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Dieser durch verschiedene Ich-Rollen, gebrochene Roman, in dem satirisch bis ernsthaft über das Schreiben reflektiert wird, war sein bekanntestes und renommiertestes zeitgenössisches Werk. Es wurde in den literarischen Kreisen und deren Publikationen hoch geschätzt. Sowohl Goethe und Schiller wie auch später Jean Paul haben sich mit dieser Arbeit, die eine literarische Modewelle der Ich-Erzählungen ausgelöst hatte, beschäftigt.
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Seitenzahl: 1992
Veröffentlichungsjahr: 2012
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Lebensläufe nach aufsteigender Linie
Theodor Gottlieb von Hippel
Inhalt:
Theodor Gottlieb von Hippel – Biografie und Bibliografie
Lebensläufe nach aufsteigender Linie
Erster Theil.
Zweiter Theil.
Beilage A.
Beilage B.
Abdankung des Organisten in L –.
Dritter Theil.
Erster Band
Zweiter Band.
Beilage C.
Lebensläufe nach aufsteigender Linie, T. G. von Hippel
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN:9783849638542
www.jazzybee-verlag.de
www.facebook.com/jazzybeeverlag
Schriftsteller, geb. 31. Jan. 1741 zu Gerdauen in Ostpreußen, wo sein Vater Schulrektor war, gest. 23. April 1796 in Königsberg, bezog in seinem 16. Jahr die Universität Königsberg, um Theologie zu studieren, und machte hier die Bekanntschaft des russischen Leutnants v. Keyser, der ihn 1760 mit nach Petersburg nahm und zuerst in die Kreise der großen Welt einführte. Nach seiner Rückkehr nach Königsberg ward H. Hauslehrer, gab aber 1762 diese Stelle auf, um sich dem Studium der Rechtswissenschaft zu widmen. Die Liebe zu einem vornehmen und reichen Mädchen hatte ihn zu diesem Entschluss gebracht, und er verfolgte sein Ziel mit unermüdlichem Eifer, entsagte aber nach Erreichung desselben seiner Liebe, um im ehelosen Stande seine hochfliegenden Pläne nachdrücklicher verfolgen zu können. Er erwarb sich ein bedeutendes Vermögen und stieg in der Beamtenlaufbahn rasch empor. 1765 wurde er Rechtskonsulent bei dem Stadtgericht in Königsberg, 1780 dirigierender Bürgermeister und Polizeidirektor daselbst mit dem Charakter eines Geheimen Kriegsrats und Stadtpräsidenten. Den vernachlässigten Adel seiner Familie ließ er 1790 erneuern. H. war einer der merkwürdigsten Charaktere, ein Sonderling, in dem sich die stärksten Gegensätze vereinigten. Schwärmerei und Neigung zum Aberglauben paarten sich in ihm mit einem hellen Verstand, eine an Bigotterie grenzende Frömmigkeit und warmer Tugendeifer mit Leidenschaftlichkeit und Sinnlichkeit, schwärmerische Freundschaft mit Verschlossenheit, Herrschsucht und Strenge mit heiterem und zuvorkommendem Wesen, Begeisterung für Natur und Einfachheit mit Neigung zum Luxus und leidenschaftlicher Geldgier, Uneigennützigkeit in seinen moralischen Grundsätzen mit dem größten Egoismus im praktischen Handeln. In seinen Schriften, die bis an seinen Tod anonym erschienen, behandelte er mit Vorliebe die tieferen Probleme des Lebens. Bei mehr oder weniger mangelhafter Form zeugen sie von großer Menschenkenntnis und enthalten eine Fülle dieser Beobachtungen, zu deren ruhiger Mitteilung es aber die stets abspringende, ungezügelte Phantasie und der launenhafte Witz des Autors selten kommen lassen. Sein bekanntestes Buch ist die Schrift »Über die Ehe« (Berl. 1774; neu hrsg. von Brenning, Leipz. 1872). In seinem Werk »Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber« (Berl. 1792) zieht er gegen die Ausschließung der Frauen von der bürgerlichen und gelehrten Tätigkeit zu Felde. Denselben Zweck verfolgt die Schrift »Über weibliche Bildung« (Berl. 1801). Seine »Lebensläufe nach aufsteigender Linie, nebst Beilagen A. B. C
Ich – Halt! – Ein Schlagbaum – Gut – wohl – recht wohl – Ein wachhabender Officier! – wieder einer mit einem Achselbande zu Pferde – zu Fuß – von der Leibgarde – von der Garde der gelehrten Republik – ich ehr' Ihre Uniform, meine Herren, und damit ich Sie der Mühe überhebe, mir die üblichen Fragstücke vorzulegen, mögen Sie wissen, daß ich, wie der Paß oder Taufschein es ausweiset, ein Schriftsteller in aufsteigender Linie bin. In den folgenden zwei Bändchen, welche ich, wenn Gott Leben und Gesundheit und Lust und Liebe zum Dinge verleihet, künftige Messe zu liefern willens bin, wird mein Lebenslauf, bis zu einer sächsischen Frist vor der Messe, fortgesetzt werden. Im vierten Bändchen werde ich den Lebenslauf meines Vaters, und im fünften den Lebenslauf meines Großvaters erzählen, auch alles nach Gestalt und Gelegenheit der Umstände mit unumstößlichen Urkunden belegen. Dieser Plan soll darum noch mehr Eigenes haben, weil ich den Lebenslauf meines Vaters und Großvaters Berg ab erzählen will, da wir jetzo nur Berg auf zu gehen gewohnt sind. Ich werde von der Zeit, da mein Vater Pastor in Curland war, anfangen und bei seiner Wiege aufhören, und so soll's auch mit meinem Großvater werden, der in meiner Geschichte eher sterben als geboren werden soll. Wurzeln, Zweige und Blätter haben einerlei Struktur. Begrabe die Zweige in die Erde, und laß die Wurzel in die freie Luft gen Himmel sehen: es wird ein Baum.
Vorderhand sey es meinen Lesern genug in Beziehung auf mich von dem vierten und fünften Bändchen, wobei ich die Beilagen nicht ausschließen will, zu wissen
HVIC
MONVMENTO
VSTRINVM
APPLICARI
NON LICET
Ich rathe zu keiner Justinianischen Uebersetzung dieser Stelle 1. 2. §. 27. Cod. de vet. jur. enucl. kata poda, und da Vorrede die Nachrede hindert, mögen sich meine Leser wohlbedächtig merken:
O dynamenos telein, dynatai kai mh telein
welche Stelle sie nach Herzenslust verdolmetschen können.
Es ist die höchste Zeit, daß ich wieder auf mich selbst und auf den Daumen, Zeige- und Mittelfinger dieses Werks zurückkehre. Gibt es nicht, wie es am Tage ist, sogar der heiligen Schrift Spötter? Wie sollt' ich also wohl nach Art jenes Pharisäers mit den Worten an den Altar treten:
OydA an o Momos (eph) toge toioyton mempaito.
Uebrigens gestehe ich herzlich gern denen Erzählern ein vorzüglicheres Verdienst, sowohl in Absicht des Ellenmaßes als der Würde zu, welche bei jedem merkwürdigen Vorfall außerhalb ihren Grenzen einen Wegweiser aufrichten und ihre Leser zur Nutzanwendung auf Lehre und Trost bringen. Ich werde mich so nehmen, wie ich mich finde. Wer auf eine Schüssel mehr oder Salat, Sardellen, Caviar, Austern und andere Zusätze Leckerbissen und Noten lüstern ist, lasse sich anrichten, was ihm gefällig ist, und thue, was er nicht lassen kann. So lange meine Leser gehen können, will ich ihnen keine Krücke geben; wenn sie selbst eine Dose haben, warum soll ich ihnen mit meinem St. Omer an die Hand gehen (es braucht vielleicht mancher Espagnol, Tonka, Havanna-Rapee), und wenn sie selbst wissen, daß sie Menschen sind, wie sollt' ich sie wohl all' Augenblick mit einem Stehe Wanderer oder Leser pfänden, und ihnen wiederholen, daß sie sterben müssen, auf daß sie klug werden.
Mein Wahlspruch ist: I licet.
So wie aber die Grabmäler der Alten, wo man seit einiger Zeit (einige setzen hinzu »Gott sey gelobt,« andere »Gott sey's geklagt«) auch in Gott ruhet, nachdem man sich vor diesem scheute der selige L. Annaeus Florus, der wohlselige C. Plinius Caec. Sec., der hochselige M. Tullius Cicero und der höchstselige Marcus Aurelius Antoninus, Armenicus, Parthicus, Maximus zu sagen.
So wie die Grabstätten der Alten mit den allgemeinen Landstraßen verbunden waren, um den Reisenden anzuhalten, so ist es zwar Regel für mich, den geneigten Leser sich selbst zu überlassen,
coelo tegitur, qui non habet urnam.
Doch wo ist Regel ohne Aber? Was sich ein paar handelnde Personen auf dem Theater unter vier Augen sagen, gehört ohnehin mit zur Handlung, und mir stand es wohl am wenigsten zu, in einer wahren Geschichte Leuten das Wort aus dem Munde zu nehmen und ihnen ein Stillschweigen aufzulegen.
Gott mit Ihnen, meine Herren, und auch mit meinem kleinen Leopold, der mir eine Sündfluth mit dem Tintefaß gemacht hat.
Die Mutter will dich –
Laß mich hier, lieber Vater –
So laß das Tintefaß –
Ich will auf deine Schulter –
Nur nicht ins Buch –
Der kleine Junge hätte vielleicht Ursach, es übel zu nehmen, daß ich die erste Stufe überschreite und nicht von ihm anhebe. Ich könnte freilich bemerken, daß er kein Sanguinolentus gewesen, sondern fast wie Clodius Albinus ganz sauber und schön zur Welt gekommen, wenn er sich nicht eben jetzo mit Tinte besudelt hätte. Wenigstens bist du, lieber Junge –
(Fall nicht,
»ich werd' nicht«) beim Publikum nicht präscribirt, ich habe dich einschreiben lassen, und ein größeres Pflicht- oder Kindertheil gebührte dir in diesem Werke nicht. Der arme Junge! gestern war er zwei Jahr und heute zwei Jahr und einen Tag; bisher war er gesund wie ein Fisch und auch beinahe ein so großer Liebhaber von kaltem Wasser wie ein Fisch! heute! –
»Was schreibst du« –
daß du ungeduldig auf die Zähne bist, die sich melden lassen und nicht kommen wollen!
Daß ihr nur, wenn ihr kommt einem Pfirsichkern zu seiner Zeit zeigen könnet, wer ihr seyd; und daß eine Kraft von achtzehn bis neunzehnhundert Pfund in euren Grenzen wohne. Der Himmel helfe meinem Leopold und mir! und uns allen!
Ha! eine andere Art dienstbarer Geister, ungebetner Gäste, unlieblich anzusehen – zu dienen – damit es die Herren Besucher und Versucher, Thorschreiber, Acciseeinnehmer, Cassirer, Rendanten und überhaupt alle Zöllner und Sündergesellen nur auf einmal wissen, ich, und kein anderer hat dieses Buch geschrieben. Wer von den Herren sich aufs Würdigen versteht, wird es schwerlich auch selbst auf den ersten Blick für Contrebande und auswärtiges Gut, sondern für das, was es ist, deutsche Fabrik halten. Hiesige Wolle, ich bitte Hand aus Werk zu legen (den Puls dieses Buchs anzufühlen, kann ich nicht sagen, so sehr ich ihnen auch Quacksalberehre zu erzeigen Lust habe), hiesiger Stuhl, hiesige Zeichnung, alles hiesig – die Herren selbst aber scheinen nicht von hier zu seyn, und sich auf Blick und Griff, Auge und Hand nicht verlassen zu können – Nun so verlassen Sie sich auf mich, und wenn's wider Ihre theure Amtspflicht ist, sich auf ehrliche Leute zu verlassen, schreiben Sie in Ihre Kladde, in Ihr Hauptbuch, Diarium und Exercitienbuch – was die Feder will. Diese Worte werden wohl, wie ich glaube, an Ort und Stelle seyn. Von Aristarch hat keiner einen Zug, wohl aber vom bankerottirten Kaufmanne, Sprachmeister, Zeichendeuter, Altflicker u.s.w. Von asteriskois und obeliskois hab' ich also nicht reden können, womit der Homer plombirt wurde; denn, da wett' ich, Homer ist Ihnen eben so unbekannt, als es, meine insbesondere Hochzuehrende Herren, meine Wenigkeit bis heute wird seyn, der – – gewesen. Berge und Thäler kommen nicht zusammen! wir aber sind leider! so nahe bei einander, daß wir uns mit der Hand reichen und eins versetzen können. Ich weiß, Sie verschonen nicht Säuglinge, nicht Ungeborne, wie sollte also mein Leopold auf der Schulter ohne Kopf- ober Magensteuer (wie man's nennt) abkommen! Wenn's einmal Sitte in Deutschland ist, so sey's. Du sollst dem O-, der da drischet, nicht das Maul verbinden. Item, ein Arbeiter ist seines Lohnes werth, schreibt Dr. Martin Luther in seiner Haustafel etlicher Sprüche für allerlei heilige Orden und Stände, dadurch dieselben, als durch ihre eigene Lektion ihres Amts und Diensts zu ermahnen. Die Rechnungsableger lassen oft mit gutem Bedacht Fehler stehen, um den Abnehmern zu Noten Zeit und Raum zu lassen. »Sonst,« sagen die klugen Haushalter, »fangen diese Notenkünstler es bei der Person an, da sie doch nur bei den Zahlen bleiben sollten.« Das hatte ich noch auf dem Herzen, eh' ich mich empfehlen konnte.
Plus cautionis in re est quam in persona,heißt auf deutsch: beschließen Sie, was Sie wollen über mein Buch, meine Herren, nur meine Person lassen Sie in Ruhe.
Sey mir tausendmal willkommen süßes, oder besser angenehmes Wort. (Man sagt angenehme Ruhe.) Schlafen Sie wohl, oder eigentlich gesund, meine Herren. Claudatur Parenthesis würde ich sagen, wenn ich nicht den wahren Antipoden von einer Parenthese gebraucht und eben hiedurch ein neues epochemachendes Interpunktionszeichen erfunden hätte.
Was meinet ihr Herren majorum gentium, soll ich mit einem großen I anfangen, oder mit einem kleinen?
Den Schlagbaum auf!
Ich bin in Curland auf dem Kirchdorfe *** geboren, wo mein Vater Prediger oder, nach der deutschen Landessprache, Pastor, nach der curischen Basinzas Kungs oder Basingkungs, wie die Letten der geliebten Kürze wegen sprechen, war. Zu seinem Zeichen, würde ich hinzusetzen, wenn dieser Ausdruck nicht so viel Devalvation gelitten, daß ich meinem Vater dadurch keine sonderliche Ehre einbringen würde. Es war seine Kirche eine Kirchspielskirche oder eine solche, wobei wegen des Compatronat-Rechts des Adels manche Pistole, wiewohl nur nach väterlicher Weise in die freie Luft, losgeschossen worden, bis solches endlich unter einigen Daumschrauben dem Kirchspielsadel (ich glaube von Herzog Friedrich Casimir) zugestanden worden. Ich kann nicht sagen, daß mein Vater eine vorzügliche Neigung gegen mein Vaterland hatte; und wenn ich einem Erdbeschreiber hiedurch irgend einen Gefallen zu erzeigen wüßte, was könnt' ich nicht für ein Breites und Langes über die drei Namen Curland, Lettland und Semgallen an ihn endossiren? welches aber alles zu keiner Lobrede auf Curland dienen würde. So viel ist gewiß, daß mein Vater niemals zugeben wollte, daß Curland vom Flusse Chronus herkäme, wodurch die Memel angedeutet würde; obgleich ihm solches sehr wahrscheinlich vorbuchstabirt wurde. Die Curländer, sagte man, wohnten um den Chronus, sie wollten ihr Land von Preußen unterscheiden, und bearbeiteten und drechselten so lange die Buchstaben und Sylben, bis endlich, so wie in der heiligen Schrift, herauskam, was zu suchen war. Es ist viel von Gottes Wort zu sagen, sagte mein Vater. Ein guter Freund von Curland und von meinem Vater spielte eine andere Karte aus, »so stammt es von Cur oder Cursemme, welches so viel als ein Land, das an der See liegt, andeutet,« allein er gewann sein Spiel nicht. Nichts sagte mein Vater. Der gute Freund fuhr fort: »vom kleinen Könige Curo? von den Curaten oder von den Curiaten? oder« – »Nichts, alles nichts – Es würde nicht verlohnen, diese Fibel über den Namen von Curland weitläuftiger zu machen, und sie wegen Lettland und Semgallen, über welche Namen mein Vater eben so wenig nachgebend war, mit Anhang und Zugabe zu verstärken. Mein Vater hatte, nach dem Ausdrucke eines Weisen des Alterthums, zwei Vaterlande, eines, wo er geboren war, und eines, wo er lebte, eines der Natur und eines des Schicksals, und man traf bei ihm, was man gewöhnlich zu treffen pflegt, daß man das Vaterland der Geburt dem andern, oder die Mutter dem Vater vorziehet. Wenn der gute Freund am Ende zum Unwillen überging, wurde mein Vater ein Philosoph. Zum Curländer konnten ihn weder gute noch böse Gerüchte bringen.
So wollen Sie denn, fing der Freund an, nachdem mein Vater mit vieler Gelehrsamkeit die Geburt und Abkunft der Namen Curland, Lettland und Semgallen bestritten hatte, so wollen Sie denn den Herzogthümern Curland und Semgallen die ehrlichen Namen absprechen?
Lieber curischer Freund, antwortete mein Vater, unbiegsam wie der curische Käse, doch auch so dicht und fest wie er. Niemand kommt aus seinem Vaterlande. Seitdem die neue Welt entdeckt worden, ist sie ein Theil von unserm Geburtsorte. Bin ich im Gefängnisse, beim Gastmahl, am Hofe, in der Stadt, auf dem Lande, in Mitau, im – – Pastorat, ich bin beständig zu Hause. Ein Thor sagt, daß er vertrieben sey, ein Weiser hat nur eine Reise unternommen, wenn er im Exilium ist. Oft ist man in seinem Vaterlande ein Sklave und im Exilio in Freiheit. Kann man denn mehr als leben und sterben, man sey in Rom oder in Tunis! Tristia und Briefe aus Ponto sind Räusche eines Dichters. Ein Weiser kann selbst Ach nur halb aussprechen, wenn er leidet; obschon das Wort nur dritthalb Buchstaben, und wenn man ganz ehrlich seyn will, kaum eine ordentliche Sylbe im Vermögen hat. Wer sich angewöhnt hat, bloß zu essen was sättiget, und bloß zu trinken was den Durst stillet, findet überall eine offene Tafel. Wo mir wohl ist, da ist mein Vaterland, und der Gerechte ist auch im Tode getrost. Wer aus Athen ist, weiß nicht, von wannen er kommt, und wohin er fährt. Der Weise ist aus der Welt –«
Auf die Frage: Was für ein Landsmann? antwortet Diogenes für mich: kosmopoliths; die Sonne, Freund! ist die Fahne, der wir geschworen haben. Die Erde ist unser aller Mutter. Saure Grütze und Bierkäse, ein paar curische Original-Essen, sind, wie Pfirsichen und Melonen, eine Gabe Gottes. Wer's mit Danksagung empfähet, ist ein Weiser. Auch in Curland gibts Knochen, die Mark haben. Gott ist überall, er, der nicht Lust hat an Cavallerie oder Stärke des Rosses, noch Wohlgefallen an Infanterie und jemandes Beinen, sieht nur auf die, die seinen Namen fürchten und auf seine Güte hoffen. Heute ist ein Land frei und morgen liegt's einem Tyrannen zu Füßen, der seine Hand ins warme Blut des Erstgebornen, eines Vertheidigers seines freien Vaterlandes, eintaucht, um das schreckliche Jahr, da die Freiheit unterging, am aristokratischen Altar, am Rathstisch anzuzeichnen. Freund! was meinen Sie, wenn wir je solche Blutzahlen sehen sollten? Lassen Sie alles ruhig im Vaterlands seyn; ein Prophet gilt doch nicht, wo er geboren ist. Wie ging's dem Aristides, dem Epaminondas? In der Fremde seyn, heißt in die Hand Gottes fallen; in seinem Vaterlande ist man, wenn's hoch kommt, in der Hand der Menschen, gemeinhin in der Hand seiner Feinde. Und wie soll man sich gegen sein undankbares Vaterland führen? Wie gegen einen Vater, der eine Mutter ohne Ursach verstößt, wie gegen eine Mutter, die zum zweitenmale heirathet? Diese bleibt Mutter, jener Vater. Bei diesen Sprüchen war's dem Freunde so, als wär' er selbst nicht mehr in Curland, als hätte er der Sonne geschworen. Es schien ihm, mein Vater hätte das Feld behalten; der kleine König Curo aber und die Curaten oder Curiaten wären in die Flucht geschlagen. Mein Vater befestigte, was er erobert hatte, mit ein paar griechischen Sprüchen, die seinen Feind um so mehr abhielten, weil er kein Wort griechisch verstand.
Andri sopo,fing mein Vater an, pasa gh bath,
pyxhs gar agaths patris o xympas kosmos.
Und gleich darauf:
epei ti dei brotoisi, plhn dyoin monon,
Dhmhtros akths, pomatos dA ydrhxooy.
aper paresti, kai pepyxAhmas trepein.
Es pflegte der gute ehrwürdige Mann von Curland zuweilen als von einer Herberge zu reden, wo man sich oft länger als man wünscht, weil der Reisewagen gebrochen ist, aufzuhalten gezwungen sieht. Bei mir zu Hause essen wir um diese Zeit Spargel, pflegte er zu sagen; bei mir zu Hause raucht man um diese Jahreszeit eine Pfeife Tabak in der freien Luft, bei mir zu Hause hat man Trauben und den Wein bei der Quelle. So ungern er also auch im Herzen in Curland zu seyn schien, und so oft er im Stillen durchs Fenster gesehen haben mag, ob der Reisewagen noch nicht in Ordnung wäre, so hielt er dennoch mit seiner Abneigung zurück. Der Freund, mit dem sich mein Vater auf der vorigen Seite duellirte, und noch ein Secundant waren die Hauptsiegel-Bewahrer dieses Geheimnisses und auch die einzigen, mit denen er griechisch sprach, ohne daß die guten Leute es verstanden. Wer ihn aber nach seiner Heimath fragte (sein Weib und Kind und seine zwei griechischen Freunde nicht ausgenommen), setzte ihn und sich selbst einer großen Verlegenheit aus.
Bei mir zu Hause fing er, wie gewöhnlich, an – und ich war noch im zartesten Alter, als ich ihn fragte, lieber Vater, wo ist dein Haus! wir wollen hin, du, die Mutter und ich! Ist es wohl so schön als dieses hier? Ich zeigte ihm meines von Blättern. Nimm mich ja mit, wenn du nach Hause gehst, oder laß mich, wenn ich größer werde, allein – Wo? Wo? – rief er ganz ängstlich. Meine Mutter, welche eben seinen Kragen zurecht legte, ließ diesen heiligen Halsband fallen, sprang schnell auf und ging davon, als ob sie auf allen Antheil von meiner Frage und der künftigen Antwort Verzicht thäte. Sie war indessen, wie ich es offenbar merkte, nach der Weiberweise, nur bloß dem Auge meines Vaters entgangen. Ob's mein Vater gemerkt habe, zweifle ich, denn er hatte sich auf dem Wege nach seinem Hause so sehr verirrt, daß er nicht aus noch ein wußte. Vielleicht sagt er es dem unschuldigen Kinde, dachte meine Mutter ohne Zweifel, da sie sich in der besten Ordnung zurückzog, wovon er dir allemal ein Geheimniß gemacht hat. Lieber Sohn, fing mein Vater an, als ob er von einem Vorbeigehenden wegen seiner Reise eine Auskunft erhalten, oder in eine Reisekarte gesehen hätte – und meine Mutter machte die Kammerthüre, hinter welche sie sich weislich gestellt hatte, drei Zoll weiter auf – im Himmel ist unser wahres Vaterland, hier unten sind wir Fremdlinge und suchen das, was droben ist. Wir sind in Hinsicht unseres Körpers Gottes Pilger, in Hinsicht unserer Seele Gottes Bürger. Als die Pilgrime! heißt es, darum führet einen guten Wandel –
Zu Hause nimmt man sich vieles so übel nicht. Man vernachlässigt sich; thun Sie doch, als ob Sie zu Hause wären, sagt man. Auf der Reise sind wir auf uns aufmerksamer. Die Welt ist für einen klugen Reisenden höchstens eine Hauptstadt. Er läßt sich das Merkwürdige zeigen; für einen Gelehrten eine öffentliche Bibliothek, er sieht die Titel. Beide bestellen Postpferde. Plus ultra.
Hiebei sahe mein Vater so gerührt aus, daß, wenn ich nicht seinen Worten geglaubt hätte, ich jedennoch jedem ehrwürdigen Zuge seines Gesichts hätte beipflichten müssen, auch wenn ich noch einmal so alt gewesen wäre, als ich's nicht war. Wie böse meine Mutter über den Himmel geworden, weiß ich nicht, allein ich hörte, und mein Vater, der nun wieder an Ort und Stelle war, mußte es auch hören, daß sie die Thüre zuzog, als ob sie nicht die mindeste Lust zum Himmel hätte. Ohne Zweifel hat sie dieses unvermerkt thun wollen, um ihre Neugierde zu verbergen; indessen machte das plauderhafte Schloß ein unzeitiges Geräusch und wurde dafür den folgenden Tag, da mein Vater eine Beichtandacht besorgte, ausgebessert. So viel ist gewiß, daß der liebe Mann durch diese Antwort, die zwar mich, nicht aber meine Mutter befriedigen konnte, mich, wiewohl ohne daran Schuld zu seyn, auf den Gedanken brachte, daß man im Himmel früher als in Curland Spargel äße, gleich früher in der freien Luft eine Pfeife rauche, Trauben hätte, und den Wein aus der Quelle schöpfen könnte. Tausend andere Dinge, die er nachher meiner Mutter erzählte, wie es bei ihm zu Hause wäre, kamen alle bei mir auf die Rechnung des Himmels, und ich war zuletzt dort eben so bekannt als auf unserm lieben Dörflein, wo ich über jedes Huhn hätte urteln können, wenn über dessen Eigenthum ein Streit gewesen wäre. Manches kam mir freilich sehr bedenklich vor, worunter zum Exempel war, daß man bei ihm zu Hause ohne Nacht- oder Unterhemde ginge und zu seiner Zeit lange Manschetten (die meine Mutter Handblätter nannte) getragen hätte. Eines Tages, da ein Literatus (welches in Curland eben keinen Gelehrten, sondern ein unselig Mittelding von Edelmann und Bauer bedeutet) mit ungewöhnlich langen Manschetten bei uns des Mittags aß, mußte ich glauben, daß er ein Himmelsbürger und Landsmann meines Vaters wäre, und wegen des ganz ungewöhnlichen Maßes seiner Handblätter schon etwas mehr als ein andrer im Himmel gelten müßte. Kaum hatte er nach meiner Meinung das Jammerthal unseres Pastorats mit den seligen Wohnungen der Gerechten verwechselt, kaum, sag' ich, war er fort, so fragt' ich meinen Vater, was ihm der gute Freund für Nachrichten aus dem Himmel gebracht hätte, und mein Vater nahm Gelegenheit, mir die wahren Begriffe von jener Welt beizubringen, denen mein Herz und Seele auf dem halben Weg entgegen kam oder beide Glaubenshände zureichte, so daß mithin dieser Literatus, der des Mittags bei uns einen vortrefflichen Kalekutschen Hahn verzehren geholfen, meinen falschen Himmel zu reiten mitnahm.
Mein Vatter war, wenn ich so sagen soll, geboren, von der andern Welt zu reden. Seine Seele, man fühlte es, war im Buche des Lebens eingeschrieben und einer Veredlung durch den Tod so gewiß, daß, wenn er davon sprach, man glauben mußte: er würde verklärt. Drei Viertheil war er dort und nur ein Viertheil hier. Gott schenke mir, wenn mein Stündlein vorhanden ist, die Empfindungen, die damals in meiner Seele hervorschossen, als er mir den Himmel zeigte. Mir fielen die Worte aufs Herz: In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen – Mein Vater war ein Kind, um mit einem Kinde zu reden, und ich fand an mir erfüllet, was von den Kindern geschrieben steht: ihrer ist das Reich Gottes.
Aber wo muß denn das Haus meines Vaters seyn, dachte ich; allein ich unterstund mir nicht, darnach zu fragen, denn, so jung ich war, so merkt' ich doch, daß er seine Ursachen haben müsse, es zu verschweigen.
Meine Mutter, wie ich sowohl diesesmal als bei andrer Gelegenheit sehen konnte, hatte mein Vater gleichfalls keinen Daumenbreit über fünfzig Meilen in die Länge, und zehn, zwanzig bis dreißig in die Breite, als so viel die Grenzen von Curland ausmachen, mitgenommen, daher sie eben so wenig als ich den Ort seiner Geburt wußte. Die neue Welt, pflegte sie zu sagen, ist entdeckt, deines Vaters Vaterland würde dem Columbus mehr Schwierigkeiten gemacht haben.
Was bei dieser väterlichen Verschwiegenheit einem jeden besonders vorkam, war die Gewohnheit meines Vaters, alle Augenblicke zu erwähnen, wie es bei ihm zu Hause sey. Er kam darüber bei Leuten in Verlegenheit, die er nicht wie mich mit dem Himmel abfertigen konnte; allein ehe man sich's versah, war er nicht mehr in Curland.
Ich bemerkte auch, nachdem ich größer war, daß die Leute über diesen Punkt mit dem guten Manne ein förmliches Mitleiden zu haben schienen, so daß sie dabei die Achseln in die Höhe zogen, als über einen Menschen, der so lange vernünftig wäre, bis er auf sein Vaterland käme, und alsdann scheu würde. Es war daher zum Sprichwort bei vielen geworden »das ist so unbekannt als des Pastors – Vaterland.«
Oft traf es sich, daß die ganze Tischgesellschaft still ward, so bald er nur die Anfangsworte: bei mir aussprach, und dieses ist die natürliche Folge, wenn jemand roth zu werden Ursach gefunden. Ein einziger hat nur die Elektrisirstange angefaßt, allein sie fühlen alle den Schlag. Es herrscht eine feierliche. Stille, jedes spielt mit Messer und Gabel, oder dreht sich Pillen von Brod. Nach einer Weile putzt der, welcher zu den wenigsten Empfindungen aufgelegt ist, das Licht, wenn es Abend ist, oder hustet, wenn zu Mittage gegessen wird; ist's außer Tisch, so spricht er »besondere Witterung,« oder bittet um Tabak, »der meinige,« setzt er hinzu, »ist so dürr wie Sand;« dieses alles that gewöhnlich meine liebe Mutter, wenn mein Vater einen Kreuzzug über Land unternommen hatte, allein gewiß nicht, weil sie dabei unempfindlicher, sondern weil sie's gewohnter war wie alle übrige, und weil sie die beklommene Gesellschaft gern wieder ins Freie in die frische Luft bringen wollte. Oft stand ich mit dem Gedanken auf, und schlief mit dem Gedanken ein, warum sagt er denn nicht wenigstens seiner Familie, wo man um diese Jahrszeit Spargel ißt, wo man um diese Zeit eine Pfeife in der freien Luft raucht, wo man Trauben hat, den Wein bei seiner Quelle genießt und (welches mich am meisten interessirte) lange Manschetten trägt.
So geheim mein Vater mit seinem Vaterlande und seiner Familie war, so freigebig war meine Mutter, so oft sie von ihrer Familie etwas zu erzählen Gelegenheit hatte. Sie wußte sich sehr viel damit, daß sie, wie sie sagte, aus dem Stamme Levi wäre, und zählte fünf Priester- oder (damit die in Curland herrschende lutherische Kirche kein Aergerniß nehme) Prediger-Ahnen von Vater- und vier von mütterlicher Seite. Einer ihrer Ahnherren war Superintendent, und zwei waren Präpositi gewesen. Sie rechnete sich, wiewohl von der Seitenlinie, zu den Verwandten des Superintendenten Paul Einhorn, dessen Vater Alexander Einhorn, der zweite curländische Superintendent gewesen war, und wenn sie an den Eifer dachte, mit welchem der Ehren Paul Einhorn sich der Annehmung des gregorianischen Calenders widersetzte, so schien es, daß sie der nämliche Einhornsche Eifer beseelte. Es hat dieser würdige Eiferer sich die Calendermärtyrerkrone errungen, indem er im Jahr nach Christi Geburt 1655 Dominica XI. post Trinitatis auf der Kanzel mitten in einer Calenderpredigt blieb und sein ruhmvolles Leben mit den Worten: »verflucht sey der Calend« – sanft und selig endigte. Mein Vater schien beständig besorgt zu seyn, es würde meine Mutter eine Märtyrerkrone in ihrem Bluträchereifer überraschen, weßhalb er sie bei der Hand zu nehmen und zu sagen pflegte: »fasse dich, mein Kind, die Sache ist beigelegt, wir schreiben heute den – VI –.« Meine Mutter hielt indessen bis an ihren Tod den gregorianischen Calender für ein ketzerisches Buch, und ließ sich nie Ader, wenn im Calender das Zeichen zum Gutaderlassen stand. Es mußte kein Haar im Pastorat verschnitten werden, wenn der Calender hiezu anrieth, und alles, was sie nur erreichen konnte, mahnte sie ab, Holz zu fällen, Kinder zu entwöhnen, oder sonst eine Medicin zu brauchen, wenn der Calender es gut fand. Es war ein Glück für sie, daß diese ungestempelten Tage die meiste Zeit für sie und die lieben Ihrigen gut ausfielen; es war aber ein Unglück für den gregorianischen Calender, denn sie nahm eben hiedurch einen Grund mehr, dawider zu reden und dem Herrn Superintendenten Einhorn zu parentiren.
Ich würde mich um alles in der Welt nicht unterstehen, in Absicht der Ahnen meiner Mutter ein Schriftsteller in aufsteigender Linie zu werden, und meine Leser verlieren auch durch die Erzählung der rühmlichen Thaten, Schlachten und Siege nichts, wodurch sich meine Vorfahren mütterlicher Seits, von der geraden und Seitenlinie, um die Kirche verdient gemacht. Sie nannte sie oft Kirchensteine, um alles zusammen zu fassen. Dieser hatte lettische Lieder, wie sie sagte, aus freier Faust gesungen, jener einige übersetzt, ein anderer hatte sich dem Superintendenten Daniel Hofstein, welcher den Exorcismus bei der Taufe der fürstlichen Kinder weggelassen, mit Hand und Fuß (ich brauche ihre eigenen Ausdrücke) widersetzt und ihn dem Teufel übergeben, der nach seiner wohlehrwürdigen Meinung die Complimente nicht erwiedern würde, die ihm der Herr Superintendent machte; ein anderer hatte die Ostereier in seiner Gemeine abgestellt, welches, wie meine Mutter behauptete, ein aus andern Ländern nach Curland gebrachter, nicht allgemein im Schwange gehender, unchristlicher Gebrauch wäre, und dieser gute Mann war in Kupfer gestochen. Ich weiß bis diesen Augenblick nicht, wie er zu dieser Ehre gekommen war. Meine Mutter hatte diesen Kupferstich lange verwahrt, ohne davon einen andern Gebrauch zu machen, als daß sie, wie sie sagte, dieses Bild alle heilige Abende vor Ostern eine Stunde angesehen. Sie behauptete, daß ich etwas ähnliches in der Gegend um die Augen von diesem so ehrwürdigen als beherzten Manne hätte, obgleich ich davon nicht die mindeste Spur zu entdecken im Stande war.
Es sey nun dieses oder etwas anderes die Ursache, genug, meiner Mutter wandelte auf einmal der Einfall an, diesen Kupferstich unter Glas zu setzen und unter den Spiegel zu hängen, der im Prunkzimmer des Pastorats gegen Morgen hing.
Mein Vater widersprach diesem Gedanken, da ein Glaser unsere Straße zog, und ist also dieser gute Mann, obgleich er die Ostereier abgebracht, nicht der Ehre gewürdigt worden, im Prunkzimmer des Pastorats gegen Morgen unter dem Spiegel zur Schau gestellt zu werden. Sie war etwas ungehalten über meinen Vater, obgleich sie sich solches nicht weiter merken ließ; indessen war es nicht das erstemal, daß sie sein Conto mit einer Schuld belastete. Sie faßte dieses und beinahe alles, was sie sonst noch auf ihrem Herzen und Gewissen hatte, die Noth des ganzen Pastorats zusammen, und schrieb's flugs unter die Rubrik: nicht aus dem Stamme Levi. Ihrem Zorne brachte sie ein Opfer, das sie nachher sehr bereuete. Sie schickte eben so flugs den Rahmen abzusagen, den sie für den Kupferstich bestellt hatte, und war verbunden, obgleich der Nahmen noch nicht zur Hälfte fertig war (und dieses gab zu neuem Aergerniß Gelegenheit), ihn ganz zu bezahlen. Nachdem sie ihre zu Paaren getriebene Ideen wieder zu Hauf gebracht hatte, entwarf sie einen neuen Operationsplan, der ihr auch glücklich einschlug, nämlich diesen verdienstvollen Mann in der Speisekammer aufzuhängen. Hier, sagte sie, kann er sich ohne Rahmen behelfen und niemand wird zu ihm sagen: Freund! wie bist du hereinkommen und hast doch kein hochzeitlich Kleid an?
Ich kann es nicht schicklicher anbringen, daß meine Mutter bei aller Gelegenheit feierlich war. Es ward im Pastorat mit nichts anderm als mit Weihrauch geräuchert; alles, was meine Mutter vornahm, ward besungen. Dieses ist der eigentliche Ausdruck. Die Natur hatte sie mit einer sehr melodischen Stimme ausgestattet. Das Bewußtseyn dieser Mitgabe der Natur war indessen nicht die Ursache ihres treufleißigen Gesangs. Meine Mutter wird die Ursache hievon gelegentlich selbst angeben. Sie fing, sobald ihr etwas zu Herzen ging, einen Vers eines geistlichen Liedes in bekannter Melodie aus freier Faust (um ihren Einhornschen Ausdruck nicht zu verfälschen) zu singen an, den alles, was zu ihrem Departement gehörte, mit anzustimmen verbunden war. Sie sang mit Kind und Rind. Es war daher natürlich, daß jedes, so bei ihr in Diensten war, Probe singen mußte, weil außer dem Hausdienst auch eine Art von Küsterstelle durch jedes Hausmädchen vergeben wurde. Vor diesem hatte meine Mutter, nach ihrer selbst eigenen Relation, die Gewohnheit gehabt, einen jeden herzlichen Vorfall mit einem ganzen Liede zu bezeichnen; mein Vater indessen, der anfänglich bemüht gewesen, diese Gewohnheit völlig abzuschaffen, hatte sie doch am Ende nachlassen müssen. Sie ward aber von ihm bis auf einen Vers eingeschränkt, den meine Mutter nicht um die Herzogthümer Curland und Semgallen gelassen hätte.
Ich hab' es oft erfahren, daß mein Vater zuweilen den zweiten Diskant extemporirte und meiner Mutter zum Munde sang, so daß er mithin von seiner vorigen Meinung a posteriori abgegangen war. Meine Mutter rechnete ihm diese Bekehrung im Conto sehr hoch an, und je lauter er mitgesungen hatte, je mehr wurde ihm zu gut geschrieben. Sie wußte sogar den Zeitpunkt anzugeben, wenn mein Vater, der, wie die Folge zeigen wird, keine Anlage zum Geistlichen besaß, aufgehört hätte ein Liederstürmer zu seyn, und diesen Zeitpunkt werden wir übermorgen (ich rechne nach mir und bitte meine Leser deßfalls um Verzeihung) erreichen. Meine Mutter wußte den Rückfall meines Vaters, den sie des zweiten Diskantes unerachtet noch immer befürchtete, so sehr zu verhindern, daß sie seine Lieblingslieder den ihrigen vorzog, obgleich sie es auch mit ihren Lieblingen nicht verdarb, unter denen einige waren, bei denen mein Vater unmöglich den andern Diskant singen konnte.
Das Lied: Ich bin ein Gast auf Erden, schien für meinen Vater gemacht zu seyn, und fast ward kein Glas gebrochen, ohne daß meine Mutter nicht anstimmte:
Die Herberg' ist zu böse,
Der Trübsal ist zu viel;
Ach, komm mein Gott und löse
Mein Herz, wenn dein Herz will;
Komm, mach ein sel'ges Ende
Mit meiner Wanderschaft,
Und was mich kränkt, das wende
Durch deinen Arm und Kraft.
Ich wette, wenn meine Mutter mit diesem Liede meinen Vater gleich zu Anfang bestochen hätte, sie würde nicht auf einen Vers begrenzt worden seyn. Kaum hatte einer der zwei Streiter über die Namen von Curland, Lettland und Semgallen Abschied genommen, und gleich sang ihm meine Mutter nach:
Wo ich bisher gesessen,
Ist nicht mein rechtes Haus;
Wenn mein Ziel ausgemessen,
So tret' ich frei heraus.
Und was ich hier gebrauchet,
Das leg' ich alles ab;
Und wenn ich ausgehauchet,
So scharrt man mich ins Grab.
Gern, das weiß ich, hätte sie unter der Predigt: vom Vaterlande, wie an hohen Festen diesen Vers angestimmt, wenn sie geglaubt hätte, meinem Vater hiemit einen Liebesdienst zu erweisen. Seine Singzeit indessen war noch nicht gekommen, und außerdem hatte er den Grundsatz: die Andacht gehör' ins Kämmerlein. Der Gesang blieb also bloß unter den Hausgenossen.
Wer keine Einbildungskraft hat, sagte mein Vater, hat auch kein Gedächtniß. Ein großes Gedächtniß kann die Urtheilskraft schwächen, allein auch stärken. Wer sich durch hundert Meinungen, die er weiß, nicht stören läßt und noch eine für sich besitzt, hat viel Gedächtniß und viel Urtheilskraft. Die besten Köpfe klagen am meisten über Gedächtniß. Sie sehen ein, wie viel noch zurückbleibt, was sie nicht wissen, und wollen sich auf eine Art, die ihnen am wenigsten zu stehen kommt, bei Ehren erhalten. Ein Mann von starker Beurtheilungskraft macht sich nur Merkzeichen durch die Vernunft, die Imagination ist bei ihm bloß Köchin. Was sollte ihn also zurückhalten, ohne roth zu werden, über schwaches Gedächtniß zu klagen? Manche, um auch für tiefe Denker gehalten zu werden, machen es nach, obgleich die guten Leute weit eher über schlechten Verstand klagen könnten.
Zum recht guten Gedächtniß gehört, etwas ins Gedächtniß fassen, behalten und sich wieder erinnern. Sieh bei der Sache auf Ursach und Wirkung, inoculire alles auf dein Lieblingsstudium, und es ist dir auch im spätesten Alter, als hättest du es vorm dreißigsten Jahre, bis zu welcher Zeit beim Menschen alles in der Blüthe steht, gelernt. Witzige Leute haben schreckliche Gedächtnisse. Ueberall finden sie eine Aehnlichkeit – weil diese aber oft zu schwach ist, oder weil sie mit einem Blick zehn Aehnlichkeiten finden, vergessen sie alles; das Bewußtseyn, fassen zu können was man will, thut bei einem Genie oft größere Dinge, als wenn's schon ein gerüttelt, geschüttelt und überflüssiges Maß im Kopfe hätte. Ich habe noch keinen Dichter gekannt, der nicht schnell gefaßt hätte, was er gelesen. Beim mündlichen Vortrage gelingts nicht allen. Prosa behalten sie leichter als Verse. Bei andern Leuten ist es umgekehrt. Man würde behaupten können, ein Original müßte wenig Gedächtniß haben, wenn es nicht Leute gäbe, die im Vergessen eben so stark als im Fassen sind. Fassen und Behalten wird im gemeinen Leben für eins genommen, allein ganz unrichtig. Ein jeder Originalkopf muß schnell fassen und schnell vergessen. Etwas bleibt zurück, und nur eben so viel, als nöthig ist, um nicht bloß Abschreiber (Copist) zu seyn. Ein Großmaul hat ein behaltendes, ein Kopf ein fassendes Gedächtniß. Wer viel plaudert, kann auch viel behalten; ein guter Kopf kann nur viel erzählen, wenn er trunken oder verliebt ist; er darf sich indessen beides nur einbilden zu seyn. Wenn ein Poet nicht gut faßt, kommts oft daher, weil er sehen und hören kann und zwar mit Augen und Ohren des Genies, und auch dieser Umstand trägt sein Theil bei, daß er so leicht vergißt. Er kann nichts lesen und hören, was er nicht sogleich mit dem Seinigen bereichert. Er verzinset oft einen Gedanken mit fünfzig Procent, oft mit mehr. Er weiß beständig viel, nur nicht immer was andere wissen. Wer Jahreszahlen und Geschlechtsregister behalten kann, ist kein Dichter.
Lieber Vater, hier macht die liebe Mutter eine Ausnahme. Anlage zur Hauspoesie ist ihr nicht abzusprechen, und wer ihr ein gutes, massives Gedächtniß zugestehen wollte, dem vergäße sie diese Beschuldigung selbst im Himmel nicht, und wenns auch nur bloß darum wäre, um ihr Gedächtniß zu beweisen. – Was sie behält, ist eisern. Meine Mutter wußte nicht nur alle mögliche Lieder aus- und inwendig, sondern besaß auch eine so genaue Lebensbeschreibung von vielen Liederdichtern, daß sie beinahe den Schöpfungstag von jeder Strophe wußte. Es war ihr von vielen Jahr und Tag bekannt, und was das allermeiste war, sie konnte sagen, was jede ihrer Herzensstrophen bei diesem oder jenem für eine Wunderkur gemacht hatte.
Mein Vater, der von dergleichen Dingen nicht das mindeste wußte, hörte ihr (ohne Zweifel von dem Zeitpunkte, da er den zweiten Diskant zu singen anfing) andächtig zu, und schien an ihrer Zufriedenheit über dieses geneigte Gehör theilzunehmen.
Die singende christliche Hausgemeine war noch an den Worten:
Und was mich kränkt, das wende
Durch deinen Arm und Kraft,
und frisch fing meine Mutter an, als wenn sie festen Fuß fassen und occupiren wollte:
»von Paul Gerhard.«
War mein Vater nicht unter ihren Zuhörern, pflegte die Leichenpredigt länger und erbaulicher zu seyn, und beständig fand sie alsdann auf ihrem Wege Umstände, die mit Umständen, so Leuten aus ihrer Familie begegnet waren, eine Aehnlichkeit hatten. Reiste mein Vater mit, war der Weg wie auf der Diele, und nie sprach sie bei einem Anverwandten auf der Landstraße an, es wäre denn zuweilen bei ihrem sel'gen Herrn Vater oder Großvater, um ihnen aus Kindespflicht die Hände zu küssen.
Paul Gerhard hatte Berlin wegen des Streits der Lutheraner mit den Reformirten verlassen, nachdem er aus Lüben (denkt an Liebau, sagte sie, wenn euch der Name zu schwer fällt) nach Berlin gekommen, und ihr seliger Herr Vetter war, um allen allerlei zu werden, vom Landpastorat nach Mitau als Stadtpastor gegangen und hat in Mitau ein Bein gebrochen. Doch warum nicht sie selbst? Damit meinen Lesern die Zeit nicht zu lang werde, soll mein Vater ab- und zugehen.
»Es ist ganz besonders, daß Herr Paul Gerhard – sein Sohn, Paul Friedrich Gerhard, war Magister; auch gut! allein, so viel ich weiß, kein Liederdichter. Schade!) Es ist ganz besonders, sag' ich, daß Herr Paul Gerhard, welcher als Ober- oder Primarpastor 1676 den siebenzehnten, und nicht den siebenundzwanzigsten Mai, im siebenzigsten Jahre seines reifen Alters unter die himmlischen Sänger aufgenommen ward, kein Lied gemacht hat, das mit C anfängt, obgleich wir sonst viele vortreffliche Lieder haben, die mit diesem Buchstaben anheben. Ich laß jeden Buchstaben in seiner Ehr' und Würde, allein unter den Consonanten ist C mein Liebling. Hat dein Vater je sich des Unterdrückten, des Nothleidenden (sie wandte sich zu mir) angenommen, so war's, indem er behauptete, der Buchstabe C sey so gut deutscher Bürger im ABC als irgend einer, und indem er den Candidaten – ohne C widerlegte. Da die Letten ohne C sind, so könnte man den Herrn Oberpastor Paul Gerhard einen curischen, einen lettischen Sänger nennen, wenn er anders damit zufrieden wäre, woran ich zweifle. Wer Gerhards Lebensgeschichte mit leichter Mühe und ohne Kopfschmerz zu behalten Lust hat, merke sich vier Sieben.«
»Im Jahre sechzehn hundert sechs und siebenzig, den siebenzehnten Mai, im siebenzigsten Jahre, und in Hinsicht des Zweifels wegen seines Sterbetages sieben und zwanzig. Dieser Zweifel hat, wie mich dünkt, einen Druckfehler, eine Schwachheitssünde zum Grunde. Wer kann wissen, muß jeder, der ein Buch schreibt, bekennen, wie oft er fehle.«
Da hast du ganz recht, liebe Mutter; und ich, der ich zweihundert Meilen vom Druckorte entfernt bin, setze bei dieser Gelegenheit mit einer Verbeugung an alle Recensenten hinzu: Verzeihet die verborgenen Fehler. (Meine Mutter fährt fort:)
»Gott weiß, wie die Worte in der Ausgabe des Herrn Feistking lauten. Es ist diese Ausgabe für mich ein Licht unter einem Scheffel. Das Manuscript hat Herr Johann Heinrich Feistking vom Herrn Magister Paul Friedrich Gerhard erhalten.«
Meine Mutter bedauerte, daß sie nicht selbst der Herr Johann Heinrich Feistking bei dieser Gelegenheit gewesen, und wär's auch nur, setzte sie hinzu, der grünen, rothen und blauen Grenzzeichen und Fähnchen halber. Die Autorzeichen brachten sie auf die Tintarten, welche sie alle so wie eine Mehl- und Milchspeise oder Grütze anrichten zu können vorgab. Mein seliger Großvater, sagte sie, konnte ohne alle diese Tinten kein Concept zur Predigt vollenden. Mein seliger Vater brauchte nur die rothe, und jetzt bin ich bis auf die schwarze, und auch die (mein Vater war die ganze Zeit abwesend) wird wenig gebraucht, außer Uebung.
Der holdselige Mann, Paul Gerhard, hat das Feistking'sche Exemplar mit allem Fleiß revidirt. Sein letzter Federstrich war in dieses Buch, und eben schrieb ein Erzengel
seinen Namen auf's beste
in's Buch des Lebens ein.
Ich habe die Vorrede des Herrn Feistking nicht gelesen, sondern nur in ein anderes Buch eingebrockt gefunden; indessen gehört es eben nicht zum Stern und Kern dieser Vorrede, daß Paul Gerhard daselbst mit dem Dr. Martin Luther proclamirt und gepaart worden, und daß man sogar (unter uns gesagt) den Wunsch äußert, daß Gerhard dem Dr. Martin Luther beim Reformationswerk geholfen hätte. Ich thue Einspruch, Herr Feistking, nicht des Buchstabens C, sondern des auserwählten Rüstzeugs Dr. Luthers wegen, der auch wußte, was Sang und Klang war. – – Hier eine Lobrede auf Luthern, der darum, wie meine Mutter sagte, zu Eisleben geboren, weil ihn Gott das Eis zu brechen erkoren. Wir! wir! (sie sang diese Worte in der Melodie: wir glauben all' an einen Gott) wir, – setzte sie ohne Sang fort, – die wir aus Bescheidenheit den Zunamen Lutheraner angenommen, sollten mit dem Vornamen Reformatoren heißen; gewisse andere Leute aber, die nicht paulisch oder kephisch seyn wollen, können beim Namen Reformirte bleiben. Nach dem Luther (mein Vater kommt) muß ich gestehen, keinen bessern Liederdichter als Gerharden zu kennen. Er und Rist und Dach sind ein Kleeblatt, das auserwählte Rüstzeug Luther aber die Wurzel. Gerhard dichtete während dem Kirchengeläute, könnte man sagen. Ein gewisser Druck, eine gewisse Beklommenheit, eine Engbrüstigkeit war ihm eigen. Er war ein Gast auf Erden, und überall in seinen hundert und zwanzig Liedern – ich wünschte wohl, es wären ein hundert und siebenzig wegen der sieben – ist Sonnenwende gesäet. Diese Blume drehet sich beständig nach der Sonne und Gerhard nach der seligen Ewigkeit. Schwermüthig –
Recht, sagte mein Vater; allein weißt du auch warum?
»Warum?« meine Mutter, »weil er nach dem vorgesteckten Kleinod blickte.«
Weil er ein böses Weib hatte. – Sobald ihn Gott von dieser bösen Sieben erlöste, war keine Sonnenwende mehr in seinem poetischen Gärtchen. Er sang; allein es sang kein Gerhard mehr. Was die Xantippe dem Sokrates war –
Dieser Blitz traf das Wort auf der Zunge meiner Mutter; es bebte noch eine Minute auf der bläulichen Oberlippe, allein es war so matt, daß es in der Geburt seinen Geist aufgab. Meine Mutter, die sich ihres Geschlechts überhaupt anzunehmen gewohnt war, mußte von meinem unlevitischen, unpoetischen Vater, der zum zweiten Diskant nur par bricole gekommen war, erfahren, daß er die Asche einer Oberpastorin entheiligte und ein Sacrilegium beging. Das war mehr als sie tragen konnte! – Sie verstummte vor ihrem Scherer, und nach einer guten Viertelstunde allererst, nachdem das Herzgespann nachgelassen, sang sie, ohne zu sagen, von wem das Lied gedichtet war:
Wenn böse Zungen stechen,
Mir Glimpf und Namen brechen,
Will ich bezähmen mich;
Das Unrecht will ich dulden,
Dem Nächsten
(meine Mutter sang dieses Wort mit einem tiefen Seufzer)
seine Schulden
Verzeihen gern und williglich.
Dieses war für heute genug am Gemälde meiner Mutter. Daß sie Gedächtniß und, wo nicht ein poetische Puls-, so doch Blutader, wo nicht prasselndes Odenfeuer, so doch eine glühende Kohle vom Altar gehabt, werden meine Leser selbst gefunden haben. Noch einen Zug um die Nase herum, der sich eben bei mir meldet, und es übel nehmen könnte, wenn ich ihn nicht, so spät es auch ist, beherbergen sollte. Meine kreuzbare Mutter war eine so große Verehrerin der Reime, daß sie sogar ein Gelübde abgelegt hatte, gewisse Worte nie zu trennen. Kern und Stern, Rath und That, Kind und Rind. Hack und Pack, Dach und Fach, Knall und Fall u.s.w. waren nach ihrer Meinung Zwillinge, Doppelbrüder. Außer diesem behauptete sie, daß gewisse Reime für einander geboren, im Himmel geschlossen wären und durchaus ins Eheband treten müßten, als da sind Stank und Dank, Mund und Pfund, Glimpf und Schimpf, Noth und Tod, Kleider und Schneider, Student und Recensent, Schelm und Helm. – »Was Gott zusammenfügt,« pflegte sie zu sagen, »soll der Mensch nicht scheiden. Wer solche Reime trennt, scheidet eine Ehe; und wer einen andern Reim in diese Stelle aufnimmt, heirathet im verbotenen Grade.« Sie behauptete, die Reime wären gleichsam die Riemen, durch welche das Gedicht verbunden würde, und muß ich ihr die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie bei ihrem poetischen Trichter, oder dem in sechs Stunden einzugießenden Unterricht zur deutschen Dicht- und Reimkunst1 die Regel gab: trachtet am ersten nach dem Reime der zweiten Reihe, der erste wird euch zufallen, und es wird der Vers wie gegossen seyn. –
Jetzt in die Speisekammer auf ein Gericht Eier.
Der Himmel helfe uns ad mala. Es wird für meine Leser und für mich, glaub' ich, das Beste seyn. Sollte indessen meinen Lesern das Schälchen, das ich aus gutem Herzen nach nordischer Art zum Willkommen herumreichen lasse, Appetit machen und Promulsis (der erste Gang) nicht mißfallen, so hoff' ich, caput coenae (die Hauptschüssel) dieses Theils wird auf ein gleiches Glück Hoffnung machen können. Ein Thaliarchus, ein Credenzer, Disponent, ein Gläserzähler, ein Taktschläger ist mir bei der Mahlzeit eine unausstehliche Creatur.
Meine Mutter läßt zur Canonisation läuten, die einen ihrer Vorfahren treffen soll. Die Reliquien dieses Candidaten zur Standeserhöhung bestehen in einem Kupferstiche, und obgleich, wenn er nach den neuesten päpstlichen Grundsätzen behandelt werden sollte, ihm rechtlich entgegenstände, daß er noch nicht hundert Jahre gestorben, so wird doch bei dieser protestantischen Ceremonie dieser Einwand keine Bedenklichkeit abgeben.
Es war ein Sonnabend – denn dieses war ein Tag, den meine Mutter unter den Tagen, so wie die C unter den Consonanten (alles Widerspruchs des Kandidaten ohne C unerachtet), schätzte. Die C, um aufrichtig zu seyn, weil die Letten diesen Buchstaben nicht haben; den Sonnabend, den heiligen Abend, weil sie selbst, im Fall ich mich so ausdrücken darf, ein heiliger Abend – wenn man nur hinzusetzt, welches einem Sohne nicht zusteht, so haben sie meine Leser in einem Zuge ganz – also nur ein heiliger Abend war. Meiner Mutter gebührte allerdings eine Glorie, allein nur vom Mondschein. – Wegen des Sonnabends muß ich noch bemerken, daß sie von meinem Vater alsdann wegen der Beichtvesper am wenigsten einen Einbruch zu befürchten hatte, und daß der Sonnabend bei allen Priesterweibern dies festus, ein hervorragender Tag ist.
Es war ein Sonnabend, da mich meine Mutter mit dem ersten Verse des Liedes:
Freu dich sehr, o meine Seele,
Und vergiß all' Angst und Qual –
aufsang und nach dessen Vollendung mich also anredete: »Ich weiß, daß dieses Lied einem armen Sünder zugeschrieben wird, der in Hamburg wegen begangener Nothzüchtigung eines neunjährigen Mädchens enthauptet worden. Allein außerdem, daß dieser arme Sünder Doctor in der Medicin gewesen, so glaub' ich auch die ganze Armensündergeschichte nicht. Es ist vielmehr dieses Lied eine Messerspitze von den geistlichen Liedern des Simon Graf, die er unter dem schönen Titel: Geistliches edles Herzpulver, in drei Theilen herausgegeben hat,2 und dann am Ende, liebes Kind, sind wir alle arme Sünder, – allein wir haben nicht alle ein neunjähriges Mädchen genothzüchtigt, sind aber alle in Sünden empfangen und geboren.«
»Was ist Nothzucht, liebe Mutter?«
»Nothzucht, mein Kind!« sagte meine Mutter, und ich war voll Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, – »ist Nothzucht. Leg dein Feierkleid an, streu Puder auf dein Haupt, und wenn keiner vorhanden ist, Weizenmehl, und sieh heute wie man dem thut, den deine Mutter ehren will aus dem Buche Esther, im sechsten Capitel und sechsten Verse.« Nach einer langen Deliberation, wie die feierliche Handlung vollzogen werden sollte, ging dieser Triumph, oder Oration, oder Leichenconduct an. Io Triumphe! der Triumphator, welchem diese Ehre in effigie erwiesen wurde, lag auf zwei Folianten, und auch dieses kam von ungefähr, sonst würde selbst diese Spur von Triumphwagen nicht gewesen seyn. Bei meiner Uebermessung, die mit einer curischen Elle geschah, fand es sich, daß kein Stuhl hoch genug für mich war, den Kupferstich dem Himmel nahe genug zu bringen, wie meine Mutter sich ausdrückte, welches Ziel aber durch Beihülfe dieser Folianten erreicht werden konnte. Da die Folianten inzwischen einmal im Spiele waren, legte sie selbige kreuzweise so, daß also nicht einer auf dem andern lag. Sie spreitete endlich ein weißes Tuch über sie. – Man kann, sagte sie, auch dabei seine erbaulichen Gedanken haben. Noch gehörten zu diesem Ehrenwerk vier flimmernde Nägelchen und vier Streifen schwarzes Papier. Eine Leichenrede wurde deßhalb entkleidet, die auf einen reformirten Geistlichen gefertigt war. Die Nägelchen und die vier Streifen legte meine Mutter wie Ehrenzeichen neben den Kupferstich. Auf dem Wege von dem Ort, wo ihm der Platz unterm Spiegel gegen Morgen war abgeschlagen worden, wurden Tannenreiser bis in die Speisekammer gestreut. Unterweges war meine Mutter, wie man in der Affekthitze zu seyn pflegt, still. Der Fall war zu groß, um Sang und Klang zu verstatten. Stille Begräbnisse kommen überhaupt der Natur am nächsten, wenn anders der Verstorbene keine lachende Erben nachläßt. Meine Mutter trug die Füße, ich das Haupt, und so kamen wir ins Delubrum, ins Sacrum, ins Gewölbe. Es kam mir unterwegs besonders wegen des weißen Tuches, welches bei meinen Lesern noch im frischen Andenken flaggen wird, so vor, als ob ich eine Leiche trug, und meiner Mutter muß es eben so vorgekommen seyn, denn sie sagte (dies war alles, was geredet wurde): den Weg, mein Sohn, müssen wir alle, und konnte wohl unmöglich die Speisekammer darunter verstehen. Ich merkte aus allem, daß meine Mutter eine Rede an mich halten wollte, und kann vielleicht dieser Umstand mit das Seinige zur Stille beigetragen haben, wodurch diese Handlung geweihet wurde. »Er hat gelitten und hat gesiegt,« fing sie an, »er ist gestorben und sieh! er lebt.
Schau't, die Sonne geht zur Ruh',
Kommt doch morgen wieder;
aus dem Liede: einen guten Kampf hab' ich auf der Welt gekämpfet.« Diese Citation oder eine Wehmuth, die uns Beide anwandelte, lenkte sie vom rechten Wege.
»Dein Ebenbild,« sagte sie, »mein Sohn, wie ein Ei dem andern; – sey ihm an reiner Lehre und reinem Windel gleich, auch« (hier fehlt ohne Zweifel viel) »nimm dich vor harten Eiern in Acht, sie sind schwer zu verdauen.«
»Erinnere dich an die Leiter Jakobs,« sagte sie, nachdem sie sich vom Stickfluß erholet hatte, und die Folianten wurden abgedeckt und das Leichlaken sein säuberlich zusammengelegt. »Zu niedrig,« sagte sie, indem ich die Höhe erstiegen hatte und zu hämmern anfing. »Es stockt in der Speisekammer,« »zu hoch,« gleich darauf: »denn ich kann weiter nichts als vier Sterne sehen.«
Sterne dacht' ich, liebe Mutter. – Sechs für einen Vierding.
Endlich traf ich die rechte Stelle, und nachdem das Monument fertig war, welches diesem Ehrenmanne um so angemessener schien, als es gerad' über einem Eierbehältniß stand, stieg ich herab und meine Mutter umfing und küßte mich. Es war dieses eine feierliche Umhalsung, eine Accolade und nun? – Meine Leser werden es mir verzeihen, daß ich sie so lange im Finstern gelassen, ohne zu bemerken, daß meine Mutter vier Lichter auf dem Tische angezündet hatte, auf welches Castrum Doloris der Wohlselige, nachdem wir ihn von den Folianten abgehoben, eine ganz kurze Zeit zur Ausruhe hingestellt wurde. Drei von diesen Lichtern löschte meine Mutter so aus, wie andere Leute ihre Lichter auslöschen. Das vierte, ein abgebrannter Stumpf, war während dieser Zeit dem Verlöschen nahe.
»Komm! sieh und lerne sterben!«
sagte sie zu mir. Ich sah ein ausgehendes Licht, und meine Mutter betete mit einer Inbrunst, die mir durch die Seele ging:
– Und wenn mir die Gedanken
Vergehen wie ein Licht,
Das hin und her thut wanken,
Bis ihm die Flamm' gebricht;
Alsdann fein sanft und stille
Laß mich, Herr! schlafen ein
Nach deinem Rath und Willen.
Wann kommt mein Stündelein.
Ich sah, was meine Mutter sagte, und oft! oft! hab' ich mein Licht so ausbrennen lassen, um dieses Fest zu wiederholen.
Meine Mutter legte die Hände, sobald alles aus war, auf mich, um mich priesterlich zu segnen. Wir weinten beide. – Nach einer Weile fing sie an (ich glaube, es sind alles dieses Brosamen, die von ihrem reich besetzten Tische fielen, Stücke von der verunglückten Rede): »die lobwürdigste Fürstin Henriette Louise, Markgräfin zu Brandenburg, ließ sich dieß Lied vorsingen, und obgleich alles um sie herum weinte, starb sie doch ohne Ach und Weh sanft und selig zu Onolzbach im Jahre Christi 1650, ihres Alters sieben und zwanzig Jahr. Gott! laß es nur ein Stündlein und nicht eine ganze Stunde seyn, wenn wir heimfahren aus diesem Elend!« Wir brachten die Folianten zu Hause und meine Mutter sang, ohne zu bestimmen, ob's auf Folianten, oder auf Kupferstich, oder auf alle papierne Monumente und Denkzettel gezielt wäre:
Man trägt ein's nach dem andern hin,
Wohl aus den Augen und aus dem Sinn,
Die Welt vergisset unser bald,
Sey jung oder alt,
Auch unsrer Ehren mannigfalt.
Seyd getrost, verdienstvolle Männer (ich will meiner verstummten Mutter aushelfen). Habt ihr nicht das Glück, am Spiegel zu hängen, so ist noch die Speisekammer übrig. Stockt es hier gleich, es schadet nicht, das Bild kann hoch geschlagen werden. Beschert euch nur der Himmel Augen, die vier kleine Nägel für Sterne ansehen, habt ihr gewonnen Spiel.
Nach dieser vollbrachten Arbeit verlangte meine Mutter, daß ich diesen Tag in einem feinen, guten Herzen behalten, und ihn jeden heiligen Abend vor Ostern durch eine Wallfahrt in die Speisekammer (wie sie sich ausdrückte) feiern und erneuern sollte; dieses ist, sagte sie, die Aussaat; vor Ostern, den heiligen Abend, sollst du ernten. Der Geber aller guten und vollkommenen Gaben verleihe dir gutes Wetter oder ein Herz nach seinem Herzen zur Ernte.
Daß aber der ausgesäete Weizen nie zur Reife gekommen und aus dieser Wallfahrt nie etwas geworden, ist einer von uns beiden Schuld, der fromme Schweppermann oder ich. Meine Mutter zog mich wegen eines Epitaphiums zu Rathe, und mir mußte zum Unglücke einfallen:
Dem Mann ein Ei,
Dem frommen Schweppermann zwei;
weil Schweppermann nicht Superintendent in Curland, sondern
Ein Ritter, keck und fest,
Der zu Gnadersdorf im Streit' that das Best',
gewesen, so bekam der Vorschlag meiner Mutter eine andere Wendung. Der bestimmte heilige Tag fiel aus, allein nicht zu meinem Nachtheil, denn wenn ich nach der Zelt ein Stück Geräuchertes zu ernten Lust hatte, wallfahrtete ich Hand in Hand mit meiner Mutter nach dem Mausoleum (oder nach einer ehrlichen deutschen Uebersetzung) in die Speisekammer. Es hing der Tag unseres Eierheiligen von der Angabe meines Magens ab, und war, so oft mich außer der Mahlzeit hungerte. Je nachdem ich Appetit hatte, ward auch die Feierlichkeit zur Ehre eines Mannes zugeschnitten, der nach der Bemerkung meiner Mutter, die sie mehr als einmal anbrachte, »so wie die Speckseiten und Würste, seine Nachbarn, gekommen wäre aus der Rauchkammer dieses Lebens.«
Zur Steuer der Wahrheit steh' es hier wie eine Ehrensäule, daß meine Mutter, wider die Gewohnheit aller Weiber, nicht geizig war. Sie wollte nicht die Eier abschaffen und Hühner dafür einführen, sondern die Rechtgläubigkeit, wie sie sagte, lag ihr hiebei bloß am Herzen.
Mein Vater (damit ich sobald als möglich die vacante Stelle besetze), den meine Mutter durch diesen an seinen Ort gestellten Kupferstich ohne Zweifel auf den Gedanken brachte, daß im Prunkzimmer, zur rechten Hand unter dem Spiegel, kein unrühmlicher Ort im Pastorat wäre, vocirte den Kupferstich des Eugen an diesen ledigen Platz. Er ließ meine Mutter vorderhand bei ihrer voreilig gefaßten Meinung, daß dieser Kupferstich der Herzog Gotthard wäre, welchen sie für den größten Helden hielt, der je in der Welt gelebt hätte, und dem allein sie den Rang über den Superintendenten gestattete, obgleich sich die Herzoge von Curland wir von Gottes Gnaden schrieben und Landeshoheit haben. Es war mein Vater sich als ein Deutscher diese Huldigung schuldig, und nie hat er es verfehlt, dem Namen eines Deutschen Ehre zu machen. Das erste Wort, was er mich aussprechen lehrte, war, aller seiner Kenntniß in fremdem Sprachen unerachtet, ein schweres deutsches. Deutsch eben darum, warum Eugen im Pastorat zur rechten Hand unterm Spiegel des Prunkzimmers hing, schwer, weil mein Vater in allen Dingen die Gewohnheit hatte, mit dem Homer anzufangen.
Damit aber meine Leser ja nicht Realinjurien begehen und an den Gedanken grenzen, als ob mein Vater auch nur stillschweigend eine Unwahrheit verübt, so muß ich ihn bei dieser maßgebenden Gelegenheit rechtfertigen und ihn über jenen Heiden herausbringen, dem man zur Steuer der Wahrheit nachsagt, daß er auch nicht im Scherze unrichtig geworden, welches in unserer galanten Mundart ungefähr heißen würde, daß er keine einzige Equivoke gesagt habe. Wer weiß es nicht, daß eine stillschweigende Lüge eine himmelschreiende stumme Sünde sey, der feinste Meuchelmord, und eben darum der gewöhnlichste. Was meinet ihr, lieben Leser! mißt mein Vater nicht einen Zoll und einen Strich mehr?
Gotthard, sagte meine Mutter, der Held der Helden. Nicht also, fiel mein Vater ein. Eugen! ein Deutscher, der in seiner Jugend Theologie studirte und schon wirklich Candidatus theologiae