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Rund 1,4 Millionen Menschen in der Bundesrepublik sind aktuell von Demenz betroffen, und 51 Prozent der Deutschen fürchten, an einer Demenz zu erkranken. Es ist nicht zu übersehen: Demenz ist Teil des Gesundheitsmarktes. Entsprechend „tummeln“ sich diverse Therapien, Angebote und Produkte auf diesem Sektor und versprechen Hilfe und Unterstützung. Das ist auch gut so – denn jeder Betroffene und Angehörige ist für sinnvolle Maßnahmen dankbar. Doch was macht eine gute Therapie aus? Welche Maßnahme passt zu wem, und welche Angebote bedienen vielleicht nur die Ängste und Nöte der Betroffenen, um teuer verkauft zu werden? Vor diesem Hintergrund betrachten die Autoren kritisch eine Auswahl an „Demenz-Angeboten“, prüfen deren Sinnhaftigkeit und Nutzen. Unterstützt werden sie dabei von den Demenz-Experten Anne Brandt (Basale Stimulation®), Prof. Dr. Elmar Gräßel (MAKS-Therapie®), Gudrun Schaade (Ergotherapie) und Dr. Jan Sonntag (Musiktherapie). kurz und knapp: Aufgedeckt: Das Geschäft mit der Demenz Aufmerksamkeit und Diskussionsstoff garantiert Therapien und Maßnahmen im Überblick Mit einem Vorwort von PD Dr. René Thyrian vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)
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Seitenzahl: 236
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Swen Staack | Jochen Gust
LEBEN statt therapeutischer Akrobatik
Nichtmedikamentöse Demenztherapien – wissen, was wirkt
schlütersche
Swen Staack ist Diplom-Sozialpädagoge und erfahrener Demenz-Insider. Aktuell führt er das Kompetenzzentrum Demenz in Schleswig-Holstein.
Jochen Gust ist Altenpfleger und Demenzbeauftragter im Sankt Elisabeth Krankenhaus Eutin.
»Das Recht in Ruhe gelassen zu werden,ist der Anfang aller Freiheit.«
WILLIAM DOUGLAS
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN 978-3-89993-350-5 (Print)
ISBN 978-3-8426-8664-9 (PDF)
ISBN 978-3-8426-8665-6 (EPUB)
© 2015 Schlütersche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Hans-Böckler-Allee 7, 30173 Hannover
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Reihengestaltung:
Groothuis, Lohfert, Consorten | Hamburg
Umschlaggestaltung:
Kerker + Baum, Büro für Gestaltung GbR, Hannover
Bildnachweis:
Titelillustration, S. 60, S. 62: jr casas – fotolia.com
Satz:
PER Medien+Marketing GmbH, Braunschweig
Druck:
PHOENIX PRINT GmbH, Würzburg
Vorwort
Was Sie in diesem Buch erwartet
Einleitung
Chance oder Fluch? – Demenz in Medien und öffentlicher Wahrnehmung
1Demenz – Markt der 1.000 »Therapien«?
1.1Gesundheit ist kein Haustürgeschäft
Exkurs: Das richtige Heim
1.2Nichtmedikamentöse therapeutische Angebote
1.2.1Vielfalt tut gut
2Was brauchen Menschen mit Demenz?
2.1Demenzbetroffene im mittleren Stadium
2.1.1Kommunikation
2.1.2Aktivität
2.1.3Schlaf-wach-Rhythmus
2.1.4Veränderungen
2.1.5Stimmungen
2.2Basisstruktur – Umfeldgestaltung/Milieutherapie
3Lebensqualität – Was ist das überhaupt?
3.1Definitionsversuche: Lebensqualität kann vieles bedeuten
3.1.1Lebensqualität ist immer subjektiv!
3.2Messen von Lebensqualität – sinnvoll oder nicht?
3.3Lebensbereiche mit Einfluss auf Lebensqualität
3.4Bedeutung von Lebensqualität
3.4.1Die zehn wichtigsten Bedürfnisse für Menschen mit Demenz
3.5Autonomie für mehr Lebensqualität
3.6Messinstrumente der Lebensqualität
3.7Messung von Lebensqualität am Beispiel von H.I.L.DE.
3.8Kritische Anmerkungen zu Messinstrumenten
3.8.1H.I.L.DE. – kommentiert
3.8.2Unser Fazit
4Gesunder Menschenverstand, Bauchgefühl, Herzensbildung
4.1Gesunder Menschenverstand
4.2Intuition oder »Bauchgefühl«
4.3Herzensbildung
5Nichtmedikamentöse Demenztherapien
5.1Was bedeutet Therapie?
5.1.1Polypragmasie – Die Vielgeschäftigkeit
6Im Pflegeheim mit Opa Heini – voll therapeutisch
6.30Uhr
Vom Glück der richtigen Sitzordnung
8.30Uhr
Ihr Flur – Ihr Therapiegang
9.00Uhr
Pappmaschee – Ein Angebot auch für Männer und Bewohner mit eingeschränkter Motorik
Spieltherapie
10.00Uhr
Aktivtherapie Backen und Kochen
11.00Uhr
Klangschalentherapie
12.00Uhr
Therapeutischer Tischbesuch
14.00Uhr
Therapeutic Touch
15.00Uhr
Tiergestützte Therapie
Die 10-Minuten-Aktivierung®
Therapeutische Bushaltestelle
Sinnesstimulierende Beschäftigungsmaterialien
Filme für Demenzbetroffene
16.00Uhr
Erinnerungswandbilder
Therapeutisches Figurenspiel
Hin- und/oder Weglauftendenzen
17.00Uhr
Gartentherapie
18.00Uhr
Märchentherapie
19.00Uhr
Spezielle Singbücher für Demenzbetroffene
20.00Uhr
7Weitere »Therapien« und Angebote
7.1Validation
7.1.1Validation nach Naomi Feil
7.1.2Integrative Validation® nach Nicole Richard
7.2Aromatherapie
7.3Snoezelen
7.4Kunsttherapie
7.4.1Kunst als Kommunikation
7.4.2Kunsttherapie bei Demenz
7.5Tanztherapie
7.6Emotionale/Soziale Robotik am Beispiel der Robbe Paro
7.7Farbtherapie
7.8Simulierte Zugfahrten
7.9Bewegung als Prophylaxe und Therapie
7.10Exkurs: Nahrungsergänzungsmittel
Probleme Demenzkranker bei der Ernährung
7.11Exkurs: Social Media und Demenz
8Bewährte Angebote – Experten stellen vor
8.1Musiktherapie
8.1.1Einleitung
8.1.2Musiktherapie allgemein
8.1.3Musiktherapie und Demenz
8.1.4Unterstützungspotenziale der Musik
8.1.5Angebotsspektrum der Musiktherapie
8.2Ergotherapie
8.2.1»Therapie« im Kontext einer demenziellen Erkrankung?
8.2.2Ergotherapie im Verlauf der Alzheimerdemenz-Erkrankung
8.2.3Ergotherapeutische Ziele
8.3MAKS® – Motorische, Alltagspraktische, Kognitive und Spirituelle – Aktivierungstherapie
8.3.1Ziel der Untersuchung, Förderung, Kooperation
8.3.2Durchführung
8.3.3Ergebnisse
8.3.4Ausblick
8.4Basale Stimulation®
8.4.1Individuelle Zuwendung statt pauschaler Einsatz von Methoden
8.4.2Auf die Haltung kommt es an: ganzheitliche Kontaktaufnahme mithilfe der Basalen Stimulation®
9Fazit
Autoren
Die Beitragsautoren
Literatur
Spezielles Literaturverzeichnis Kapitel 8.1 »Musiktherapie«
Register
Das Thema Demenz hat in den letzten Jahren zunehmenden Raum in großen Teilen der Bevölkerung eingenommen. Als eine der großen Volkskrankheiten wirkt sich Demenz auf viele Bereiche aus: Als Krankheit mit einer stark ansteigenden Zahl der Betroffenen stellt sie eine wichtige Stellgröße für das zukünftige Gesundheitssystem dar, ist eine große Herausforderung für die Versorgung der Betroffenen. Die Forschung beschäftigt sich auf der Suche nach der adäquaten Diagnostik und Therapie mit der Entstehung und Entwicklung der Krankheit. Therapie hat zum Ziel, die Krankheit zu heilen, zumindest aber den Verlauf zu verzögern bzw. die Versorgung zu verbessern. Allein mit der medizinischen Forschung zum Thema Diagnostik und (medizinische) Therapie kann man ganze Bände füllen. Dieses Thema ist aber explizit nicht Gegenstand dieses Buches, es ist kein Lehrbuch, kein medizinischer Leitfaden. Erfrischenderweise beschäftigen sich die Autoren mit dem schwerer zu fassenden Thema der nichtmedikamentösen Therapien, wobei sie keinen wissenschaftlichen Review oder eine Metaanalyse der Wirksamkeit darstellen wollen. Hier sei ebenfalls auf die Fachliteratur hingewiesen.
Das Einzigartige an diesem Buch ist die klare Positionierung der Autoren gegenüber kritischen Entwicklungen auf dem, wie sie es nennen, Demenzmarkt. Mit einem großen Maß an Erfahrung und Überblick über die Entwicklung des Themas Demenz über die Jahre als auch in Kenntnis der vielfältigen Angebote und Anbieter wagen sie es, Stellung zu beziehen. So beleuchten sie die Vor- und Nachteile der zunehmenden Wahrnehmung des Themas Demenz in der Öffentlichkeit. Während dies für die Betroffenen durchaus positiv sein kann, prangern sie in unterhaltsamer Weise Auswüchse an. Die Autoren wollen darauf aufmerksam machen, dass man unter dem Oberbegriff Demenz »leider auch einen brutalen Markt« findet. Sie rufen dazu auf, sich kritisch mit den Themen auseinanderzusetzen und liefern mit diesem Buch einen ersten Ansatz.
Die Autoren beschreiben, was der Mensch mit Demenz wirklich braucht, wie gemeinsam für Wohlbefinden und Zufriedenheit gesorgt werden kann. Wie? Das wird in Kapitel 2 angerissen bzw. beschrieben. Dem Begriff der Lebensqualität widmen sie sich daraufhin in einem ganzen Kapitel. Das ist angesichts der Bedeutung angemessen, die dieses Konstrukt innerhalb der Forschung hat. Die Autoren versuchen Lebensqualität zu definieren, beschreiben förderliche und hinderliche Faktoren der Lebensqualität und setzen sich kritisch mit der Messung auseinander. Die kritische Haltung gegenüber der Messung der Lebensqualität mündet in einer kommentierten Bearbeitung eines Messinstruments, die einen beim Lesen schmunzeln lässt.
Die Autoren greifen Themen wie gesunden Menschenverstand, Bauchgefühl und Herzensbildung auf. Sie versuchen, Therapie zu definieren, um dann anhand eines fiktiven Tages im Pflegeheim von Opa Heini einen Auszug aus der Vielzahl der möglichen Beschäftigungs- oder Aktivierungsangebote darzustellen. Auch hier bleibt sich das Buch treu und liefert neben einer Beschreibung der entsprechenden Therapie Anmerkungen in gewohnt persönlicher und manchmal bissiger Weise. Wo möglich, ergänzt es die Kommentare jedoch auch durch Praxistipps. Dies macht meines Erachtens auch den Mehrwert dieses Buches aus und unterscheidet es wohltuend von anderen. Man merkt den Autoren an, dass sie sich in der Materie auskennen und ihre Motivation nicht allein das Anprangern von Missständen ist, sondern vor allem die Aufklärung bzw. die Begleitung von demenzbetroffenen Menschen. Dies bezieht sich nicht nur auf den Erkrankten, sondern auch auf den Angehörigen, der sich im Dschungel der Therapien zurechtfinden muss. Es bezieht sich sogar auf den sich professionell und kritisch mit dem Thema Beschäftigenden, der immer wieder Stellen im Buch findet, an denen er lauthals sagen muss: »Gut, dass das mal gesagt wird!«
Priv.-Doz. Dr. René ThyrianDeutsches Zentrum für Neurogenerative Erkrankungen (DZNE)
In der Einleitung schildern wir Ihnen unseren Zugang zum Thema und erläutern die aus unserer Sicht zweischneidige Fokussierung der öffentlichen Wahrnehmung auf das Thema Demenz.
Im Kapitel 2 beschäftigen wir uns mit dem »Demenzmarkt« und fragen, was Menschen mit Demenz eigentlich benötigen. Im Anschluss – Kapitel 2 – werden grundlegende Bedürfnisse der Betroffenen (angelehnt an ein mittleres Demenzstadium) beleuchtet. Das führt zur »großen Frage« nach der Lebensqualität der Menschen mit Demenz, die wir im dritten Kapitel untersuchen. Dabei spielen u. a. Gesichtspunkte wie Autonomie sowie die Möglichkeiten zur Messung von Lebensqualität eine Rolle. Diese Auseinandersetzung führt uns in Kapitel 4 zu Aspekten wie dem gesunden Menschenverstand, dem Bauchgefühl und der Herzensbildung, die bei aller Wissenschaftlichkeit und Wirtschaftlichkeit leider oft außer Acht geraten. Das Kapitel 5 greift den Begriff der Therapie auf.
Im sechsten Kapitel tritt schließlich Opa Heini auf. Opa Heini ist von einer mittleren Demenz betroffen und lebt seit Kurzem in einem Pflegeheim. Anhand seines ganz normalen Tagesablaufes dort erhalten Sie viele Informationen über aktuelle Therapien und Angebote für Menschen mit Demenz.
Um Opa Heini aber nicht überzustrapazieren, führen wir diese Auseinandersetzung ohne ihn in den Kapiteln 7 und 8 fort. Dafür konnten wir vier ausgewiesene Demenzexperten gewinnen, die »ihre« Therapien selbst vorstellen.
Schließlich ziehen wir unser ganz persönliches Fazit in Kapitel 9.
Wir wünschen Ihnen viel Spaß und den einen oder anderen Aha-Effekt bei der Lektüre dieser Publikation.
Swen Staack und Jochen Gust
Waren demenzielle Erkrankungen der breiten Öffentlichkeit vor einigen Jahren noch relativ unbekannt, finden Sie heute, egal in welchen Medien, ein breites Spektrum an Informationen über Demenz und allen damit verbundenen Themen: Demenzerkrankte sind Gegenstand verschiedenster dokumentarischer Begleitung, rauben als Hauptakteure in Fernseh- oder Kinofilmen Banken aus, zünden Häuser an, verlieben sich noch einmal oder bringen sich tragischerweise selbst um, um dem zunehmenden Kontrollverlust kognitiver Fähigkeiten »vorzugreifen«.
Ist gerade wieder ein mehr oder weniger Prominenter von einer Demenz betroffenen, begleiten Talkshows von Jauch bis Illner das Thema mit weitergehenden Informationen. Es kommen in ihren Shows sogenannte Experten zu Wort, die nur in seltensten Fällen wirklich Ahnung haben, wovon sie reden – Hauptsache, zwei Drittel der Gäste sind selbst prominent, haben das Wort Demenz schon mal gehört oder kennen den Schwager einer Nachbarin, der an Alzheimer erkrankt ist. Manchmal kommt es noch besser: Die Expertin oder der Experte vertritt eine Einzelmeinung, die möglichst schön provokant ist. Wenn er oder sie dann noch seine/ihre neueste Publikation in die Kamera halten kann, ist alles im vermeintlichen Lot und alle sind zufrieden.
Leider erlebt man im Fernsehen selten wahre Experten – ausgenommen ein »Quotenbetroffener« oder »-angehöriger« ist anwesend. Folglich werden häufig völlig falsche Bilder von Menschen mit Demenz in die Gesellschaft getragen, was ganz sicher nicht zum Wohle der Betroffenen und ihrer Angehörigen ist.
Ähnlich sieht es in den anderen Medien aus: Hörfunkprogramme machen Demenz in ihren Sendungen zum Thema, und Experten beantworten den geneigten Hörern in Specials allerlei Fragen und geben Tipps. Hier ist die Expertenquote allerdings deutlich höher als im Fernsehen. Und auch Magazine, Zeitungen und Zeitschriften greifen das Thema Demenz immer wieder gerne auf. Kaum eine Alzheimer Gesellschaft oder Beratungsstelle ist vor den vielen Anfragen verschiedener Print- und Onlinemedien sicher. Da werden – wahlweise nach Leserschaft – für die BRAVO Jugendliche porträtiert, die fleißig ihre Großväter pflegen, in »DAS GOLDENE BLATT« die ältere Hausfrau und ihr erkrankter Ehemann vorgestellt, die Zeitschrift Freundin widmet der Karrierefrau, die so ganz nebenbei ihre demente Mutter pflegt, einen sechsseitigen Beitrag. Vor allem gilt: je größer das Elend und die Belastung, desto besser die Geschichte.
Und: Es ist nicht mehr zu übersehen und deutlich zu erkennen. Das Krankheitsbild Demenz ist ein Markt und Wirtschaftsfaktor geworden!
Doch verstehen Sie uns nicht falsch! Wir beklagen nicht das wachsende öffentliche Interesse an dem Krankheitsbild Demenz per se. Immerhin hat es schon dazu geführt, dass nach einer Studie der DAK Gesundheit sich 49 Prozent der deutschen Bürger im Jahr 2014 davor fürchten, an einer Demenz zu erkranken. Das sind mehr als diejenigen, die sich vor einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall ängstigen. Nur Krebserkrankungen scheinen den Deutschen noch schlimmer zu sein. Bei den über 60-Jährigen ist die Furcht vor Demenz mit 57 Prozent sogar noch größer.1 So funktioniert schließlich gute Öffentlichkeitsarbeit – Furcht schafft Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit schafft politisches Handeln und im besten Fall schafft politisches Handeln Gesetzesänderungen, finanzielle Unterstützung und eine Strategie. Schließlich gilt es, für mittlerweile 1,5 Millionen Demenzbetroffene in Deutschland (Deutsche Alzheimer Gesellschaft e. V., 2015) und ihre Angehörigen Strukturen zu schaffen, die ihnen ein menschenwürdiges Leben bis zum Tod gewährleisten.
Angesichts der alternden »Babyboomer«, der vielen in den späten 1950erbis 1970er-Jahren Geborenen, werden sich die Zahlen der Menschen mit Demenz signifikant erhöhen. Einen offensichtlichen Plan gibt es für dieses Szenario aber nicht – trotz großer medialer Aufmerksamkeit und der »guten« Öffentlichkeitsarbeit. Nach der Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung, des Pflegeweiterentwicklungsgesetzes und des Pflegeleistungsergänzungsgesetzes kommen nun die Pflegestärkungsgesetze I und II. Im Grunde mutet all das aber als nichts weiter als Flickwerk an. Die Politik scheint von der Angst getrieben, der wahlberichtigte Bürger könnte sie angesichts der nötigen und längst fälligen Änderungen und vor allem der damit verbundenen Kosten beim nächsten Urnengang bestrafen. Nur so lässt sich der fahrlässige politische Umgang mit diesem Thema erklären. Wenn dann noch ein »alter« Gewerkschafter und Maschinenschlosser zum Pflegebeauftragten des Bundes ernannt wird, mag man spekulieren, wie es um die Themen Pflege, Betreuung und Demenz seitens der Politik bestellt ist ...?!
Neben der in Anteilen durchaus positiven Wahrnehmung der breiten Öffentlichkeit gibt es aber durchaus auch Nachteile des großen Interesses an Demenz. Zwar ist das Interesse einerseits zunehmend auf die vielen Menschen mit Demenz gelenkt – mit hoffentlich guten Entwicklungen und Perspektiven für die Betroffenen. Andererseits erzeugt das auch eine Art Goldgräberstimmung in einigen Bereichen der freien Wirtschaft. Am deutlichsten wird dies am Beispiel der vor einigen Jahren entstandenen, wirklich großartigen, ambulanten Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz.
Demenz-WGs sind eigentlich eine tolle Idee. Doch sie wurden von den kommerziellen Wohnungsbaugesellschaften und ambulanten Pflegediensten zum Geldverdienen entdeckt: Schnell initiierte man in leer stehenden größeren Häusern oder Wohnungen Demenz-Wohngemeinschaften. Mit der Folge, dass aus der guten Idee vielerorts eine schlechte Umsetzung wurde. Der selbstverwaltende Gedanke ist vielfach auf der Strecke geblieben und letztendlich hat sich der Gesetzgeber eingemischt. Reglementierungen und die damit verbundenen Nachteile sind inzwischen in den WGs an der Tagesordnung.
Dies ist nur ein Beispiel für Fehlentwicklungen auf dem »Demenzmarkt«. Im Folgenden wollen wir einige Entwicklungen genauer, vor allem kritisch, unter die Lupe nehmen und Sie als Leserin und Leser grundsätzlich ernst gemeint, aber auch mit dem einen oder anderen Augenzwinkern daran teilhaben lassen.
Demenz-WG
In der Regel leben sechs bis zwölf Demenzerkrankte in einer Demenz-WG in ihrem eigenen Zimmer zur Miete. Sie verwalten sich selbst – meistens vertreten durch die Angehörigen und/oder rechtliche Betreuer.
Im Vordergrund dieser Wohnform stehen ein normales Alltagsleben, ressourcenorientierte Aktivitäten, die frei gewählte Betreuung und Pflege rund um die Uhr.
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1 vgl. http://www.dak.de/dak/download/Studie_Angst_vor_Krankheiten-1523026.pdf?, abgerufen am 24.06.2015, – Studie der DAK Gesundheit: Das Forsa-Institut führte für die DAK-Gesundheit vom 06. Oktober bis 14. November 2014 eine bundesweite und repräsentative Befragung von 5.413 Männern und Frauen durch.
Die bereits angesprochene Goldgräberstimmung wird besonders deutlich im Markt der medizinischen/medikamentösen und nichtmedikamentösen »Therapien«, wobei der medizinische Bereich ausdrücklich nicht Thema dieses Buches ist und hier nicht weiter vertieft werden soll.
Doch auch hier würde es sich mit Sicherheit lohnen, genauer hinzuschauen. Über das Für und Wider von Antidementiva wurde und wird noch immer vielfältig diskutiert. Die Erfolge sind wohl eher marginal, aber solange eine Möglichkeit besteht, den Verlauf der Demenz positiv zu beeinflussen, sollte man diese nutzen. Es nicht zu tun, wäre fahrlässig und unverantwortlich. Genauso muss aber ein Einsatz dieser Medikamente gut abgewogen und verantwortungsvoll erfolgen. So können zu starke Nebenwirkungen oder andere Begleiterscheinungen selbstverständlich ein Grund sein, von einem Einsatz von Antidementiva abzusehen.
Kritischer ist vor allem der Markt der Pseudomedikamente zu sehen. Hier wird mit der Angst der Menschen Geschäft gemacht. Nehmen wir zum Beispiel marketingtechnisch gut präsentierte Ginkgopräparate. Die – teils vom Hersteller finanzierten – Studien versprechen einen Nutzen. Unabhängige neue Studien gibt es kaum. Immerhin scheinen Ginkgopräparate nicht zu schaden ... und Apotheken und Pharmafirmen haben es ja heute auch nicht leicht. Es gibt auch noch andere Präparate. Da kann zum Beispiel eine medizinische Ernährung zur diätetischen Behandlung der Alzheimerkrankheit im Frühstadium genannt werden. Sie enthält unter anderem Omega-3-Fettsäuren und einige Vitamine. Der Erfolg ist bisher allerdings kaum nachgewiesen. So erklärte uns in einem persönlichen Gespräch der Leiter des Zentrums für Kognitive Störungen und Rehabilitation am Klinikum rechts der Isar, Professor Dr. Alexander Kurz, der eine der ersten Studien zu einem derartigen Produkt begleitete: »(...) durch dieses Mittel können sich Betroffene in einem Buch ein Wort mehr merken als sonst.« Das finden wir beeindruckend, oder?
Im »Demenzbereich« des Gesundheitsmarktes tummeln sich Anbieter der verschiedenen Therapien und Produkte und werben für ihre »Waren«. Werbung an sich muss weder schlecht noch unredlich sein. Ganz im Gegenteil: Gute Methoden, Angebote und Einrichtungen müssen im besten Sinne beworben werden, damit möglichst viele Betroffene und Angehörige davon profitieren. Diese Erregung von Aufmerksamkeit führt möglicherweise auch dazu, dass Angebote kopiert, ausgebaut, ggf. weiterentwickelt oder angepasst werden, sodass noch mehr Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen profitieren können.
Doch leider gibt es auf diesem Markt auch Verkäufer und Verkaufsformen, die Betroffene, Angehörige und alle im Bereich Tätigen hellhörig werden lassen sollten. Denn einige Verkäufer bedienen sich an den Hoffnungen, Nöten und Ängsten der – vor allen Dingen – Angehörigen demenzkranker Menschen, um sich zu bereichern, ohne dass Nutzen und Sinnhaftigkeit ihrer Produkte und Therapien geklärt sind. Die folgenden kurzen Ausführungen enthalten daher einige Hinweise darauf, wie das vonstattengehen kann.
Tipp – Holen Sie sich Expertenrat!
Für viele Entscheidungen in puncto Demenztherapien (im weitesten Sinne) ist es generell ratsam, sie nicht allein und innerhalb kürzester Zeit zu treffen. Grundsätzlich gilt, sich in Ruhe zu informieren und Rat und Unterstützung einzuholen. Dafür stehen z. B. folgende Möglichkeiten zur Verfügung:
• Beratungsgespräche beim Hausarzt und/oder behandelnden Neurologen
• Beratungsgespräche bei der Krankenkasse
• Beratungsgespräche bei Pflegestützpunkten der Kommunen
• Beratungsgespräche bei Alzheimer Gesellschaften oder anderen Vereinen und Initiativen
• Internetrecherche (Achtung: Achten Sie auf die Qualität, die Aktualität und den Anbieter der Informationen!)
• Infomaterial des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG)
• Portal des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ): www.wegweiser-demenz.de
Es gibt Firmen, die nicht erlaubte sogenannte Cold Calls gerade bei Senioren durchführen. Angekündigt wird dabei beispielsweise, dass in den kommenden Tagen der Seniorenberater der Gesellschaft/Firma XY in der Stadt sei – ein ausgewiesener Fachmann in Sachen Hilfsmittelversorgung. Gerne würde er sich ganz kostenlos und unverbindlich vorstellen und auf einen Besuch vorbeikommen ...
Allein schon der unaufgeforderte Anruf irgendeiner Beratungsfirma sollte stutzig machen. Wir raten ausdrücklich davon ab, mit unbekannten Firmenvertretern Termine irgendwelcher Art zu machen, ganz egal ob es um Nahrungsergänzungsmittel oder Pflegehilfsmittel oder andere Themen rund um Gesundheit oder Demenz geht. Seriöse Firmen rufen nicht unaufgefordert an. Über benötigte Hilfsmittel – vom Rollstuhl bis zum Pflegebett – sprechen Sie mit Ihrer und Ihrem Hausarzt sowie ggfs. Ihrem Sanitätshaus. Das sind die richtigen Berater dafür – nicht die herumreisenden »Vertreter«. Sie möchten in der Regel nur eins: Verträge abschließen, sei es über Hausnotrufe oder andere Serviceleistungen bis hin zu speziellen »Anti-Alzheimer-Matratzen« oder (überteuerten) Rollatoren. Klassischerweise sind viele diese Hilfsmittel (Pflegebett, Rollator, Toilettenstuhl etc.) zudem oft verordnungsfähig – und damit Leistungen der Krankenkasse oder ggf. der Pflegekasse.
Um mit einem solchen unerwünschten Werbeanruf umzugehen, gibt es eigentlich nur ein Mittel: den Hörer aufzulegen. Wenn Sie die Zeit investieren möchten, können und sollten Sie solche Anrufe auch der Bundesnetzagentur über deren Webseite und das entsprechende Formular anzeigen. Da diese Werbeanrufe ohne Ihre vorherige Zustimmung nicht erlaubt sind, kann die Bundesnetzagentur entsprechende Bußgelder verhängen.
Vorsicht Falle!
Im Auftrag der Deutschen Alzheimer Gesellschaft oder anderer seriöser Seniorenorganisationen gibt es keine reisenden Handelsvertreter, die Ihnen beim Beratungsbesuch Verträge über Hilfsmittel oder Serviceleistungen verkaufen möchten.
Im Zweifel halten Sie stets Rücksprache mit den vorgeblich genannten Organisationen, in deren Auftrag der Vertreter vermeintlich unterwegs ist – und das, bevor Sie irgendetwas unterschreiben.
Es kann der Zeitpunkt kommen, an dem es klug ist, den Demenzbetroffenen in fremde Hände zu geben – auch wenn es manches Mal schwerfällt und man den geliebten Menschen eigentlich bei sich haben möchte. Doch vielfach übersteigt das einfach die eigenen Kräfte und Möglichkeiten.
Sich dann für eine Einrichtung zu entscheiden, fällt Angehörigen häufig schwer. Auf was muss geachtet werden, was steht im Vordergrund? Wichtig ist, dass Sie sich – wenn möglich – mit dem Betroffenen über seine Wünsche und Bedürfnisse austauschen und versuchen, diese und Ihre eigenen (etwa der nahe Anfahrtsweg für Ihre Besuche) zu verwirklichen.
Hilfe bei der Auswahl des richtigen Pflegeheims erhalten Sie über:
• Checklisten aus dem Internet (z. B. www.pflegelotse.de)
• Erfahrungswerte der regionalen Alzheimer Gesellschaften
• Anfragen bei Selbsthilfegruppen und/oder Angehörigeninitiativen
• Besichtigungen der potenziellen Einrichtungen und Ihren Eindruck, den Sie dabei gewinnen
• Pflegestützpunkte
Das Schlagwort »Therapie« oder »therapeutisch« springt Angehörigen denn auch bei der Suche nach der geeigneten Einrichtung häufig entgegen. Praktisch alles, was im Pflegeheim angeboten wird, hat therapeutischen Nutzen – so die Behauptung. Scheinbar darf heute nichts mehr einfach der Unterhaltung dienen. Im weiteren Verlauf des Buches stellen wir Ihnen deshalb einige »Therapieformen« und »-angebote« kritisch vor.
Zudem wirbt so manche Anzeige von Pflegeheimbetreibern ebenso wie auch ambulanten Pflegediensten mit »freier Arztwahl« und/oder Aussagen wie »Bei uns Physiotherapie!«, als sei das etwas ganz Besonderes und Exklusives. Aber ist es wirklich eine besondere Serviceleistung der Einrichtung, den Senioren zuzugestehen, sich ihren Arzt selbst auszusuchen? Fragen Sie gezielt nach und bitten Sie die Einrichtungsleitung im Rahmen einer Erstbesichtigung, zu erläutern, auf welcher Rechtsgrundlage andere Heime -denn die tun das ja offenbar nicht – die freie Arztwahl einschränken.
Fakt ist: Selbstverständlich steht es auch Heimbewohnern zu, sich den Arzt ihres Vertrauens selbst auszusuchen. Der Heimbetreiber hat keine Möglichkeit, das Recht auf freie Arztwahl einzuschränken – daher ist diese Aussage auch nichts als platte Werbung oder gar Augenwischerei. Dies gilt auch dann, wenn das Heim mit einem bestimmten Arzt regelmäßig zusammenarbeitet. Das kann sogar eine sehr gute Sache sein (das sogenannte Heimarztprojekt) – aber dazu verpflichtet und gezwungen werden darf niemand, auch ein neu eingezogener Senior nicht. Behandelt der bisherige Hausarzt im Pflegeheim nicht weiter, kann ein neuer (aus-)gesucht werden. Das kann der »Heimarzt« sein, muss es aber nicht.
Wie sieht es mit den Aussagen in Broschüren und Anzeigen aus, die da lauten: »Bei uns Ergotherapie/Physiotherapie/Logopädie!« etc.? Fragen Sie auch hier genau nach: Häufig haben die Einrichtungen keine fest angestellten Mitarbeiter mit diesen Qualifikationen in ihren Reihen. Krankengymnastik bzw. Physiotherapie erhalten die Heimbewohner in der Regel auf Verordnung ihres Arztes – so wie zu Hause auch. Die Therapie wird dann meist innerhalb der Einrichtung durchgeführt – sie ist und bleibt aber eine Leistung auf Rezept und damit der Krankenkasse, nicht etwa des Pflegeheims! Ausnahmen bestehen nur, wenn der Betroffene oder Sie als Angehörige auf eigene Kosten etwa physiotherapeutische Leistungen in Anspruch nehmen. Und hier können Sie Ihren Dienstleister natürlich selbst wählen -schließlich bezahlen Sie direkt dafür.
Die oben erwähnten werbenden Aussagen sollen insbesondere Angehörigen suggerieren, dass in dem Pflegeheim neben der guten Pflege noch zusätzliche Qualifikationen vorgehalten werden. Das ist in Wahrheit aber eben meist nicht der Fall. Sollten tatsächlich Therapeuten angestellt sein, lassen Sie sich das Therapiekonzept aushändigen und erklären, wann und in welcher Form ihr demenzbetroffener Angehöriger in den Genuss kommt -und mit welchem Ziel. Fragen Sie nach, wenn etwa Therapiehunde, Therapieschweine, Therapieschildkröten, Therapiewellensittiche etc. als Argument für die Annahme eines Heimvertrags mitpräsentiert werden, worin die Qualifikation von Tier und begleitendem Mensch besteht. Was soll therapiert werden – mit welcher Methode? Welcher Effekt wird erwartet?
Haben vor einigen Jahren bewährte therapeutische Angebote wie Milieutherapie, Basale Stimulation®, Validation, Musik- und Ergotherapie oder die 10-Minuten-Aktivierung® biografisch orientiert und fachgerecht angewendet bei der Betreuung von Menschen mit Demenz ausgereicht, muss es heute in vielen stationären Einrichtungen oder bei ambulanten Angeboten scheinbar ein Sammelsurium von verschiedenen Therapieangeboten geben, um »up to date« zu sein. Unbestritten kann ein breit gefächertes Angebot dem Demenzerkrankten nützlich und ggf. eine individuellere Betreuung gewährleistet sein. Aber es besteht eben auch die Gefahr, viel zu viel zu wollen und den Betroffenen eventuell zu überfordern. Und bei einem sind wir uns sicher einig: VIEL ist ganz sicher kein Qualitätsmerkmal!
Durch den »Demenzmarkt« sehen manche Anbieter schnelle und gute Möglichkeiten, auf einen vorwärts rollenden Zug aufzuspringen und ihre therapeutischen Kabinettstückchen mit Lizenzgebühren zu versehen und zu verkaufen. So gibt es heute eine immer unübersichtlichere Anzahl von sogenannten Therapieangeboten, die nicht immer sinnvoll erscheinen und zum Teil sogar kontraproduktiv sein können. Dazu kommt, dass zahllose »neue« Therapieangebote, die in den letzten Jahren auf den Markt drängten, nicht wirklich neu sind. Da wird etwas modifiziert, ergänzt oder in neue Tücher gepackt, noch schnell rechtlich geschützt und schon ist gutes Geld zu verdienen. Im besten Fall nimmt sich noch eine Fachhochschule, Universität oder ein Forschungsinstitut der Sache an, um auch sonderbarste Ansätze zu evaluieren und den kleinsten Nutzen in ihnen zu erkennen. Zudem ist der rein wissenschaftlich betrachtete Nutzen von nichtmedikamentösen Therapieformen äußerst schwer nachweisbar. Mit der Studie zur MAKS-Therapie® (Motorisch-Alltagspraktische-Kognitive-Spirituelle Aktivierungstherapie) von Professor Dr. Elmar Gräßel aus Erlangen konnte 2010 solch ein Nutzen überhaupt erstmalig nachgewiesen werden.2
Um einem Missverständnis vorzubeugen: Selbstverständlich ist es nicht verwerflich, mit der Arbeit mit Demenzbetroffenen Geld zu verdienen. Dahinter stehen Leistungen, die erbracht werden – von Altenpflegern, Ärzten, Therapeuten, vom spezialisierten Angebot für Teilhabe und Wohlbefinden bis hin zu Rehabilitationsleistungen oder betreutem Urlaub. Diese Dinge sind ihr Geld in der Regel wert, gar keine Frage.
Dennoch ist es notwendig, zu hinterfragen, ob alles, was theoretischen Nutzen bringt oder unter dem Schlagwort Therapie verkauft wird, auch sinnvoll für den Menschen mit Demenz ist. Oft genug wird dies nur im Einzelfall zu beantworten sein. Immer ist jedoch die kritische Auseinandersetzung geboten – mit der angebotenen Leistung und der Abwägung des Aufwands hinsichtlich des Nutzens für die Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen.
Natürlich spielt in diesem Zusammenhang auch das Thema Lebensqualität eine immer größere Rolle (siehe Kap. 3). Viele Einrichtungen fühlen sich durch die zur Mode gewordenen Messungen der Lebensqualität zu wesentlich vermehrter therapeutischer Aktivität veranlasst. Da wird mit DCM (Dementia Care Mapping) oder dem Heidelberger Instrument zur Erfassung der Lebensqualität demenzkranker Menschen (H.I.L.DE.), um die derzeit an der Spitze von unzähligen Messinstrumenten stehenden zu nennen, gemessen, was das Zeug hält. Und da der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) dieses ja durchaus sehr wohlwollend sieht, wird es wohl nur noch eine Frage der Zeit sein, bis diese Messungen flächendeckend für Klarheit sorgen, welcher Mensch mit Demenz sich wohlfühlt und welcher nicht. Dass dies jedoch nicht so einfach ist, sollte die über zehnjährige Entwicklungszeit von H.I.L.DE. deutlich machen. Und scheinbar ist H.I.L.DE. noch immer nicht wirklich praxistauglich ...?
Die Evaluation des Dementia Care Mappings kommt übrigens zu dem total »überraschenden« Ergebnis, dass Menschen mit Demenz noch Glück empfinden können und dass Wohlbefinden besonders bei Tätigkeiten wie Spülen, Fegen, Kuchenbacken oder beim Gottesdienst zu beobachten ist. Das hätte mancher Angehörige, und manche Betreuungs- und Pflegekraft wohl ohne die »Mapper« gar nicht bemerkt! Dazu aber später mehr.
Natürlich sind auch wir der Meinung, dass es erst einmal toll ist, welche Vielfalt es mittlerweile an nichtmedikamentösen Behandlungsmöglichkeiten für Menschen mit Demenz gibt. Einige der »neueren« Methoden sind durchaus sinnvoll und individuell angewendet in der Praxis auch unbestritten nutzbar. Die Entwicklung ist enorm und grundsätzlich ganz gewiss erst einmal positiv zu bewerten. Natürlich kann ein breit gefächertes Angebot für die Betroffenen förderlich sein. Man kann Aktivierung individueller und vielfältiger gestalten. Aber bitte nicht völlig unreflektiert und für jeden. Sparsam und biografisch orientiert hat manch neues Angebot dann durchaus seine Berechtigung.
Wichtig!
Mit diesem Buch wenden wir uns nicht gegen eine individuell wirksame Begleitung und Betreuung von Menschen mit Demenz und ihrer Angehörigen. Im Gegenteil: Wir wollen aufmerksam machen. Aufmerksam darauf, dass man unter dem Oberbegriff Demenz heute nicht mehr nur verschiedene Erkrankungen subsummiert, sondern leider auch einen brutalen Markt. Brutal deshalb, weil er sich der Ängste der Angehörigen und eines vermeintlichen »Qualitätsdrucks« der beruflich Sorgenden bedient.
Wir rufen also dazu auf, sich genau und kritisch mit Angeboten auseinanderzusetzen, die unter dem Deckmantel therapeutischer Wirksamkeit Versprechungen machen.
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2 vgl. Elmar Gräßel1, Renate Stemmer2, Birgit Eichenseer1, Sabine Pickel1, Carolin Donath1, Johannes Kornhuber1, Katharina Luttenberger1: Nicht-medikamentöse, multimodale Gruppentherapie für Patienten mit degenerativer Demenz: eine randomisiert-kontrollierte Studie über 12 Monate 1: Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Bereich Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Schwabachanlage 6, D-91054 Erlangen2: Katholische Fachhochschule Mainz, Fachbereich Gesundheit und Pflege, Saarstraße 3, D-55122 Mainz, vgl. http://www.maks-aktiv.de/projektergebnisse.html, abgerufen am 24.06.2015