklärung zu Abklärung, von Arzt zu Ärztin führt. Ich wusste nicht mehr weiter. Keiner wollte mir helfen, obwohl ich zwingend darauf angewiesen war, mal für einen Tag, mal für eine Woche, mal für drei Tage bei der Arbeit aussetzen zu können, denn ich war der beruflichen Herausforderung je länger je weniger gewachsen. Schlussendlich raffte ich mich auf und suchte mir eine neue Hausärztin. Und siehe da, ich hatte Glück und fand eine Frau, bei der ich mich sehr gut aufgehoben fühlte, die mich ernst nahm und mir ein Arztzeugnis ausstellte, wenn es nicht anders ging. Doch das schlechte Gewissen wegen meiner häufigen Ausfälle quälte mich, sodass ich zuerst diejenigen Stunden, die ich nach den Sommerferien neu übernommen hatte, kündigte, und dann, ein halbes Jahr später, auch eines der beiden anderen Pensen. Versicherungstechnisch war das natürlich alles andere als weise, aber ich sah keinen anderen Ausweg, und der Case Manager, der es eigentlich hätte besser wissen müssen, versagte völlig. Unterdessen erklärte mich meine neue Hausärztin zu 100 Prozent arbeitsunfähig. Dennoch knickte ich schließlich unter dem Druck der Schulleitung ein und kündigte auch noch das letzte Pensum. Über eineinhalb Jahre konnte ich nun überhaupt nicht mehr arbeiten.