Leben und Sterben - Alena Buyx - E-Book

Leben und Sterben E-Book

Alena Buyx

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Beschreibung

Die ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrats  Alena Buyx über die großen Fragen des Lebens – allgemein verständlich und lebensnah Wenn es um unsere Gesundheit geht, wir mit Krankheit konfrontiert werden, oder es um Leben und Tod geht, stehen wir vor Entscheidungen, die uns nicht selten überfordern. Die Medizinethikerin Alena Buyx greift die vielen ethischen Fragen auf, vor denen wir früher oder später alle stehen. Sie befähigt uns, eigene Einschätzungen und Positionen zu bilden und letztlich gute Entscheidungen zu treffen.  Die Herausforderungen umfassen die gesamte Lebensspanne: So geht es ebenso um künstliche Befruchtung, pränatale Diagnostik und Frühgeburten wie um Sterbehilfe, assistierten Suizid und Palliativmedizin. Dabei spielen immer auch die neuen Möglichkeiten eine Rolle, die sich aus der aktuellen Forschung ergeben, so etwa der Einsatz von KI und Robotik. Anhand zahlreicher Beispielgeschichten führt uns Alena Buyx klar und verständlich, gleichzeitig zugewandt und empathisch durch die großen Fragen.  Ein Kompass für die existenziellen Fragen, die uns alle angehen – Medizinethik für alle.

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Seitenzahl: 346

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Alena Buyx

Leben und Sterben

Die großen Fragen ethisch entscheiden

 

 

Über dieses Buch

 

 

Wenn es um unsere Gesundheit geht, wir mit Krankheit konfrontiert werden, oder es um Leben und Tod geht, stehen wir vor Entscheidungen, die uns nicht selten überfordern. Die Medizinethikerin und ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrats Alena Buyx greift die vielen ethischen Fragen auf, vor denen wir früher oder später alle stehen. Sie befähigt uns, eigene Einschätzungen und Positionen zu bilden und letztlich gute Entscheidungen zu treffen. 

Die Herausforderungen umfassen die gesamte Lebensspanne: So geht es ebenso um künstliche Befruchtung, pränatale Diagnostik und Frühgeburten wie um Sterbehilfe, assistierten Suizid und Palliativmedizin. Dabei spielen immer auch die neuen Möglichkeiten eine Rolle, die sich aus der aktuellen Forschung ergeben, so etwa der Einsatz von KI und Robotik. Anhand zahlreicher Beispielgeschichten führt uns Alena Buyx klar und verständlich, gleichzeitig zugewandt und empathisch durch die großen Fragen. 

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Prof. Dr. Alena Buyx, geboren 1977, ist ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrats. Während der Corona-Pandemie ist sie durch ihre engagierte Aufklärungsarbeit der breiten Öffentlichkeit bekannt geworden. Für ihren Einsatz für den gesellschaftlichen Zusammenhalt während der Krise wurde sie mehrfach ausgezeichnet. 

 

Alena Buyx studierte Medizin, Philosophie, Soziologie und Gesundheitswissenschaften. Als Professorin für Medizinethik ist sie Direktorin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Technischen Universität München. Seit 2024 ist sie Mitglied des Expertenrates »Gesundheit und Resilienz« der deutschen Bundesregierung. 

Inhalt

Einleitung

1. Kapitel Werden

Ethische Debatten am Lebensanfang

Der Fall von Tim

Der Fall von Mai und Stefan

Herausforderungen bei extremer Frühgeburt

Der moralische Status geborenen Lebens

Die ethischen Prinzipien

Sorgerecht

Bewertung des Lebens

Stellvertretung

Vorgehen

Künstliche Befruchtung und Präimplantationsdiagnostik

IVF – Die ethische Debatte der letzten Jahrzehnte

Das Argument der schiefen Ebene

PID – Aktuelle Pro- und Kontra-Argumente

Zurück zum Fall von Mai und Stefan

2. Kapitel Sterben

Tod und Sterben in der Medizin

Ein Experiment

Der gute Tod, das gute Sterben

Sterbebegleitung und Sterben lassen

Der Fall von Herrn K.

Der Fall von Frau T.

Herr K. und Frau T.: Was macht den Unterschied aus?

Alleine sterben

Stellvertretende Entscheidungsfindung und Vorausverfügen

Vollmachten und Patientenverfügungen

Herausforderungen in der Vorausverfügung und stellvertretenden Entscheidungsfindung

Indikation und Therapieziel

Therapiezielkonferenz

Vorausschauende Versorgungsplanung

›Passive‹ und ›indirekte‹ Sterbehilfe

Anmerkung zu den Begriffen

›Passive‹ Sterbehilfe oder: Therapie und Therapieverzicht am Lebensende

Äquivalenz von Tun und Unterlassen

Zeitpunkt der ›passiven‹ Sterbehilfe

›Indirekte‹ Sterbehilfe: Symptomlinderung am Lebensende mit in Kauf genommener Lebenszeitverkürzung

Lehre von der Doppelwirkung

Aktive Sterbehilfe und Beihilfe zum Suizid

Definition der aktiven Sterbehilfe

Aktive Sterbehilfe – Ein denkwürdiger Abend in Münster

Fallbeispiel assistierter Suizid

Definition des ärztlich assistierten Suizids

Regelung des ärztlich assistierten Suizids und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2020

Stellungnahme des Deutschen Ethikrates

Tatherrschaft

3. Kapitel Sorgen

Ethik im Arzt-Patienten-Verhältnis

Der Fall von Herrn M.

Arzt-Patienten-Verhältnis und Medizinrecht

Standardfall in der Medizin versus Ausnahmezustand für Patientinnen und Patienten

Medizinische Indikation: Welche Informationen sind wichtig?

Medizinische Indikation: Welche Behandlung ist die richtige?

Therapieziel: Was sind die Prioritäten?

Aufklärung und informierte Einwilligung

Wie sollte eine informierte Einwilligung ablaufen?

Wie sollte das Arzt-Patienten-Verhältnis aussehen?

Das partnerschaftliche Arzt-Patienten-Verhältnis

Das paternalistische Modell der Arzt-Patienten-Beziehung

Das Vertragsmodell der Arzt-Patienten-Beziehung

Die herausfordernde Realität

Der Fall von Frau A.

Vertrauen und der Umgang mit Fake News

Weitere Herausforderungen

Ausblick

4. Kapitel Formen

Aktuelle und zukünftige Medizintechnologie

Intuitionentrigger: Vier kurze Fallbeispiele

Künstliche Intelligenz – Einige allgemeine Ausführungen

Dual-Use-Technologie

Monopolstrukturen

Das Verhältnis von menschlicher und künstlicher Intelligenz

KI und Medizin

Zurück zu den Fallbeispielen

Vier ethische Prinzipien

Wege nach vorn

Literaturhinweise

Einleitung

Lehrbücher und grundlegende Literatur (Auswahl)

Weitere in Bezug genommene sowie vertiefende Literatur

1. Kapitel Werden

Einführende und Übersichtswerke (Auswahl)

Weitere in Bezug genommene sowie vertiefende Literatur

2. Kapitel Sterben

Einführende und Übersichtswerke (Auswahl)

Weitere in Bezug genommene sowie vertiefende Literatur

3. Kapitel Sorgen

Einführende und Übersichtswerke (Auswahl)

Weitere in Bezug genommene und vertiefende Literatur

4. Kapitel Formen

Einführende und Übersichtswerke (Auswahl)

Weitere in Bezug genommene sowie vertiefende Literatur

Danksagung

Einleitung

Es ist ein strahlend schöner Oktobertag in München, ich im Taxi auf dem Weg ins Robotik-Institut. Leicht gehetzt, weil ich mal wieder zu spät dran bin und den Bus verpasst habe. Heute bin ich unterwegs zu einem Fachkollegen aus der Robotik und bin sehr gespannt. Ich bin noch ganz neu an meiner Universität, der Technischen Universität München (TUM), und habe in den letzten paar Wochen ganz viele Antrittsbesuche bei verschiedenen Kolleginnen und Kollegen absolviert. Man stellt sich vor, knüpft die ersten Kontakte, redet über gemeinsame Interessen in der Forschung und Lehre, lernt sich kennen. Meine neue Professur heißt ›Ethik der Medizin und Gesundheitstechnologien‹, und der Präsident der Uni hat mir aufgetragen, mich mit all den Robotikern, Ingenieuren und Technikwissenschaftlern zu vernetzen und meine ethischen Überlegungen in deren Arbeit hineinzutragen. Das hatte ich ihm natürlich mit leuchtenden Augen und freudig zugesagt. Ich arbeite sehr gern interdisziplinär. Insbesondere mit praktisch tätigen Ärztinnen und Ärzten, mit Juristen, mit Sozialwissenschaftlerinnen und anderen klappt das super. Man lernt ganz viel von diesen Kolleginnen und Kollegen und bietet im Gegenzug ethische Analyse und verschiedene Forschungsmethoden an. Meist kommen spannende, teils sehr wichtige Ergebnisse dabei heraus. Aber wie das werden wird mit den Hardcore-Technikern weiß ich nicht, und deshalb bin ich tatsächlich etwas aufgeregt. Vielleicht kann der Kollege mit Ethik überhaupt nichts anfangen?

Um mich etwas abzulenken, komme ich mit dem Taxifahrer ins Gespräch, ein netter Mann um die 60, der mir stolz von seiner Tochter erzählt, die auch an der TUM studiert, und zwar Mathematik. »Haben Sie auch was mit dem Krankenhaus zu tun?«, fragt er. »Ja, klar«, sage ich, »ich bin auch ans Krankenhaus angebunden. Aber heute fahre ich zu den Robotikern!« Und dann muss er mir fünf Minuten zuhören, wie ich voller Begeisterung erzähle, was es da an neuen Entwicklungen gibt: Pflegeroboter, Roboter für Telemedizin, Künstliche Intelligenz, also smarte Software-Programme, die helfen können, Röntgenbilder genauer zu befunden und Krebs früher zu diagnostizieren, und so weiter und so fort. Er hört mir geduldig zu, und gerade als wir in die Straße des Robotik-Institutes einbiegen, sagt er zu mir: »Das ist ja spannend, was Sie alles von diesen ganzen neuen Technologien erzählen. Computerprogramme, die Krankheiten früher finden, das klingt toll. Aber wissen Sie was? Meine Frau ist neulich etwas außerhalb von München zweimal operiert worden, am Darm. War alles gut, sehr nette Ärztinnen und Ärzte, sie hat das alles gut überstanden. Wir waren zufrieden. Aber immer, wenn ich sie im Krankenhaus besucht habe und da unten im Eingangsbereich auf der Toilette war – dann war da keine Seife im Seifenspender. Der war immer leer. Man konnte sich nie ordentlich die Hände waschen. In einem Krankenhaus! Das ist ja nicht hygienisch. Und ich hab mich immer gefragt, warum kriegen die das nicht hin? Wenn Sie schon über Roboter und Künstliche Intelligenz nachdenken, können Sie nicht erstmal anregen, dass es Seife in den Seifenspendern gibt?!« Und damit halten wir vor dem Robotik-Institut, ich zahle, steige aus, stehe vor der Tür – und bleibe dem Taxifahrer eine gute Antwort auf seine sehr berechtigte Frage schuldig.

Eine ganz andere Situation: Herr H. ist ein richtiger Haudegen. 1,87 Meter groß, 73 junge Jahre alt, laute, tiefe Stimme, viele Geschichten zu erzählen. Er ist ehemaliger Unternehmer, dem immer noch ein Kino und eine Reinigungsfirma gehören. Er hat ein interessantes, intensives Leben geführt – viel Arbeit, viele Reisen, viel gutes Essen, viele Partys, viel Alkohol. Er hatte zwar verschiedene Erkrankungen, genoss sein Leben trotz gewisser Einschränkungen aber immer sehr. Jetzt liegt er bei uns auf der Intensivstation, in einem ganz, ganz schlechten Zustand. Nach einem Abendessen bei Freunden ist er nachts auf dem Weg zur Toilette gestürzt, mit dem Kopf an eine Schrankkante geknallt und wurde von seiner Frau, wohl erst einige Stunden später, im bewusstlosen Zustand gefunden und per Notarzt zu uns ins Klinikum gebracht. Die Ärzte stellten eine große Blutung ins Gehirn fest. Noch auf dem Weg und dann in der Klinik wurde er intensivmedizinisch behandelt. Im Augenblick ist er künstlich beatmet und ohnmächtig. Blutdruck und Herzschlag sind sehr instabil und werden gegenwärtig nur durch starke Medikamente halbwegs aufrecht gehalten. Die Hirnblutung war sehr groß, und wenn es kräftig ins Gehirn geblutet hat, dann schwillt alles an, und der entstehende Hirndruck droht, das Gehirngewebe zu zerdrücken. Um das zu vermeiden, könnten die Neurochirurgen die Schädeldecke öffnen, Platz schaffen und dann den Schädel wieder schließen, wenn die Schwellung zurückgegangen ist.

Seine Ehefrau, Frau H., 67 Jahre alt, und der 38-jährige Sohn Michael H. haben schwere Tage hinter sich. Sie sind müde und geschockt von dieser Situation, die ganz plötzlich über alle hereingebrochen ist. Der Abend vor dem Sturz war so nett, sie waren bei Familienfreunden und hatten auf Michaels Verlobung vor zwei Wochen angestoßen. Jetzt sitzen sie seit Tagen immer wieder mit Schutzkleidung ausgestattet in einem weißgrünen Zimmer, neben einem stetig piependen Intensivbett. Gerade hören sie mit sorgenvollem Gesichtsausdruck dem behandelnden Oberarzt aus der Neurochirurgie zu, der erklärt, was die Lage ist.

Herr H. braucht jetzt eigentlich einen neurochirurgischen Eingriff, genauer die Öffnung der Schädeldecke. Anders kriegt man den steigenden Hirndruck nicht mehr in den Griff. Es ist aber im Zustand von Herrn H. unklar, was das Ergebnis dieser OP sein wird. Selbst wenn sie erfolgreich verläuft, kann man schwer vorhersagen, wann und in welchem Zustand Herr H. danach wieder aufwacht. »Man kann im Moment nicht versprechen, dass er bald wieder nach Hause kommt«, sagt der Neurochirurg an Frau H. gewandt. Der Sohn will wissen, ob es auch ein Risiko gibt, dass sein Vater bei der OP verstirbt. Der Oberarzt sagt, das sei zwar unwahrscheinlich, aber nicht ganz auszuschließen. Die Hoffnung sei, so erklärt er, dass Herr H. es schafft und die Operation den Hirndruck, der ihn ansonsten umbringen würde, verringern kann und er dann wieder aufwacht. »Es gibt leider aber auch die Möglichkeit, dass sich die Situation bei Ihrem Mann jetzt bald weiter verschlechtert und er die Operation dann nicht gut übersteht. Wir dürfen also nicht mehr viel Zeit verlieren, sondern müssen schnell entscheiden.« Gleichzeitig ist unklar, wie es Herrn H. gehen wird, sollte er im günstigen Fall wieder zu Bewusstsein kommen. »Es ist recht wahrscheinlich, dass Ihr Mann dauerhafte Pflege brauchen wird. Ich kann Ihnen wirklich nicht versprechen, dass wir ihn zu Ihnen nach Hause verlegen können«, sagt der Arzt. Auf die Frage des Sohnes, ob denn wenigstens die lebenserhaltenden Maßnahmen, die Herr H. gegenwärtig braucht – also die künstliche Beatmung und die Medikamente, die verhindern, dass das Herz aufhört zu schlagen –, nach der OP beendet werden können, sagt er: »Das hoffen wir, aber auch das kann man nicht garantieren.«

Ob die Familie darüber nachgedacht hat, wie in einer solche Lage wie jetzt vorzugehen ist? Frau H., eine sanfte Frau, ist von der Situation und dieser Frage sichtlich überfordert. Sie schaut zu ihrem Sohn: »Dein Vater würde niemals ein Pflegefall sein wollen … Oh Gott, Michael, was sollen wir denn jetzt machen?« Aber auch ihr Sohn, ebenso überrumpelt wie seine Mutter davon, den dominanten und lebenstüchtigen Vater von jetzt auf gleich so hilflos zu sehen, weiß das nicht. Wüssten Sie es, liebe Leserin und lieber Leser?

 

Diese zwei Fälle: Das ist mein Fach. So unterschiedlich sie sind, so sehr gehören sie doch beide ins Zentrum der Überlegungen einer Disziplin, die sich Medizinethik nennt. Denn die Medizinethik beschäftigt sich mit dem guten und richtigen Handeln in der Medizin. Das kann sowohl die Entwicklung neuer Technologien betreffen als auch die konkrete Versorgung am Krankenbett.

Die erste Situation berührt die medizinethischen Fragen, wie wir die neuen Medizintechnologien bewerten wollen, wie wir verantwortlich mit ihnen umgehen können und welche Prioritäten wir dabei setzen sollten. Was ist uns in der Versorgung besonders wichtig und warum? Welche Ziele wollen wir mit diesen Technologien anstreben?

Im Fall von Herrn H. stecken klassische medizinethische Fragen, die sich immer wieder bei schwierigen medizinischen Behandlungsentscheidungen stellen, insbesondere bei schweren Erkrankungen oder am Lebensende: Was ist für den Patienten in dieser Situation insgesamt das beste Vorgehen? Soll hier noch behandelt werden, und wenn ja, wie? Welche Prognose gibt es, welche Risiken der verschiedenen Behandlungswege? Und wie kommt man, wenn es Unsicherheiten gibt, in einem solchen Fall zu einer guten Entscheidung?

Medizinethik ist also ein Fach mit einer sehr großen Bandbreite an Themen. Es geht um Argumente und es geht um Gründe und Begründungen. Allgemein gesprochen stellen wir in der Medizinethik »Fragen nach dem moralisch Gesollten, Erlaubten und Zulässigen, speziell im Umgang mit menschlicher Krankheit und Gesundheit«, wie es meine akademische Lehrerin und Professorin für Medizinethik Bettina Schöne-Seifert sehr prägnant in ihrem Buch zu den Grundlagen der Medizinethik formuliert, auf das ich mich in dieser Einleitung unter anderem beziehe (Sie finden es, so wie auch weitere relevante Literatur, im Anhang). Wir überlegen, was das beste Vorgehen, die beste Entscheidung in einer bestimmten individuellen Situation oder mit Blick auf eine bestimmte Regelung ist, und untersuchen die jeweiligen Gründe. Es geht um den einzelnen Patienten, die einzelne Patientin, vom ersten Augenblick bis zum Tod, und es geht um die Gesundheit der Bevölkerung, unser Gesundheitssystem und den Umgang mit Forschung und Fortschritten in der Medizin. Medizinethik ist ein Fach, das regelmäßig bearbeitet, was kompliziert wird und wo es auch einmal weh tut: die »Neulandfragen«, wie Bettina Schöne-Seifert das nennt, die schwierigen, die umstrittenen, die schmerzlichen Fragen. Gleichzeitig bietet das Fach viele praktische Instrumente an, um solche herausfordernden Themen und Fragen anzugehen, sie besser zu verstehen, sie umfassender zu bearbeiten und sie in unserer pluralen Welt vielleicht gut zu lösen.

Als besonders praxistaugliches und hilfreiches theoretisches Handwerkszeug hat sich für die Medizinethik die sogenannte Prinzipienethik erwiesen, die Aspekte verschiedener philosophischer Ansätze zusammenführt und in diesem Buch noch vielfach eingesetzt werden wird (zu alternativen Ansätzen, aber auch zu Kritik finden Sie Literatur im Anhang). Die Prinzipienethik ist vor allem im bekanntesten und einflussreichsten Lehrbuch der Medizinethik, den Principles of Biomedical Ethics von Tom L. Beauchamp und James F. Childress, beschrieben worden. 1977 erschien dieses Lehrbuch in der ersten Ausgabe und hat unser Fach seitdem stark geprägt. Der Ansatz ist immer wieder weiterentwickelt worden, 2019 erschien die achte und bislang letzte Auflage (leider noch immer nicht auf Deutsch). Verkürzt beschrieben ist die Prinzipienethik ein wissenschaftlich-analytisches Handwerkszeug für die Untersuchung und Lösung von medizinethischen Fragestellungen und Konflikten. Sie entstand aus der praktischen Auseinandersetzung mit konkreten Herausforderungen: Die beiden Autoren, ein Moralphilosoph (Tom Beauchamp) und ein theologisch ausgebildeter Ethiker (James Childress), saßen seit den späten 1960er Jahren immer wieder gemeinsam in verschiedenen Kommissionen in den USA, die sich mit schwierigen medizinethischen Fragen zu beschäftigen hatten. Beide waren Anhänger vollkommen unterschiedlicher moralischer Überzeugungen und Vertreter verschiedener ›Ethikschulen‹ (einer gläubig, der andere Atheist; einer Anhänger der Pflichtenethik, der andere Verfechter der Folgenethik). Sie konnten sich auf der abstrakten Ebene moralischer Haltungen und ethischer Theorien beziehungsweise sogenannter Letztbegründungen auf eigentlich gar nichts verständigen. Beide stellten aber fest, dass sie sich dennoch auf eines fast immer einigen konnten: Eine Reihe ethischer Prinzipien war für die Bewertung und die Analyse einer konkreten Fragestellung wichtig. Und mit diesen Prinzipien kamen sie bei den meisten Fragen und Problemen zu guten Begründungen und sinnvollen Lösungsansätzen – trotz gänzlich unterschiedlicher moralischer Grundüberzeugungen und ethischer Theorien.

Die vier wesentlichen Prinzipien sind folgende: Das Prinzip des Respekts vor Selbstbestimmung von Patienten besagt, dass jede Person selbst darüber bestimmen darf, was mit ihrem Körper geschieht, und dass diese Entscheidungen, wenn sie wohlüberlegt sind, respektiert werden müssen. Das Prinzip des Nichtschadens ist ein uraltes medizinethisches Prinzip (»primum non nocere«) und fordert, dass mit medizinischen Maßnahmen zuallererst nicht weiterer Schaden verursacht werden darf und unerwünschte Nebenwirkungen und Risiken zu beachten sind. Das Prinzip der Fürsorge/des Wohltuns verlangt, die bestmögliche Behandlung und Versorgung für den individuellen Patienten anzustreben. Und das Prinzip der Gerechtigkeit erfordert, zeitliche, personelle, materielle Ressourcen in der Medizin angemessen, bedarfsgerecht und fair zu verteilen. Diese Prinzipien werden uns immer wieder begegnen und in den einzelnen Kapiteln dann noch weiter ausgeführt. Sie können auf fast alle Situationen angewendet werden und bieten in den meisten Fällen eine analytische Matrix an, mit deren Hilfe man die jeweiligen Fallkonstellationen und Konfliktsituationen beschreiben, analysieren und schließlich oft auch lösen kann, je nach Kontext ergänzt um weitere ethische oder auch rechtliche Überlegungen. Ihre Anwendung funktioniert besonders gut, wenn es um den einzelnen Menschen oder eine bestimmte Technologie geht, so wie in diesem Buch. Diese Analyse erfolgt so gut wie immer interdisziplinär – man muss also zunächst die klinische Situation medizinisch-sachlich verstehen beziehungsweise die Funktion einer neuen Medizintechnologie durchdringen und kann dann das analytische Handwerkszeug darauf anwenden. Wie das genau funktioniert, das werden Sie im Folgenden ›live und in Farbe‹ sehen.

Eine kurze Anmerkung zum wichtigen Verhältnis von Medizinethik und Recht. Gerade in der Forschungsethik, aber auch in anderen Bereichen der Medizinethik, gibt es nicht selten die Situation, dass es entweder noch gar keine rechtlichen Regeln gibt, die eine neue Entwicklung erfassen, oder dass solche Regeln sozusagen ›überholt‹ werden von der Entwicklung, etwa wenn an neuen Verfahren oder Methoden geforscht wird. Ein bekanntes Beispiel ist das Embryonenschutzgesetz von 1990. Dieses Gesetz wurde ursprünglich eingeführt, um neue Technologien der Fortpflanzungsmedizin und der reproduktionsmedizinischen Forschung zu regeln – bis dahin gab es dazu keine speziellen Gesetze. Vorangegangen war eine intensive Debatte zu den ethischen Fragen, die sich mit diesen Innovationen ergaben (darauf kommen wir im Kapitel Werden zu sprechen). Heute, mehr als 30 Jahre später, da sind sich viele Expertinnen und Experten ziemlich einig, erfasst das Gesetz schon lange nicht mehr all die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin und -forschung – also all die Entwicklungen, die in dem Bereich entstehen, für die das Gesetz ursprünglich einmal geschaffen wurde.

Oder, um ein weiteres Beispiel zu nennen: Es gibt eine ganz neue Entwicklung, die gerade in die Praxis drängt, die sogenannte ›Genschere‹ (Crispr Cas). Mit dieser neuen Biotechnologie kann man die genetische Information (das Genom) von Tieren, Pflanzen, aber eben auch von Menschen verändern, entweder am Embryo oder am bereits geborenen Menschen. Man wird zukünftig vermutlich bestimmte genetische Krankheiten vermeiden oder heilen können, und es wird auch intensiv beforscht, ob und wie man andere Eigenschaften verändern kann, die gar nichts mit Medizin zu tun haben – mathematische Fähigkeiten, körperliche Schnelligkeit und vieles mehr. Ethische Fragen sind da offenkundig: Sollte man das tun? Was von dem, was die Genschere an Veränderungsmöglichkeiten innerhalb und außerhalb der Medizin bietet, sollte man einführen und was nicht, und warum? Brauchen wir gesetzliche Regelungen und wenn ja, wie sollten diese aussehen?

Es gibt viele andere Beispiele, die auch in die klinische Ethik hineinragen. Kürzlich wurde wieder öffentlich diskutiert, wie denn nun mit dem medizinisch assistierten Suizid umzugehen sei; vor ein paar Jahren wurden die Regelungen zur Transplantation neu überdacht, und in den letzten gut 30 Jahren wurde der Umgang mit dem Lebensende rechtlich normiert, ohne dass damit alle Fragen bereits geklärt wären. Mal wird über die Weiterentwicklung von Gesetzen debattiert, mal sind es Einzelfälle, die vor Gericht entschieden werden, dazu kommen wir im Kapitel Sterben.

Wir stehen also immer wieder vor der Situation, dass die rechtlichen Regeln, die es mit Blick auf Medizin gibt, nicht (mehr) passen oder dass es noch gar keine Regeln gibt, während gleichzeitig in einer immer schneller und global ablaufenden Forschung neue medizinische Möglichkeiten, Technologien und Anwendungen entstehen. Und das erfordert, dass wir ständig gesellschaftlich debattieren müssen, wie mit neuen Errungenschaften umgegangen werden soll. Oft, aber nicht immer, werden dann Regeln festgelegt, meist gesetzlich oder durch die Höchstgerichte.

Das sind alles auch medizinethische Debatten. In Anlehnung an den vielzitierten Satz des großen Juristen Dieter Grimm »Recht ist geronnene Politik« könnte man also sagen, dass viel Gesetzgebung auch geronnene Ethik ist. Denn vor den politischen Debatten, oder parallel dazu, wird auch gesellschaftlich über moralische Überzeugungen, Wertvorstellungen und ethische Argumente und Theorien diskutiert – und dann ›gerinnen‹ die daraus entstehenden Vorschläge oft zu Recht, werden also letztlich gesetzlich umgesetzt. Und in dieser Diskussion und nach Analyse vielfältiger Aspekte kann die Medizinethik, die sich mit diesen gesellschaftlich relevanten Themen beschäftigt, begründete Antworten und Handlungsvorschläge machen. Darauf – und auch auf die relevanten rechtlichen Regeln – werde ich an verschiedenen Stellen hinweisen. Konzentrieren werden wir uns aber vorrangig auf die ethischen Debatten.

Denn, auch das ist wichtig: selbst wenn Höchstgerichte Entscheidungen fällen, die für den Umgang mit Patientinnen und Patienten am Krankenbett rechtliche Verbindlichkeit haben oder Gesetze biomedizinischen Fortschritt regeln – selbst dann sind nicht alle ethischen Herausforderungen und Fragen geklärt und sollten es auch nicht sein. Dafür ist das Handlungsfeld der Medizin viel zu feinkörnig, vielgestaltig und wandelt sich viel zu stetig und schnell. Wie in anderen Bereichen auch bleibt also ein breiter Handlungsspielraum, in dem das Ermessen aller Beteiligten eine Rolle spielt. Und genau dafür brauchen wir die ethische Analyse.

Ich möchte Ihnen zeigen, wie die Medizinethik arbeitet, und Sie einladen, mit mir zusammen über die enorme Vielfalt der Fragen nachzudenken. Ich werde versuchen zu skizzieren, wie in meinem Fach über bestimmte Fragen diskutiert wird. Ich werde darauf hinweisen, warum bestimmte Fragen so wichtig sind, warum ihre Beantwortung gesellschaftliche Relevanz hat und auch, warum sie kontrovers, also umstritten sind. Und ich werde vorstellen, welche Positionen und Lösungsansätze es gibt. Einige dieser Debatten werden Sie kennen, andere sind vielleicht neu für Sie. Wie viel auch immer Sie kennen, die Lektüre wird Ihnen hoffentlich ermöglichen, zu eigenen Einschätzungen und Positionen zu kommen – vielleicht ein wenig informierter als vorher.

Die Darstellung von ethischen Kontroversen, Debatten und Analysen greift zwar auf aktuelle Literatur und den state of the art zu. Aber es kann hier nicht jede Komplexität, die wir in der aktuellen Forschung meines Faches und den angrenzenden Disziplinen bearbeiten, dargestellt werden. Auch wenn wir eine große Bandbreite von Fragen und Themen in diesem Buch besprechen, sind das natürlich nicht alle, die in der Medizinethik wichtig sind. Dieses Buch ist kein Lehrbuch. Im Anhang finden Sie verschiedene Lehrbücher, wenn Sie sich einen umfassenden Eindruck des Faches der Medizinethik verschaffen möchten. Und zu jedem Kapitel und Thema finden Sie eine Auswahl vertiefender und weiterführender Literatur, wenn Sie Lust haben, sich intensiver mit einem bestimmten Thema zu beschäftigen (wenn ich mich in einem Kapitel auf Studien oder Belege beziehe, finden Sie diese ebenfalls im Anhang, aber auch das nicht in der Ausführlichkeit eines akademischen Fachbuchs). Die Kapitel werden zumeist mit Fallgeschichten beginnen, um die Themen anschaulich zu machen. Das sind, so wie die ersten beiden in dieser Einleitung, überwiegend echte Fälle, die ich manchmal ein wenig verändert habe, damit die Identitäten betroffener Personen geschützt sind. Neben der Darstellung von Debatten und Argumenten werden immer auch Lösungsansätze besprochen, aber auch offene Fragen.

Wir müssen uns dabei übrigens nicht einig sein. Einigkeit ist auch nicht erklärtes Ziel unseres Faches in der Forschung und Praxis. Man lebt in der Medizinethik auch von der Unterschiedlichkeit der Positionen. Und auch wenn ich Ihnen meine hier und da vorstellen werde, gehe ich dabei überhaupt nicht davon aus, dass ich Sie immer überzeugen kann. Darum geht es mir auch gar nicht. Manchmal, und ehrlich gesagt eigentlich sogar meistens, gibt es mehrere, gleich oder ähnlich gut zu begründende Positionen – das gehört dazu. Nicht immer findet man den ›Korridor der Gemeinsamkeit‹ (das ist einer meiner Lieblingsausdrücke, mit dem ich in meiner Zeit als Vorsitzende des Deutschen Ethikrates versucht habe zu beschreiben, wie man trotz anfangs unterschiedlicher moralischer Überzeugungen eine gemeinsame ethische Position formulieren kann). Ethik ist die Theorie, das systematische Nachdenken über Moral. Und Moral ist in unserer Gesellschaft sehr vielfältig. Es gibt sehr viele verschiedene moralische Überzeugungen und Wertvorstellungen. Entsprechend können sich auch nach sorgfältiger ethischer Analyse unterschiedliche Positionierungen ergeben. Das müssen wir alle aushalten. Auf der gesellschaftlichen Ebene, insbesondere wenn es um konkrete rechtliche oder politische Fragestellungen geht, müssen wir dann entweder unterschiedliche Wege zulassen, mit Herausforderungen umzugehen, oder weiter darum ringen, Möglichkeiten zu finden, die es erlauben, trotz unterschiedlicher Positionen ein gemeinsames Vorgehen zu gestalten.

Es würde mich freuen, wenn es gelingt, Ihnen das medizinethische Handwerkszeug so weit nahezubringen, dass Sie befähigt sind, es nicht nur auf die hier im Buch verhandelten Themen anzuwenden, sondern darüber hinaus vielleicht auch auf Situationen in Ihrem eigenen persönlichen Leben. Gerade dann, wenn es um schwierige, wenn es um umstrittene Dinge geht.

Ich glaube fest daran, dass es für unsere immer komplexer werdende Welt und unsere plurale, lebendige und komplizierte Gesellschaft sehr wichtig ist, dass möglichst viele Menschen möglichst gut in der Lage sind, zu ethischen Themen informierte, wohlüberlegte und begründete Positionen zu entwickeln. Denn die ethische Analyse hilft unter anderem dabei, moralische Komplexität zu verstehen, sie besprechbar und letztlich auch lösbar zu machen. Und das ist wichtig. Neben den vielen und vielbeschworenen Krisen, die wir gerade erleben, sieht man zugleich auch eine Zunahme an polarisierter, aufgeheizter gesellschaftlicher Debatte, die es nicht gerade leichter macht, Lösungsvorschläge zu entwickeln, die breit akzeptiert werden können. Das macht mir Sorge. Es ist aber auch verständlich. Weltpolitische, gesellschaftliche, aber auch technologische Veränderungen sind rasend schnell, und das führt zu viel Unsicherheit. Und ein Weg, mit Unsicherheit umzugehen und sie auszuhalten, besteht darin, vermeintlich einfache, vermeintlich klare und eben oft polarisierte oder sogar extreme Positionen zu beziehen. Nur hilft das natürlich nicht. Dieses Buch bearbeitet ein fokussiertes Themenfeld: Medizinethik. Ich hoffe, es wird interessant. Aber ich bin darüber hinaus sicher, dass die Fähigkeit der ethischen Analyse und Abwägung uns allen helfen kann, mit Krisen besser umzugehen und gut miteinander zu leben. Und darum geht es ja am Ende.

1. KapitelWerden

Wie können wir mit ethischen Herausforderungen am Lebensanfang umgehen?

Ethische Debatten am Lebensanfang

Fangen wir ganz vorne an, beim Entstehen von Leben, beim Werden. Und fangen wir mit zwei Geschichten an. Den ersten Fall werde ich nie vergessen. Er hat mich persönlich sehr berührt, und zugleich lässt sich an ihm exemplarisch das Vorgehen von Medizinethik in der Klinik zeigen. Der zweite Fall reicht in ganz aktuelle gesellschaftliche Debatten hinein. Ich bin gespannt, wie Sie ihn bewerten. Los geht’s.

Der Fall von Tim

Winterurlaub in Wien vor einigen Jahren, 2. Januar, alles ist kalt und grau. Ich sitze in einem Café im 7. Bezirk und versuche ein wenig zu arbeiten, was nicht leichtfällt, denn die Silvesterparty war rauschend. Da klingelt mein Diensthandy, auf dem ich immer erreichbar bin, wenn es um wichtige klinisch-ethische Fälle geht. In der Leitung ist die Chefin der Neugeborenen-Intensivstation der Uniklinik, Frau Dr. D. Sie erzählt mir, dass auf ihrer Station seit zweieinhalb Wochen frühgeborene Zwillinge liegen – Tim und Mark –, die geboren wurden am Tag 22+4, also nach 22 Wochen und vier Tagen Schwangerschaft. Als ich das höre, muss ich zum ersten Mal schlucken. Die 22. Woche ist wirklich die absolute Grenze der Lebensfähigkeit. Als ich studiert habe, wurde vor der 24. Woche keine Intensivtherapie begonnen. Diese Grenze hat sich verschoben, so dass heute gar nicht so selten auch Frühchen aus der 22. Schwangerschaftswoche überleben. Um zu veranschaulichen, was das bedeutet: Im Schnitt wiegt ein Neugeborenes um die vier Kilo. Tim und Mark wogen bei ihrer viel zu frühen Geburt jeweils ungefähr 250 Gramm und passten in eine Handfläche. »Die Eltern, beides Ärzte, haben uns angefleht, alles zu unternehmen, um die beiden am Leben zu erhalten, sie waren total verzweifelt, dass es so früh losging«, sagt Frau Dr. D. (In dieser Extremsituation – 22+ und weniger als 400 Gramm – wird eine Intensivtherapie nur auf ausdrücklichen elterlichen Wunsch begonnen, und es wird immer auch die Möglichkeit einer palliativen Begleitung besprochen. Das heißt, der Sterbeprozess würde zugelassen, während medizinisch dafür gesorgt würde, das Leid so gering wie möglich zu halten.) »Das waren absolute Wunschkinder«, sagt Frau Dr. D. Beide Babys wurden also mit allem, was die Intensivmedizin anzubieten hat, behandelt, sind im sogenannten Inkubator (Brutkasten) und haben bis jetzt – 17 Tage – überlebt.

Frau Dr. D. berichtet, dass Mark sich von Anfang an gut entwickelt hat. Er nimmt ordentlich zu, und die Vitalzeichen – also Herzschlag, Blutdruck und so weiter – sind so weit stabil. Tim hingegen kämpft viel mehr und musste bereits dreimal wiederbelebt werden, wäre also ohne Reanimation gestorben. Er hatte bereits zwei Gehirnblutungen. »Was hat er denn für eine Prognose?«, frage ich, weil ich die Aussichten erfahren möchte. »Seine Vitalzeichen waren vor allem in den ersten Tagen sehr instabil. Er hat sich aber jetzt gefangen, also in akuter Lebensgefahr ist er nicht, es geht gut aufwärts«, sagt Frau Dr. D. »Und die Langzeitprognose, wie sieht es damit aus?«, hake ich nach. »Na ja, mit Blick auf die klinische Situation, die Hirnblutungen … und wenn man sich die aktuelle Studienlage anschaut, bei dem Geburtsalter … Also man kann schon davon ausgehen, dass er ungefähr eine 50-Prozent-Chance hat, eine schwere geistige und/oder körperliche Behinderung davonzutragen.« 50 Prozent. Ich schlucke wieder. Schwere geistige oder körperliche Behinderung, das können etwa schwere Probleme mit der Lunge sein – im schlimmsten Fall lebenslange Beatmungspflichtigkeit – oder aber schwere Einschränkungen in der geistigen Entwicklung, ohne die Aussicht, sich selbst versorgen zu können. »Das ist leider bei diesen sehr kleinen Frühchen so, dass dieses Risiko besteht, auch wenn wir alles tun, um das zu verhindern«, sagt Frau Dr. D.

Seit drei Tagen ist Tim jetzt stabiler geworden und entwickelt sich deutlich besser. »Und nun sagen mir die Eltern, dass wir die lebenserhaltende Behandlung bei ihm beenden sollen.« »Moment, was?«, frage ich nach. »Ja. Vor einer Stunde haben wir besprochen, wie die Aussichten sind, und wir haben erklärt, dass es bei Tim deutlich aufwärts geht, man aber damit rechnen muss, dass er zukünftig Probleme haben wird. Und jetzt sagen die Eltern, wir sollen aufhören. Das geht doch nicht. Wenn wir jetzt aufhören, dann stirbt er!« Ich frage nach, warum die Eltern die Behandlung bei Tim beenden möchten. »Sie wollen nicht, dass er sich weiter quält, sagen sie.« »Ich dachte, es geht besser bei ihm?« »Ja, es geht klar aufwärts. Aber die Eltern sagen, wir sollen alles abschalten. Was machen wir denn jetzt?« Puh.

Ich frage noch nach einigen Details und verspreche, sofort mit meiner Oberärztin für klinische Ethik, Dr. R., zu reden, die über die Feiertage Dienst in der Klinik hat. Ich rufe sie an, und wir analysieren den Fall, danach geht sie direkt auf die Station, um sich einen Eindruck zu verschaffen und mit den Eltern zu sprechen. Und in der Tat: Die Eltern – beide nach einer viel zu frühen Geburt ihrer Wunschkinder und zweieinhalb Wochen voller Angst, Sorge und kaum Schlaf vollkommen erschöpft – formulieren sehr deutlich, dass sie dem medizinischen Team die Erlaubnis entziehen wollen, Tim weiter lebenserhaltend, intensiv-medizinisch zu behandeln. Die Stimmung ist bereits aufgeheizt, es wird laut im Gespräch. Was tun? Was würden Sie vorschlagen, liebe Leserin und lieber Leser?

Der Fall von Mai und Stefan

Mai und Stefan sind ein Paar, beide Ende 30, seit vier Jahren verheiratet, beruflich erfolgreich, und sie möchten sehr gerne Kinder bekommen. Mais Großmutter und erst vor einem Jahr ihre Mutter sind in recht jungen Jahren an Brustkrebs erkrankt und daran verstorben. Mai hat sehr unter der Diagnose und dem frühen Tod ihrer Großmutter gelitten und trauert nun auch intensiv um ihre Mutter. Vor kurzem hat Mai eine genetische Diagnostik bei sich vornehmen lassen, bei der sich herausgestellte, dass sie eine Mutation, also eine Veränderung, im BRCA1-Gen hat. Das ist das sogenannte Angelina-Jolie-Gen. Vielleicht erinnern Sie sich: Angelina Jolie hat eine genetische Mutation, die ein Risiko von über 60 Prozent bedeutet, an Brustkrebs zu erkranken, sowie ein Risiko von über 50 Prozent, Eierstockkrebs zu bekommen. Sie hat darüber vor über zehn Jahren öffentlichkeitswirksam gesprochen und berichtet, dass sie sich wegen des hohen Krebsrisikos beide Brüste und die Eierstöcke hat entfernen lassen. Darüber denkt Mai nun ebenfalls nach. Darum geht es jetzt aber gar nicht (zu den ethischen Fragen der vorsorglichen Brustentfernung und anderer präventiver OPs siehe Literatur im Anhang). In unserem Fall überlegen Mai und Stefan, ob es eine Möglichkeit gibt, zu vermeiden, dass Mai die Mutation an ihr zukünftiges Kind weitergibt. Auch bei einem Jungen erhöht die Mutation das Risiko, an Krebs zu erkranken – allerdings sehr viel weniger als bei einem Mädchen. Mai und Stefan versuchen seit drei Jahren, ein Baby zu bekommen, aber es klappt nicht. Sie sind in einem Klinikum in der Abteilung für Fortpflanzungsmedizin in der Beratung für eine künstliche Befruchtung.

Bei einer künstlichen Befruchtung, auch In-vitro-Fertilisation (IVF) genannt, verschmelzen – das ist wahrscheinlich allgemein bekannt – eine Eizelle und eine Samenzelle so miteinander, wie das bei der menschlichen Befruchtung auch passiert, nur eben außerhalb des Körpers, gewissermaßen im Reagenzglas. Der Frau werden Eizellen entnommen, in eine Nährlösung gegeben und mit Samenzellen des Partners befruchtet. Nachdem die befruchtete Eizelle begonnen hat, sich zu teilen, überträgt man diesen sehr frühen Embryo – er besteht dann aus circa 256 Zellen und passt auf den Kopf einer Stecknadel – in die Gebärmutter der werdenden Mutter, wo er sich hoffentlich einnistet und ungefähr neun Monate später als Baby das Licht der Welt erblickt. Die künstliche Befruchtung, anfangs sehr umstritten, ist ein inzwischen jahrzehntelang etabliertes Verfahren. Seit dem allerersten Kind, das nach einer IVF geboren wurde – Louise Brown, 1978 in England –, hat diese Methode es Millionen Eltern weltweit ermöglicht, ein Kind zu haben, die ansonsten vielleicht kinderlos geblieben wären.

Im Rahmen einer künstlichen Befruchtung gibt es also diese Phase, in der sich der ganz frühe Embryo noch außerhalb des Körpers befindet und die ersten Zellteilungen stattfinden – erst ist es die befruchtete Eizelle, dann sind es zwei Zellen, dann vier, acht und so weiter. Und in dieser Phase kann man eine dieser Zellen ganz vorsichtig entnehmen und untersuchen. In der ganz frühen Phase des menschlichen Lebens haben die Zellen alle in etwa das gleiche genetische Material. Somit kann man an einer einzigen Zelle untersuchen, ob zum Beispiel eine schwere genetische Erkrankung vorliegt. Dieses Vorgehen heißt Präimplantationsdiagnostik (PID), weil man eine Diagnostik macht, bevor man den Embryo in die Gebärmutter überträgt, also implantiert, oder eben nicht. Wenn eine PID gemacht wird, wurden zuvor meist mehrere Eizellen befruchtet, so dass mehr als ein Embryo vorliegt, den man untersuchen kann. Und dann wählt man den aus, der die entsprechende Erkrankung nicht hat. Die anderen werden verworfen, wenn sie die Erkrankung haben, oder eingefroren. Das Verfahren an sich wurde bereits sehr kontrovers diskutiert, dazu kommen wir gleich noch.

Mai und Stefan wissen, dass die PID in Deutschland unter bestimmten, stark eingeschränkten Bedingungen erlaubt ist. Man darf sie verwenden etwa bei Paaren, bei denen ein hohes Risiko für eine schwerwiegende genetische Erkrankung des Kindes besteht. So bestimmt es das entsprechende Gesetz (Gesetz zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik, kurz PräimpG). Mai und Stefan haben nun gehört, dass in Großbritannien einer der häufigsten Gründe für eine PIDeine Mutation im besagten BRCA-Gen ist. Sie bitten darum, eine IVF und eine PID machen zu können, um dann einen Embryo auszuwählen, der die Mutation nicht hat. Der zuständige Arzt Herr Dr. F., mit dem sie sprechen und der sich eigentlich auf ein Beratungsgespräch zur künstlichen Befruchtung eingestellt hatte, erteilt ihnen gleich im ersten Gespräch sehr deutlich eine Absage: »Wir machen eine PID nicht bei der BRCA1-Mutation. Das wäre ja Selektion!« Mai und Stefan schauen sich an, und aus Mai platzt heraus: »Aber warum denn nicht? Was ist schlimm daran, zu vermeiden, dass unser Kind irgendwann mit hoher Wahrscheinlichkeit an Krebs erkrankt?!«

Was tun, liebe Leserin und lieber Leser?

 

Diese beiden Fälle spannen eines der kompliziertesten und umstrittensten Felder der Medizinethik auf: die ethischen Debatten um den Lebensanfang, also um die Herausforderungen, die sich vor und kurz nach der Geburt stellen können. Allein in diesen beiden Fällen von Tim und von Mai und Stefan steckt so viel drin, das es zu analysieren gilt, dass damit nicht nur ein ganzes Buch, sondern ganze Bibliotheken gefüllt werden können. Wir werden uns hier auf wenige, aber wesentliche Aspekte beschränken.

Den Lebensanfang betreffend geht es natürlich in der Medizinethik auch noch um ethisch so komplizierte Fragen wie Schwangerschaftsabbruch, Leihmutterschaft, sogenanntes Egg Freezing, also Einfrieren von Eizellen, die Zulässigkeit von Forschung am menschlichen Embryo beziehungsweise an embryonalen Stammzellen und vieles mehr. Vieles ist in diesem Bereich gesetzlich geregelt, also erlaubt oder verboten oder mit bestimmten Auflagen und Einschränkungen versehen. (Während ich dieses Kapitel schreibe, hat gerade eine Kommission, die im Auftrag des Bundesministeriums für Justiz und des Bundesfamilienministeriums die Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch, den berühmten Paragraphen 218, sowie Fragen zur Leihmutterschaft und Eizellspende anschaut, ihren Bericht veröffentlicht. Sie finden ihn – neben weiteren Literaturhinweisen – im Anhang.) Diese Themen werden wir hier nicht alle im Detail besprechen können.

Schon die Fragen, die wir uns in diesem Kapitel anschauen werden, sind aus ethischer Perspektive wirklich komplex und werden von der Aktualität immer wieder eingeholt. Denn zum einen entwickeln sich die reproduktionsmedizinischen Möglichkeiten ständig weiter. Zum anderen wandeln sich in der Gesellschaft die Positionen zu Elternschaft, Kindeswohl, Selbstbestimmungsrechten bei der Fortpflanzung, Verständnis von Gesundheit, Krankheit und Behinderung und vielem mehr ebenfalls. Daher wird um diese Fragen im Einzelfall ebenso gerungen wie auf der großen politischen Bühne.

Kommen wir zu unseren beiden Fällen zurück. An ihnen lässt sich gut zeigen, dass es einen ethischen Grundkonflikt gibt: Im Wesentlichen geht es darum, welchen moralischen Status und welche Rechte dem ungeborenen oder dem frühen Leben zukommen und was daraus jeweils folgt. Denn in den meisten ethisch umstrittenen Fragestellungen in diesem Bereich – so auch, jedenfalls auf den ersten Blick, bei unseren Fällen – geht es um den Status, die Rechte und die Interessen des ungeborenen oder früh geborenen menschlichen Lebens und wie sich diese zu den Rechten und Interessen von anderen Beteiligten, zumeist der werdenden Mutter oder den werdenden Eltern, sowie den Wertvorstellungen in der Gesellschaft verhalten. Wie soll dabei jeweils abgewogen und entschieden werden? Viele andere Aspekte kommen noch hinzu, aber zunächst gilt es, das zu klären. Und um es gleich vorwegzunehmen: Diese Grundfrage ist nicht abschließend geklärt. Es wird darüber, sowohl in den ethischen als auch den juristischen und öffentlich-politischen Debatten, immer noch gerungen. Befragen Sie Ihr eigenes moralisches Bauchgefühl, liebe Leserin und lieber Leser: Haben Sie schon eine eindeutige Intuition, was zu tun ist in den jeweiligen Fällen, und warum? Ich kann Ihnen sagen, wenn Sie mit zwei Handvoll Menschen sprechen, werden Sie zu diesen beiden Situationen unterschiedliche Ansichten und Einstellungen hören. Aber schauen wir uns an, worum es geht und was die Argumente sind.

Herausforderungen bei extremer Frühgeburt

Der moralische Status geborenen Lebens

Fangen wir mit dem Fall von Tim an. Verglichen mit dem zweiten Fall geht es hier ja um einen lebenden, geborenen Menschen, auch wenn Tim nur etwas mehr als 22 Wochen Schwangerschaft erleben konnte und nun in einem Inkubator auf der Neugeborenen-Intensivstation liegt und immer noch künstlich am Leben erhalten wird. Das betrifft etwas sehr Grundlegendes, und es ist wichtig, das gleich zu Beginn dieses Buches einzuführen beziehungsweise zu unterstreichen: Der moralische Status eines jeden geborenen Menschen ist gleich. Punkt. Jedem geborenen Menschen kommen Menschenwürde, Menschenrechte und Grundrechte zu (Art. 1 Grundgesetz). Wichtige Grundrechte sind etwa das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 1 und 2 GG) und so weiter. (Rechtlich ist das ziemlich klar, und in der Medizinethik gibt es nur einige wenige Vertreter einer absoluten Extremmeinung, die das anders sehen und die ich hier nicht diskutieren werde.) Und die für die Medizinethik einschlägigen ethischen Prinzipien – Sie erinnern sich: Selbstbestimmung, Fürsorge/Wohltun, Schadensvermeidung, Gerechtigkeit – lassen sich ebenfalls auf jeden geborenen Menschen anwenden. Im Fall von Tim ist also eines ganz klar: Tim hat denselben grundlegenden moralischen und rechtlichen Status wie Sie und ich. Aber da geht es dann auch schon los: Was genau heißt das? Was folgt daraus?

 

Die Oberärztin für klinische Ethik, Dr. R., führt noch am selben Tag eine Reihe von Gesprächen mit allen Beteiligten auf der Station. Direkt im Anschluss empfiehlt sie den Eltern, die das Krankenhaus bislang so gut wie gar nicht verlassen hatten, dringend, einmal nach Hause zu gehen, so schwer das auch fallen mag, zu schlafen und danach zurückzukommen. Die Mutter ist völlig entkräftet, der Vater wütend-erschöpft. Sie nehmen den Rat an. Derweil sortiert Dr. R. auf Station, was vorgebracht wurde. Tims Eltern sagen immer wieder, dass sie das Beste für Tim möchten. Er habe schon so gelitten, die Aussichten auf ein gutes Leben bei ihm seien gering, und das damit verbundene Leid möchten sie ihm nicht antun. Sie haben Angst, dass sein Zustand wieder schlechter wird. Bei einem heftigen Wortgefecht mit einem erregten Assistenzarzt hatte Tims Vater ausgerufen: »Was Sie hier noch mit ihm machen, ist doch Quälerei, das bringt doch nichts! Und was er dann vor sich hat, das ist doch kein Leben. Außerdem entscheiden immer noch wir, die Eltern, was Sie mit unserem Kind machen dürfen und was nicht!«

Die ethischen Prinzipien