Lebenslodern - Selma Ulrich - E-Book

Lebenslodern E-Book

Selma Ulrich

4,8

Beschreibung

Nach dem glücklichen Ende des ersten Teils geht die Liebesgeschichte von Bella und Sven hier nun weiter. Beide leben glücklich auf Norderney, führen gemeinsam die Pension, alle Eltern wohnen in der Nähe. Alles scheint perfekt. Doch das Leben ist nicht so rosig wie vorgestellt: Menschen aus dem nahen Umfeld machen ihnen schwer zu schaffen und stellen sie vor große Herausforderungen. So verzaubernd und liebevoll wie Teil Eins "Lebenswärme" und gleichsam fesselnd bis zum Ende.

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Über die Autorin:

Selma Ulrich, Jahrgang 1960, lebt mit ihrer Familie ländlich in der Nähe von Köln.

Nach Lebenswärme folgt hier nun der zweite Teil der Liebesgeschichte: Lebenslodern.

Alle Figuren, Namen und Geschehnisse an den genannten existierenden Orten sind frei erfunden. Ähnlichkeiten in Handlung, mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig.

für Linda und Rosemarie

„Wer richtig liebt, der findet zu sich selbst. Die meisten aber lieben, um sich zu verlieren.“ Hermann Hesse

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Anhang

Quellennachweis

Kapitel 1

September

Die Sonne strahlte wie bestellt, das Meer war weit weg. Man müsste die Zeit anhalten können, dachten die beiden Liebenden am Strand von Norderney, die noch auf Wolken schwebten. Der Wind blies ihnen durchs Haar. Ihre Tränen der Freude waren getrocknet. Ein paar Möwen kreischten ihnen Glückwünsche zu, so fröhlich, wie sie klangen.

Ganz weit draußen fuhr ein langer Frachter Richtung Westen. Um sie herum waren Touristen, Kurgäste, es war das ganz normale Inselleben. Ab heute würde auch das Leben der beiden ganz normal weitergehen, allerdings war es nun offiziell, dass sie es ganz bewusst zusammen leben und teilen wollten.

Die Senioren waren schon lange fort und Bella lag noch immer in Svens Armen. Sie fühlte das ergreifende Gefühl noch nach, das sie vor wenigen Minuten erlebt hatte. Dass Sven ihr mit Hilfe der alten Leute seine Liebe gestanden und ihr überdies einen Antrag gemacht hatte, das war wirklich zu schön gewesen und mit keinem Brillanten der Welt zu überbieten.

Eine Ehe hatte sie nie angestrebt, vor Charly nicht und mit ihm erst recht nicht. Sie dachte zurück an die Hochzeit von Mike und Markus vor ein paar Monaten, wie klar ihr dabei geworden war, was eine Ehe eigentlich bedeutete, wie tief sie ging. Und sie hatte nun das seltene Glück geschenkt bekommen, richtig echte Liebe empfinden und erhalten zu dürfen, die keine Fragen offen ließ. Alles, was sie bei Charly für eine Heirat niemals hätte bejahen können, bei Sven fand sie es zuhauf. Es war alles so klar, so richtig.

Sie spürte seine starken Arme um sich herum, hörte und fühlte seinen warmen Atem an ihrem Ohr, es beruhigte und erinnerte sie stets an die Kostbarkeit dessen, was zwischen ihnen war. Ihre Leben hatten sich wie Magneten angezogen und waren inzwischen untrennbar miteinander verschmolzen. Selbst die räumliche Trennung vor wenigen Monaten hatte keine gedankliche zur Folge gehabt. Immer waren sie in dieser Zeit zusammen gewesen, ohne es zu wissen, es dennoch zu spüren.

Eine Heirat mit Sven würde nur die formelle Darstellung ihrer großen Liebe sein und ein paar steuerliche Vorteile bringen, aber das war nebensächlich. Auch würde es nicht der schönste Tag in ihrem Leben werden, es würde mit Sicherheit einer der schönsten sein, denn auf dem ersten Platz gab es eine ganze Reihe schönster Tage und Momente, wie ihr erster Tag und die erste Nacht zusammen oder auch ganz besonders der Tag, an dem sie sich wieder in ihre Arme schließen konnten nach langen Wochen der schmerzvollen Sehnsucht.

So viel war passiert in den letzten Monaten. Eine solch schnell gefasste Lebensänderung hätte Bella vorher niemals für möglich gehalten. Dazu hatte es aber auch keine Veranlassung gegeben.

Es war nun so geschehen und es hatten sich nicht die geringsten Zweifel gezeigt, die ihrerseits ein Umdenken erfordert hätten. Sie und Sven gehörten zusammen wie Yin und Yang, Erde und Mond, Norderney und die Gezeiten.

Mit ihrer Arbeit im Geschäft hatte sie natürlich auch Sinn und Zweck erfüllt, doch hier mit Sven die Pension zu leiten, das war die Arbeit, die erst durch ihr eigenes Tun ihren Sinn erhielt. Es war stinknormale Arbeit, Hausarbeit, wenn man so wollte, aber im professionellen Stil.

Es war manchmal nicht leicht, jeden Tag so früh aufzustehen und für mindestens zwölf Gäste das Frühstück herzurichten mit Brötchen und Kaffee, Tee, Kakao, Saft, Obst, Brot, Wurst und Käse sowie Eiern in verschiedenster Zubereitungsart, andererseits war sie froh, dass sie nicht auch noch für sie alle kochen musste, dazu empfahl sie aber das Lokal von Nils´ Eltern, die wiederum Werbung für die Pension machten, eine freundschaftliche Absprache zur gegenseitigen Zweckerfüllung.

Ab Mittag war Bella zeitlich nicht mehr so eingespannt, konnte in Ruhe alle anderen anfallenden Arbeiten erledigen und auch ein wenig Freizeit haben.

Abends kochte sie oder Sven oder sie mit ihm für sie beide, die Vor- und Zubereitung war schon eine besondere Sache für sich, weil sie es so sehr genossen, zu zweit zu sein und es liebevolle Gesten zwischen ihnen gab.

Sven stand jeden Tag mit ihr um sechs Uhr auf, holte frische Waren und kümmerte sich um das Eindecken der Tische. Für ihn war es nichts Neues, er hatte es mit seiner Tante immer so gehalten, wenn er zur Saison auf der Insel war. Auch beschäftigte er sich mit der anfallenden Wäsche, für die zwei Maschinen im Keller bereitstanden und hatte ein Auge auf alle nötigen Vorräte, während Bella mit Henny zusammen für die Sauberkeit sorgte.

Nach kurzer Zeit der Eingewöhnung saß jeder Handgriff, jede Aktion. Und zwischendurch war stets Gelegenheit für einen liebevollen Blick, Kuss oder eine kurze, aber zärtliche Umarmung. Dass sie sich so gut verstanden merkten auch die Gäste, die von der Zuneigung und Fröhlichkeit der beiden am frühen Morgen bereits angesteckt wurden.

Dass das alles keine Mühe machte, sondern richtigen Spaß, daran erkannte Bella, wie richtig alles war.

Das gemeinsame Joggen hatten sie nun auf den Nachmittag oder frühen Abend verlegt.

Sie waren beide stolz auf sich, auf ihre Arbeit, auf ihr Leben.

Auf Sven war Bella ganz besonders stolz, weil er so schnell wieder Fuß gefasst hatte, es machte sie glücklich, ihn so glücklich zu sehen. Seine Therapien würden noch eine Weile dauern, bis sie den langfristigen Erfolg zeigten, aber auch das erschien nicht mehr als unüberwindbare Hürde. Svens Wille, aus seinem Gefühlssumpf herauszufinden, war sehr groß.

Wenn sie etwas vermisste, war es, Jutta nicht mehr so oft sehen zu können. Aber sie telefonierten häufig und Jutta versprach zu sparen, damit sie sich öfter einmal eine Auszeit auf der Insel würde gönnen können. Mit Wehmut hatte sie zur Kenntnis genommen, dass auch Bellas Eltern bald nach Norderney ziehen wollten, dann hätte ihre Freundin kaum noch einen Grund, nochmals ihre alte Heimat zu besuchen, hatte sie geäußert. Bella hatte sie beruhigt und ihr gesagt, dass sie als langjährige und beste Freundin immer ein Grund war, zurückzukehren.

Lange schon hatte Bella nicht mehr an Charly gedacht, nun fiel er und sein seltsames Verhalten kürzlich ihr wieder ein. Ein paar Wochen nach dem kurzen Telefonat jenes Samstags, dem Tag, an dem sie Sven wiederfand, hatte sie ihn nochmals angerufen und mit ihm gesprochen, wie man es unter Freunden so machte. Es klang ehrlich, als er sagte, dass er sich für sie und ihr Glück freute.

Dass er immer noch gekränkt war über ihre Entscheidung, ließ er sich nicht anmerken.

Sie hatte ja recht gehabt mit dem, was sie damals am Strand zu ihm gesagt hatte. Er kam nun in der kleinen Wohnung, die er inzwischen selbst angemietet hatte, nicht wirklich zurecht, es war schließlich das erste Mal, dass er alleine lebte. Haushaltsführung war überhaupt nicht seine Sache.

Jochen konnte das. Der war perfekt. Auch er hatte die Geschichte mit Ronja ganz gut überstanden und hatte immer wieder neue Freundinnen, betörte sie mit seinen Kochkünsten und seine Wohnung war immer in Ordnung.

Charly hatte auch ein paar Gespielinnen gehabt, so ganz ohne konnte er es nicht aushalten, dennoch sehnte er sich zurück nach der Gemütlichkeit eines schönen Zuhauses, wie er es früher mit Bella gehabt hatte. Sie hatte ihn verwöhnt mit gutem Essen. Nun lebte er von Fast Food, Tiefkühlpizza und belegten Broten, dazu ging er ab und zu mit Jochen aus, wenn der wieder einmal vorübergehend Single war.

Seine Wäsche wusch er im Waschsalon, für seine Hemden nahm er den Bügelservice der Reinigung in Anspruch. Er überlegte, sich eine Putzfrau anzuschaffen. Doch die Aussicht, ständig eine wahrscheinlich rundliche ältere Dame in seiner Wohnung zu sehen, ließ in ihm keine guten Gefühle aufkommen. Lieber würde er sich eine junge, hübsche Frau wünschen, mit möglichst wenig Stoff an einem wohlgeformten Leib.

So eine wie Lydia. Sie hatte er auf Ibiza kennengelernt, wohin er nach Bellas überraschendem Wegzug für zwei Wochen geflogen war.

Lydia war blond, langhaarig und natürlich sehr kurvenreich, mit einem wunderschönen Mund, der Charlys Blick magisch anzog. Der war so schön, dass er ihn tatsächlich mehr ansah als ihre Oberweite. Der Anblick ihrer vollen runden Lippen ließ höchste Gefühle in ihm wachsen.

Sie kam ursprünglich aus Bremen, war vor knapp einem Jahr nach Ibiza gezogen mit einem Freund, der dort eine Bar eröffnet hatte. Charly hätte sie am liebsten direkt nach den zwei Wochen mit zu sich genommen, sie wollte jedoch lieber an ihrem neuen Wohnort bleiben.

Er dachte sehr oft an sie.

Er erzählte Bella, dass er sie sehr vermisse, was trotz Lydia nicht gelogen war. Bella klang so glücklich mit jedem Wort, dass es ihm weh tat. Er war wirklich der größte Idiot gewesen!

Aber was war schon Norderney gegen Ibiza! Er würde bald wieder hinfliegen, das stand für ihn fest.

Ganz sicher würde er aber auch wieder nach Norderney fahren und Bella besuchen. Er konnte sich immer noch nicht vorstellen, dass sie mit diesem Inselfritzen so glücklich war. Sie leitete nun mit ihm zusammen die Pension, hatte sie erzählt. Konnte das Glück sein, sich so einem Stress auszusetzen? Täglich den Dreck anderer Leute wegzumachen? Sie behauptete felsenfest, dass ihr das alles unglaublichen Spaß machte. Er wusste noch immer nicht, was genau sie an diesem Sven fand, und jetzt, wie er erfuhr, konnte der noch nicht einmal mehr richtig sprechen. Das musste vermutlich wirklich Liebe sein, auch wenn er nicht in der Lage war, das ansatzweise zu verstehen.

Die Zeit nach ihrer Trennung, als sie gute Freunde wurden, das war eine schöne Zeit und das sagte er ihr auch am Telefon.

Bella hatte das bestätigt und ihm gesagt, wie froh sie gewesen war, dass er für sie da war in dieser Zeit. Er hatte sie dann tatsächlich gefragt, ob sie denn glaube, dass sie wieder zusammengekommen wären, hätte sie Sven nicht wiedergetroffen. Bella musste darüber ernsthaft lachen und konnte es kaum glauben, dass er sich diese Gedanken noch immer machte. Sie erzählte ihm, dass sie für ihn während der zwölf Jahre auch Liebe empfunden hatte, das stand gar nicht zur Debatte. Aber ihre gemeinsame Zeit war vorbei. Wäre sie nicht vorbei gewesen, dann wäre ihr Sven wahrscheinlich gar nicht erst aufgefallen und natürlich wäre sie gar nicht erst alleine verreist. Und dass diese Zeit ganz sicher vorbei war, das hatte Charly ja schließlich auch zuerst bemerkt und war für sich tätig geworden.

Er hatte ihr erzählt, dass er ganz gut zurechtkomme in seiner ersten eigenen Wohnung. So recht glauben konnte sie das nicht. Aber es stimmte sie zufrieden.

Sie kam jedoch nicht umhin, ihn doch auf den einen Sonntag anzusprechen, an dem Sven überraschend auf ihn getroffen war. Sie machte ihm deutlich klar, dass sie sein Verhalten unmöglich fand und dass sie ihn für so unverfroren gar nicht gehalten hätte, Sven auf diese unverschämte Weise anzulügen. Sie erzählte ihm von ihrer Vorstellung, dass wahrscheinlich vieles nicht passiert wäre, wenn Charly ihr geholfen hätte, mit Sven zusammenzukommen, schließlich wusste er doch, wie sehr sie in ihn verliebt war und ihn vermisste. Darauf hatte er schlicht geantwortet, dass Sven halt sein Nebenbuhler war und er einfach nicht gewillt war, ihn oder irgendjemand anderen in ihrer Nähe zu dulden. Das hatte in ihren Augen mit Liebe überhaupt nichts zu tun, sondern eher mit einem Machtkampf. Es kam fast zum Streit darüber und das wollte Bella auf keinen Fall, daher hatte sie das Gespräch einigermaßen galant, aber schnell abgebrochen.

Der Wind wehte Sven Strähnen von Bellas Haar ins Gesicht. Sie kitzelten an seiner Nase und das war eine der wunderbarsten Begleiterscheinungen, neben ihr sitzen zu dürfen. Er hielt sie im Arm und war glücklich.

Dass sein Plan so gut funktioniert und er die passenden Sprachrohre gefunden hatte, Bella zu sagen, was ihm so wichtig war, erfüllte ihn mit Glück und Zufriedenheit. Am liebsten hätte er natürlich alle Worte selbst gesprochen, aber es war so schwer.

Immer noch. Anfangs war er noch oft in Selbstmitleid gefallen. Nur durch Bellas Hilfe hatte er einen Teil seiner Ängste überwinden können. Es gab Momente, da hasste er sich dafür. Sie gab ihm Trost, wenn er nach gescheiteren Übungen verzweifelte und Angst hatte, es vielleicht doch nicht zu schaffen. Einmal hatte er ihr gesagt, dass er sich lieber die Zunge abschneiden wollte, als den Rest seines Lebens stottern zu müssen. Er hatte so überzeugend geklungen, dass Bella seinen Schmerz nachempfand und sie Angst bekam, er würde sich tatsächlich etwas antun wollen.

Solche Gedanken waren ihm durch den Kopf gegangen, sogar oft. Und hätte er Bella nicht an seiner Seite gehabt, wahrscheinlich wäre das Meer sein letzter Zufluchtsort gewesen. Es hätte ihn mitgenommen, weit hinaus auf die offene See, dahin, wo es die Zeit nicht mehr gab, wo es keines Sprechens bedurfte.

Man kannte ihn seit vielen Jahren auf der Insel. Auch wenn die Menschen ihm Verständnis entgegenzubringen schienen, er nahm es ihnen nicht ab, jedenfalls nicht allen. Er wusste, dass man hinter seinem Rücken tuschelte. Ein stotternder Mensch zog alleine schon deshalb Aufmerksamkeit auf sich. Er entsprach nicht der Norm, in seinem Fall nicht mehr, vorher war ja alles so, wie es als normal galt. Nun nahm man ihn nicht mehr ernst. Kinder lachten ihn aus, sie waren schonungslos in ihrer Kritik. Jemand, der nicht richtig sprechen konnte, der konnte nur blöd sein.

Es gab diese Situation in der Fleischerei. Er hatte sich alles aufgeschrieben und Frau Bauer, der Verkäuferin, den Zettel übergeben. Trotzdem hatte sie noch eine Frage und er musste sprechen. Frau Bauer hatte nicht gelacht, sie wusste ja Bescheid. Aber neben ihm stand eine Kundin mit einem etwa neunjährigen Jungen. Der hatte Sven erst seltsam angesehen, dann laut gelacht und seine flache Hand vor seinem Kopf hin und her bewegt.

Seine Mutter hatte ihn an der Schulter gerüttelt. „Tim! Lass das bitte!“ Dann hatte sie Sven angesehen. „Entschuldigung, er hat das nicht so gemeint.“

„Hab ich wohl!“, hatte der Rotzlöffel frech geraunt.

Sven hatte sie nickend angelächelt, was soviel heißen sollte, wie: „Ich habe schon verstanden, der Junge hält mich für verrückt.“

Das hatte ihn hart getroffen.

Vermutlich hätte er sich selbst ähnlich verhalten in diesem Alter. Sehr wahrscheinlich aber hätte er dem anderen keinen Scheibenwischer gezeigt.

Doch Bella war da, sprach ihm Mut zu, sie liebte ihn einfach, auch mit diesem Makel. Niemals hatte sie ihn auch nur eine Sekunde ausgelacht oder gesagt, er solle besser den Mund halten. Immer hatte sie geduldig zugehört, bis die Worte gesprochen waren, egal, wie viel Zeit er dazu benötigte. Sie wusste, wie sehr es ihn anstrengte, wie lästig es ihm war, wie sehr er sich schämte.

Und er liebte Bella. Er wollte nicht, dass sie sich Sorgen machen musste, daher entwickelte er immer mehr Willenskraft von Tag zu Tag. Es war ein schwerer Kampf, den er unbedingt gewinnen wollte. Er wollte es für sie, aber auch für sich, weil er ihr wieder so viele Dinge sagen wollte, wie vorher. Er hatte ihr noch sehr viel zu sagen.

Bella und Henny gegenüber verlor er mit der Zeit langsam die Scham zu sprechen, anderen gegenüber blieb er verhalten, vor allem den Pensionsgästen. Dem versuchte er dann geschickt aus dem Weg zu gehen und Bella verstand es prächtig, ihn zu vertreten und ihm zur Seite zu stehen.

Er hatte die beste Unterstützung bekommen, die es gab: seine Eltern waren in der ersten Zeit noch in der Pension geblieben, Bella kümmerte sich derweil um sein Wohl und auch das der Gäste, er schrieb alles auf, was sie wissen musste. Neue Gäste waren selten, meistens kamen die wieder, die in den Vorjahren auch bereits dort gewohnt hatten. Die Anteilnahme an Helmas Tod war bei allen groß.

Der Sommer war für ihn so, wie er noch niemals war: ohne Tantchen, ohne Schwimmen, ohne Surfen. Dafür behütet, umsorgt, mit sehr viel Liebe und Zärtlichkeit umgeben, das erleichterte die Rückkehr ins normale Leben existenziell und unterstützte ihn bei der Trauerarbeit.

All das wäre nichts gewesen ohne Bella.

Er hatte einmal gesagt, dass er sich bei Charly öffentlich bedanken wollte, Bella freigegeben zu haben. Nach dem zufälligen Zusammentreffen mit ihm damals und dem etwas unglücklichen Ende des Telefonats, das Bella kürzlich mit ihm führte, wollte er das nicht mehr. Dieser einfältige Trottel. Er sollte ihm und Bella nie mehr in die Quere kommen.

Sie beide hatten noch lange im höchsten Glück geschwelgt nach der schönen Darbietung der Seniorengruppe und angesichts der Situation. Sie genossen ihre Liebe, fühlten die Dankbarkeit und dennoch, das alles in Worte zu fassen und in so schöne Taten umzusetzen, das war das alleroberste Sahnehäubchen und es erfüllte Sven mit Stolz, dass ihm das eingefallen war. Die Senioren hatten sich sofort kooperativ gezeigt und ihm auch vielleicht wegen seiner Behinderung viel Sympathie entgegengebracht. Die Alten waren doch mehr einsichtig und verständnisvoller als die Jungen.

Bella hatte so gestrahlt vor Glück, so wollte er es für immer beibehalten, niemals wieder sollte es etwas geben, was ihren strahlenden Blick trüben sollte, dafür wollte er sorgen, das sollte seine Lebensaufgabe sein.

Er hielt sie fest in seinen Armen, sein Glück, ein entscheidender Teil seines Lebens. Er zwang sich nicht mehr daran zu denken, was passiert wäre, wäre sie nicht an diesem Samstag aufgetaucht. Fortuna musste ihn sehr lieben, es war kaum zu glauben. Jeden Morgen, wenn er aufwachte und Bella neben sich sah, dachte er Worte der Dankbarkeit, bevor er sie küsste und herzte.

Dass sie ihr Leben nun hier bei ihm auf der Insel und in der Pension lebte, damit hatte sich sein größter Wunsch erfüllt.

Die vielen Inselbesucher, die am Strand verteilt von Weitem alles beobachtet hatten, hatten sicher keine Worte verstehen können, aber den Gesten nach zu urteilen war der Grund unverkennbar gewesen.

Bevor die beiden den Heimweg antraten, weil sie Henny nicht zu lange alleine lassen wollten, besuchten sie den Friedhof, um Helma und Johann von den Neuigkeiten zu berichten. Sven konnte es an diesem Ort immer besser aushalten, obwohl er gerade heute wieder mit tränenreichem Blick vor Helmas Grabstätte stand. Die Kränze und Gestecke waren längst weg, das Grab war eingefasst und hatte den gleichen hellgrauen Grabstein bekommen wie Johanns, auch hatte Sven auf beiden Gräbern die gleichen Blumen eingepflanzt: Eisbegonien in rosa und weiß, geordnet zu einer Herzform. Man sollte sehen, dass die beiden zusammengehörten, auch wenn sie wenige Meter getrennt voneinander ihre letzte Ruhestätte hatten. Es gab ganz sicher einen Platz, wo sie nun wieder zusammen waren.

Bella hatte die ganze Geschichte von Johann und seiner Schwägerin erst vor einigen Wochen erfahren, Sven hatte ihr alles aufgeschrieben. Alles, was sie noch wissen sollte aus der Zeit zwischen ihren Treffen, schrieb er ihr auf.

Helmut und Sibylle hatten ihren nächsten Besuch zur Weihnachtszeit angekündigt. Gesehen hatte Bella die beiden seit damals nicht mehr, aber öfter mit ihnen telefoniert. Das Verhältnis zwischen ihnen schien gut, man merkte Sibylle an, wie glücklich sie war darüber, dass ihr Sohn so glücklich war und immer wieder erzählte sie, wie sehr sie unter ihrem Fehler gelitten hätte, wäre sie an jenem Samstag nicht einsichtig gewesen und hätte sie Bella tatsächlich fortgejagt.

Henny, die inzwischen zum festen Personal gehörte, umarmte beide nach ihrer Rückkehr glücklich und beglückwünschte sie, Sven hatte sie vorher in sein Vorhaben eingeweiht. Zur Feier des Tages hatte sie eine Flasche Sekt geöffnet, um mit dem glücklichen Paar auf seine gemeinsame Zukunft anzustoßen.

„Ich weiß ja, dass es nichts Großes wird, aber wie stellst du dir die Hochzeit denn vor?“ fragte Bella ihren Schatz.

Sven tat sehr geheimnisvoll und meinte, er habe einen Plan, wolle aber dazu noch nichts sagen. Dabei beließ Bella es dann, sie vertraute ihm. Die Hochzeit war ohnehin Nebensache. Deshalb, und das wusste Sven, würde sie auch kein mehr oder weniger pompöses Hochzeitskleid tragen wollen. Es würde auch nicht kirchlich stattfinden. Standesamtlich würde ausreichen. Sie hatten schon einmal darüber gesprochen, dass die Liebe, die sie beide verband, nicht mit Pomp und Seide aufzuwiegen war. Bella hatte gesagt, dass sie Hochzeitskleider optisch sehr schön fand, dafür war sie schließlich eine Frau, aber sie verachtete diesen ganzen Rummel, der inzwischen um diesen Tag und besonders um solch ein Kleid gemacht wurde, das konnte man überall hören, sehen oder lesen. Daher konnte sie gerne darauf verzichten. Als ob das wirklich so wichtig war! Es ging doch in allererster Linie um die Liebe zweier Menschen zueinander und wenn sie es wollten, sollten sie ihrer Ansicht nach auch in Jeans und T-Shirt heiraten. Sie hatte weiter gesagt, dass sie sich absolut nicht vorstellen konnte, warum dieser Tag, für den man im Vorfeld soviel Stress mit Vorbereitungen gehabt hatte, als der schönste des Lebens galt, besonders dann nicht, wenn man die ganze Verwandtschaft bei sich hatte, bei aller Liebe für die Familie. Sie dachte dabei an Juttas Hochzeit mit Manfred, das war natürlich schon sehr lange her, aber Jutta hatte sich überhaupt nicht wohlgefühlt damals, ihre Schwiegereltern und verschiedene der anwesenden Onkel und Tanten hatten ein ziemlich loses Mundwerk und immer etwas zu mäkeln, es war ganz sicher nicht Juttas schönster Tag. Außerdem war ihr Angetrauter am Abend so alkoholisiert, dass die Hochzeitsnacht nur noch zur Ernüchterung beitragen konnte. Definitiv hatte der Tag ihrer Trennung den Thron des schönsten Tages mehr für sich eingenommen.

Sven hatte Bellas Ansicht so akzeptiert und war überdies auch ihrer Meinung. Sein schönster Tag war auf jeden Fall der, an dem sie wieder in sein Leben gekommen war. Oder war es doch ihr erstes Treffen, damals am Strand? Die folgende Nacht? Mit ihr war einfach alles am Schönsten. Dafür brauchte es keine sündhaft teuren Kleider. Sie war überhaupt die schönste Frau für ihn, egal was sie trug, auch und vor allem, wenn sie überhaupt nichts trug.

Dennoch würde er dieses anstehende Ereignis mit ihr in gebührendster Form begehen, und dazu gehörten nur sie beide und niemand sonst.

Außer eines Standesbeamten natürlich, männlich oder auch weiblich.

Natürlich würde er sich wegen einer ansprechenden Garderobe noch Gedanken machen. Es waren ja noch ein paar Monate bis dahin.

Er hatte für seinen nächsten Geburtstag bereits beim Standesamt auf Helgoland einen Termin reservieren lassen. Er glaubte, wenn er dem Negativen, das seinem Geburtstag anhaftete, etwas Positives aufsetzte, würde ihm das bei seiner Verarbeitung helfen. Genau das hatte er so mit seinem Therapeuten besprochen und der hatte seine Idee sehr positiv gewertet und ihn bestärkt.

Auf der Terrasse saßen sie gemütlich und glücklich auf den weißen Sitzmöbeln beisammen, als die nächsten Feriengäste eintrafen. Es war ein Ehepaar mit Kind aus Bayern, einem ziemlich langen Anreiseweg. Bella ging ins Haus, begrüßte die Familie Rummelmeier und erledigte die Formalitäten, bevor sie ihnen ihr Zimmer zeigte. Der Mann im übergroßen Hemd mit rotblauen Karos zog zwei große Trolleys hinter sich her und nahm sie an der Treppe in seine Hände.

„Da haben Sie aber einen langen Weg gehabt hierher“, sagte Bella.

„Jo“, antwortete Herr Rummelmeier etwas außer Atem mit sonorer Stimme, die zu seiner sehr rundlichen Optik passte. Sein stark ausgeprägter Schnurrbart verlieh ihm das typisch bayerische Aussehen. „Zum Glück san mer umzogen vorra paar Joar, mir kumme eigentlich aus der Näh von München, wissen´s, jetzt wohne mir in Würrzburg. Mir hoam a Zwischenstopp macht bei oam Kusäng in Düsseldorf, wissen´s.“ Vor dem Zimmer angekommen setzte er die Koffer ab. „Jo, nu san mer do wege dem Bub hier.“ Er fuhr mit seiner Hand durch das Haar des etwa Zehnjährigen. „Des ist unser Jackl. Also, der Jakob.“

Der zog sogleich den Kopf weg. „Geh, Papa, loss des!“

Der Vater lachte. „Der hat immer wieder Asthmaanfälle, der Arzt hat uns gsagt, dass des Klima hier oben da gut helfe konn. Extra schulfrei hat er kriagt, der Bub.“

„Schulfrei? Das gefällt dir, was?“, sagte Bella dem Jungen zugewandt und schloss die Zimmertüre auf. Er kam ganz nach seinen Vater, war ebenfalls gut genährt und hatte volle rote Wangen. „Ja, das ist wahr, es wird dir sehr gut tun! Aber, es gibt doch hier ein richtiges Kinderkurheim, wussten Sie das nicht?“ Sie sah den Vater wieder an, der mit seiner Familie ihr folgend das Zimmer betrat.

„Na. Was soll das denn san?“, fragte Herr Rummelmeier und sah sich im Raum um.

„Da können Sie den Jungen richtig behandeln lassen und er bekommt sogar Schulunterricht während er dort ist, dann verpasst er nicht so viel. Hat Ihr Arzt Ihnen das nicht erzählt, dass es das gibt?“

Beide Rummelmeiers schüttelten ihre Köpfe. „Na, des hör i nun zum ersten Mal“, sagte Frau Rummelmeier. „Da wär der Bub dann alleine?“

Bella nickte.

Herr Rummelmeier wehrte mit seiner Hand ab. „Na, na, des moch mer net. Was soll der Bub denn do alloan? Na, na, passt scho, wie´s is hier.“

„Sagen´s“, meldete sich seine Frau nochmal zu Wort, die Bella sich gut in einem Dirndl vorstellen konnte aufgrund ihrer vollen Figur, „warrn Sie des net vorhin am Strrand? Dieses Pärchen? Dieses wunderbare Schauspiel? Des warrn doch Sie, gell?“

Bella lächelte stolz. „Ja, das war ich. Sie haben das beobachtet?“

Die Frau grinste. „I hob nix ghört, aber des hat so rromantisch ausgschaut … haben´s oan Antrag krieagt, oder?“

„Ja, stimmt.“

„Mei, war des schee!“, schwärmte sie. „Mit derer oiden Leit … und so viel gweint haben´s oll. Und wie Ihr Mo do vor Sie hinkniet is … so schee!“

„Ja“, lächelte Bella, „das war wirklich eine sehr schöne Idee und mir hat das sehr gefallen.“

„Do haben´s gorr net Nein sage kenne!“, sagte sie dann mit einer Hand auf Bellas Arm.

„Hätte ich niemals!“, lachte Bella.

Frau Rummelmeier lachte ebenso wie ihr Mann. „So a scheens Paar! Vui Glück dann!“

„Vielen Dank, Herr und Frau Rummelmeier, Jakob, ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt hier und gute Besserung für den Jakob. Frühstück gibt es ab sieben Uhr dreißig unten im Frühstücksraum, und wenn sonst etwas fehlt, melden Sie sich, ja?“

„Dankschön, Frrau Sieber“, sagte Herr Rummelmeier, „des moch ma.“

Als Bella zurück in den Garten kam, war Henny dabei, die frisch gewaschene Tischwäsche auf die Leinen zu hängen. So ein angenehm windiges Wetter wie heute musste man ausnutzen.

„Die Rummelmeiers“, erklärte sie Sven. „Die sind aus Bayern angereist, mal ganz was anderes als die Ruhrpottler. Sie haben uns beobachtet vorhin am Strand.“

Was sie dazu gesagt hätten, wollte er wissen und zog sie auf seinen Schoß.

„Besonders die Frau fand es so romantisch … wie alle geweint haben und du vor mir gekniet hast. Das war aber auch wirklich herzerwärmend. Das war so eine süße Idee von dir! Daran werde ich noch ewig denken!“

Das hoffe er sogar, sagte er, nahm sie in seine Arme und sagte, wenn einer dankbar sein müsse, dann ja wohl er.

Henny lächelte zufrieden als sie sah, wie sich die beiden küssten und dachte an Helma, sie wäre froh gewesen zu wissen, dass sie sich wiederhatten. Von irgendwoher würde sie es beobachten, ganz bestimmt.

Später gingen die neuen Gäste hinten am Garten vorbei, von wo aus sie Bella und Sven zuwinkten.

An dieser Stelle, erinnerte sich Bella, hatte sie damals gestanden und gesehen, dass Sven wieder da war. Und nun saß sie genau hier mit ihm im Glück.

Am Abend rief sie Jutta an, um ihr von dem wunderschönen Antrag zu berichten. Sie saß noch im Wohnzimmer, Sven war bereits in den Wohn- und Schlafraum vorgegangen.

„Oh, Liebes, was für eine wundervolle Idee!“, schwärmte ihre Freundin. „Also, dein Sven ist ja schon der Hauptgewinn schlechthin, das hab ich ja persönlich gesehen, aber er weiß das alles noch zu toppen. Du bist in Tränen ausgebrochen, nehme ich an?“

„Klar doch, das ging gar nicht anders. Und als die Leute gesungen haben, Jutta, ich kann dir dieses Gefühl gar nicht beschreiben, das war die volle Überdosis Gänsehaut, die ich da hatte. Krieg ich gerade wieder.“

„Das glaub ich dir gerne. Ich freu mich so für dich!“

„Danke, das ist lieb.“

„Wie geht es ihm sonst?“

„Ja, doch, es wird langsam besser. Ich bin sehr stolz, dass er das alles so gut anpackt. Wenn er alleine ist, dann übt er für sich, ich hab das schon mitbekommen und mich dann wieder heimlich davongeschlichen. Ich hab aber auch gehört, wie er sich geärgert hat, als es nicht so klappte. Dann kommt auch wieder die Verzweiflung und er weint. Er hat es mir abends erzählt. Er tut mir so leid, und er vermisst Helma so schrecklich.“

„Kann ich mir vorstellen. Das war ja wohl ein ganz besonders Verhältnis, das er zu ihr hatte.“

„Ja, das war es. Und irgendwie ein Wink des Schicksals, dass ich kam, als sie nicht mehr da war.“

„Ja, der arme Glückspilz. Der hat so ein Glück gehabt, also im Unglück, du verstehst schon.“

„Ja, sicher.“

„Wie soll das denn gehen mit der Hochzeit, feiert ihr alleine irgendwo?“

„Du, ich hab keine Ahnung, er will dazu nichts sagen, aber er hätte bereits einen Plan, hat er verraten. Ich lass mich überraschen.“

„Also, das ist ganz sicher ein total schöner Plan, wo er doch so ein Romantiker ist. Ich richte mich auf jeden Fall schon mal darauf ein, dass ich höchstwahrscheinlich nicht dabei sein werde.“

„Ja, leider, wahrscheinlich wird es so sein.“

„Ist nicht schlimm, dann komm ich euch hinterher besuchen. Wird schon irgendwie klappen.“

„Ja, das mach mal. Was gibt es bei dir Neues?“

„Nichts eigentlich, Charly kommt immer noch regelmäßig mit seinem Lottoschein und fragt nach dir. Heute Morgen zuletzt.“

„Was hast du ihm gesagt?“

„Dass es dir gut ginge, wie immer. Und dann bat er, ihn zu informieren, wenn du mich besuchst.“

Bella lachte. „Ich weiß nicht, was er hat, vor allem nicht, was er will.“

„Mach dir keinen Kopf deswegen, er wird es irgendwann bestimmt kapieren. Wirst du ihm erzählen, dass du Sven heiraten wirst?“

„Ach was, ich rufe ihn sicher nicht extra deswegen an. Ich denke, es wird ihm ohnehin nicht gefallen und er ist ja auch nicht mein Vater, dass er es wissen müsste. Oh, da fällt mir ein, ich sollte vielleicht auch mal meine Eltern anrufen? Die sollten es auf jeden Fall wissen, was?“ Sie kicherte.

„Das glaub ich wohl auch. Ich könnte mir sogar vorstellen, so wie Sven drauf ist, dass er ganz lieb dort um deine Hand anhalten würde, was meinst du?“

„Das braucht er nicht. So antiquiert sind meine Eltern nicht.“

„Aber vorstellen könnte ich mir das schon.“

„Kann sein, sollte er das unbedingt wollen, kann er das gerne nachholen. Sag mal, ist Annika da?“

„Nein, es ist Papa-Wochenende.“

„Ach so, ja, schade. Ich rufe sie nächste Woche an wegen der Ferien, kannst du ihr ausrichten.“

„Das mach ich.“

Annika hatte Bella oft abends angerufen, um sich eine Geschichte von ihr erzählen zu lassen. Sie hing immer mehr an ihr, besonders, seit Jutta im Krankenhaus gewesen war. Bella hatte ihr in Absprache mit Jutta versprochen, dass sie in den Herbstferien eine Woche bei ihr und Sven auf der Insel verbringen durfte. Jutta wollte sie bis zur Fähre fahren, dort würde Bella sie abholen.

Bald war es soweit.

Es war erst vier Wochen her, dass Jutta mit den Kindern auf der Insel war. Es hatte Bella sehr am Herzen gelegen, sie alle einzuladen, zumal auch noch ihr eigener Geburtstag in diese Zeit fiel, Jutta hatte zu diesem Zweck von sich und den Kindern ein Foto bei einer Fotografin machen lassen und einen wunderschönen Glasrahmen dafür besorgt. Damit Bella sie nicht vergesse, hatte sie bei der Geschenkübergabe gesagt. Das würde ganz sicher nicht passieren und mit diesem schönen Foto auf gar keinen Fall, hatte Bella geantwortet.

Natürlich wurde ihr Geburtstag mit Rücksicht auf Sven nicht groß gefeiert. Aber gesellig zusammengesessen und gegessen hatten sie bei Nils´ Eltern im Restaurant schon. Sven verhielt sich sehr still, aber nicht teilnahmslos, die Zeit war endgültig vorbei. Der Abend hatte ihm auch sehr gefallen. Er mochte Jutta, ihre Kinder, und vor allem Annika sehr.

Bella hatte ihn vorbereitet auf ihren Wunschbesuch und hätte ihren Plan verworfen, wenn er sich nicht stark genug gefühlt hätte dafür. Aber er vertraute Bella, das stärkte ihn.

Ihren Geburtstag betreffend hatte sie darum gebeten, von ihm auf keinen Fall etwas geschenkt bekommen zu wollen. Sie zehre immer noch sehr von ihrem Glück, ihn wiedergefunden zu haben, das sei das allergrößte Geschenk und so viel wert, dass es bis an ihr Lebensende reiche.

Sven hatte es akzeptiert. Und bevor er sie am Abend mit Zärtlichkeiten verwöhnte, wie nur er es konnte, trotz seiner eigenen, seinerzeit noch eingeschränkten Verfassung, hatte er ihrem Wunsch, nicht beschenkt zu werden, insofern entsprochen, dass sie nichts bekam, was sie auspacken sollte. Ein besonderes und sehr persönliches Geschenk hatte er dennoch für sie vorbereitet. Dazu hatte er sie gebeten, sich aufs Bett zu setzen. Breitbeinig stand er vor ihr, hatte sie mit verführerischem Blick angesehen, betont langsam sein Hemd sowie das T-Shirt darunter ausgezogen, was Bella bereits beflügelte und sie der kleinen Vorstellung mit lustvollem Blick weiter folgte. Sven setzte seine Entkleidung fort, lächelte viel versprechend, öffnete Gürtel und Jeans, zog sie herunter. Bella fühlte sich an ihren ersten Abend mit ihm erinnert, als sie noch nicht wusste, welch wunderbare Behandlung ihr bevorstand und welche Konsequenz diese haben sollte.

Sven hatte ihr ganz kurz den Rücken zugewandt, sich dann zu ihr zurückgedreht, auf seiner Unterhose klebte ein Zettel. Darauf war das Datum des folgenden Dienstags notiert. Es war Freitag.

„Das war toll, Liebster“, sagte sie, „aber ich fürchte, ich verstehe nicht so ganz, was du damit meinst.“

Er nahm den Zettel ab, drehte diesen um und reichte ihn ihr. „Aha, am Dienstag hast du also einen Termin in der Klinik, wie der rückseitige Stempelaufdruck zeigt. Warum das denn? Fehlt dir was? Ich kapier´s noch immer nicht ...“

Er sagte, er habe eigentlich mit ihr vorher sprechen wollen, es dann jedoch für ihren Geburtstag als Überraschung aufgehoben, da er sich ihr Einverständnis dazu vorstellen konnte und ahnte, dass sie ihm nicht böse sein würde. Er habe den Termin für seine Vasektomie gemacht, erklärte er stolz.

Bella war sehr positiv überrascht gewesen. Sie stand auf und umarmte ihn. „Nein, mein Liebster, ich bin nicht böse, ganz und gar nicht“, hatte sie gesagt. „Es ist völlig in Ordnung, eine super Sache, eigene Kinder sind ja schon lange für mich kein Thema mehr. Aber ...“

Er schaute fragend.

„Hast du dir das wirklich gut überlegt? Ich meine, du könntest mit einer jüngeren Frau ...“

Er hatte einen Finger auf ihren Mund gelegt und ein leises „Psst“ von sich gegeben. Das komme für ihn überhaupt gar nicht in Frage, das wisse sie wohl, hatte er gesagt. Wenn, dann hätte er nur mit ihr eine Familie aufbauen wollen. Aber daran sei ja nun nichts zu ändern, dann hatte er ihre Nase geküsst. Er wolle sie nicht mehr hergeben, wolle niemals auf sie verzichten müssen. Er wolle sie so wie sie war. Und er wolle, dass sie mit ihm die Liebestriebe, wenn sie bei ihm dann wieder da sein würden, in freien Zügen genießen konnte und sie sich keine Gedanken mehr machen müsse, was für empfängnisverhütende Maßnahmen sie machen könnte. Ganz einfach.

„Du bist wirklich der Allerbeste!“ Sie streichelte liebevoll sein Gesicht. „Und wenn du das so für dich entscheidest, das sehe ich als sehr großen Liebesbeweis. Ich liebe dich!“

Genau so hatte er sich das gedacht, sagte Sven glücklich, er wollte nicht mehr, dass sie noch jahrelang die Pille nahm, schließlich waren damit auch Risiken verbunden.

Ob sie ihn begleiten würde, hatte er wissen wollen.

Das war für Bella gar keine Frage, sie sagte ihm diesen Wunsch natürlich zu.

Sven hatte sich ebenfalls gewünscht, dass sie ihn am Morgen vor der Operation eigenhändig rasierte, so legte sie an diesem besonderen Tag liebevoll und vorsichtig Hand an. Auch entfernte sie noch die restlichen Haare großräumig um die besagte Stelle herum, so hatte man es Sven zur Vorbereitung geraten, als er die Möglichkeit anfragte, selbst für die Haarentfernung sorgen zu wollen.

Die Sache selbst dauerte nur etwa zwanzig Minuten, mit Vor- und Nachbereitung eine knappe Dreiviertelstunde, Sven hatte sich für die lokale Anästhesie entschieden, war relativ ruhig und Bella fand, dass er sehr tapfer war. Sie wusste, es war zwar kein großer Eingriff, aber sie konnte sich vorstellen, dass es schon sehr unangenehm war, an dieser empfindlichen Stelle freiwillig etwas vornehmen zu lassen, außerdem war Sven ein Mann und das war im Zusammenhang mit allem, was Schmerzen verursachte, etwas ganz Spezielles. Im Übrigen konnte es immer auch zu Komplikationen kommen. Und dass er das für sie tat, empfand sie wirklich als sehr große Liebeserklärung. Das hätte Charly niemals getan, da war sie sicher.

Der Arzt war sehr routiniert gewesen und hatte den beiden noch den Rat mit auf den Weg gegeben, die nächsten Wochen auf jeden Fall noch zu verhüten, da es erfahrungsgemäß so lange dauerte, bis die Unfruchtbarkeit definitiv sein würde.

Glücklicherweise hatte es keine Infektion gegeben, alles war gut überstanden.

Kapitel 2

Gleich, nachdem Bella mit Jutta gesprochen hatte, rief sie ihre Eltern an und war etwas verwundert, dass ihre Mutter einigermaßen ruhig blieb anhand der neuesten Nachrichten, die Bella ihr mitteilte.

„Mama, was ist denn? Ich hätte schon erwartet, dass du dich etwas mehr mit mir freust, hm?“

„Kind, das tu ich ganz bestimmt und Papa auch …“, dann lachte sie plötzlich, „... ich muss es ja nun nicht mehr für mich behalten, hihihi, liebes Kind, wir sind so glücklich für euch beide, stell dir vor, Sven hat uns vor zwei Wochen einen ganz lieben Brief geschrieben und quasi auf diesem Wege um unseren Segen gebeten, jetzt darfst du das ja wissen … Kind, wir freuen uns wirklich sehr!“

Bella lachte nun auch, spürte Erleichterung und große Freude. „Na, so was ähnliches hätte ich mir ja denken können!“

Sie sah Sven an, neben dem sie nun auf dem Sofa saß, und er lächelte zufrieden, stolz und wohl wissend, was ihre Mutter ihr gerade erzählt hatte.

„Ach, das war wirklich so rührend …“, fuhr Lissi fort, „ich werde dir den Brief bei Gelegenheit zeigen. Er hat sich bei uns beiden bedankt dafür, dass es dich gibt, ist das nicht lieb? So was hat noch keiner deiner Freunde vorher gemacht.“

„Oh ja, das passt zu ihm.“

„Er ist der beste Mann, den du auf dieser Erde finden kannst, wir wissen ja auch, wie ihr zueinander steht, deswegen haben wir ganz bestimmt nichts dagegen. Und nun erzähl mir, wie hat er das alles gemacht, er hatte von einem ganz besonderem Plan geschrieben, also, was ist passiert?“

Bella erzählte ihr die ganze bewegende Geschichte und Lissi begann vor Rührung zu weinen. Und ihr selbst kullerten auch wieder Tränen über die Wangen, als sie über diese schöne Aktion berichtete.

„Oh, Bella, wie wunderschön! Da wäre ich zu gerne dabei gewesen!“

„Ja, das war wirklich eine so schöne Idee, daran werde ich immer zurückdenken.“

Sven hatte während Bellas Erzählungen alles auch noch mal aus seiner Sicht durchlebt, ihre Hand genommen und diese geküsst. Die Idee mit den Senioren war ihm gar nicht so spontan in den Sinn gekommen. Als er mit Bella damals die Rollatorgruppe am Strand sah und sie beide über ihre Zukunft sinniert hatten, da wusste er, dass er aus dieser Situation irgendwann einmal etwas machen würde. Was genau, das war ihm zu diesem Zeitpunkt noch nicht ersichtlich.

Seit des Tages, an dem er Bella Hals über Kopf zurückgelassen hatte, war so viel passiert. Wenn er all das hätte ahnen können … nein, er wusste nicht, was er sonst gemacht hätte. Er sollte aufhören zu grübeln, hatte sein Therapeut gesagt, und die Geschehnisse annehmen, wie sie waren. Besonders die Sache mit Tantchen. Anfangs war es für ihn, als hätte er das alles nicht selbst erlebt, es war so fremd, er war sich selbst so fremd. Immer wieder erzählte er dem Arzt davon, immer mehr jedoch wurde alles zu einem verinnerlichten Teil seines Lebens. Und dennoch, das schlimmste aller Bilder erschien ihm noch oft vor seinen Augen, meistens nachts in seinen Träumen.

Dann war zum Glück Bella da, sein Engel. Sie hatte so viel Liebe, so viel Herzlichkeit, ein ganzes Meer davon voll und es war immer Flut. Dass er sie wiederhatte, das würde für ihn immer ein Wunder bleiben.

Das Zusammenleben mit ihr war so, nein, eigentlich besser, als er es sich vorgestellt hatte, es war so richtig.

Sie lebte so sehr auf in ihrer Arbeit in der Pension, hatte große Freude an einfach allem, war sich für nichts zu schade. Er achtete sehr darauf, dass es ihr nicht zu viel wurde, er verfügte über feine Antennen und würde es ganz sicher merken. Es gab stressige Tage, besonders, wenn Gäste abreisten und gleich neue kamen, aber auch ruhigere, sie waren immer ein Team, das zusammenhielt.

Selbst wenn Bella ins Schwitzen kam und ihr die Haare strähnig ins hübsche Gesicht fielen, war sie für ihn die attraktivste Frau, die es geben konnte. Und wenn sie mit ihm abends am Strand spazieren ging oder später bei einem Glas Wein in seinen Armen lag, mit ihm den Tag Revue passieren ließ und sich mit ihm über die Gäste austauschte, war er der glücklichste Mensch.

Das Krönchen so manch eines jeden Tages mit ihr war es, ihr auch körperlich nah zu sein und da hatte er ja einiges nachzuholen. Das war das Beste, das er jemals an Liebe empfunden hatte und er wünschte, niemals wieder darauf verzichten zu müssen.

„Du hast meinen Eltern also einen Brief geschrieben?“, fragte Bella und grinste, nachdem sie aufgelegt hatte.

Er antwortete, dass sie ja wisse, dass Briefe schreiben zu seinem neuen Hobby geworden war und dass brave Schwiegersöhne immer bei den Eltern um die Hand der Tochter anhielten.

„Du und brav?“ Sie spielte die Entsetzte.

Wenn einer brav sei, dann ja nur er, meinte er lachend.

Bella stimmte ihm zu. „Du bist so lieb. Aber meine Eltern mögen dich auch so, ohne, dass du diesen Brief hättest schreiben müssen.“

Das wisse er, sagte er, und er freue sich sehr, dass sie so liebe Eltern habe und es sei ihm ein Bedürfnis gewesen, sich bei ihnen zu bedanken, ihr das Leben geschenkt zu haben, weil sie ihn einfach so glücklich mache. Er habe ihr einmal versprochen, immer auf sie aufzupassen und dann hatte sie auf ihn aufpassen müssen. Dieses Wunders, dass sie ihn wiederfand, sei er sich jeden Tag aufs Neue bewusst.

Etwas später bedeutete er ihr, sich ihm gegenüber auf seinen Schoß zu setzen und sagte, dass er es allerdings auch mal vergessen könne, brav zu sein, während er langsam die Knöpfe ihrer Bluse öffnete und sie eindeutig ansah.

„Okay“, flüsterte Bella langsam, während sie ihre Bluse abstreifte, „bleib brav meinen Eltern gegenüber, mir bist du weniger brav viel lieber.“ Dann küsste sie ihn leidenschaftlich und spürte seine zärtlichen Hände auf ihrer Haut, die sie immer noch elektrisierten.

Sie war ein Geschenk und dass Sven sie wieder richtig lieben konnte, auch. Es war Liebe wie von einem anderen Stern, übersinnlich und magisch.

Auch in diesem Bereich mit ihr die gleiche Sprache zu sprechen, war großartig, dachte er. Sie gab ihm oft zu verstehen, dass sie die liebevolle Zweisamkeit genau so sehr liebte und war dem Himmel dankbar, dass sie durch ihn die Möglichkeit bekommen hatte, sich weiblich und begehrenswert zu fühlen, wie sie es mit niemandem vorher erlebt hatte.

***

Das Treffen mit den Senioren war sehr gemütlich, Nils hatte einen großen Tisch reserviert und draußen Platz gemacht für die vielen Rollatoren, Bella schob sie mit Sven zusammen dorthin, nachdem die Herrschaften an der langen Tafel ihre Plätze eingenommen hatten, was schon eine gewisse Zeit in Anspruch nahm. Die fünf Frauen und fünf Männer waren alle pünktlich zum verabredeten Zeitpunkt erschienen und waren bester Laune. „Und viel Hunger haben wir!“, lachte Roland, er war so etwas wie der Klassensprecher der kleinen Truppe. Sven hatte ja bereits ein paar Tage vor ihrem großen Auftritt ihre Bekanntschaft gemacht und sie um den Gefallen in seiner Herzensangelegenheit gebeten. Es war überhaupt keine Frage gewesen, dass sie ihm da aushelfen wollten.

Die alten Leute freuten sich sichtlich über die Einladung und Roland, er war der, der solo gesungen hatte am Strand, erklärte Bella, dass sie alle aus Seniorenheimen aus Norddeich und Norden zusammengewürfelt worden waren, um für knapp zwei Wochen verschiedene Kurbehandlungen auf Norderney zu genießen. Übermorgen würden sie wieder zurück aufs Festland fahren.

„Vielen, vielen Dank nochmals euch allen“, sagte Bella, „für die lieben Worte und ganz besonders für eure Gesangskunst, ich kriege jetzt noch Gänsehaut, wenn ich daran denke.“

Roland begann zu erzählen, wie Sven sie alle angesprochen und mit Leichtigkeit für sein Vorhaben gewonnen hatte, die anderen stimmten jeweils aus ihrer Sicht in die Erzählungen ein: Er hatte so lieb gefragt, so einem netten und hübschen Kerl konnten man diese Bitte nicht abschlagen, außerdem ging es um die Liebe, was konnte wertvoller sein, sie waren sich alle einig.

Bella hörte interessiert zu und lächelte immer wieder Sven dankbar an, der über Eck neben ihr saß, um sie besser ansehen zu können. Er hielt die ganze Zeit seine Hand auf ihrer.

„Also, wir haben das große Glück, unsere Eltern beide noch zu haben“, sagte sie und dachte kurz daran, dass dies aus Svens Sicht nicht ganz richtig war, aber so genau mussten die neu gewonnenen Freunde nicht über ihr Familienleben informiert sein. „Aber wenn wir uns noch welche hinzuwünschen dürften, dann würden wir Euch alle nehmen! Ihr seid so was von lieb!“

„Und Ihr seid so ein hübsches Paar! Das haben wir doch alle sehr gerne gemacht“, sagte eine der Damen, Elsie mit Namen, mit etwas zittriger Stimme. „Sven war uns sofort so sympathisch, da war es klar, dass wir ihm helfen mussten.“

Bella sah die Menschen an, in die alten, teils sehr faltig gelebten Gesichter, deren Augen hinter den Brillen, die alle auf ihren Nasen hatten, noch vor Lebensfreude leuchteten. Bei den Herren erkannte sie größere und kleinere Altersflecken auf den teilweise kahlen Köpfen, an denen wohl einmal volles Haar gewesen war.

Unter den Damen fielen ihr besonders Rosie und Maria auf, sie mussten in jungen Jahren sehr hübsch gewesen sein, ihre Gesichtszüge waren sehr harmonisch und noch immer auf ihre Art attraktiv, beide waren sie leicht geschminkt, trugen modische Ohrringe zum fesch frisierten weißen Haar. So genau hatte Bella sie sich am Strand nicht anschauen können, es ging alles relativ schnell und die Situation war ohnehin so überwältigend gewesen, dass sie ihr Augenmerk nicht auf alle Einzelheiten richten konnte.

Die Garderoben hatten alle sorgfältig und schick ausgewählt, die Herren trugen ausnahmslos Krawatte zum weißen oder hellblauen Hemd, und die Damen hatten sich zu ihren modernen Shirts und Pullis, manche waren mit Glitzerelementen verziert, mit ihren besten Ketten, Armbändern und Ringen ausgestattet. Man konnte sehen, dass das Treffen für sie alle eine besondere Bedeutung hatte.

Sie waren nun mit Getränken versorgt und hatten der Bedienung ihre Essenswünsche mitgeteilt.

„Lasst uns anstoßen auf das glückliche Paar“, sagte Rosie.

„Und auch auf Euch alle“, freute sich Bella, „Ihr seid wesentlicher Bestandteil unserer Geschichte!“

„Dann lasst uns alle Eure Hochzeitspaten sein, ja?“, schlug Anna vor. „Darauf sollten wir trinken!“

„Ja, hoch die Gläser!“, sagte Paule freudig und hob sein Glas.

Sven fand die Idee sehr gut, erklärte, dass es keine Hochzeitsfeier im üblichen Sinn geben würde, er aber mit Bella zu ihnen allen in die Seniorenheime kommen und sie dort besuchen würde.

„Abgemacht“, freuten sich die neuen alten Freunde. „Darauf freuen wir uns!“

„Wenn wir dann noch da sind“, lachte Paule.

„Erzähl doch nicht so einen Quatsch“, mahnte ihn Elsie, „davon gehen wir einfach aus. Passieren kann das jeden Tag. Also, wir freuen uns des Lebens und auch für euch beide!“

Dann erzählte Roland, dass er und Rosie seit einem Jahr ein Paar waren und sie sich im Heim kennengelernt hatten. Eine rührende Geschichte. Beide waren verwitwet ins Heim gekommen. Ihre Kinder hatten sich anfangs etwas schwergetan damit, dass die Eltern in ihrem hohen Alter sich einem neuen Partner anvertrauten, aber inzwischen hatten sie es akzeptiert und freuten sich, dass Vater und Mutter wieder glücklich waren. Er erzählte von seiner Frau und sie von ihrem Mann, die bisher fröhliche Stimmung wurde etwas getrübt. Ihre Geschichte ließ verlauten, dass sie jeweils nach langer Krankheit verstorben waren.

Bella achtete aber sehr darauf, dass die allgemeine Laune nicht zu sehr in den Keller geriet, dass Sven eventuell davon hätte eingenommen werden können. „Also, Ihr alle seid uns ein großes Vorbild“, sagte sie, „wir haben uns vorgenommen, auch später so wie Ihr am Strand zu spazieren und uns vor allem die Lebensfreude zu erhalten.“

„Ja, das macht mal“, sagte Maria, „schade nur, dass wir uns dann nicht alle dort treffen können.“

„Glaubt mal fest, dass wir Euch immer in unseren Gedanken dabeihaben werden, das können wir euch versprechen.“

Sven nickte allen zu und unterstrich Bellas Worte damit.

„Genießt Eure Jugend, das Alter und die Zipperlein kommen noch früh genug“, sagte Paule, seine Stimme krächzte leicht. „Und das mit der Lebensfreude ist sehr wichtig, lasst Euch die nicht verderben. Dann habt Ihr auch im Alter noch was vom Leben. Prost!“ Er nahm sein Weinglas und prostete allen zu.

„Ja, zum Wohl!“, stimmte Elsie zu. „Wir wünschen Euch beiden ein langes gesundes Leben und ganz, ganz viel Liebe!“ Sie lächelte süß.

Sven nickte dankbar und streichelte Bellas Gesicht, bevor er sie küsste. Genau das wünschte er sich für sich und seinen Engel.

Mit einer Kollegin zusammen trug Nils´ Mutter die ersten Gerichte auf, nach wenigen Minuten hatte jeder sein Essen vor sich und dann wurde es stiller.

„Hmm, sehr fein!“, lobte Rosie, nachdem sie die ersten Bissen genossen hatte, und bat die Bedienung, das Kompliment im Namen aller an den Koch weiterzuleiten. Das machte sie gerne, Nils kam später persönlich an den Tisch, wie sein Vater trug er eine schwarze Schürze, darunter ein dunkelrotes Hemd. Wegen der besonderen Gäste war eine persönliche Begrüßung für ihn selbstverständlich.

„Schönen guten Abend zusammen“, wünschte er.

Roland und seine Gruppe grüßten zurück.

Bella übernahm die folgenden Worte an Svens Stelle. „Ja, darf ich Euch vorstellen: das ist der beste Koch von ganz Ostfriesland, unser lieber Freund Nils Visser.“

„Ich habe gehört, es hat Ihnen gut geschmeckt?“ fragte Nils.

„Es war vorzüglich!“, sagte Roland mit erhobenen Brauen und seine Freunde stimmte ihm zu.

„Danke sehr, freut mich, dass Sie zufrieden waren. Ich gebe das übrigens sehr gerne zurück, Sie haben etwas ganz Wunderbares für meinen besten Freund hier gemacht“, er klopfte Sven freundschaftlich auf die Schulter. „Eine tolle Truppe hast du da angeheuert, Svenni.“

Sven lachte anerkennend und nickte, die Gäste freuten sich mit ihnen, dann verabschiedete sich Nils wieder, wünschte noch einen weiterhin schönen Abend, bevor er wieder verschwand.

Roland und seine Freunde erzählten viel aus ihrem Leben, sie begonnen mit Kriegs- und Nachkriegsgeschichten aus ihrer Kindheit. „Seid froh, dass ihr das nicht mitmachen musstet“, sagte er.

„Hoffentlich müsst ihr das niemals“, fügte Paule hinzu.

Diese Meinung teilte er mit den anderen, die alle ähnliche Bilder aus ihren jungen Jahren vor Augen hatten.

Sie erzählten weiter, darunter traurige Lebensereignisse, wie die Verluste ihrer Partner oder den Einzug ins Heim, dem sie alle erst nicht euphorisch entgegengeblickt hatten und der noch sehr präsent in ihren Köpfen war. Aber auch redeten sie Schönes, als sie über ihre Kinder und Enkelkinder, teilweise auch Urenkel, sprachen, lustige Anekdoten aus ihrer aller Leben fielen ihnen ebenfalls ein.

Fritz gab sogar zu, kein echter Ostfriese zu sein. „Nee, isch ben us Kölle!“

Seine Seniorenkollegen wussten das bereits, aber Bella und Sven mussten lachen aufgrund seines Dialektes, es klang sehr lustig.

„Ja, ich habe da fast vierzig Jahre gelebt, dann hab ich meine Lisa durch einen Unfall verloren und ein paar Jahre später meine zweite Frau, die Ursula, kennengelernt. Und die war von hier. Ich bin zu ihr gezogen, wir hatten ein schönes Leben, bis gut vor einem Jahr. Da hat auch sie mich verlassen.“ Er kratzte versonnen mit seinen Fingernägeln über die weiße Tischdecke. „Tja, und seitdem schlage ich mich mit diesen Halunken hier herum!“ Er schlug spielerisch auf Paules Arm neben ihm, der das lachend kommentierte: „Komm, du bist auch nicht besser!“

„Was soll das denn heißen, hm?“ Er lachte, verfiel darüber in ein leichtes Husten.

„Ha, ich sag nur: Schwester Renate.“ Paule hob die Brauen. „Du bist noch immer eine Flirtkanone.“

„Das heißt Charmeur“, erklärte Maria. „Fritz kann sehr charmant sein. Das ist einfach schön.“

Bella lächelte Sven zu. „Süß, oder?“

Er nickte.

„Fritz, du sollst auch mal mit Maria so flirten“, sagte Roland, „das meint sie. Oder?“ Er sah Maria an, die leicht errötete und auf ihre Hände sah.

„Ach, sag doch sowas nicht ...“, tat sie es verlegen ab.

„Warum nicht?“ Fritz´ Stimme klang sehr interessiert. „Weißt du was? Ich komme morgen zum Rommé zu dir. Und dann überlegen wir, wo wir uns außerhalb der Heime mal treffen können, ja?“

Maria war noch immer verlegen, sie lächelte und nickte. „Ja, das wär schön.“

„Siehste“, meinte Paule lachend, „wir kriegen euch schon noch verbandelt!“

Bella bat später Nils´ Mutter, mit ihrem Handy Erinnerungsfotos von der schönen Zusammenkunft zu machen. Die würden sie ausdrucken oder Papierfotos davon anfertigen lassen und sie ihnen zusenden, damit sie sich an dieses gemütliche Treffen noch lange würden erinnern können.

Gegen zwanzig Uhr dreißig begleiteten Sven und Bella die Gruppe zurück zu ihrer Kurunterkunft, verabschiedeten sich herzlich. Von allen hatten sie sich Adressen und Telefonnummern geben lassen und versprachen, sich alsbald wieder zu melden.

Zu Hause redeten beide über den schönen Abend und wie nett und fröhlich die Gäste gewesen waren. Sie saßen sich gegenüber auf dem Sofa, das Feuer im Kamin loderte, der Wein in den Gläsern funkelte wie Granatstein.

„Ich glaube, sie meistern das alles sehr gut, also, ich kann mir vorstellen, dass sie in ihrem Alter bestimmt oft daran denken, dass es bald vorbei sein wird“, sagte Bella.

Sven nickte besonnen.

„Und dann muss man sehen, dass diese Leute ja nun noch gut beieinander sind“, sagte sie weiter mitfühlend. „Es gibt ja noch die, denen es viel schlechter geht, die sich gar nicht mehr fortbewegen können, dement sind oder noch ganz andere schlimme Krankheiten haben.“

Sven sagte, er hoffe, sie alle noch oft wiedersehen zu können und dass man schließlich gegen die vielleicht noch kommenden Launen des Alters nichts machen könne. Selbstverständlich fühle er auch mit den anderen und allen, die vielleicht gar keine Angehörigen mehr hatten, dass es aber unmöglich sei, mit allen in Kontakt zu treten und das helfe ihnen schließlich auch nicht.

„Das Leben ist manchmal echt erbarmungslos, besonders im Alter, oder?“ Bella wurde sehr nachdenklich.

Vielleicht besonders, aber nicht nur dann, meinte Sven, er habe ja nun auch bereits Hilflosigkeit erlebt und wünsche, das nie wieder erleben zu müssen. Das wünsche er sich natürlich auch für Bella.

„Und wenn doch“, sagte sie, „dann bin ich auf jeden Fall für dich da. Das will ich einfach.“

Sven bestätigte das aus seiner Sicht für sie, bevor er seine Hände um ihr Gesicht legte und sie zärtlich küsste.

„Ich stelle mir gerade vor, wie wir uns verändern bis dahin, es ist ja nicht gesagt, dass wir unser Aussehen so gut erhalten wie zum Beispiel Maria oder Rosie, die sehen ja wirklich noch super aus und gar nicht alt, die gehen glatt für Ende sechzig durch. Aber … meinst du, du könntest mich noch lieben, wenn ich faltig und verschrumpelt aussehe, hm?“

Er fragte, ob sie sich das von sich vorstellen könne, wenn er kaum noch Haare hätte.

Sie lächelte schief.

Er sagte weiter, dass es ihnen wahrscheinlich nicht so sehr auffallen würde, weil sie sich ja jeden Tag sähen. Auf einmal schaue man sich Fotos von früher an und man sehe die Veränderung. Außerdem müsse es ja nicht zwingend so sein, dass es schlimm werde und er glaube, dass das Leben sicher noch viel Spannendes für sie beide in petto habe, und mit ihr an seiner Seite mache ihm das überhaupt keine Angst.

„Mir auch nicht, mein lieber Neptun. Ich bin sehr, sehr glücklich, mit dir und mit der Pension, hab ich dir das schon mal gesagt?“

Er müsse nachdenken, sagte Sven ironisch und fragte sie, ob er ihr denn heute schon gesagt habe, wie sehr er sie liebe.

„Hm, mit Worten, Gesten und Blicken vielleicht gefühlte fünfzig Mal?“

Dann sage er dies nun zum einundfünfzigsten Mal, flüsterte er ihr ins Ohr, und dass sie für ihn die Erfüllung sei und er sie über alles liebe.

Lange sahen sie sich in die Augen.

Er habe jedoch große Angst, äußerte er leise, sie irgendwann zu verlieren, sollte er nicht vor ihr gehen. Ob er das bis zu seinem Ende würde aushalten können, wisse er nicht, er habe diese Situation mit Tantchen ja noch nicht mal im Griff.

Bellas Augen füllten sich mit Tränen, sie legte ihre Arme auf seine Schultern. „Mein Liebster, das geht mir auch so, das macht auch mir Angst. Ich habe mal irgendwo gelesen, dass es, wenn man so richtig tief liebt, niemals ein Happy End geben kann, weil irgendwann immer einer gehen muss und das ist dann wahrlich kein glückliches Ende.“ Sie legte ihre Stirn an seine. „Ich will nicht ohne dich leben müssen. Niemals. Nimmst du mich bitte mit, wenn es soweit ist?“

Nun hatte auch Sven feuchte Augen. Statt einer Antwort nahm er sie ganz fest in den Arm und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar.

Nach längerer Zeit hatte er in der folgenden Nacht wieder einen Alptraum, es war derselbe wie immer. Doch diesmal hielt er nicht Tantchen in seinen Armen, sondern Bella. Dieses Detail verschwieg er ihr.

Danach, als er versuchte, dicht an Bellas Seite wieder einzuschlafen, kam ihm eine Idee: Er würde gleich morgen eine Art Kalendarium anlegen, ein kleines Buch, in das er am Ende eines jeden Tages eine Satz hineinschreiben würde, der den abgelaufenen Tag mit ihr würdigte. Würde die höhere Macht eines Tages ihn zuerst zu sich rufen, sollten die Aufzeichnungen Bella zeigen und sie daran erinnern, wie sehr er jeden Tag mit ihr genossen und sie geliebt hatte. Eine Altersvorsorge in Sachen Liebe.

***

Oktober

Herbstferien.

Annika hatte die ganze Zeit mit großer Freude und zur Überraschung ihrer Mutter ihre Hausaufgaben ohne Murren erledigt, weil Bella ihr versprochen hatte, dass die Zeit bis zu den Ferien dann schneller vergehen würde.

Und nun war es endlich soweit. Am Samstagmorgen fuhr Jutta mit ihrer Tochter nach Norddeich, wo Bella bereits auf einem Parkplatz auf sie wartete. Die Wiedersehensfreude war auf beiden Seiten sehr groß.

„Danke Bella, dass du das machst für die Kleine“, sagte Jutta und umarmte ihre Freundin herzlich.

„Das mach ich doch sehr gerne, das weißt du doch“, antwortete Bella. „Sie wird sich fühlen wie eine Prinzessin, wir haben unser Einzelzimmer für sie vorgesehen.“

„Wie eine Prinzessin! Au ja …!“, freute sich Annika und drückte sich bereits an Bellas Seite. „Ist da alles rosa und ist das Bett auch groß genug, dass Höppi bei mir schlafen kann?“ Sie reckte ihren Arm hoch und hielt ihren Plüschhasen vor Bellas Nase. Er war hellbraun mit einem putzigen Gesicht und hatte lange Schlenkerbeine.

„Also, rosa ist es leider nicht, aber trotzdem so, wie es sich für eine kleine Prinzessin gehört!“, antwortete Bella, sie hatte einen Arm um sie gelegt. „Und dein Höppi hat auf jeden Fall genug Platz.“

Bella führte die beiden in ein kleines Café, wo sie und Jutta einen Cappuccino tranken und Annika eine Limo schlürfte.

„Und Sven wird sich freuen, dich wiederzusehen“, sagte Bella zu dem Mädchen.

„Bauen wir wieder Sandtiere?“, fragte Annika.