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Beschreibung

In der interpersonellen Sichtweise der Gruppendynamik und Dynamischen Gruppenpsychotherapie ist die Beziehung, das Dazwischen, das Feld, das durch Begegnung entsteht, im Fokus der Aufmerksamkeit. Ziel gruppendynamischer Arbeit ist das Sichtbar- und Nutzbarmachen dieser Beziehungen. Psychosoziale Interaktionen, Störungen und Problemlagen werden nicht an einzelnen Personen festgemacht, sondern als durch die Gruppe und ihr Umfeld bedingt verstanden, selbst dann, wenn sie sich im Individuum verdichten. In beiden Fachbereichen – Gruppendynamik und Dynamische Gruppenpsychotherapie – haben in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten theoretische wie praktische Weiterentwicklungen stattgefunden. Im Buch werden Grundlagen, Weiterentwicklungen der Methode sowie die Vielfalt der Anwendungsfelder beschrieben. Für alle in und mit Gruppen lebenden und denkenden Personen in unterschiedlichsten Anwendungsfeldern soll damit fachliche Anregung geboten werden. Das breite Spektrum an theoretischer, methodischer sowie praktischer Auseinandersetzung versteht sich als Basis für neuerliche Diskurse und Weiterentwicklung.

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Maria Majce-Egger, Karin Zajec, Christine Pechtl, Gwendolin Eckert (Hg.)

Leben und Denken in Gruppen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Angaben in diesem Fachbuch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr, eine Haftung der Herausgeberinnen, der Beitragsautor:innen oder des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage 2024

Copyright © 2024 Facultas Verlags- und Buchhandels AG

facultas Universitätsverlag, Stolberggasse 26, 1050 Wien, Österreich

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung sowie der Übersetzung, sind vorbehalten.

Umschlagbild: © Gerald Bacher

Grafiken im Buch: © Gerald Bacher und Elisabeth Kaziz-Hitz

Lektorat: Rebecca David, Hameln

Fahnenkorrektur: Katharina Schindl, Wien

Satz: Wandl Multimedia Agentur, Groß Weikersdorf

Druck und Bindung: Facultas Verlags- und Buchhandels AG, Wien

Printed in Austria

ISBN 978-3-7089-2161-7 (Print)

ISBN 978-3-99111-830-5 (E-Pub)

Vorwort der Herausgeberinnen

Das Reale ist relational.

In der interpersonellen Perspektive der Gruppendynamik (GD) und der Dynamischen Gruppenpsychotherapie (DG) ist die Beziehung, das Dazwischen, das Feld, das durch Begegnung entsteht, im Fokus der Aufmerksamkeit. Ziel gruppendynamischer Arbeit ist das Sichtbar- und Nutzbarmachen dieser Beziehungen. In diesem Buch soll das Feld unserer Zusammenarbeit in der Fachsektion GD.DG sichtbar werden.

Wie kam es zu der Idee, ein Buch herauszugeben?

Im Jahr 1999 entstand unter der Herausgeberschaft von Maria Majce-Egger das Buch „Gruppentherapie und Gruppendynamik. Dynamische Gruppenpsychotherapie“ – ein Buch, das die 1991 erst staatlich anerkannte Fachrichtung Dynamische Gruppenpsychotherapie und ihren bisherigen Entwicklungsprozess abbildet.

Angestoßen durch einen 2017 einsetzenden Generationenwechsel in der Leitung der Fachsektion sowie bei den Lehrenden und der Ausbildungsleitung DG wurde überlegt, die gegenwärtigen Theorieentwicklungen zu verschriftlichen. Die Initiative, dies konkret umzusetzen, ging vom Inhaltegremium DG aus.

Die Grundidee war vorerst, das Buch von 1999 zu aktualisieren, waren doch seither fast zweieinhalb Jahrzehnte vergangen. Die Anfrage an Maria Majce-Egger stieß auf Bereitschaft und Interesse ihrerseits. So gründete sich das aktuelle Herausgeberinnenteam. In der gemeinsamen Diskussion kristallisierte sich im Laufe des Prozesses die Notwendigkeit einer weitreichenden Bearbeitung heraus. So findet sich im vorliegenden Buch nur mehr ein Artikel in Originalform: jener von Raoul Schindler zur Rangdynamik.

In beiden Fachbereichen – Gruppendynamik und Dynamische Gruppenpsychotherapie – haben in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten neue theoretische wie praktische Weiterentwicklungen stattgefunden. Die unterschiedlichen Anforderungen in der Ausbildung sowie im Arbeitsfeld von GD und DG, z. B. bezüglich formaler Rahmenbedingungen, hatten Auswirkungen. So ergaben sich Spannungsfelder durch verschiedene Ausbildungslogiken (hier Kompetenzerwerb, dort Berufsberechtigung), Marktlogiken und Themenschwerpunkte.

Sich in immer diverseren Umgebungsbedingungen hinsichtlich der eigenen beruflichen Identität oder Identitäten zu finden und zu positionieren, ist eine zunehmende Herausforderung. Die Anwendung der Gruppendynamik hat sich nicht zuletzt deshalb einerseits ausdifferenziert, andererseits sind auch neue Kooperationsmöglichkeiten entstanden.

Dieses Buch ist kein klassisches Lehrbuch, sondern beinhaltet die Weiterentwicklung der Methode sowie die Vielfalt der Anwendungsfelder. Der momentane Stand von Theorie und Praxis in der Fachsektion soll explizit werden. Auch wollen wir Theoriebildung anstoßen und ermöglichen. Uns geht es darum, ein Diskussionsforum zu eröffnen und uns gemeinsam in neue Gefilde vorzuwagen, ganz im Sinne der Lebendigkeit.

Die Idee, gemeinsam in Diskussion zu kommen, Altes und Neues zu verbinden, spiegelt sich in der Auswahl der Autor*innen wider. Nicht Lehrende allein kommen hier zu Wort, sondern ebenso Kolleg*innen, die im Feld arbeiten, sowie Personen, die derzeit in Ausbildung zu Gruppendynamiktrainer*innen oder Gruppenpsychotherapeut*innen sind. Die Zusammenarbeit fand generationenübergreifend statt. Die meisten Artikel wurden von zwei Autor*innen gemeinsam verfasst und sind damit das Ergebnis einer kontinuierlichen Auseinandersetzung sowie Weiterentwicklung der zugrunde liegenden gruppendynamischen Basis und deren unterschiedlicher Anwendungsfelder.

In der gemeinsamen Autor*innenschaft richteten Gruppendynamiker*innen und Gruppenpsychotherapeut*innen, Etablierte und Arrivierte sowie Junge bzw. Nachfolgende ihre Aufmerksamkeit auf Differenzierung und Gemeinsames, Kooperation vor dem Hintergrund des aktuellen Umfelds und die gegensätzlichen Bewegungen im psychosozialen Feld. Generative Sozialisation konnte gelebt, das Erbe transformiert werden.

Das vorliegende Buch hat den Anspruch, fachliche Anregung zu sein, für alle in und mit Gruppen lebenden und denkenden Personen in unterschiedlichen Anwendungsfeldern.

Das breite Spektrum theoretischer, methodischer wie praktischer Auseinandersetzung dient als Basis für neuerliche Auseinandersetzung und Weiterentwicklung.

Wir danken allen Autor*innen für ihre Bereitschaft zum Austausch im gemeinsamen Prozess, für die Erstellung der Artikel, in denen den Lesenden wertvolles Wissen zur Verfügung gestellt wird, sowie der Fachsektion GD.DG für ihre Unterstützung dieses Buchprojekts.

Erfreulicherweise hat sich der facultas Verlag bereit erklärt, auch dieses Buch zu verlegen. An dieser Stelle sei Sigrid Mannsberger-Nindl, Victoria Tatzreiter sowie Rebecca David für die professionelle Unterstützung gedankt!

Wir wünschen allen Leser*innen eine spannende und anregende Lektüre!

Das Herausgeberinnen-Team:

Maria Majce-Egger, Karin Zajec, Christine Pechtl, Gwendolin Eckert

Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Herausgeberinnen

1 Geschichte – eine Theorie in Bewegung

1.1 Zur Geschichte des Österreichischen Arbeitskreises für Gruppendynamik und Gruppentherapie (ÖAGG) sowie der Fachsektion Gruppendynamik und Dynamische Gruppenpsychotherapie GD.DG

Maria Majce-Egger, Christine Pechtl

1.2 Ausgangspunkte, Entwicklungslinien und Verknüpfungen

Karin Zajec, Christine Pechtl

1.3 Rangdynamik in Anwendung (Reprint, 1999)

Raoul Schindler

1.4 Das Spezifische der GD.DG – Schindlers Gruppentheorie in Bezug zu anderen Gruppentheorien

Rainer Fliedl, Maria Majce-Egger

2 Person – Gruppe – Umwelt

2.1 Entwicklung in Beziehung

Christine Pechtl, Gwendolin Eckert

2.2 Gruppenprozesse analysieren. Gruppenmodelle – Beobachtung – Prozessanalyse

Maria Majce-Egger

2.3 Dynamik in Großgruppen

Rainer Fliedl, Maria Majce-Egger

2.4 Organisation

2.4.1 Organisation als Lernfeld: ein theoretischer Zugang

Susanna Schenk, Benedikt Lars Kaiser

2.4.2 Psychodynamik in und zwischen Organisationen

Rainer Fliedl, Karin Zajec

2.4.3 Gruppendynamik in Organisationen

Alexandra Schermann

2.5 Identität und Zugehörigkeit. Warum Gesellschaftstheorien in der Gruppendynamik?

Christine Pechtl, Karin Zajec

3 Methoden

3.1 Methodik der Gruppendynamik. Gruppendynamische Haltung und Funktionsverständnis

Maria Majce-Egger, Gwendolin Eckert

3.2 Interventionstechniken: Gruppe – Beziehung – Person

Maria Majce-Egger, Karin Zajec

3.3 Konzept, Design und Setting

Christine Pechtl, Dominik Pesendorfer

3.4 Methode und Interventionen in Organisationen

Peter Ettl

4 Anwendung in den Arbeitsfeldern der Gruppendynamik und der Dynamischen Gruppenpsychotherapie

4.1 Gruppendynamik im politischen Feld. Was ist an Gruppendynamik politisch, was ist an Politik gruppendynamisch?

Heinz Baumann, Claus Faber

4.2 Gruppendynamische Großgruppe in Organisationen: über Potenziale eines sensiblen Beratungsformats

Julia Rappich, Michael Karsten Schulze

4.3 Gruppendynamik im Bereich der Sozialen Arbeit. Meine Faust und ich im Wir. Anti-Gewalt-Training

Gudrun Treibenreif, Wolfgang Spatzenegger

4.4 Gruppendynamik im pädagogischen Feld. Entwicklung sozialer Kompetenzen in Schule und Studium

Birgit Martini

4.5 Gruppendynamik und Kunst

Hannah Rieger

4.6 Gruppendynamische Supervision im Gesundheitswesen

Michael Burger, Silvia Korlath

4.7 Gruppendynamische und feldtheoretische Überlegungen im Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendpsychiatrie

Karin Zajec, Elisabeth Dauda

4.8 Dynamische Gruppenpsychotherapie im ambulanten Versorgungsbereich

Eva S. Adler, Silvia Korlath

4.9 Einzeltherapie – Beziehung und Prozess

Susanna Schenk

5 Ausbildungen in der Fachsektion GD.DG – Gruppendynamik und Dynamische Gruppenpsychotherapie

Christine Pechtl

Autor*innenverzeichnis

Literaturverzeichnis

1 Geschichte – eine Theorie in Bewegung

1.1 Zur Geschichte des Österreichischen Arbeitskreises für Gruppendynamik und Gruppentherapie (ÖAGG) sowie der Fachsektion Gruppendynamik und Dynamische Gruppenpsychotherapie GD.DG

Maria Majce-Egger, Christine Pechtl

Für die Geschichte des ÖAGG gilt selbstverständlich Gleiches wie für alle gruppendynamischen Entwicklungsprozesse. Ohne eine Analyse der Umgebungssituation lassen sich das Agieren der Einzelnen, ihr Zusammenspiel und die sich letztendlich durchsetzenden Strukturen nicht verstehen. In diesem Artikel sollen die Entwicklungen auf gesellschaftlicher Ebene sowie ihre Spiegelungen in Trainingsgruppen, auf Ebene des ÖAGG und der Fachsektion GD.DG zusammengestellt werden.

1.1.1 Zur Ausgangssituation

Bereits nach dem Ersten Weltkrieg wurden in Soziologie, Sozialpsychologie und Psychoanalyse der Person übergeordnete Ansätze erforscht (Cooley und Burrow). Die Untersuchung zu den Arbeitslosen von Marienthal (Marie Jahoda und Paul F. Lazarsfeld, 1933) gilt als Meilenstein der Entwicklung der empirischen Sozialforschung. Die Forschenden arbeiteten bereits mit den Mitteln der teilnehmenden Beobachtung und verwendeten in der Theoriebildung qualitative sowie quantitative Daten. Bion und Foulkes arbeiteten in der Tavistock Clinic in London gruppentherapeutisch. Emigranten wie Kurt Lewin, Jacob Levy Moreno und Fritz Perls entwickelten in Amerika den gestalttheoretischen Ansatz weiter und wurden zu Pionieren der gruppendynamischen und gruppentherapeutischen Methoden. Aus Morenos und Lewins Ansatz der Aktionsforschung ging die Gruppendynamik als Interventionspraxis hervor.

„Die für die soziale Praxis erforderliche Forschung lässt sich am besten als Forschung im Dienste sozialer Unternehmungen oder sozialer Technik kennzeichnen. Sie ist eine Art Tat-Forschung (,action research‘), eine vergleichende Erforschung der Bedingungen und Wirkungen verschiedener Formen des sozialen Handelns und eine zu sozialem Handeln führende Forschung“ (Lewin 1953 [1946], S. 280).

Der Versuch, den Wiederaufbau der Demokratie in Europa zu unterstützen, brachte die Gruppendynamik zurück nach Europa. In Wien fand 1954 das erste Gruppendynamikseminar im deutschsprachigen Raum unter der Leitung von Traugott Lindner und Leland Powers Bradford statt (Tippe et al., 2016). Die Aufarbeitung der kollektiven Geschichte führte zur Auseinandersetzung mit autoritären Führungsansprüchen, denn im sozialen Mikrokosmos „Gruppe“ spiegeln sich die sozialen Prozesse und Strukturen der Gesellschaft.

1.1.2 Die 1960er-Jahre – Aufbruch und Experimente

In den späten 1960er-Jahren kam es zur antiautoritären Welle mit Wirkungen wie Antipsychiatrie sowie antiautoritärer Erziehung und zum politischen Diskurs der Studierenden- und Frauenbewegung. Ziel war die Änderung des Herrschaftssystems und der gesellschaftlichen Ordnung. Erstarrte Strukturen wie Institutionen sollten neu gestaltet und dynamisiert werden. Der Generationenkonflikt zeigte sich in der Encounter-Bewegung sowie in der Suche nach neuen Autoritäten. Sexualität sollte von Machtverhältnissen und Abhängigkeiten befreit werden. Es wurde mit neuen Formen des Zusammenlebens experimentiert (Wohngemeinschaften, Kollektive, Hippiebewegung etc.) und Gruppenidentität bildete sich über die Loslösung von vorgegebenen Modellen. Bestehende Machtverhältnisse wurden hinterfragt und eine kritische Einstellung zu Macht blieb erhalten. David Riesman analysiert in „The Lonely Crowd“ (1950) die außenorientierte Persönlichkeit, die die bürgerliche Innenorientierung ablöse. Sozial- und Antipsychiatrie werden in Goffmans Analyse und Kritik sozialer Ausgrenzung „Asyle“ (1973 [1961]) sowie in Basaglias Kampf gegen die Institution (1972) beschrieben. Im Jahr 1959 wurde der „Österreichische Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik“ gegründet – ein Arbeitskreis, der sich von Beginn an als Experiment verstand, als „Arena“ der Auseinandersetzung und der gegenseitigen Bereicherung. Im Namen wurde der Überzeugung Ausdruck verliehen, dass diese beiden Entwicklungen zusammengehören. „Sie sollten sich in den jeweils eigenen Untergliederungen abgrenzen, das Selbstbewusstsein einer Identität finden, aber in ständiger Kommunikation miteinander sich dem gemeinsamen Problem der Erforschung und des Einsetzens der Gruppenkräfte widmen“ (Schindler, 1983a, S. 17). „Gruppe“ wurde als eigenes Therapieinstrument definiert, als Spezialgebiet wissenschaftlicher Forschung und Therapie.

Der Arbeitskreis wurde von einer engagierten Gruppe initiiert, die universitär in den Bereichen Medizin, Sozialpsychologie, Recht und Sozialarbeit sowie Jugendarbeit tätig war und sich in monatlichen Treffen dem wissenschaftlichen Diskurs widmete. Als Zweck der Vereinsgründung sind die „Erforschung der Strukturen und psychodynamischen Bedingungen des Gruppenlebens sowie die Nutzbarmachung der Forschungsergebnisse für die Anwendung in der Praxis der ärztlichen Therapie, der Fürsorge, der Erziehung und in der allgemein gesundheitlichen Lenkung des Gemeinschaftslebens“ genannt (Schindler, 1959b).

Viele Gründungsmitglieder waren auch außerhalb des ÖAGG in ihren Arbeitsfeldern innovativ. Ihre Arbeit führte zur Gründung von Vereinen und Initiativen. Hierzu gehören Projekte wie der Aufbau des psychotherapeutischen Ambulatoriums der Gebietskrankenkasse, die Gründung der Gesellschaft für Psychohygiene und des Instituts für Tiefenpsychologie an der Universität Wien (Hans Strotzka), die Entwicklung der Universitätsklinik für Psychiatrie (Peter Berner), die Bewährungshilfe für ambulante Betreuung (Hans Rotter, Wolfgang Doleisch, Otto Wilfert), die Österreichische Gesellschaft für Gruppendynamik und Organisationsberatung ÖGGO (Traugott Lindner) sowie der Aufbau des Studiums für Soziologie und Forschung in Gerontologie (Leopold Rosenmayr). Zu Schindlers Verdiensten zählen die Gründung der Ambulanz für Psychotherapie an der Wiener Psychiatrischen Universitätsklinik, sein Beitrag zur Psychiatriereform, der Aufbau des Referats für Psychohygiene (später Psychosozialer Dienst) sowie Reformen im stationären Betreuungsbetrieb des Psychiatrischen Krankenhauses Baumgartner Höhe und der Aufbau des extramuralen Betreuungsnetzes „pro mente“. Er entwickelte die Bifokale Gruppentherapie und das Modell der Dynamischen Rangstruktur.

„Gruppe“ ist als Spezialgebiet sozialpsychologischer Forschung in Soziologie, Psychologie, Pädagogik und Psychiatrie bedeutsam. Daher wurden die kritische Auseinandersetzung mit diesen Disziplinen und deren Zusammenarbeit angestrebt sowie in der Struktur eines Vereins mit entsprechenden Sektionen verankert (nähere geschichtliche Details siehe Schindler 1986 in Tippe et al., 2016). Schon in der ersten Planung der Strukturierung des Arbeitskreises wurden innovativ übliche Führungsprinzipien durchbrochen und je Bereich zwei administrative Leiter mit Sitz im Vorstand sowie ein koordinierender Sekretär, Raoul Schindler, als Außenvertretung vereinbart (Majce-Egger, 2009b).

Die ersten Jahre waren dem Diskurs zu gruppendynamischen Phänomenen und der experimentellen Umsetzung der Erkenntnisse in die sozialpädagogische und psychotherapeutische Gruppenarbeit gewidmet. Die spätere Ausrichtung der Fachsektion war in der Ausrichtung des Arbeitskreises ÖAGG bereits zu finden.

Nach zahlreichen Trainings im Sozialbereich wurde 1967 in Kooperation zwischen der Vereinigung Österreichischer Erzieher (Wilfert) und dem ÖAGG (Schindler) das erste „internationale Seminar für Gruppenarbeit, Gruppentheorie und Praxis der Menschenführung“ in Alpbach von Wolf Aull und Gertraud Koller organisiert. Der ÖAGG entwickelte ein Trainingsprogramm mit gruppendynamischem Schwerpunkt für medizinische, paramedizinische und psychologisch-erzieherische Berufsgruppen, das auf den gesamten deutschen Raum ausstrahlte. Ziel war, zu erproben, wie Menschen zu einem akzeptierenden Miteinander ohne hierarchische Zwänge finden können (Schindler, 1983a). Bemerkenswert ist, dass zu den sieben Trainern der ersten Seminare erst nach drei Jahren drei Co-Trainerinnen dazukamen und es 20 Jahre lang bei einem Frauenanteil des Staffs von 18 % blieb (Schindler, 1986), das Geschlechterverhältnis der Teilnehmenden allerdings ausgewogen war.

Die Zeitschrift „Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik“ wurde 1968 von Annelise Heigl-Evers, Hans Strotzka, Raoul Schindler, Raymond Battegay, Helmut Enke und Ambros Uchtenhagen als Organ der deutschsprachigen Gruppentherapieverbände gegründet: DAGG, ÖAGG und der Schweizer Vereinigung.

Ab 1969 initiierten Erich Pakesch und Ingrid Krafft-Ebing im Rahmen der Regionalisierung des ÖAGG das Integrative Seminar für Psychotherapie in Bad Gleichenberg, in dem die Großgruppe sowie Gruppendynamik und Dynamische Gruppenpsychotherapie ein Teil des Angebots sind. In Kooperation mit der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Gruppenanalyse (IAG) fanden in Altaussee ab 1976 psychoanalytische Großgruppen statt. Josef Shaked leitete die Großgruppe allein, erst in den letzten Jahren gemeinsam mit Jutta Menschik-Bendele, Peter Potthoff und Michael Hayne (Dietrich & Krafft-Ebing, 2022).

1.1.3 Die 1970er-Jahre – Regionalisierung und Differenzierung

In den späten 1970er-Jahren war die Gruppendynamik in Europa als Instrument der Auseinandersetzung mit hierarchischen Strukturen und Autoritäten sowie als politische, emanzipatorische Gegenbewegung wirksam.

„Die Euphorie in totale sozialpsychologische Erwartungen, etwa nach einer nicht krankmachenden Gesellschaft, weicht kritischen und pragmatischen Ansätzen, die panischen Angstbilder haben sich in den Problemen des Umweltschutzes materialisiert. […] Die antiautoritäre Welle schlägt dialektisch um, man fühlt wieder […] die Last überwältigender Probleme, für die Führer und Eliten gefragt sind.“ (Schindler, 1983a, S. 18)

Mitte der 1970er-Jahre erlosch die Encounter-Bewegung, doch die Bedeutung von Psychotherapie und technischen Methoden wuchs an. Nach dem dynamischen Rangmodell bildet sich in dieser Zeit Gruppenidentität über ein mächtiges Gegenüber – gegen die Strukturen des herrschenden Systems, in der Identifikation mit einem rebellierenden Alpha, der Identifizierung mit der Ermächtigung der Jugend gegen bestehende Strukturen, Institutionen, Autoritäten. In Selbsterfahrungs- und Großgruppen finden heftige Auseinandersetzungen mit dem männlich dominierten Staff statt, ein Spiegelungseffekt der damals aktuellen Gesellschaft.

Im ÖAGG wurden ab 1970, als die Nachfolgenden von der Gründergeneration zur Mitarbeit eingeladen bzw. als Trainer*innen bestätigt wurden, erste Ausbildungsrichtlinien erstellt und erste offizielle Graduierungen fanden statt. Ausbildung und Weiterbildung wurde zu einem zentralen Bereich. Neue gruppendynamische Großveranstaltungen (Rinn, Henndorf, Tulbing, Hadersdorf) neben dem seit 1967 bekannten Alpbach-Training wiesen schon auf Regionalisierungen hin, die ab 1973 zu Regionalsektionen des ÖAGG in den Bundesländern führten. Um den Mitgliedern der regionalen Sektionen Austausch zu gewährleisten, entstand eine Art Matrixorganisation, die bis heute wirksam ist.

Ab Beginn des ÖAGG waren alle Kandidat*innen in Gruppendynamik und Gruppenpsychotherapie ausgebildet worden, aber die Anwendung von Psychotherapie war damals ausschließlich Mediziner*innen vorbehalten; andere Herkunftsberufe wurden erst durch das Psychotherapiegesetz 1991 legalisiert (Wißgott, 2021). Die Angebote der Ausbildung differenzierten allerdings nicht nach Psychotherapie, Gruppendynamik oder Beratung. Da ursprünglich gruppendynamisch und gruppentherapeutisch sozialisierte ÖAGG-Mitglieder weitere Fachausbildungen in anderen Methoden absolvierten, wollten sie diese Methoden auch im ÖAGG verankern. Infolgedessen fanden 1977 die ersten (Fach-)Sektionsgründungen statt und damit auch die ersten inhaltlichen Differenzierungen zu Gruppendynamik und Gruppenpsychotherapie des ÖAGG. Im Jahr 1977 wurde Familienarbeit als erste Sektion gegründet, gefolgt von Psychodrama und 1979 von Integrativer Gestaltarbeit – in allen Sektionsnamen fehlt noch die Methodenbezeichnung „Psychotherapie“. Der Sektion Gruppendynamik standen damit neue Entwicklungen gegenüber. Es gab somit den alten ÖAGG – Gruppendynamik, Gruppenanalyse und Regionalsektionen – und den neuen ÖAGG – Psychodrama, Gestalt, Familienarbeit.

Mit ihrer Orientierung an der Gesamtheit, dem interdisziplinären Verständnis und den gesellschaftlichen Bezügen blieb für die Gruppendynamik die Entwicklung des Gesamtvereins zentral; sie verlor aber in Bezug zu den Differenzierungen innerhalb des ÖAGG die Vorreiterrolle. Zwischen Neuem und zu Bewahrendem entstand ein Spannungsfeld: einerseits die Fokussierung auf den eigenen methodischen Bereich und andererseits der Anspruch, im professionellen Austausch zu bleiben und den (im Statut genannten) Anspruch an Auseinandersetzung und Zusammenarbeit zu erhalten.

Die Entwicklung von Alpbach ähnelte dem Differenzierungsprozess des ÖAGG als Gesamtverein (Dietrich & Fossel, 2022). In der Anfangszeit dominierte das Angebot von Kleingruppen mit regelmäßig stattfindenden Plenarveranstaltungen, wo Gruppenbegegnungen stattfinden konnten. Waren anfangs die Plenen noch von Fachvorträgen bestimmt, entwickelten sich ab 1970 experimentell ausgerichtete Feldforschungsseminare in einem für die damalige Zeit typischen Design in Klein- und Großgruppen. Mit zunehmender Differenzierung des ÖAGG kam es zu einem verstärkten spezifischen Angebot der Fachsektionen. In der Unterscheidung zwischen „Therapie“ und „Organisationsberatung“ standen sich plenare und Großgruppen-Konzepte gegenüber, die unterschiedliche Grundkonzeptionen und Interventionsrichtungen implizierten.

1.1.4 1980 bis 2000 – Professionalisierung, Positionierung und Fachsektionsgründung

Zwischen 1980 und 1990 war in Gruppen ein Rückzug aus dem politischen Diskurs zu beobachten. Es fand die „Preisgabe des gesellschaftlichen Veränderungswillens zugunsten einer individuellen Selbstbehauptung“ (Shaked, 2011, S. 344) statt. Den ödipalen Konflikten der Gruppe und mit der Leitung, den manisch-depressiven Inszenierungen, den aggressiven Disputen folgte das Bedürfnis nach Sicherheit. Die Auseinandersetzung mit der Autorität hatte sich von einer ödipalen zu einer narzisstischen entwickelt. Die Hierarchie wurde nicht mehr hinterfragt, sondern als diffuse Spiegelung eines Ideals, Vorbilds angesehen. In der Gruppendynamik folgte die Entwicklung von Konzepten und Methoden gruppendynamischer Settings und Interventionen, um die Arbeitsfähigkeit und Selbststeuerungsfähigkeit sowie die Leistung von Gruppen und Teams zu erhöhen.

Im Jahr 1982 differenzierte sich der Ausbildungsbereich Gruppentherapie und Gruppendynamik des ÖAGG in die Sektionen Psychoanalytische Gruppentherapie und Gruppenarbeit (Ingrid Krafft-Ebing und Edith Frank-Rieser) sowie die Sektion Gruppendynamik und psychotherapeutische Gruppenarbeit (Wolf Aull und Waldefried Pechtl). Wie der Name der Fachsektion nahelegt, lag der Fokus auf Feldarbeit (Groupwork), aber auch psychotherapeutischer Gruppenarbeit. Etliche Trainer*innen blieben aktive Mitglieder in beiden Sektionen. Das damalige Argument für die Teilung der zwei Fachbereiche war, dass die Gruppendynamik zu sehr auf das Hier und Jetzt des Gruppengeschehens fokussiert sei und die psychogenetischen Aspekte zu wenig berücksichtige (siehe dazu die Kritik Anthonys, 1971, an Burrows Gruppentheorie; siehe Abschnitt 1.2 „Ausgangspunkte, Entwicklungslinien und Verknüpfungen“).

Wolf Aull, Gruppendynamiktrainer der ersten Stunde und erster Sektionsleiter gemeinsam mit Waldefried Pechtl, vermittelte das Finden des Miteinanders im Hier und Jetzt. Eine seiner Leitinterventionen war: „Wer will was von wem?“ Mit der konsequenten Haltung, dass direkte Kommunikation und Feedback soziales Lernen und Selbsterkenntnis ermöglichen, stellte er sich als Supervisor für Gruppendynamiker*innen in Ausbildung zur Verfügung und hielt diese intensive Betreuung und freundschaftliche Auseinandersetzung bis ins hohe Alter aufrecht.

Waldefried Pechtl war – vor allem in der Arbeit mit Großgruppen – ein Antipode zu Raoul Schindlers Haltung, primär die unbewussten Regungen in der Gruppe zu verdeutlichen und anzusprechen. Pechtls Anliegen war die Unterstützung der Arbeitsfähigkeit der Gruppe und die Differenzierung zwischen zielorientierter, arbeitsfähiger Gruppe und zur Regression neigender Gruppe. Im Buch „Organismus und Organisation“ (1989) stellt Pechtl ein breites Feld von Konzepten zur Verfügung, auch als Grundlage für die organisationsberaterische Arbeit.

Ab 1985 fanden die ersten Fachtagungen „Gruppendynamik-Tage“ in Gallneukirchen (bei Linz) statt und wurden jährlich fortgesetzt (mit Ortswechsel ab 2019, St. Magdalena). Die fachliche Ausrichtung lag anfangs auf der Betonung von Groupwork, der feldbezogenen Gruppenarbeit. Gemeinsame Intention war es, prophylaktisch in gesellschaftlichen Bereichen zu wirken und Gruppenkompetenz in den Bereichen Pädagogik, psychosoziale Beratung und Organisationsentwicklung zu erweitern. Dem Themenbereich „Gruppendynamik als Basiskompetenz“ folgten Differenzierungen der methodischen Anwendungen. Auf einer weiteren Tagung wurden die Vision einer mündigen Gesellschaft und die Auswirkungen des Psychotherapiegesetzes thematisiert. Dem Diskurs zur gesellschaftlichen Relevanz der Gruppendynamik folgte die Auseinandersetzung mit politischer Positionierung, mit Hierarchien und mit der Dynamik der Geschlechter, die in einer zusätzlichen Tagung zur politischen Haltung „Die Macht begehren“ mündete. Dem folgte die Dekonstruktion der Theorieansätze und gelebter Praxis in der Sektion, die Genderdebatte. Wirklichkeitskonstruktionen und Wirkmechanismen der kulturellen und gesellschaftlichen Felder wurden hinterfragt. Immer wieder boten die Gruppendynamiktage neben fachlicher Professionalisierung auch Raum für Auseinandersetzungen mit fachsektionsinternen Fragen der Konkurrenz und Kooperation.

Theorietage

Die ersten Theorietage in der Fachsektion entwickelten sich aus dem Unbehagen einiger Ausbildungskandidat*innen über die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis. Um den Transfer von Theorie in die Praxis herzustellen, entstand die selbst organisierte Veranstaltung ÖAGG-Theorie-Tage zu „Interventionstechniken in Gruppen“ mit den Referenten Wolf Aull, Waldefried Pechtl und Raoul Schindler. Es folgte „Übertragung und Widerstand in Gruppen“ mit den Referenten Alfred Pritz, August Ruhs und Josef Shaked. Das Team Rainer Fliedl, Maria Majce-Egger, Susanna Schenk und Wolfgang Schmetterer veranstaltete 1983–1984 insgesamt vier „ÖAGG-Theorie-Tage“. Im Jahr 1990 erfolgte eine Neuauflage dieser Publikationen und 1995–1999 eine Weiterführung von Theorie-Tagen, der Theorie-Zyklus, durch Hannah Rieger, Michael Ertl und Fritz Schiener.

Praxisbezogene Theorievermittlung fand 1988–1990 im „GD-Forum Linz“ statt, ab 1994–2001 organisiert von Edith Jakob, Andrea Tippe (Heidi Roth, Ingrid Wolkersdorfer, Lothar Jochade) zu folgenden Themen: Konfliktbearbeitung und Autonomie in Gruppen und Organisationen, Legitimität von Autorität in Krisenzeiten, soziale, wirtschaftliche und gesellschaftliche Wege.

Das Trainer*innenteam Gruppendynamik Mühldorf (Rainer Fliedl, Maria Majce-Egger, Susanna Schenk, Wolfgang Schmetterer) experimentierte zwischen 1984 und 2004 mit unstrukturierten Großgruppen und plenaren Gruppen im Wechsel mit Kleingruppen und entwickelte neue Formate wie Selbsterfahrung in Verbindung mit Theorievermittlung nach Gruppenmodellen, Skill-Training und Beobachtungscoaching.

Im Jahr 1995 gründeten Andrea Tippe und Edith Jakob mit OE263 die erste Firma aus der Fachsektion heraus. Konkurrenz und die ökonomische Verwertbarkeit gruppendynamischer Inhalte fanden darin ihren organisationalen Ausdruck. Auf diese erste Gründung folgten 2003 die Berater*innengruppe Naschmarkt und weitere.

In der Funktionsperiode des Fachsektionsleiters Rainer Fliedl (und Wolfgang Schmetterer, später Hans-Rainer Teutsch) von 1996 bis 2000 wurden vorhandene Publikationen des ÖAGG-Gründers aufbereitet bzw. gesammelt. Die theoretische Auseinandersetzung mit der Methode sowie deren Weiterentwicklung wurden vorangetrieben. Regelmäßige Klausuren der Lehrenden ermöglichten methodische Auseinandersetzungen und 1999 die Publikation „Gruppentherapie und Gruppendynamik. Dynamische Gruppenpsychotherapie: Theoretische Grundlagen, Entwicklungen und Methoden“, editiert von Maria Majce-Egger (1999b). Anliegen der Fachsektion GD.DG ist die inhaltliche und strukturelle Verknüpfung von Gruppendynamik, Gruppentherapie und Organisationsentwicklung. In der Publikationsreihe „Visionen und Wege“ wird dieser Ansatz deutlich.1 Initiiert und gefördert vom Fachsektionsleiter Rainer Fliedl ab 1998, begleiteten Lilli Lehner und eine Redaktionsgruppe die wechselnden Herausgeber*innen redaktionell.

Aus der Fachsektion GD.DG entwickelte sich in Kooperation mit anderen Fachbereichen 1997 die Sektion Supervision und Coaching, ein interdisziplinäres Erfolgsmodell, und die Weiterbildung Organisationsentwicklung des ÖAGG.

1.1.5 Das Psychotherapiegesetz verändert das Umfeld

Erich Pakesch aus Graz gab den Anstoß zur Vereinigung der ausbildenden Psychotherapievereine in einen Österreichischen Dachverband. Hans Strotzka und Erwin Ringel realisierten diese Idee und Schindler führte sie erfolgreich weiter. Das kommunikative Engagement des ÖAGG sowie seine Erfahrungen in der Begegnung von Gruppen ermöglichten über jahrelange Lobbyarbeit die Inkraftsetzung des österreichischen Psychotherapiegesetzes (Wißgott & Hochgerner, 2021).

Die Gruppendynamik war in den 1960er-Jahren im Vergleich zu Psychotherapie die stärkere Säule im ÖAGG (Aull, 1994, S. 6). Das änderte sich Anfang der 90er-Jahre mit dem ab 1991 gültigen Psychotherapiegesetz grundlegend. Mit Inkrafttreten des Gesetzes wurde die Fachsektion in „Gruppendynamik und Dynamische Gruppenpsychotherapie“ umbenannt.

Die Trainer*innen des „neuen“ ÖAGG-Bereichs nahmen die Methode Gruppendynamik in ihren neuen Methodenbereich mit und grenzten sich später zunehmend von ihrer Herkunftszugehörigkeit ab – aus vereinsinternen und marktbezogenen Interessen. Die Folgegeneration verlor zunehmend das Wissen der gruppenbezogenen Arbeit im Sinn der Feldbezogenheit. Dieses wurde erst in den letzten Jahren neu entdeckt und wieder integriert. Die methodische Abgrenzung und vermeintlich notwendige Identitätsfindung in einer psychotherapeutischen Methode verringerte die Zusammenarbeit der Fachsektionen. Der Zug ging Richtung Psychotherapie und Markt. Kritisch formuliert Oliver König, dass die Gruppenverfahren an ihrem Erfolg zugrunde gingen.

„Ein gewisses Maß an Allgemeinwissen über Gruppe aus Gruppendynamik, Psychodrama und Gruppenanalyse ist überall eingedrungen […]. So wird in vielen Ausbildungsgängen im psychosozialen Feld, z. B. zur Gruppenpsychotherapie, zur Supervision, zur Organisationsberatung, Gruppendynamik als Thema zwar genannt, ausgebildete Vertreter dieses Verfahrens sind aber nicht beteiligt. Fragt man dann nach, bekommt man zu hören: ‚Ja, Gruppendynamik, das machen wir selbstverständlich auch.‘ Schaut man sich dann an, was damit gemeint ist, so hat das häufig mit dem, was aus meiner Sicht gruppendynamische Sichtweisen und Vorgehensweisen ausmacht, nur wenig zu tun.“ (König, 2010, S. 31)

Schindler zog sich – nach Wirksamwerden der Errungenschaft der gesetzlichen Anerkennung, an der er maßgeblich und an vorderster Position beteiligt war – von der Funktion als Zentralsekretär zurück. Alfred Pritz (Gruppendynamiktrainer und Gruppenanalytiker) wurde zum Generalsekretär des ÖAGG (1991–2001) gewählt. Die große ÖAGG-Veranstaltung „Goldegger Psychotherapiewochen“ von 1991 bis 2000 war getragen von boomenden Psychotherapieausbildungen, die die Legalisierung der Ausübung von Psychotherapie für Nichtärzt*innen mit sich brachte. In diese Zeit fällt auch die Gründung des ÖBVP, des Österreichischen Berufsverbands für Psychotherapie. Dieser löste den Dachverband ab. Alfred Pritz war der erste Präsident, in Doppelfunktion als Generalsekretär des ÖAGG. Der ÖAGG war bedeutender Mitwirker um die Psychotherapieentwicklung und Berufspolitik, internationale Kontakte wurden ausgeweitet. Auf Initiative von Alfred Pritz, seit 1991 auch Generalsekretär des Europäischen Verbandes (EAP), wurden die ersten drei Weltkongresse für Psychotherapie 1996, 1999 und 2002 in Wien veranstaltet und zahlreiche Weiterbildungen erfolgreich angeboten. Nach Ablöse als Generalsekretär durch Ingrid Krafft-Ebing 2001 widmete sich Pritz der Anerkennung einer Privatuniversität für Psychotherapiewissenschaft und ist seit 2005 Rektor der Sigmund Freud PrivatUniversität sowie seit 1995 Präsident des World Council für Psychotherapie mit Sitz in Wien.

Im Jahr 1991, mit Inkrafttreten des Psychotherapiegesetzes in Österreich, war die Wendung ins Subjektive und Private vollzogen. Zur Zeit des Beitritts von Österreich zur Europäischen Union 1995 waren Identitäts- und Existenzängste sowie Beziehungsschwierigkeiten dominierende Themen in Gruppen. Einerseits entwickelte die angewandte Gruppendynamik Formate themenspezifischer Beratung und berufsbezogener Weiterbildung, andererseits gewannen die psychotherapeutischen Methoden (auch durch die Gesetzgebung in Österreich) an Bedeutung. Die Herkunftsbereiche und Berufe hatten sich verändert. Primär nahmen Personen aus sozialen und beratenden Berufsfeldern sowie Berufsgruppen an Seminaren teil. Durch die Legalisierung der Psychotherapie verschob sich die Motivation für die Teilnahme. Es wurde wichtig, eine Bescheinigung zu erhalten, um in einer Berufsausbildung voranzukommen.

Im Jahr 1991 wurde unter der wissenschaftlichen Leitung von Ursula Margreiter (Gruppendynamiktrainerin und Lehrtherapeutin Dynamische Gruppenpsychotherapie, Psychodramaleiterin) das Psychotherapeutische Propädeutikum des ÖAGG gegründet. Bis heute hat es sich zum führenden Propädeutikum Österreichs mit Standorten in mehreren Bundesländern entwickelt und Forschung vorangetrieben. Im Jahr 1992 folgte die Gründung der ÖAGG-Akademie und der ÖAGG mietete im 8. Wiener Bezirk, in der Lenaugasse, Räume – das erste ÖAGG-Sekretariat, das bis dahin vorerst auf der Baumgartner Höhe in Schindlers Büro und später im Büro eines Vorstandsmitglieds untergebracht gewesen war.

„Die aus der Feldtheorie Kurt Lewins hervorgegangene ,Gruppendynamik‘ überschritt sehr bald den Rahmen der laboratoriumsmäßigen Aktionsforschung, wie sie von den Begründern Lewin, Bradford, Lippitt, Benne u.a. als Aufgabe der ,National Trainings Laboratories‘ gesehen wurde, und machte die Grenze zur Psychotherapie unscharf. […] Es war der Verdienst der englischen psychoanalytischen Schule, insbesondere von Bion, der Tavistock-Gruppe, von Ezriel, Whitaker und der vorsichtig sich entwickelnden Schule um Foulkes, sich nicht abhalten zu lassen, psychoanalytische Deutungsarbeit auch auf den ,Organismus Gruppe‘ anzuwenden. Dadurch konnte der Anschluß an die psychoanalytische Krankheitslehre und die von ihr erarbeitete Pathologie des Unbewußten hergestellt werden.“ (Schindler, 1983a, S. 16)

Das war für die Entwicklung der Dynamischen Gruppenpsychotherapie (DG) sehr bedeutsam.

Spätestens ab der Teilung in GD.DG und Gruppenpsychoanalyse (GPA ) wurde die Frage nach der methodischen Ausdifferenzierung und der fachlichen Spezialisierung relevant. Die neue Fachsektion arbeitete an ihrer Identität. Diskussionspunkte waren die weitere methodisch-fachliche Ausrichtung im sozialpädagogischen oder therapeutischen Bereich. Dazu gehörte auch die Überlegung, ob Gruppendynamik als „Sockel“ für alle anderen Ausbildungen und demnach als „Vorstufe“ für weitere Ausbildungen einzurichten wäre. Psychotherapeut*innen brauchen gruppendynamisches Wissen, das den systemeigenen Stellenwert des Zustandsbildes sichtbar machen hilft und die systemeigenen Kräfte bloßlegen kann. Sie sollten „Systemdiagnostiker und Systemtherapeuten“ (Schindler, 1983a) sein.

Im Einreichpapier um Anerkennung als psychotherapeutisches Fachspezifikum wurde erstmals die spezifische methodische Ausrichtung der dynamischen Gruppenpsychotherapie (in der Ausprägung des ÖAGG) schriftlich festgehalten und ausgearbeitet. Möglich wurde dies durch die Initiativgruppe um die Sektionsleiter*innen Walter Milowiz, Elfie Kopp-Oberndorfer und Eva Adler (sowie Mitarbeit von Ursula Margreiter, Heiner Bartuska, Wolfgang Schmetterer, Hans-Rainer Teutsch, Ursula Wisiak und Thomas Klihm) unter Beratung von Raoul Schindler.

Nach der Anerkennung als Fachspezifikum befand sich die Fachsektion in der Krise: Es fehlte die Bereitschaft, die Funktion der Fachsektionsleitung zu übernehmen und das neue Angebot umzusetzen. Die Erarbeitung des Einreichpapiers hatte viel Energie abgezogen und die Konflikte zwischen Gruppendynamiker*innen und Psychotherapeut*innen, die auch Gruppendynamiker*innen und Trainer*innen waren (und sind), befeuert. Eine Anforderung von außen, die uns einem inneren und äußeren Spannungsfeld aussetzte. Durch die Legalisierung von Psychotherapie mit nachfolgenden Anforderungen von außen und Anpassungsleistungen im Inneren war die Veränderung von einem basisdemokratischen Verein zu einer hierarchisch strukturierten Institution nicht mehr aufzuhalten. „Diese Entwicklung hat zunehmend die ursprüngliche Selbstverständlichkeit eines umfassenden Partizipationsanspruchs aller aus den Entscheidungsstrukturen abgedrängt“ (Majce-Egger, 1999e). So rational und unentbehrlich Bürokratisierung sein mag, sie ist mit dem Risiko der Erstarrung behaftet (siehe Schindlers Modell der Polarisationsphasen).

Bis nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Psychotherapie nach Schindler in der Medizin eine Omega-Position eingenommen, die Gruppentherapie noch in den 1950er-Jahren. Diese soziale Isolation der Psychotherapie vor dem Psychotherapiegesetz wich dem Konformitätsdruck der Schulentwicklung – auch eine Form der Erstarrung, jedenfalls der Abgrenzung zu anderen „Schulen“. Das Interesse an Psychotherapie verdrängte den Bereich der Prävention; Fortbildungen im gruppendynamischen und pädagogisch-sozialen Bereich erhielten weniger Beachtung. Dieser Differenzierungskonflikt zwischen Gruppendynamik und Dynamischer Gruppenpsychotherapie hatte und hat Folgen für die Zusammenarbeit in der Fachsektion. Unterschiedliche Logiken mussten organisatorisch, persönlich und inhaltlich unter einen Hut gebracht werden und beleben weiterhin den internen Diskurs. Einer Berufsausbildung Psychotherapie steht eine Fortbildung Gruppendynamik gegenüber.

Im Jahr 1994 leitete daher eine Initiativgruppe um Bernhard Dolleschka (Fachsektionsleiter) eine Organisationsentwicklung ein, die zwei „Abteilungen“ vorsieht. Diese sicherten in enger Zusammenarbeit und engem Austausch Verbindendes für Gruppendynamik (Susanna Schenk, Gertraud Pölzl) und für Gruppenpsychotherapie (Maria Majce-Egger, Hans-Rainer Teutsch) strukturell ab. Die Etablierung der Funktion Ausbildungsleitung DG folgte. Anregender theoretischer Diskurs wurde im neu geschaffenen DG-Inhaltegremium (Rainer Fliedl, Bernhard Dolleschka, Maria Majce-Egger, Gertraud Pölzl, Hans-Rainer Teutsch) zur inhaltlichen Weiterentwicklung der Methode ermöglicht. Theorieentwicklung und ein neues Curriculum folgten. Die Doppelbesetzung der Fachsektionsleitung, jeweils für GD und DG, wurde zeitlich überlappend vorgesehen (im Zippverschlusssystem), um Kontinuität zu erhalten.

1.1.6 Die 2000er – Konkurrenz und Kooperation oder die Ökonomisierung der Gruppendynamik

Ab 2000 wirkten folgenreiche gesellschaftliche Veränderungsprozesse wie Globalisierung und Ökonomisierung der Postmoderne auf die individuelle und soziale Identitätsbildung ein. Der gesellschaftliche Strukturwandel fordert vermehrt Vielfalt und Mobilität von Personen und Gruppierungen. Dieser Gewinn an Wahlmöglichkeiten und Optionsspielräumen bringt auch den Verlust von kollektiver Sicherheit und Zugehörigkeit mit sich. Die gelungene Individualisierung führt nur scheinbar zu mehr Freiheit bei gleichzeitigem Anpassungs- und Leistungsdruck (Beschleunigung, Flexibilisierung, Akademisierung und Verschulung, veränderte Arbeitswelten, Prekariat). Die Beteiligung in Gruppen ist zurückhaltender, nüchterner, gleichgültiger. „Die frühere dominante Lust an der Grenzüberschreitung ist nicht mehr und höchstens noch in rudimentären Ansätzen erkennbar“ (Shaked, 2011, S. 346). Die flachere Hierarchie wird akzeptiert, Normen und vorhandene Regelungen sowie ein Anspruch auf Dienstleistung werden eingefordert. Bildung als „Erkennen und Analyse von Zusammenhängen“ und die Fähigkeit, sie nutzbar zu machen, wird vielfach von Berufsausbildungen abgelöst. Die Entwicklung von Eigensinn, von Wissensvorräten, die nicht immer gleich anwendbar sind, weicht der Vermittlung von Skills, Methoden. Der Optimierungsanspruch und das Expert*innentum nehmen zu. Die Auseinandersetzung mit Autoritäten hat sich verändert und orientiert sich über Dependenz. Der Lernerfolg der einzelnen Teilnehmenden hängt nicht mehr primär von ihnen selbst ab, sondern von den Trainer*innen. Die Gruppendynamik beschäftigt sich mehr mit Intergruppenprozessen und Organisationszusammenhängen. Sie hat sich also immer stärker aus ihren identitätsbildenden Lernsettings Trainingsgruppe, Sensitivity- und Organisationsentwicklungstrainings heraus in die Konzepte von Organisationsberatung, Teamentwicklung und Führungskräftetrainings bewegt. In diesen Kontexten werden die methodischen Kernkonzepte – wie Minimalstruktur und Hier-und-Jetzt-Prinzip – für das zu beratende System adaptiert.

Erst 2002 – nach krisenhaften Entwicklungen im Verein – hatte sich die Mitgliederversammlung für ein Weiterbestehen des ÖAGG und gegen eine Teilung in Subvereine bzw. einen Dachverband entschieden. In den Funktionsperioden der Generalsekretärinnen des ÖAGG Ingrid Krafft-Ebing (2001–2004) und Maria Majce-Egger (2004–2010) wurde die Kooperation mit der Donau-Universität Krems umgesetzt, die den Weg in die Akademisierung der psychotherapeutischen Ausbildungen ebnete. Um die Weiterentwicklung der Akademisierung zu ermöglichen und diesen zukünftigen Anforderungen entsprechen zu können, wurde schon 2006–2010 in Zusammenarbeit aller Sektionen eine Organisationsreform des ÖAGG umgesetzt. Strukturell wurden in den Bereichen Gruppendynamik, Beratung und Supervision neue Kommunikationsformen in Differenzierung zu den psychotherapeutischen Ausbildungen und doch im Austausch mit diesen gemeinsam entwickelt. Zudem wurden Qualitätszertifikate eingeholt und die Corporate Identity des ÖAGG wurde nach außen in allen Medien (Logo, Broschüren, Website) sichtbar gemacht. Auf wissenschaftlichen Tagungen und Kongressen wurde die gruppendynamische, beratende und psychotherapeutische Arbeit in den Diskurs gebracht.

Zunehmende Zusammenarbeit und Vernetzung im Verein zeigt sich in der Gestaltung der ÖAGG-Kongresse. Diese wurden ab 2006 von der Fachsektion Gruppendynamik und Dynamische Gruppenpsychotherapie (GD.DG) in Kooperation mit der Sektion Supervision und Coaching (SVC) gestartet und 2007 vom Beratungsbereich des ÖAGG aller fünf Fachsektionen durchgeführt. Im Jahr 2009 fand der Kongress „Die Gruppe – Antwort auf die Zeit“ mit Angeboten aller Fachbereiche des ÖAGG statt. Der Kongress „Arbeit und Identität“ konnte 2011 erfolgreich mit der Arbeiterkammer Wien durchgeführt werden.

Die Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt ist wesentlicher Kern der Aktivitäten der Fachsektion. Die Methode ist grundlegend demokratisch gedacht. Unser Anliegen ist das Miteinander, im Sinne von Vernetzung und Austausch zwischen Systemen.

„Gruppendynamik ist die Praxis sozialen und organisatorischen Handelns. Geschehen in einem System bildet sich ab in den mit diesem System im Austausch stehenden Systemen. Systeme sind durchlässig“ (Majce-Egger, 1999e, S. 47). Das bedeutet, dass die Anforderungen von außen weiterhin zunahmen. Der Gremienarbeitsaufwand erhöhte sich, ehrenamtliche Funktionsübernahme wurde zunehmend schwieriger. Organisationshandbücher (Fachsektionsleitung: Tippe, Wirnschimmel) mussten entwickelt und Regelungen verschriftlicht, Qualitätssicherungsmaßnahmen und Audits erfüllt werden. Die Professionalisierung schritt voran. Gegenseitige Anerkennung als Basis der Identitätsentwicklung war immer schwerer herzustellen.

Während Anerkennungsbeziehungen bisher auf dem Prinzip der Reziprozität beruhten, also in einem Geben und Nehmen bestanden haben, nähern sie sich heute einer „Form der marktlichen Honorierung“ (Holtgrewe, 2000, S. 64), die im Wesentlichen am Erfolg bemessen wird. Grund dafür ist, dass sich der Fokus der Bewertung längst auf den Output und in die Zukunft verlagert hat (Sanz, 2006, S. 167).

Obwohl für den inhaltlichen Diskurs und die Kooperation der Fachbereiche äußerst erfolgreich, stimmte z. B. das Gremium der Sektionsvertretungen aus monetären Gründen gegen eine Weiterführung des renommierten Alpbachseminars. Ab 2003 war das Großgruppenseminar „Alpbach“ eine Plattform, auf der unterschiedliche theoretische Fachrichtungen kooperierten. Als temporäre Lernorganisation stellte Alpbach den Rahmen zur Verfügung, in dem die jeweiligen theoretischen Ansätze im gemeinsamen Handeln angewandt wurden. Persönliche, organisationale und gesellschaftliche Phänomene, die sich in der Großgruppe spiegeln, wurden mithilfe der Theorien beobachtet und reflektiert.

In unserem Verständnis ist die Großgruppe ein soziales Gebilde, in dem kommunikative Strukturen zur Abwehr früher Ängste nicht mehr ausreichen und die Teilnehmenden zu handelnden räumlichen Darstellungen sowie sozialen Strukturierungen gezwungen sind. In diesem Entwicklungsprozess wird auf individueller und sozialer Ebene bewusstes und unbewusstes Handeln deutlich und reflektierbar. Gleichzeitig ist eine Großgruppe ein sensibler Spiegel des Feldes, in das sie sozial eingebettet ist, und der Gesellschaft (Fliedl & Rieger, 2005).

Die Interdisziplinarität (Gruppendynamik, Gruppenanalyse, Psychodrama, Gestalttherapie, Systemtheorie) ermöglichte die Reflexion der jeweils eigenen Methode im Spiegel der anderen Theorien und erfordert das präzise Denken und Handeln in der eigenen Methode.

Im Bereich der Psychotherapie für Kinder und Jugendliche kam es zu einer Kooperation zwischen der Dynamischen Gruppenpsychotherapie und der Gruppenpsychoanalyse. Im Jahr 2009 wurde der von Rainer Fliedl (DG) und Wolfgang Martin Roth (GPA) konzipierte Weiterbildungslehrgang „Einzel- und Gruppenpsychotherapie für Kinder und Jugendliche“ erstmals durchgeführt und mit Jänner 2016 vom Bundesministerium für Gesundheit als Weiterbildung für Säuglings-, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie zertifiziert. Im Jahr 2019 wurde die Leitung an Karin Zajec (DG) und Judith Pauderer (GPA) übergeben.

Im 4. Jahrzehnt der Zeitschrift „Gruppentherapie und Gruppendynamik“ folgten Oliver König, Ingrid Krafft-Ebing und Bernhard Strauß, später Rolf Haubl, Ulrich-Schultz-Venrath, Christian Warrlich, Andreas Amann, Jochen Eckert, Franziska Lamott und Maria Majce-Egger als Herausgeber*innen. Seit 2011 trägt die Zeitschrift den Untertitel „Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gruppenanalyse“ – und Helga Felsberger (Gruppenpsychoanalyse, ÖAGG) ist Mitherausgeberin. Die Namensänderung bildet die deutsche Entwicklung mit Schwerpunktsetzung in Richtung Psychotherapie ab, die Gruppendynamik geriet in den Hintergrund.

Zahlreiche Gruppendynamiktrainer*innen arbeiten in der Redaktion wissenschaftlicher Fachpublikationen mit. In der Zeitschrift „Gruppendynamik und Organisationsberatung“, Springer Verlag, waren ab 2007 Andrea Tippe, Hannah Rieger, Andrea Sanz und Cornelia Kohlross-Gittenberger aktiv.

Zu Ehren des Wegbereiters der österreichischen Gruppendynamik-Community wurde 1997 der Wolf-Aull-Preis eingerichtet und von 1999 bis 2010 vergeben. Sowohl Projekte der angewandten Gruppendynamik als auch Projekte der Gruppenarbeit im Feld wurden ausgezeichnet (Preisträger*innen siehe Website „https://gddg.oeagg.at/forschung/“).

Um die Psychotherapie von der ärztlichen Diagnostik und ihren Methoden zu emanzipieren, entstand das Buch „Psychotherapeutische Diagnostik. Leitlinien für einen neuen Standard“ (Heiner Bartuska et al., 2005). Für die Dynamische Gruppenpsychotherapie formulierten dazu Friederike Goldmann und Lilli Lehner:

„Störungen werden im Sinne der Dynamischen Gruppenpsychotherapie also als Pathologie des Umfeldes und der in ihm herrschenden Beziehungs- und Kommunikationsstrukturen verstanden. […] Daraus folgt das Verständnis von Krankheit als definierte soziale Rolle – in Anlehnung an Parsons –, die sich aus gestörten Umweltbezügen entwickelt hat und über misslungene Anpassungsleistungen/Symptome beobachtbar und diagnostizierbar wird.“ (Goldmann & Lehner, 2005b, S. 80; siehe auch Abschnitt 1.2 „Ausgangspunkte, Entwicklungslinien und Verknüpfungen“)

Wesentlich war dabei die Ausdifferenzierung der Unterschiede in der Diagnostik der Fachspezifika. Die DG blieb dabei der Überzeugung der Umweltbedingtheit psychischer und sozialer Phänomene treu.

1.1.7 Ab 2010 – Differenz und Differenzierungen

Die zunehmende soziale Ungleichheit als Ursache sozialer und gesundheitlicher Probleme zeigte sich 2010–2020 auch in Gruppenzusammensetzungen: einerseits Therapiegruppen für Personen, die den Ansprüchen der Zeit nicht mehr entsprechen können, daran erkranken, und andererseits Personen, die sie aus einem Optimierungsanspruch heraus nutzen. Die Bereitschaft der Kontaktaufnahme und der Auseinandersetzung ist reduziert; im Vordergrund steht das Erlernen von Skills, um sich gut positionieren zu können, effizienter zu werden. Differenz und Differenzierung sind einerseits positiv besetzt, andererseits kommen Personen, Gruppen, Organisationen und die gesamte Gesellschaft bezüglich der Frage der Zugehörigkeit und einer sicheren Identitätsbildung unter Druck.

Die Dekonstruktion sozialer Konstrukte sowie die Analyse mehrdimensionaler Diskriminierung wurde unter dem Begriff „Intersektionalität“ thematisiert. Bewegungen wie „Black Lives Matter“, „MeToo“ und „Fridays for Future“ fordern soziale und ökonomische Neuorientierung ein. Gelingende Lebensbewältigung erfordert vermehrt die Fähigkeit der Selbstorganisation.

Im Zeitraum 2010–2020 waren erstmals Mitglieder anderer Fachsektionen Generalsekretär*innen des ÖAGG. In dieser Zeit konzentrierte sich der Verein schwerpunktmäßig auf die Akademisierung der Psychotherapieausbildungen. Der ÖAGG wurde eher als Hilfskonstrukt zur Realisierung neuer Projekte verstanden, die innere Weiterentwicklung geriet ins Hintertreffen. Die, seit 2008 vorbereitete, Psychotherapeutische Ambulanz des ÖAGG wurde in Kooperation mit der Wiener Gebietskrankenkasse 2015 umgesetzt. Dort gibt es die Möglichkeit zur Psychotherapieforschung und für Praktika der Auszubildenden der Fachspezifika. Sie ist seither eine Tochtergesellschaft des ÖAGG mit eigener Geschäftsführung (Majce-Egger & Dietrich, 2019). Im Jahr 2018 wurde die Bertha von Suttner Privatuniversität des ÖAGG gemeinsam mit der Stadtgemeinde St. Pölten gegründet (Funktionsperiode Maria-Anna Pleischl, Psychodrama).

Seitens der Fachsektion kam es zu häufigen Leitungswechseln. Zuletzt konnten nicht mehr beide Leitungsfunktionen besetzt werden. Andrea Sanz, Klaus Schulte, Cornelia Kohlross-Gittenberger, Lothar Jochade, Michaela Judy, Peter Ettl und Karin Zajec arbeiteten engagiert am Zusammenhalt der auseinanderstrebenden Fachsektionsbereiche. In zusätzlichen Klausuren der Trainer*innen und Lehrtherapeut*innen wurden Inhaltliches, vermehrt Strukturelles sowie die Auswirkungen der Akademisierungsbestrebungen der Psychotherapie auf die fachsektionsinterne Kooperation und Außenwirksamkeit thematisiert. Die Diskussionen zur Entscheidung für eine Kooperation mit der BSU (Bertha von Suttner Universität) waren für die Fachsektion herausfordernd.

Die Themen der Fachsektionstagungen bewegten sich zwischen den Bereichen Innovation, Zugehörigkeit und Trennendes, Grenzen, Marktinteressen, Interdisziplinarität und Forschungsfragen.

Im Jahr 2013 wurde auch im Bereich Gruppendynamik ein Inhaltegremium (Michael Burger, Edith Jakob, Michaela Judy, Andrea Sanz) etabliert, um die Trainer*innenversammlung zu entlasten und Theorieentwicklung voranzutreiben. Die Ausbildung für Trainer*innen wurde um ein Angebot für Professionals erweitert, eine selbst organisierte Gruppe der angehenden Trainer*innen, die gemeinsam an Theorieverständnis und -entwicklung sowie an der gruppendynamischen Identität im Kolleg*innenkreis arbeiten. Feldvorlesungen und neue Angebote wurden entwickelt.

Andrea Sanz vertritt Österreich im Redaktionsteam der Fachzeitschrift „supervision – Mensch. Arbeit. Organisation“, einer Zeitschrift für Berater*innen, die unter anderem von Wolfgang Weigand 1982 gegründet wurde. Sanz zeichnet seit 2013 verantwortlich für zahlreiche redaktionelle Heftbetreuungen unter anderem zu gruppendynamischen Schwerpunktthemen wie Großgruppe und Autorität. In diesem Rahmen veröffentlicht sie selbst und Fachsektionmitglieder Artikel, in die unsere gruppendynamischen Ansätze einfließen, die damit einem breiten Fachpublikum zugänglich gemacht werden.

Die Großgruppe als experimenteller sozialer Entwicklungsraum, als Forschungsprojekt, wurde 2009 in der Tagung des ÖAGG „Die Gruppe – Antwort auf die Zeit“ mehrfach vorgestellt. In der Festveranstaltung „60 Jahre ÖAGG“, 2019, wurde sie als Projekt der Fachsektion GD.DG angeboten, geleitet von Rainer Fliedl gemeinsam mit Julia Rappich und Lukas Ofner-Reßler (Fliedl et al., 2020). Ein weiteres Projekt ist für 2024 in Vorbereitung.

Das Weiterbildungscurriculum DG für Psychotherapeut*innen wurde unter der Federführung von Lilli Lehner entwickelt und umgesetzt.

Seit 2012 finden in Linz auf Initiative von Andrea Tippe Aktionsforschungsseminare rund um das Thema Macht und Partizipation in Zusammenarbeit mit dem ÖAGG, der Fachsektion GD.DG, OE 263, der Gewerkschaft GPA-djp und der Universität Linz/Soziologie statt. Anlass war die Auseinandersetzung mit der Kapitalkonzentration nach der Finanzkrise 2008. Aus der Initiative entwickelte sich 2016 ein eigenständiger Verein.

Im selben Jahr wurde eine Zusammenstellung ausgewählter Schriften Raoul Schindlers unter dem Titel „Raoul Schindler. Das lebendige Gefüge der Gruppe“ von Christina Spaller, Konrad Wirnschimmel, Andrea Tippe, Judith Lamatsch, Ursula Margreiter, Ingrid Krafft-Ebing und Michael Ertl herausgegeben.

Eine Anfrage der bulgarischen Community von Berater*innen und Psychotherapeut*innen führte zur Weiterbildung durch Gruppendynamiktrainer*innen der Fachsektion und zur Gründung eines gruppendynamischen Instituts in Sofia.

1.1.8 Ab 2020 Generationenwechsel und Zugehörigkeit

Im Jahr 2020 war die professionelle Weiterentwicklung im ÖAGG – im Sinne der Wirksamkeit im politischen, gesellschaftlichen Feld – auf Individualoptimierung in psychotherapeutischen Ausbildungen stagniert. In der Fachsektion entsprach die Gremienstruktur nicht mehr den aktuellen Anforderungen. Aus der Autonomie der Fachsektion wurde eher Abhängigkeit von den im ÖAGG gestaltenden Kräften. Ressourcen wurden verknappt und somit wurde Entwicklung eingeschränkt (Ettl, 2020).

In der Fachsektion fand ein Generationenwechsel statt. Es galt, Neues zu entwickeln und bisher Bewährtes zu überprüfen, zu verwerfen oder zu adaptieren, Zukunftsszenarien zu entwerfen. Mit den gelingenden Übergaben wesentlicher gestaltender Funktionen in beiden Sektionsbereichen konnte beginnend mit der Fachsektionsleitung von Peter Ettl und Karin Zajec wieder vermehrt an einer verbindenden Identität gearbeitet werden. Ab der Wahl von Karin Zajec zur Generalsekretärin des ÖAGG setzten Hannah Rieger und Heinz Baumann sowie zuletzt Christine Pechtl diese Entwicklungsrichtung fort.

Im Bereich Gruppendynamik ist eine innovative Strukturänderung im organisatorischen Aufgabenbereich der Trainer*innenversammlung in Erprobung, die der Erstarrung dynamisch entgegenwirkt. Weitere sind in Planung.

Infolge der veränderten Rahmenbedingungen der Ausbildung und dem Generationenwechsel in der Theorievermittlung kam es zur Überarbeitung des Curriculums der Dynamischen Gruppenpsychotherapie und dessen Neueinreichung. Initiiert von Gwendolin Eckert wurden diese Aktualisierungen im Lehrenden- und Inhaltegremium DG (Silvia Korlath, Gwendolin Eckert, Karin Zajec, Christine Pechtl) unter Berücksichtigung eines Forschungsschwerpunktes erarbeitet.

Die Anforderungen seitens des Ministeriums, die Notwendigkeit der universitären Anbindung, Forschungs und Publikationsanforderungen gehen derzeit zulasten der inhaltlichen Auseinandersetzung innerhalb der Fachsektion.

Gesellschaftliche Entwicklungen der Postmoderne, sich aktuell verändernde gesetzliche Grundlagen für die psychotherapeutische Ausbildung sowie für diverse andere Aus- und Weiterbildungsangebote und das Wachstum des ÖAGG durch die Gründung der Tochtergesellschaften – diese Anforderungen stellten (und stellen) den Verein vor neue Aufgaben. Deren Bewältigung machte die dringliche Notwendigkeit einer zeitgemäßen strukturellen Adaption deutlich. Seit 2020 konzentriert sich der ÖAGG unter Vorsitz von Karin Zajec einerseits auf eine weitreichende Reorganisation des Vereins auf struktureller Ebene. Im Zuge dessen wurde 2021 der Vereinsstatus umfassend verändert und 2022 eine Geschäftsführung eingesetzt. Andererseits fokussiert der ÖAGG die Beförderung integrativer Prozesse über die verschiedenen Ausbildungs- und Mitgliederbereiche des Vereins hinweg. Dies findet Ausdruck in einer verstärkten Zusammenarbeit auf unterschiedlichen Ebenen. Ziel ist dabei die Förderung einer gemeinsamen Identität und eines Wirgefühls sowie die Herstellung einer neuerlichen Basis für inhaltliche Weiterentwicklung. Eine weitere Zielsetzung besteht darin, den Boden für eine erneut stärkere Wirksamkeit im gesellschaftlichen wie politischen Feld aufzubereiten.

Im Lehrbuch zum Psychotherapeutischen Propädeutikum wird die Methode Dynamische Gruppenpsychotherapie (Zajec & Korlath, 2021) dargestellt. Eine weitere Publikation wurde 2022 im Band „Psychotherapeutische Diagnostik“ herausgegeben – einem Kompendium für alle in Österreich anerkannten Therapieverfahren (Korlath & Zajec, 2022).

Die Zeitschrift des ÖAGG, „Feedback“, erschien erstmals im Mai 1983, initiiert von ÖAGG-Mitgliedern, in der Mehrzahl Gruppendynamiker*innen, unter Redaktionsleitung von Peter Schütz. Sie wurde lange als „Vereinszeitschrift“ geführt, die Fachartikel und Rezensionen beinhaltete. Dank der Initiative von Günther Dietrich (GPA) und später der Generalsekretärin Karin Zajec (ab 2020) entwickelte sie sich zu einer wissenschaftlichen Zeitschrift, die seit 2023 im Psychosozial-Verlag erscheint.

Aktuell ist in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Gesellschaft für Gruppendynamik und Organisationsberatung (ÖGGO) sowie der Deutschen Gesellschaft für Gruppendynamik und Organisationsdynamik (DGGO) für 2025 eine weitere Tagung in Planung (Peter Ettl, GD-ÖAGG).

Seit 2022 hat Christine Pechtl die Doppelfunktion als Fachsektionsleitung und Ausbildungsleiterin DG inne. Zum Zeitpunkt der Entstehung des Buches ist ein neues Psychotherapiegesetz in Ausarbeitung, das die Entwicklung in Richtung Akademisierung fortschreibt. In Zukunft ist die inhaltliche Kooperation der Fachspezifika mit Universitäten geplant. Die Fachsektion setzt sich mit der Frage auseinander, inwieweit die Besonderheiten der Dynamischen Gruppenpsychotherapie im universitären Umfeld und bei der zunehmenden Orientierung der Psychotherapie an medizinischen Krankheitsmodellen haltbar sein werden.

Damit in der fortschreitenden Professionalisierung die Ausbildungslogiken von GD und DG kompatibel bleiben können, wird weiterhin Aufmerksamkeit für Differenzierung und Kooperation wesentlich sein.

Viele Personen, die wir nicht namentlich genannt haben, waren ebenfalls im Zusammenspiel wichtig. Besonders fällt auf, dass auch in der Geschichte der Gruppendynamik die beteiligten Frauen nicht von Beginn an explizit erwähnt worden sind. Inzwischen hat sich dies sowohl für Publikationen als auch für die gestaltende Einnahme von Funktionen der Fachsektion und des Gesamtvereins verändert. Mit Schindler teilen wir das Wissen, dass Gruppen ohne innere Rangdynamik und gemeinsames Gegenüber nicht existieren und Leistungen immer als Gemeinschaftsleistungen zu denken sind.

1.2 Ausgangspunkte, Entwicklungslinien und Verknüpfungen

Karin Zajec, Christine Pechtl

Menschen sind soziale Wesen. Sie leben und organisieren sich in Gruppen und können nur in Bezügen zu anderen existieren. Diese formelhaft anmutende Aussage beschreibt die Grundhaltung unserer Methode der Gruppendynamik, die auch der Dynamischen Gruppenpsychotherapie zugrunde liegt. Sie gibt uns jedoch keinen konkreten Hinweis darauf, in welchem theoretischen Rahmen sie eingebettet ist. In der Sichtweise unserer Methode bilden Person und Umwelt „eine Konstellation interdependenter Faktoren“ (Lewin, 1946, S. 376), bedingen und beeinflussen sich also ständig gegenseitig. Um ein in diesem Sinne ganzheitliches Bild und Verständnis dieser Interdependenz zwischen Individuum und Umwelt (= Gruppe – Kultur – Gesellschaft) entwickeln zu können, bedarf es der Zusammenschau theoretischer Überlegungen unterschiedlicher Disziplinen: systemtheoretischer Soziologie, Sozialpsychologie und Tiefenpsychologie. Im vorliegenden Beitrag werden für unsere Methode wesentliche Aspekte dargestellt, einer weitgehend chronologischen Entwicklungslinie folgend.

Vorangestellt seien hier noch drei Überlegungen:

• Alle genannten Disziplinen sind relativ junge Wissenschaften. Im Sinne der oben genannten Interdependenz können und müssen die Entwicklungszeitpunkte verschiedener Gedanken, Konzepte und Theorien auch unter folgendem Blickwinkel betrachtet werden: Wann wurde es möglich, was zu denken, bzw. welche gesellschaftlichen Entwicklungen spiegeln sich darin wider? Oder anders gefragt: Aus welcher Notwendigkeit heraus wurden welche Theorien entwickelt und wie brauchbar sind sie für das Verständnis aktueller Dynamiken der (Post-)Moderne? Als Einordnungshilfe ist unten stehend in Abb. 1 eine Übersicht über die Lebensspanne wesentlicher Denker*innen dargestellt, auf die im Folgenden Bezug genommen wird.

• Drei grundlegende Theorien prägen unsere Methode: Systemtheorie und Konstruktivismus, die Theorie der Symbolbildung und Psychoanalyse sowie Lewins Feldtheorie und die sozialpsychologische Gruppendynamik (Fliedl, 2004). Im Folgenden wird versucht, wesentliche Entwicklungsgrundlagen und Aspekte zu oben genannten Theoriegebäuden überblickshaft darzustellen – weniger in dem Versuch, sie ineinander zu übersetzen, sondern vielmehr um sie als „unterschiedliche Darstellungsformen der Wirklichkeit wahrzunehmen“ (Fliedl, 2004, S. 15). Je nach Fokus und Fragestellung der Betrachtenden besteht die Anforderung darin, zu sehen, was in welcher Theorie dargestellt werden kann und was nicht, zu klären, worin die Nützlichkeit dieser Theorie für Betrachtungen über Personen, Gruppen und Organisationen liegt, und dies innerhalb der eigenen Überlegungen synthetisch zusammenzuführen bzw. sich damit die Grundlage für ein mehrdimensionales Verständnis anzueignen.

•Ein besonderer Aspekt der Gruppendynamik in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung war und ist, dass es notwendig ist, sich den Verhältnissen selbst auszusetzen, die man untersuchen will, um sie zu begreifen. Dies verweist auf den der Gruppendynamik innewohnenden Anspruch von Aufhlärung und Emanzipation. Die Gruppendynamik widmet sich seit jeher der Beförderung von Demokratisierungsprozessen, der Entwicklung eines Verständnisses von Affekten in Gruppen sowie dem Verhältnis von Autorität und Selbststeuerung in Gruppen und Organisationen. Dies hat nicht an Aktualität eingebüßt.

Abb. 1: Übersicht zur Lebensspanne von im Artikel genannten Theoretiker*innen

1.2.1 Gesellschaft/Gruppe als eigener Organismus

Sowohl in den theoretischen Konzepten als auch in der Interventionstechnik der Gruppendynamik nehmen wir die Gruppe als eigenständigen Organismus wahr. Im Sinne der Feldtheorie befinden sich Person und Umwelt in einem unauflöslichen Zusammenhang, ist das Ganze etwas anderes als die Summe der Teile.

Mit der Konstituierung der Soziologie als Wissenschaft im 18. und 19. Jahrhundert kam es zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit gesellschaftlichen Verhältnissen und Gruppen. Diese gibt Zeugnis von der damals einsetzenden allgemeinen Veränderung breiter europäischer Schichten über das Verständnis der sozialen Welt. Zielsetzung war, „die Regelmäßigkeiten oder ‚Gesetze‘, denen die scheinbar chaotischen Ereignisse der sozialen Welt unterworfen waren, aufzudecken“ (Goudsblom, 1979, S. 28). Der Mensch betrachtet sich zunehmend selbstkritisch. Soziologie ist damit die wissenschaftliche Methode der Selbstbeobachtung und Selbstreflexion der Gesellschaft der Moderne.

Zur Lebenszeit von Herbert Spencer (1820–1906) herrschte die Erkenntnis vor, dass organische Veränderungsvorgänge nur durch das Zusammenwirken endogener (in der Struktur des Lebewesens angelegter) und exogener (von der physikalischen Umwelt ausgehender) Faktoren bedingt sein können und sich damit alles Organische zu zusammenhängenden Systemen fortbildet. Davon ausgehend entwickelte er die These, dass mit diesem universalen Entwicklungsgesetz „spezifische Schlussfolgerungen auf die Entwicklungsgesetzlichkeiten des Superorganischen, d. h. der menschlichen Gesellschaft gezogen werden“ (Kiss, 1977a, S. 254) können. Dabei bestehen eine gegenseitige Abhängigkeit der Elemente vom Ganzen sowie eine Abhängigkeit der Elemente untereinander. Das Leben der Teile unterscheidet sich gänzlich von dem des Ganzen. „Je höherentwickelter ein Organismus ist, um so mehr ist das Leben der Teile auf die Integrationsfunktion des Ganzen angewiesen, durch die Leben produziert wird“ (Kiss, 1977a, S. 254). Übersetzt auf die Arbeit mit Gruppen bedeutet dies: Einzelne Gruppenmitglieder sind von der Integrationsfunktion der gesamten Gruppe abhängig, die erst wiederum Entwicklung für die Einzelnen sowie die gesamte Gruppe ermöglicht. Diese Erkenntnis ist in der Denkgeschichte der Gruppendynamik und der Dynamischen Gruppenpsychotherapie eine Grundlage des Konzepts Außenseiter (Omega, siehe Abschnitt 1.3 „Rangdynamik in Anwendung“). Es geht darum, nicht auszustoßen, sondern zu integrieren. Damit öffnen sich Entwicklungsspielräume.

Spencer arbeitet heraus, dass diese Prinzipien besonders für menschliche Gesellschaften gelten, bei denen der „soziale Organismus“ (das Ganze) mit seinen Individuen als „individuellen Organismen“ verbunden ist. Dabei konstituieren im sozialen Organismus getrennte Individuen das Ganze, die durch ihre relative freie Aktivität Absonderungs- und Differenzierungsprozesse erzeugen und gleichzeitig auf die Koordination von Handlungen angewiesen sind. Funktionsspezifische Differenzierung und Strukturgebung (Aneinanderlagerung der Elemente) geschieht hier durch die gesellschaftliche Organisation von Handlungsabläufen. Die Struktur der Gesellschaft bestimmt sich dabei nach der Art und Weise der An- und Zuordnung innerhalb des Ganzen; soziale Beziehungen werden durch institutionelle Regelungen verfestigt und strukturiert.

Gesellschaft wird damit als „Quasi-Organismus“ betrachtet, dessen Funktionieren bedeutsam ist hinsichtlich der Funktionen der Sinngebung, Zielsetzung und alternativer Lösungsversuche. Dabei wird „Gesellschaft“ als expandierende Systemdifferenzierung verstanden, die im Spannungsfeld zwischen Funktionen und Strukturen nach einem dynamischen Gleichgewicht strebt, in dem es darum geht, Ungleichheiten infolge steigender Heterogenität auszubalancieren. Mit der Anwendung dieser naturwissenschaftlichen Denkweise gelingt der Vorstoß zu wichtigen soziologischen Kategorien wie Wachstum und Komplexität, Struktur und Umwelt, Funktion und Anpassung, Differenzierung und Interdependenz – Begriffspaare, die sich bei Lewins Feldtheorie in den Entwicklungsrichtungen des Feldes wiederfinden.

1.2.2 Soziales Handeln als Bezugnahme

Personen handeln. Dies hat Auswirkungen, die anhand von Interaktionen deutlich und damit beobachtbar, beschreibbar und überprüfbar werden. Dabei steht soziales Handeln im Fokus des Interesses. Ersteres ist nach Max Weber (1864–1920) idealtypisch dann vorhanden, wenn der Sinn der Handlung auf andere bezogen wird und diese in ihrem Ablauf am vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftig erwarteten Verhalten der anderen orientiert ist (Weber, 2019).

„Subjektives Handeln wird also nur dann zum sozialen Handeln, wenn es eine Beziehung zu anderen darstellt“ (Kiss, 1977b, S. 123). Dies wird mit Gruppen „Beziehungsgestaltung“ genannt.

Beispiele hierfür sind: einen Vortrag so halten, dass die Teilnehmenden folgen können; Anschlussfähigkeit (nach Luhmann) herstellen; Rache nehmen; Bezug auf Aussagen oder Verhaltensweisen eines anderen Gruppenmitglieds nehmen.

Diese Orientierung an anderen gibt jedoch noch keine Auskunft über die Richtung des Handelns – positiv oder negativ. Nach Weber kann Handeln von Zweckrationalität, Wertrationalität, Emotionen oder Traditionen bestimmt sein. Sein System sozialer Beziehungen hat drei wesentliche Merkmale:

1. Soziale Beziehungen bestehen aus Handlungen, die sinnvoll aufeinander abgestimmt werden können.

2. Es ist ein Prozess der Vergemeinschaftung, wenn das soziale Handeln auf subjektiv gefühlter emotionaler oder traditioneller Zusammengehörigkeit beruht. Ein Prozess der Vergesellschaftung liegt hingegen vor, wenn soziales Handeln auf zweck- oder wertrational motiviertem Interessensausgleich oder einer so motivierten Interessensverbindung beruht (wo Markt- und Machtchancen eine wesentliche Rolle spielen) – mit der Tendenz, soziale Beziehungen zu regulieren oder zu rationieren. Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung sind die integrativen sozialen Beziehungen; ihnen stehen Kampf- und Konkurrenzbeziehungen gegenüber.

3. Soziale Beziehungen weisen durch tendenzielle Perpetuierung bestimmter Handlungsabläufe Regelmäßigkeiten auf. Dies geschieht durch Brauch, Sitte, Interessen oder die legitime Ordnung (Konvention, Recht). Die legitime Ordnung kann äußerlich, aber auch innerlich (z. B. durch Werte) garantiert sein und ist einer der wichtigsten Faktoren im Prozess der Vergesellschaftung.

In der Anwendung der Gruppendynamik liegt auf diesen Aspekten besonderes Augenmerk. Es gilt, Prozesse zu analysieren und zu reflektieren, interpersonelle Kommunikation anzuregen, mittels Feedback erwartete und nicht erwartete Auswirkungen des sozialen Handelns wahrnehmbar zu machen und zu reflektieren, Gesetzmäßigkeiten und Normen zu erkennen, Wechselwirkungen wahrzunehmen und zu benennen. Unter Anwendung des Hier-und-Jetzt-Prinzips sowie von Feedback kann all dies zugänglich gemacht werden, wodurch die Möglichkeit für Veränderung entsteht.

1.2.3 Innere Motive menschlichen Handelns – Grundlagen zwischenmenschlichen Zusammenspiels

Zeitlich parallel entwickelte Sigmund Freud (1856–1939) die Psychoanalyse. Dies markiert rückblickend den Beginn des, in westlichen Gesellschaften seit Anfang des 20. Jahrhunderts, stark steigenden Interesses für Gesundheitsprobleme und psychische Gesundheit.

Freud hat sich zwar nicht explizit mit den Möglichkeiten der Psychoanalyse in einer Gruppe auseinandergesetzt, sich aber dem Massenphänomen gewidmet. In „Totem und Tabu“ (1913) beschäftigt er sich mit Aspekten kultureller Ordnungssysteme. Den Grund für jede kulturelle Weiterentwicklung sieht er im unbewussten Wunsch des Sohnes, den Vater zu töten und mit der Mutter eine sexuelle Beziehung einzugehen. Zum Schutz vor diesen Wünschen nach Mord und Inzest entstehen gesellschaftliche Regeln und Tabus. Freuds Theorien dazu stützten traditionelle Muster und patriarchale Autoritäten (Rohde-Dachser, 1992). In „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ (1921) befasst sich Freud mit „den Beziehungen der Psychoanalyse als einer Individualpsychologie zur Sozial- oder Massenpsychologie“ (Heigl-Evers, 1978, S. 17), wobei er die Abgrenzung von Individual- und Sozialpsychologie für schwierig hält. „Der Unterschied zwischen narzißtischen und sozialen seelischen Akten, zwischen der Befriedigung von Triebregungen einmal in Beziehungen zu anderen Personen und ein andermal außerhalb des Einflusses anderer, eignet sich seines Erachtens nicht dazu, eine solche Abgrenzung zu begründen“ (Heigl-Evers, 1978, S. 17). Er stellt infrage, ob der soziale Trieb ursprünglich und damit unzerlegbar sei oder nicht doch die Herausbildung ihre Anfänge im familiären Kreis nimmt, womit es aus seiner Sicht schwierig sei, dies der Sozialpsychologie zuzuordnen. Freud beschäftigte sich mit der Regression von Menschen in Großgruppen. Aus seiner Sicht empfinden wir in großen Gruppen ein fast ozeanisches Gefühl der Nähe und Verbundenheit, was unsere Fähigkeiten zu Individualität und Selbstkritik reduziere. Wir projizieren dabei unser Ich-Ideal auf eine*n Führer*in und fühlen uns mit ihm, seinen Anliegen und den anderen Mitgliedern der Masse verbunden. Archaische Gefühle wie Erregung und Wut werden nicht mehr vom Über-Ich, sondern nur durch die*den Führer*in kontrolliert und gelenkt ausgelebt.

Freud beschreibt damit den innerpsychischen Mechanismus der Projektion in seiner sozialen Wirksamkeit. Überlegungen zur Arbeit mit kleineren Gruppen entstanden erst im Laufe des Zweiten Weltkriegs im anglikanischen Raum (Bion, Ezriel, Foulkes).

In Freuds Theorie steht das Individuum im Zentrum – und die Frage, wie dessen Triebwünsche in einer Sozialisationsgeschichte zu einer Anpassung an die Gesellschaft und einem Umgang mit sich selbst führen. „Der Triebreiz stammt nicht aus der Außenwelt, sondern aus dem Inneren des Organismus selbst [...]. Da er nicht von außen, sondern vom Körperinneren her angreift, kann auch keine Flucht gegen ihn nützen“ (Freud, 1915, S. 211). Das Erleben des Triebes ist mit dem Erleben von Lust und Unlust verknüpft und an die Vorstellung menschlicher Bedürfnisse gekoppelt.

Aus psychologischer Sicht erzeugt der Trieb also eine Spannung. Während Freud das Erleben des Triebes unmittelbar mit dem Erleben von Lust und Unlust verknüpft, verweist Kurt Lewin im Rahmen der Feldtheorie auf die Bedeutsamkeit der durch den Reiz entstehenden Spannung und der daraus resultierenden Kräfte als wesentlichen vorgelagerten Aspekt, damit eine Richtung (Lust oder Unlust) als Grundlage konkreten Verhaltens entsteht. Diese Überlegung erscheint wesentlich, um Verhalten nicht nur zu erkennen, sondern auch zu verstehen. Sie dient als Grundlage weiterer Überlegungen für Interventionsplanung, um Bewegung und Veränderung anstoßen zu können.

Affektäußerungen dienen nach Freud der Abfuhr und damit der Triebregulation. „Sie haben keine primär kommunikative Funktion, sondern gewinnen diese erst sekundär durch die Reaktion des Individuums, welches das Kind pflegt. [...] Affekte werden als Folge einer Dysregulation der Triebe angesehen. Dem Affekt wird keine primäre soziale Zeichenfunktion zugesprochen“ (Krause, 2012, S. 177). Nicht die Beziehung ist hier wesentlich. Elternfigur und Kind begegnen sich als zwei triebgesteuerte, von innen heraus motivierte Subjekte.

Freuds Konzepte, bezogen auf die Notwendigkeiten der Passung zwischen Individuen und Umwelt, beschreibt er nur auf einem abstraktiven Niveau, indem er dem „Ich“ die Ordnung der konflikthaften Beziehung zwischen Es, Umwelt/Außenwelt und Über-Ich zuordnet. Mit der Entwicklung des zweiten Instanzenmodells (Ich, Über-Ich, Es und Umwelt) wird verdeutlicht, dass bereits in der kindlichen Entwicklung wie auch im weiteren Leben eine Kompromissbildung zwischen den Anforderungen innerer Instanzen (Es, Über-Ich) und der Außenwelt notwendig ist. Diese Aufgabe kommt dem Ich zu. Über die Bindung des Triebes an ein Objekt entsteht eine Triebrepräsentanz. Dies wird von den Abwehrmechanismen gesteuert, woraus die konkrete Handlung (oder Symptombildung) resultiert. Mit dieser Abwendung von der Dysmorphiehypothese (Anlagebedingtheit) wird in der Psychoanalyse ähnlich wie in der Soziologie und Sozialpsychologie die Relevanz der Umgebung für das Individuum wahrgenommen.

Welche Relevanz die Außenwelt hat, wird mehr in Freuds Beschreibung von neurotischen Entwicklungen und den damit verbundenen Identifizierungsvorgängen deutlich (vgl. Freud, 1912, 1921). Eine Beschreibung der kommunikativen Störung findet sich lediglich im Konzept der Übertragung bzw. Gegenübertragung, dass die jeweiligen Vorstellungen über die andere Person in der Beziehung bedeutsam und damit beziehungssteuernd sind. Freuds Konzepte liefern für die Arbeit mit Gruppen noch wenig Anwendungshilfe. Es bedarf eines weiteren Schrittes, diese Situation des Dyadischen in eine Beziehung zum Gruppalen weiterzuentwickeln. Erst seine unmittelbaren und mittelbaren Schüler*innen erarbeiteten ein für die Zwecke der Gruppendynamik hilfreiches Verständnis.

Melanie Klein (1882–1960) und ihre Kolleg*innen gingen im Gegensatz zu Freud davon aus, dass von Anfang an Objektbeziehungen bestehen und diese für die Entwicklung des Säuglings wesentlich sind. „Es gibt im Säugling ein angeborenes, präformatiertes Wissen über Objekte sowie die Fähigkeit, triebhafte Aktivitäten mit Phantasien über die Art und Weise der Beziehungsgestaltung zum Objekt (unbewusste Phantasie) zu versehen“ (Ehlers & Holder, 2009, S. 141). Säuglinge sind von Beginn an und zunehmend mehr in der Lage, zwischen „guten“ und „bösen“ Objekten sowie sich selbst und anderen (also Objekten) zu unterscheiden. Hier sei ergänzt, dass Ergebnisse der Säuglingsforschung darauf hinweisen, dass „es gute Gründe für die Annahme gibt, daß der Säugling von Anfang an sich selbst und die ihn umgebenden Objekte als voneinander getrennt wahrnimmt“ (Dornes, 2002, S. 910; siehe Abschnitt 2.1 „Entwicklung in Beziehung“).

Wilfred R. Bion (1897–1979) bezeichnet diese angeborene Erwartung als Präkonzeption. Über die Beziehungserfahrung können sich Beziehungskonzepte und in der Folge ein „Apparat zum Denken“ bilden. Emotionale Erfahrungen sind damit Vorläufer von Gedanken und damit auch (unbewusster) Fantasien. Beziehungserfahrungen gestalten also die Psyche und alle weiteren Beziehungserfahrungen (siehe Abschnitt 2.2 „Gruppenprozesse analysieren“). Die Entwicklung der Identität ist mit der Internalisierung von Objekten verbunden, das Selbst geht über das Ich hinaus und enthält (Teil-) Objekte der frühen Bezugspersonen. Auch Kernberg (*1928) geht in seiner Ausdifferenzierung der Objektbeziehungstheorie davon aus, dass „die von Freud beschriebenen Triebe – Libido und Aggression – immer in Bezug auf einen spezifischen Anderen – ein Objekt – erlebt werden. Innere Objektbeziehungen sind Bausteine psychischer Strukturen und dienen als Organisatoren von Motivation und Verhalten“ (Clarkin et al., 2008, S. 1). Selbst- und Objektrepräsentanzen ergeben mit dem sie verbindenden Affekt eine Objektbeziehungsdyade und spiegeln eine Repräsentanz wider, wie sie im frühen Entwicklungsverlauf zu bestimmten Zeitpunkten erlebt wurde. Anders gesagt: Es kommt zur Internalisierung von Erinnerungsspuren eben dieser Objektbeziehungsdyaden, die hinsichtlich der psychischen Struktur gestaltend wirken.

Immer mehr wurde die Beziehung zum Thema der psychoanalytischen Theorie und Praxis, zum Mittel der Erkenntnis und Entwicklung. Psychoanalyse als „gemeinsame, mitgeteilte Erfahrung – das heißt eine geteilte und miterlebte Erfahrung“ (Haynal, 2009, S. 43) ganz im Sinne Bions „learning from experience“ (1962).

Neuere Erkenntnisse der Säuglings- und Bindungsforschung bestätigen die grundsätzliche Beziehungsorientierung des Menschen. Ohne Beziehung keine Entwicklung. Der Mensch ist also nicht nur ein trieb-, sondern auch ein beziehungsorientiertes Wesen.

1.2.4 Von der Verdrängung zur interpersonellen Abwehr

Freud beschrieb die Verdrängung als wesentlichen Abwehrvorgang. Ein Triebimpuls wird dabei verdrängt, also unbewusst, weil seine Bewusstheit einen inneren Konflikt in der Person auslösen würde, der unerträglich wäre. Sobald der Impuls verdrängt und damit ins Unbewusste verschoben ist, kann die Person auf einem neurotischen Niveau weiter funktionieren. Diese Abwehr wird, wie oben ausgeführt, vom „Ich“ organisiert und schafft einen Kompromiss zwischen Es, Über-Ich und Umwelt. Im Über-Ich spiegelt sich dabei die über die gesamte Entwicklung verinnerlichte Welt der Umgebung wider. Mit dem Begriff „Umwelt“ sind Repräsentanzen anderer Menschen, Organisationen und der Gesellschaft gemeint.

Auf Freuds Tochter Anna Freud (1895–1982) geht die weitere Erforschung und Klassifizierung der Abwehrmechanismen zurück (1936). Diese geht weit über den klassischen Abwehrbegriff hinaus und schließt die Beschreibung der Veränderung von Affekten bzw. Affekt-Kognitionsverknüpfungen sowie deren soziale Anteile ein.