Lebt nicht mit der Lüge! - Rod Dreher - E-Book

Lebt nicht mit der Lüge! E-Book

Rod Dreher

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Beschreibung

In den letzten Jahren hat sich im Westen ein beängstigender "sanfter" Totalitarismus entwickelt. Als "sanft" wird er bezeichnet, weil er nicht mit militärischer Härte wie im Kommunismus durchgesetzt wird. Durch die totalitäre Ideologie wird versucht, die bisherigen Institutionen und Traditionen zu verdrängen mit dem Ziel, alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens unter Kontrolle zu bringen. Konservative, Christen und Andersdenkende werden gesellschaftlich ausgegrenzt. Durch die Technologie wird ein Überwachungssystem ermöglicht, wobei der Konsum und das Streben nach Bequemlichkeit und Unterhaltung den Geist der Menschen im Westen abgestumpft haben, sodass sie bereit sind, dies zu akzeptieren. Trotz der Warnzeichen erkennen viele die Gefahren nicht und noch weniger wissen sie, wie sie Widerstand leisten können. Dreher erklärt, warum es uns so schwer fällt, die Gefahr des Totalitarismus in unserer Zeit zu erkennen. Er legt die Schritte des Widerstands dar und erzählt Geschichten von modernen Dissidenten, die ihren Glauben und ihre Integrität in der Zeit des Kommunismus bewahrt haben.

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Seitenzahl: 308

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Rod Dreher

Lebt nicht mit der Lüge!

Rod Dreher

LEBT NICHT MIT DER LÜGE!

Originaltitel der englischen Ausgabe:

LIVE NOT BY LIES

A MANUAL FOR CHRISTIAN DISSIDENTS

Rod Dreher

© 2020 by Sentinel, an imprint of Penguin Random House LLC

LEBT NICHT MIT DER LÜGE!

Rod Dreher

Übersetzung: Sr. Cornelia M. Knollmeyer

© Media Maria Verlag, Illertissen 2023

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-9479314-8-4

eISBN 978-3-9479318-5-9

www.media-maria.de

Zur Erinnerung an

Pater Tomislav Kolaković

(1906–1990)

INHALT

Einleitung

I. Teil:

Was versteht man unter sanftem Totalitarismus?

Erstes Kapitel

Kolaković, der Prophet

Zweites Kapitel

Unsere prätotalitäre Kultur

Drittes Kapitel

Progressivismus als Religion

Viertes Kapitel

Kapitalismus, »woke« und wachsam

II. Teil:

Wie man in der Wahrheit lebt

Fünftes Kapitel

Nichts ist wertvoller als die Wahrheit

Sechstes Kapitel

Das kulturelle Gedächtnis pflegen

Siebtes Kapitel

Familien sind Zellen des Widerstands

Achtes Kapitel

Religion als Fundament des Widerstands

Neuntes Kapitel

Solidarisch zusammenstehen

Zehntes Kapitel

Das Geschenk des Leidens

Schlussbemerkung

Lebt nicht mit der Lüge!

Danksagung

Anmerkungen

EINLEITUNG

Immer wieder kommt der Irrtum auf: »Hier bei uns könnte dasselbe nicht geschehen; hier bei uns ist so etwas unmöglich.« Doch leider sind alle Gräueltaten des 20. Jahrhunderts überall auf der Erde möglich.

Alexander Solschenizyn1

1989 fiel die Berliner Mauer und mit ihr der sowjetische Totalitarismus. Vorbei war es mit dem kommunistischen Polizeistaat, der Russland und halb Europa versklavt hatte. Der Kalte Krieg, der die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts dominiert hatte, neigte sich seinem Ende zu. In den zuvor unterjochten Ländern begannen Demokratie und Kapitalismus aufzublühen. Das Zeitalter des Totalitarismus geriet in Vergessenheit, um nie wieder eine Gefahr für die Menschheit zu werden.

So etwa ist der Lauf der Geschichte. Wie die meisten Amerikaner glaubte ich, die Bedrohung durch den Totalitarismus sei nun vorbei. Dann aber, es war im Frühjahr 2015, rief mich ein besorgter Mann an, den ich nicht kannte.

Der Anrufer war ein bedeutender amerikanischer Arzt. Er erzählte mir, dass seine betagte Mutter, die aus der Tschechoslowakei in die Vereinigten Staaten eingewandert war, in ihrer Jugendzeit sechs Jahre lang als politische Gefangene in ihrer Heimat inhaftiert gewesen sei. Sie hatte dem katholischen antikommunistischen Widerstand angehört. Nun ist sie bereits in den Neunzigern und lebt bei ihrem Sohn und seiner Familie. Kürzlich unterhielt die alte Frau sich mit ihrem amerikanischen Sohn und bemerkte dabei, dass die jetzigen Ereignisse in den Vereinigten Staaten sie daran erinnerten, wie sich der Kommunismus in der Tschechoslowakei auszubreiten begann.

Was war der Grund für ihre Besorgnis? In den Nachrichten wurde über die massenhafte Hetze in den sozialen Medien gegen eine kleinstädtische Pizzeria in Indiana berichtet, deren christlich-evangelikale Besitzer einem Reporter gegenüber erklärt hatten, dass sie keine Bewirtung für eine gleichgeschlechtliche Hochzeit übernehmen würden. Die Drohungen gegen ihr Leben und Eigentum waren so massiv – bis hin zum Aufruf eines Nutzers der Medienplattform Twitter, die Pizzeria niederzubrennen –, dass die Eigentümer ihr Lokal eine Zeit lang schlossen. Obwohl die liberalen Eliten, besonders in den Medien, üblicherweise sehr wachsam gegenüber der Gefahr sind, die vom Mob ausgeht und das Leben und die Existenz von Minderheiten bedroht, zeigten sie sich unbeeindruckt von der Attacke auf die Pizzeria, die im Zusammenhang mit der breiter angelegten Debatte über den Konflikt zwischen Schwulenrechten und Religionsfreiheit geschehen war.

Der in den USA geborene Arzt erzählte, dass seine aus der Tschechoslowakei emigrierten Eltern ihn sein ganzes Leben lang vor den Gefahren des Totalitarismus gewarnt hatten. Er hatte sich keinerlei Sorgen gemacht – schließlich sei das hier Amerika, das Land der Freiheit, der Rechte des Einzelnen, eine Nation unter dem Schutz Gottes und der Rechtsstaatlichkeit. Amerika wurde aus dem Streben nach Religionsfreiheit heraus geboren und war auf das entsprechende verfassungsmäßig verbriefte Recht immer stolz gewesen. Doch jetzt machte ihn etwas an dem, was da in Indiana geschehen war, nachdenklich: Und was ist, wenn sie recht hätte?

Es ist einfach, solch einen Vorfall lachend abzutun. Viele von uns, die betagte Eltern haben, sind daran gewöhnt, sie beruhigen zu müssen, wenn eine Nachrichtensendung ihre Angst und Besorgnis angesichts der Welt vor ihrer Haustür geschürt hat. Ich nahm an, dass dies wahrscheinlich auch auf die ältere tschechische Frau zutraf.

Doch in der Stimme des Arztes lag eine gewisse Anspannung und die Tatsache, dass er sich gedrängt fühlte, sich an mich, einen Journalisten, zu wenden, den er nicht einmal kannte, und mich darauf hinzuweisen, dass es für mich zu gefährlich wäre, seinen Namen zu nennen, falls ich darüber berichten sollte. All das verunsicherte mich. So wurde seine Frage zu meiner Frage: Und was ist, wenn die alte tschechische Frau etwas erkennt, was wir Übrigen nicht erkennen? Was ist, wenn wir in den westlichen liberalen Demokratien tatsächlich eine Wende zum Totalitarismus erleben und dies nicht erkennen, weil er in einer anderen Form daherkommt als der frühere?

In den folgenden Jahren habe ich mit vielen Männern und Frauen gesprochen, die einst unter dem Kommunismus gelebt hatten. Ich fragte sie, was sie von dem Ausspruch der alten Frau hielten. Glaubten auch sie, dass das Leben hier in Amerika auf eine Art Totalitarismus zusteuert?

Sie sagten alle Ja – oft mit großem Nachdruck. Für gewöhnlich überraschte sie meine Frage, weil sie die Amerikaner, was dieses Thema betrifft, für hoffnungslos naiv halten. Als ich mich mit einigen Emigranten, die in Amerika Zuflucht gefunden hatten, ausführlicher unterhielt, stellte ich fest, dass sie sich wirklich aufregten, weil ihre amerikanischen Mitbürger nicht erkennen, was da geschieht.

Was macht die gegenwärtige Situation im Westen vergleichbar mit dem, wovor sie damals geflohen waren? Schließlich hat doch jede Gesellschaft Regeln und Tabuthemen und auch Mechanismen, um sie durchzusetzen. Was jene beunruhigt, die unter dem sowjetischen Kommunismus gelebt haben, sind die Ähnlichkeiten:

Die Eliten und die Institutionen der Eliten geben den altmodischen Liberalismus auf, der auf der Verteidigung der Rechte des Einzelnen beruht, und ersetzen ihn durch eine progressive Weltanschauung, die Gerechtigkeit nur in Bezug auf Gruppen in Betracht zieht. Sie ermutigen die Menschen, sich mit Gruppen zu identifizieren – ethnischen, sexuellen und sonstigen – und die Bestimmung von Gut und Böse als eine Frage der Machtdynamik zwischen den Gruppen zu denken. Eine utopische Vision treibt diese Progressiven an, eine Vision, die sie dazu zwingt, die Geschichte umzuschreiben und die Sprache neu zu erfinden, um ihre Ideale sozialer Gerechtigkeit zum Ausdruck zu bringen.

Außerdem verändern diese utopischen Progressiven fortwährend ihre Normen in Bezug auf Denkweise, Sprache und Verhalten. Man kann sich nie sicher sein, dass diejenigen, die an der Macht sind, jemanden verfolgen und ihn als Verbrecher behandeln, weil er etwas gesagt oder getan hat, was am Tag zuvor noch völlig in Ordnung war. Und die Konsequenzen, die sich aus der Verletzung der neuen Tabus ergeben, sind extrem: Verlust der Existenz und die dauerhafte Zerstörung des guten Rufes.

Menschen werden sofort zu Ausgestoßenen, weil sie eine politisch inkorrekte Meinung geäußert oder auf andere Weise eine progressive Gruppierung provoziert haben, was durch die Abstempelung einer Person zum Sündenbock mithilfe der sozialen und konventionellen Medien noch verstärkt wird. Unter dem Deckmantel von »Diversität«, »Inklusion«, »Gleichstellung« und anderen egalitären Begriffen erzeugt die Linke mächtige Kontrollmechanismen über die Art des Denkens und des Diskurses und grenzt Andersdenkende als böse aus.

Für Amerikaner, die diese Art von ideologischem Nebel noch nie erlebt haben, ist es schwierig zu erkennen, was da geschieht. Ganz sicher ist es, was immer es auch sein mag, keine identische Kopie des Lebens in den sowjetischen Ostblockstaaten mit ihrer Geheimpolizei, ihren Gulags, ihrer strikten Zensur und der materiellen Not. Genau das ist das Problem, vor dem jene Emigranten warnen. Die Tatsache, dass im Vergleich zu den Bedingungen des Ostblocks das Leben im Westen weiterhin so frei und wirtschaftlich erfolgreich ist, macht die Amerikaner blind gegenüber der wachsenden Bedrohung unserer Freiheit. Zudem formulieren jene, die die Freiheit zunehmend einschränken, dies in einer Sprache, die vorgibt, die Opfer von Unterdrückung zu befreien.

»Ich bin in der Sowjetunion geboren und aufgewachsen und bin offen gestanden erstaunt, wie sehr einige dieser Entwicklungen jenen ähneln, nach denen die sowjetische Propaganda vorging«, sagt ein Professor, der jetzt im Mittleren Westen lebt.

Ein anderer emigrierter Professor aus der Tschechoslowakei äußerte sich gleichfalls unverblümt. Er erzählte mir, dass er vor etwa zehn Jahren eine allmähliche Veränderung bemerkt hatte, als Freunde leiser sprachen und sich umschauten, wenn sie konservative Standpunkte äußerten. Wenn er seine konservativen Überzeugungen in normaler Lautstärke äußerte, begannen die Amerikaner unruhig zu werden und im Raum umherzublicken, um zu sehen, wer ihnen zuhören könnte.

»Ich bin so aufgewachsen«, sagte er zu mir, »aber ich wäre nie davon ausgegangen, dass dies auch hier geschehen könnte.«

Was geschieht hier? Ein zutiefst antichristlicher Kampfgeist greift in der Gesellschaft stetig um sich, der von Papst Benedikt XVI. als »weltweite Diktatur scheinbar humanistischer Ideologien« beschrieben wurde, die Andersdenkende an den Rand der Gesellschaft drängt. Dies bezeichnete Benedikt als Manifestation der »geistigen Macht des Antichrist«.2 Diese spirituelle Macht nimmt eine konkrete Form in staatlichen und privaten Institutionen an, in Unternehmen, in der akademischen Welt, in den Medien und auch in den sich verändernden Praktiken des amerikanischen Alltagslebens. Sie wird durch nie da gewesene technologische Möglichkeiten zur Überwachung des Privatlebens verstärkt. Man kann sich praktisch nirgends mehr verstecken.

Der alte, strenge Totalitarismus hatte eine Vision für die Welt, die die Auslöschung des Christentums erforderte. Der neue, sanfte Totalitarismus verhält sich genauso, und wir sind nicht gerüstet, diesem heimtückischeren Angriff zu widerstehen.

Wie wir wissen, war der Kommunismus militant atheistisch und erklärte die Religion zu seinem Todfeind. Die Sowjets und ihre europäischen Verbündeten ermordeten den Klerus und warfen zahllose Gläubige, Kleriker und Laien, ins Gefängnis oder in Arbeitslager, in denen viele gefoltert wurden.

Und heute? Die westliche Welt ist nachchristlich geworden. Die nach dem Jahr 1980 Geborenen lehnen in großer Zahl religiöse Überzeugungen ab. Das bedeutet: Sie werden nicht nur gegen die Christen Stellung beziehen, wenn wir für unsere Prinzipien eintreten – speziell für die Verteidigung der traditionellen Familie, der Geschlechterrolle von Mann und Frau und für die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens –, sondern sie werden nicht einmal begreifen, warum sie eine religiös begründete abweichende Meinung überhaupt tolerieren sollten.

Wir können nicht hoffen, dem heraufziehenden sanften Totalitarismus zu widerstehen, wenn wir kein geordnetes geistliches Leben führen. Dies ist die Botschaft von Alexander Solschenizyn, dem bedeutenden antikommunistischen Dissidenten, Nobelpreisträger und orthodoxen Christen. Er war überzeugt, dass die Hauptursache für die Krise, die den Kommunismus hervorbrachte und aufrechterhielt, nicht politisch, sondern spirituell war.

Nach der Veröffentlichung seines Archipel Gulag, der die Fäulnis des sowjetischen Totalitarismus aufdeckte und Solschenizyn weltweit zum Helden werden ließ, wurde er von Moskau schließlich ausgewiesen. Am Vorabend seines erzwungenen Exils im Westen veröffentlichte Solschenizyn eine letzte Botschaft an das russische Volk unter dem Titel Lebt nicht mit der Lüge! In diesem Essay sprach Solschenizyn sich gegen die Behauptung aus, dass das totalitäre System so mächtig sei, dass der einfache Mann und die einfache Frau es nicht ändern könnten.

Unsinn, sagte er. Die Basis des Totalitarismus ist eine Ideologie, die aus Lügen besteht. Die Existenz des Systems hängt von der Angst der Menschen ab, diese Lügen infrage zu stellen. Der Schriftsteller sagte: »Unser Weg muss sein: niemals wissentlich Lügen zu unterstützen!«3 Sie haben vielleicht nicht die Kraft, öffentlich dafür einzustehen und zu erklären, woran Sie wirklich glauben, aber Sie können sich zumindest weigern, das zu unterstützen, woran Sie nicht glauben. Sie werden nicht in der Lage sein, den Totalitarismus zu Fall zu bringen, aber Sie können in sich selbst und innerhalb Ihrer Gemeinschaft die Möglichkeit finden, in der Würde der Wahrheit zu leben. Wenn wir unter der Diktatur der Lügen leben müssen, sagte der Autor, dann muss unsere Reaktion lauten: »Ihre Regel soll nicht durch mich unterstützt werden!«

Was bedeutet es für uns heute, nicht mit Lügen zu leben? Das ist die Frage, der in diesem Buch anhand von Interviews und Zeugnissen nachgegangen wird, die Christen (und andere) aus dem gesamten Ostblock hinterlassen haben, die den Totalitarismus erlebt haben. Sie lassen uns an einer Weisheit teilhaben, die sie durch schwere Erfahrungen erworben haben.

Im ersten Teil des Buches wird der Standpunkt vertreten, dass die liberale Demokratie trotz ihrer oberflächlichen Freizügigkeit zu etwas degeneriert ist, das dem Totalitarismus ähnelt, den sie im Kalten Krieg besiegt hat. Untersucht werden die Quellen des Totalitarismus, wobei beunruhigende Parallelen zwischen unserer zeitgenössischen Gesellschaft und den Gesellschaften, die den Totalitarismus des 20. Jahrhunderts hervorbrachten, aufgezeigt werden. Außerdem werden zwei spezielle Faktoren untersucht, die den aufkommenden sanften Totalitarismus kennzeichnen: die Ideologie der »sozialen Gerechtigkeit«, die die akademische Welt und andere wichtige Institutionen dominiert, und die Überwachungstechnologie, die allgegenwärtig geworden ist, und zwar nicht aufgrund von Regierungserlassen, sondern indem die kapitalistische Konsumgesellschaft davon überzeugt wurde. Diesen Teil beschließt ein Blick auf die Schlüsselrolle der Intelligenzija, die diese bei der Oktoberrevolution einnahm, und zeigt auf, warum wir es uns nicht leisten können, die ideologischen Exzesse unserer eigenen politisch korrekten Intellektuellen einfach mit einem Lachen abzutun.

Der zweite Teil untersucht eingehender die Formen, Methoden und Quellen des Widerstands gegen die Lügen des sanften Totalitarismus. Weshalb sind die Religion und die Hoffnung, die sie schenkt, der Kern des effektiven Widerstands? Was hat die Bereitschaft zum Leiden mit einem Leben in der Wahrheit zu tun? Weshalb ist die Familie der wichtigste Bereich der Opposition? Wie kann eine treue Gemeinschaft zur Widerstandsfähigkeit bei Verfolgung führen? Wie können wir lernen, die falschen Botschaften des Totalitarismus zu erkennen und seine Täuschungsmanöver zu bekämpfen?

Wie haben die Menschen im Osten damals diese Bedrängnis überstanden? Wie haben sie sich und ihre Familien geschützt? Wie konnten sie ihren Glauben, ihre Integrität, ja selbst ihre Vernunft bewahren? Warum sind sie derart besorgt um die Zukunft des Westens? Sind wir fähig, auf sie zu hören, oder werden wir uns weiter der Illusion überlassen, dass das bei uns ja nicht geschehen kann?

Eine in der Sowjetunion geborene Emigrantin, die an einer Universität tief im Herzen der USA lehrt, weist mit Nachdruck auf die Dringlichkeit hin, dass die Amerikaner Menschen wie sie ernst nehmen sollten:

»Sie können nicht voraussagen, was Ihnen morgen vorgeworfen wird«, warnt sie. »Sie ahnen nicht, welche völlig normalen Dinge, die Sie heute tun oder sagen, in Zukunft gegen Sie verwendet werden, um Sie zu zerstören. Die Menschen in der Sowjetunion haben das erlebt. Wir wissen, wie das funktioniert.«

Andererseits riet mir mein Freund, dessen Eltern aus der Tschechoslowakei emigriert waren, keine Zeit zu verlieren, um dieses Buch zu verfassen.

»Die Leute werden das alles zuerst erleben müssen, um es zu verstehen«, sagt er zynisch. »Jedes Mal, wenn ich versuche, meinen Freunden oder Bekannten aktuelle Ereignisse und deren Bedeutung zu erklären, stoße ich auf verständnislose Blicke oder wird das, was ich sage, gleich für Unsinn erklärt.«

Vielleicht hat er recht. Aber um seiner und meiner Kinder willen habe ich dieses Buch geschrieben, um ihm zu beweisen, dass er mit seiner Meinung nicht recht hat.

I. TEIL:

Was versteht man unter sanftem Totalitarismus?

ERSTES KAPITEL

Kolaković, der Prophet

Bisweilen geschieht es, dass ein Fremder auftaucht, einer, der tiefer und weiter sieht als die Masse der Menschen, um vor kommenden Problemen zu warnen. Solche Geschichten enden häufig damit, dass die Leute dem Propheten keinen Glauben schenken und dann für ihre Blindheit leiden müssen. Hier jedoch folgt der Bericht über ein Volk, das auf die Warnungen des Propheten hörte, seinen Rat befolgte und vorbereitet war, als die Krise hereinbrach.

Im Jahr 1943 entkam der Aktivist und Antifaschist, der kroatische Priester und Jesuit Tomislav Poglajen, auf der Flucht von seinem Heimatland Kroatien knapp der Gestapo, um in der Tschechoslowakei unterzutauchen. Um sich vor den Nazis zu verbergen, nahm er den Namen seiner slowakischen Mutter an, Kolaković, und arbeitete als Lehrer in Bratislava, der Hauptstadt der Slowakei. Der Priester, 37 Jahre alt, dessen Haarschopf vorzeitig weiß geworden war, hatte einen Teil seiner Priesterausbildung dem Studium der Sowjetunion gewidmet. Er ging davon aus, dass die Niederlage des nationalsozialistischen Totalitarismus einen schweren Konflikt zwischen dem sowjetischen Totalitarismus und den liberalen Demokratien des Westens verursachen würde. Obwohl Pater Tomislav Kolaković besorgt war wegen der Bedrohungen, denen die christliche Lebensführung und christliche Zeugnisse im reichen Westen ausgesetzt waren, beunruhigten ihn die Gefahren des Kommunismus weitaus mehr, den er zu Recht als eine imperialistische Ideologie betrachtete.

Als Pater Kolaković Bratislava erreichte, war schon klar, dass die Rote Armee die Deutschen im Osten besiegen und die Tschechoslowakei befreien würde. Tatsächlich schloss die tschechische Exilregierung im Jahr 1944 ein formelles Abkommen mit Stalin, das garantierte, dass die Sowjets nach der Vertreibung der Nazis der wiedervereinigten Nation die Freiheit geben würden.

Da Pater Kolaković wusste, wie die Sowjets wirklich dachten, wusste er auch, dass dies eine Lüge war. Er warnte die slowakischen Katholiken und wies darauf hin, dass die Tschechoslowakei nach Ende des Krieges unter die Herrschaft einer sowjetischen Marionettenregierung fallen würde. So widmete er sich der Aufgabe, sie auf die Verfolgung vorzubereiten.

Die nicht vorbereiteten Christen in der Slowakei

Pater Kolaković wusste, dass der Klerikalismus und die Passivität des traditionellen slowakischen Katholizismus dem Kommunismus nicht gewachsen sein würden. Zunächst einmal sah er richtig voraus, dass die Kommunisten versuchen würden, die Kirche unter ihre Kontrolle zu bringen, indem sie den Klerus unterwarfen. Zum anderen erkannte er, dass die Prüfungen, die die Gläubigen im Kommunismus erwarteten, sie geistlich auf eine extreme Probe stellen würden. Der charismatische Priester sagte in seinen Predigten, dass nur ein Leben in rückhaltloser Hingabe an Christus sie befähigen würde, den kommenden Prüfungen standzuhalten.

»Übergib dich vollkommen Christus, wirf all deine Sorgen und Wünsche auf ihn, denn er hat einen breiten Rücken, und du wirst Wunder erleben«, sagte der Pater nach der Erinnerung eines Schülers.4

Die vollkommene Hingabe an Christus war kein abstrakter oder frommer Gedanke. Sie musste konkret werden und gemeinschaftlich gestützt sein. Die totale Zerstörung durch den Ersten Weltkrieg öffnete die Augen der jüngeren Katholiken für die Notwendigkeit einer Neuevangelisierung. Ein belgischer Priester namens Joseph Cardijn, dessen Vater bei einem Grubenunglück ums Leben gekommen war, gründete eine Laienbewegung, um genau dies in der Arbeiterklasse zu verwirklichen. Das war die »Christliche Arbeiterjugend« [CAJ], die »Jocistes« genannt wurden nach den Anfangsbuchstaben ihrer französischen Bezeichnung. Von ihrem Beispiel inspiriert, passte Pater Kolaković diese Bewegung den Bedürfnissen der katholischen Kirche in der von den Deutschen besetzten Slowakei an. Er gründete Zellen von gläubigen jungen Katholiken, die sich zum Gebet, zum Studium und zu gemeinschaftlichen Unternehmungen trafen.

Der geflohene Priester lehrte die jungen slowakischen Gläubigen, dass jeder Mensch für seine Taten vor Gott Rechenschaft ablegen muss. Freiheit bedeutet Verantwortung, betonte er. Sie ermöglicht, nach der Wahrheit zu leben. Das Motto der »Christlichen Arbeiterjugend« wurde auch zum Motto für die Gemeinschaft, die Pater Kolaković seine »Familie« nannte: »Erkennen, urteilen, handeln«. Erkennen bedeutet, wach die Wirklichkeit zu registrieren, die uns umgibt. Urteilen beinhaltet den Auftrag, nüchtern zu erkennen, was diese Wirklichkeit im Licht dessen bedeutet, was wahr ist, vor allem aus der Sicht des christlichen Glaubens. Wenn man daraus den Schluss gezogen hat, gilt es zu handeln, um dem Bösen zu widerstehen.

Václac Vaško, ein Anhänger von Kolaković, meinte später im Rückblick, dass das Wirken von Pater Kolaković so viele junge Katholiken begeisterte, weil er die Laien anspornte und ihnen ein Gefühl für Führungsverantwortung vermittelte.

»Es ist bemerkenswert, dass es Kolaković fast sofort gelang, eine Gemeinschaft des Vertrauens und gegenseitiger Freundschaft zu stiften, und das unter ganz verschiedenen Menschen (Priestern, Ordensleuten und Laien unterschiedlichen Alters mit unterschiedlichem Bildungs- oder geistlichem Reifegrad)«, schrieb Vaško.

Die Familiengruppen trafen sich zunächst zu Bibelstudien und Gebet, doch bald hörten sie auch Vorträge von Pater Kolaković über Philosophie, Soziologie und intellektuelle Themen. Pater Kolaković unterwies seine jungen Anhänger auch, wie man im Untergrund arbeiten und Verhöre überstehen kann, die, wie er sagte, sicher auf sie zukämen.

Die »Familie« breitete ihre kleinen Gruppen rasch über das ganze Land aus. »Am Ende des Schuljahrs 1944«, so Vaško, »wäre es schwierig gewesen, in Bratislava oder größeren Städten eine Fakultät oder eine weiterführende Schule zu finden, in denen unsere Kreise nicht tätig waren.«

1946 deportierten die tschechischen Behörden den rührigen Priester. Zwei Jahre später übernahmen die Kommunisten die Macht, genau wie Pater Kolaković es vorausgesagt hatte. Innerhalb weniger Jahre waren fast alle Mitglieder der »Familie« im Gefängnis, und die tschechoslowakische Kirche als Institution war auf brutale Weise unterworfen worden. Doch als die Mitglieder der »Familie« in den 1960er-Jahren aus den Gefängnissen entlassen wurden, begannen sie zu verwirklichen, was ihr geistlicher Vater sie gelehrt hatte. Die beiden wichtigsten Stellvertreter von Pater Kolaković – der Arzt Silvester Krčméry und der Priester Vladimír Jukl – gründeten in aller Stille christliche Gruppen und begannen, im ganzen Land die Untergrundkirche aufzubauen.

Unter der Leitung der geistigen Kinder und Enkel des visionären Geistlichen wurde die Untergrundkirche in den nächsten 40 Jahren zum wichtigsten Träger der antikommunistischen Opposition. Sie waren es auch, die 1988 eine öffentliche Massendemonstration in Bratislava, der slowakischen Hauptstadt, organisierten und Religionsfreiheit forderten. Die »Kerzendemonstration« war der erste große Protest gegen den Staat. Sie bildete den Auftakt zur »Samtenen Revolution«, die ein Jahr später das kommunistische Regime stürzte. Obwohl die slowakischen Christen im sowjetischen Ostblock zu den am stärksten verfolgten gehörten, leistete die katholische Kirche dort erfolgreich Widerstand, weil ein Mann vorausgesehen hatte, was auf sie zukommen würde, und seine Leute entsprechend vorbereitet hatte.

Der neue Totalitarismus

Warum wusste Pater Kolaković, was auf dieses Volk in Mitteleuropa zukommen würde? Er besaß keine übernatürlichen Gaben, zumindest ist nichts darüber bekannt. Vielmehr hatte er den sowjetischen Kommunismus genau studiert, um sich auf die Missionsarbeit in Russland vorzubereiten, und er wusste, wie die Sowjets dachten und wie sie sich verhielten. Er war in der Lage, die geopolitischen Zeichen der Zeit zu erkennen. Und als Priester gehörte er zu den Überlebenden des sowjetischen Kommunismus.

Diejenigen, die die Verfolgung im Kommunismus überlebt haben, sind auf ihre Weise für uns Menschen wie Kolaković. Sie warnen uns vor einem kommenden Totalitarismus – einer Form der Regierung, die politischen Autoritarismus mit einer Ideologie verbindet, die darauf abzielt, alle Aspekte des Lebens zu kontrollieren. Dieser Totalitarismus wird nicht dem der UdSSR gleichen. Er etabliert sich nicht mit »harten« Mitteln wie einer bewaffneten Revolution oder unter Zwang mithilfe von Gulags. Vielmehr übt er, zumindest in den Anfängen, seine Kontrolle mit sanften Mitteln aus. Dieser Totalitarismus ist therapeutisch. Er verbirgt seinen Hass auf jene, die seine utopische Ideologie ablehnen, unter dem Deckmantel von Hilfe und Heilung.

Um die Bedrohung durch den Totalitarismus zu verstehen, ist es wichtig, den Unterschied zwischen ihm und dem einfachen Autoritarismus zu kennen. Ein Autoritarismus liegt vor, wenn der Staat die politische Kontrolle seiner Herrschaft unterwirft. Das ist eine bloße Diktatur – zweifellos übel, doch der Totalitarismus ist viel schlimmer. Nach Hannah Arendt, der führenden Erforscherin der »Formen der totalen Herrschaft«, kennzeichnet eine totalitäre Gesellschaft, dass eine Ideologie versucht, alle vorherigen Traditionen und Institutionen zu verdrängen mit dem Ziel, alle Aspekte der Gesellschaft unter die Kontrolle dieser Ideologie zu bringen. Ein totalitärer Staat strebt nichts weniger an, als die Wirklichkeit zu definieren und zu kontrollieren. Diejenigen, die an der Macht sind, entscheiden, was wahr ist. Arendt schrieb: Wo immer der Totalitarismus herrschte, »hat er begonnen, das Wesen des Menschen zu zerstören«.5

Als Teil seines Bestrebens, die Realität zu definieren, versucht ein totalitärer Staat nicht nur unsere Handlungen, sondern auch unsere Gedanken und Gefühle zu kontrollieren. Der ideale Untertan eines totalitären Staates ist jemand, der gelernt hat, Big Brother6 zu lieben.

In der Sowjet-Ära forderte der Totalitarismus die Liebe zur Partei, und der Staat erzwang die Konformität mit den Forderungen der Partei. Der Totalitarismus unserer Tage verlangt Übereinstimmung mit einer Reihe von fortschrittlichen Ideen, von denen viele mit der Logik inkompatibel sind – und ganz gewiss auch mit dem Christentum. Die Konformität wird weniger vom Staat erzwungen als von Eliten, die die öffentliche Meinung bestimmen, und von Privatunternehmen, die mithilfe der Technologie unser Leben weitaus mehr kontrollieren, als wir einzuräumen bereit sind.

Viele Konservative unserer Tage machen sich den Ernst dieser Bedrohung nicht klar und tun sie ab als »Political Correctness« – ein abwertender Begriff der vorherigen Generation für »Wokeness«7. Es ist ja einfach, Menschen wie die aus der Sowjetunion stammende Professorin als hysterisch abzuqualifizieren, wenn man meint, dass das, was heute geschieht, nur die Rückkehr der Verrücktheiten der Linken an den Universitäten in den 1990er-Jahren sei. Damals war die Standardreaktion der Konservativen, das Problem einfach abzutun: Wartet nur, bis diese Kinder in der realen Welt ankommen und einen Job finden müssen.

Nun, das geschah – und sie verbreiteten den linken »Campusgeist« in den amerikanischen Unternehmen, in den juristischen und medizinischen Berufen, in den Medien, in den Grund- und Sekundarschulen und in anderen Institutionen des amerikanischen Lebens. Mit dieser Kulturrevolution, die sich im Frühjahr und Sommer 2020 intensivierte, wird versucht, das ganze Land in einen »Woke«-College-Campus zu verwandeln.

Heute müssen Abweichler von dieser »Woke-Fraktion« in unserer Gesellschaft erleben, dass ihre Unternehmen, ihre Karrieren und ihr Ruf zerstört werden. Sie werden aus dem öffentlichen Leben vertrieben, stigmatisiert und als rassistisch, sexistisch, homophob und dergleichen verteufelt. Und sie haben Angst, sich zu wehren, weil sie sich sicher sind, dass ihnen niemand zur Seite stehen oder sie verteidigen wird.

Die Behutsamkeit des sanften Totalitarismus

Es ist durchaus möglich, den Ansturm des Totalitarismus zu übersehen, weil wir nicht richtig verstehen, wie seine Macht funktioniert. 1951 schrieb der Dichter und Literaturkritiker Czesław Miłosz, der als antikommunistischer Dissident aus seinem Heimatland Polen in den Westen verbannt wurde, dass die Menschen im Westen das Wesen des Kommunismus nicht verstehen, weil sie dabei nur an die Begriffe von »Macht und Zwang« denken.

»Das ist falsch«, schrieb er. »Es gibt eine innere Sehnsucht nach Harmonie und Glück, die tiefer liegt als die gewöhnliche Angst oder der Wunsch, dem Elend oder der physischen Zerstörung zu entkommen.«8

In seinem Buch Verführtes Denken schrieb Miłosz, dass die kommunistische Ideologie eine Lücke gefüllt hat, die im Leben der Intellektuellen des frühen 20. Jahrhunderts entstanden war, weil die meisten von ihnen aufgehört hatten, an eine Religion zu glauben.

Der heutige linke Totalitarismus appelliert erneut an ein inneres Verlangen, besonders an das starke Verlangen nach einer gerechten Gesellschaft, die die historischen Opfer der Unterdrückung der Vergangenheit rehabilitiert und befreit. Er präsentiert sich in Form von Freundlichkeit und dämonisiert Andersdenkende und missliebige demografische Gruppen, um die Gefühle der »Opfer« zu schützen und so soziale Gerechtigkeit zu schaffen.

Der zeitgenössische Kult der sozialen Gerechtigkeit identifiziert Angehörige bestimmter gesellschaftlicher Gruppen als Täter, als Sündenböcke, und fordert im Namen der Gerechtigkeit ihre Bekämpfung oder Unterdrückung. So gaben die sogenannten »Kämpfer für soziale Gerechtigkeit«, die als von einem starken Mitgefühl beseelte Liberale begannen, am Ende den echten Liberalismus auf und verfolgten eine aggressive und restriktive Politik, die dem Bolschewismus ähnelt, wie der sowjetische Kommunismus zuerst genannt wurde.

An der Wende zum 21. Jahrhundert warnte der Kulturkritiker René Girard vorausschauend: »Der gegenwärtige Prozess der geistigen Demagogie und des rhetorischen Overkills hat die Sorge um die Opfer in eine totalitäre Herrschaft und eine permanente Inquisition umgeformt.«9

Dies bringen auch die Überlebenden des Kommunismus zum Ausdruck: Die bewundernswerte Sorge des Liberalismus für die Schwachen und Ausgegrenzten schlägt schnell in eine monströse Ideologie um, die, wenn sie nicht aufgehalten wird, die liberale Demokratie in eine sanfte, therapeutische Form des Totalitarismus verwandeln wird.

Das Therapeutische als postmoderne Existenzform

Der sanfte Totalitarismus nutzt die Präferenz des dekadenten modernen Menschen für persönliches Vergnügen und Wohlbefinden gegenüber Prinzipien einschließlich der politischen Freiheiten. Die Leute werden den kommenden sanften Totalitarismus unterstützen oder zumindest nicht ablehnen, aber nicht weil sie die Verhängung grausamer Strafen fürchten, sondern weil sie durch hedonistische Annehmlichkeiten mehr oder weniger befriedigt werden. Nicht George Orwells Roman 1984 sieht voraus, was kommen wird, sondern Aldous Huxleys Schöne neue Welt. Der zeitgenössische Sozialkritiker James Poulos bezeichnet dies als »rosa Überwachungsstaat«: eine informelle Regelung, bei der die Menschen ihre politischen Rechte aufgeben, um dafür im Gegenzug Garantien für ihr persönliches Vergnügen zu erhalten.

Der sanfte Totalitarismus nutzt, wie wir in einem späteren Kapitel sehen werden, die moderne Überwachungstechnologie, die (noch) nicht staatlich angeordnet ist, sondern von den Verbrauchern eher als Hilfsmittel für einen bequemen Lebensstil begrüßt wird – und die auch in der Welt nach der Pandemie wahrscheinlich für das öffentliche Gesundheitswesen benötigt werden wird. Es fällt schwer, sich über Big Brother aufzuregen, wenn man sich schon an Big Data gewöhnt hat, die unser Privatleben genauestens überwachen mithilfe von Apps, Kreditkarten und intelligenten Geräten, die doch das Leben so viel einfacher und angenehmer machen. In Orwells fiktionaler Dystopie installiert der Staat in den privaten Wohnräumen Bildschirme, um das Leben der einzelnen Menschen zu überwachen. Heute installieren wir in unseren Häusern »Smart Speakers«10, um unser Wohlbefinden zu steigern.

Und wie entwickelte sich die Maximierung des Wohlbefindens zum ultimativen Ziel der modernen Menschen und Gesellschaften? Der amerikanische Soziologe und Kulturkritiker Philip Rieff war kein religiöser Mensch, aber wenige Propheten haben in ihren Schriften scharfsinniger als er das Wesen der Kulturrevolution durchschaut, die den Westen im 20. Jahrhundert in Beschlag nahm und die den Kern des sanften Totalitarismus bestimmt.

In seinem bahnbrechenden Buch The Triumph of the Therapeutic legte Rieff dar, dass der Tod Gottes im Westen eine neue Zivilisation hervorgebracht hat, die sich auf die Befreiung des Individuums konzentriert hat, das seine eigenen Vergnügungen sucht und aufkommende Ängste damit bewältigt. An die Stelle des religiösen Menschen, der sein Leben nach seinem Glauben und den transzendenten Prinzipien ausgerichtet hat, die das menschliche Leben innerhalb des Gemeinwohls regelten, ist der psychologische Mensch getreten, der glaubt, dass es keine transzendente Ordnung gebe und dass der Sinn des Lebens darin bestehen würde, seinen eigenen Weg auf experimentelle Art und Weise zu finden. Der Mensch versteht sich nicht mehr als Pilger, der sich zusammen mit anderen auf einer bedeutungsvollen Reise befindet, sondern als Tourist, der nach seinem eigenen, selbst entworfenen Reiseplan mit dem ultimativen Ziel seines persönlichen Glücks unterwegs ist.

Diese Revolution war sogar noch radikaler als die bolschewistische von 1917, schrieb Rieff. Zum ersten Mal wollte die Menschheit eine Zivilisation schaffen, die auf der Verneinung jeglicher bindenden transzendenten Ordnung fußte. Die Bolschewiken mögen gottlos gewesen sein, aber selbst sie glaubten, dass es eine metaphysische Ordnung gibt, die erfordert, dass der Einzelne seine persönlichen Wünsche einem höheren Zweck unterordnet. Fast ein Vierteljahrhundert vor dem Fall der Berliner Mauer sagte Rieff voraus, dass der Kommunismus nicht in der Lage sein würde, der vom Westen kommenden Kulturrevolution standzuhalten, die den Anspruch erhebt, das Individuum zu befreien, damit es den Hedonismus und Individualismus verwirklichen kann. Wenn es keine göttliche Ordnung mehr gibt, dann ist das ursprüngliche Versprechen der Schlange im Garten Eden – »Ihr werdet sein wie Gott« – das Grundprinzip der neuen Kultur.

Rieff erkannte allerdings, dass es keine Kultur ohne Kult gibt – das heißt, ohne den gemeinsamen Glauben und die Akzeptanz einer sakralen Ordnung entsteht eine »Antikultur«. Eine Antikultur, so Rieff, ist grundsätzlich instabil. Er bezweifelte jedoch, dass Menschen, die in einer solchen Gesellschaftsordnung aufgewachsen sind, jemals bereit wären, zu der früheren Ausrichtung zurückzukehren.

Selbst Kirchenführer, schrieb er, belügen sich selbst in Bezug auf die Fähigkeit der von ihnen geleiteten Institutionen, dem Therapeutischen zu widerstehen. Rieff sah die Zukunft der Religion als Übergang zu einer verwässerten Spiritualität voraus, in der alles enthalten sein kann. Er lebte lange genug, um mitzuerleben, wie seine Voraussagen von 1966 eintrafen. 2015 prägten die Religionssoziologen Christian Smith und Melinda Lundquist Denton die Formulierung »moralistisch therapeutischer Deismus«, um die dekadente Form des Christentums (und tatsächlich aller Religionen) zu beschreiben, die heute in Amerika festzustellen ist. Sie beinhaltet den allgemeinen Glauben, dass Gott existiert und von uns nichts anderes will, als freundlich und glücklich zu sein.

In der therapeutischen Kultur, die sich überall durchgesetzt hat, besteht die große Sünde darin, die Freiheit der anderen zu behindern, die ihr Glück nach eigenem Gutdünken suchen. Dies geht Hand in Hand mit der sexuellen Revolution, die in Kombination mit der ethnischen Identitäts- und der Genderidentitätspolitik den gescheiterten wirtschaftlichen Klassenkampf als utopischen Schwerpunkt der radikalen Linken nach 1960 abgelöst hat. Diese Kulturrevolutionäre fanden einen Verbündeten im fortgeschrittenen Kapitalismus, nach dessen Lehre es nichts außerhalb des Marktmechanismus geben soll und seinen angebotenen Werten, die auf die menschlichen Wünsche abgestimmt sind.

Der Kalte Krieg und der Kulturkampf brachten viele weiße konservative Christen dazu, sich mit der Republikanischen Partei zu identifizieren und die freie Marktwirtschaft als übereinstimmend mit der christlichen Ethik zu betrachten. Der Relativismus im Gewand des Dogmas von der freien Marktwirtschaft trug dazu bei, dass das therapeutische Ethos von der gläubigen Rechten übernommen wurde. Wenn wahre Freiheit schließlich als Wahlfreiheit definiert wird im Gegensatz zum klassischen Konzept der Tugendethik, dann ist die Tür weit geöffnet für eine Reform der Religion nach therapeutischen Gesichtspunkten, die sich an der Erfahrung des Verbrauchers orientiert. Das ist der Grund, weshalb so viele konservative Christen die anhaltenden Siege des Transgenderismus im Kulturkampf nicht erkannt haben und noch immer nicht erklären können. Das Phänomen des Transgenderismus, der den Vorrang des Psychologischen vor der biologischen Realität einfordert, ist der logische Höhepunkt eines Prozesses, der schon vor Jahrhunderten begann.

Der entschlossene Widerstand der Christen im großen Stil gegen die Antikultur war bisher erfolglos und wird es wohl auch in absehbarer Zukunft bleiben. Warum? Weil der therapeutische Zeitgeist auch die Kirchen erobert hat, sogar jene, zu denen die Christen gehören, die sich als konservativ bezeichnen. Relativ wenige zeitgenössische Christen sind darauf vorbereitet, für den Glauben zu leiden, weil die therapeutische Gesellschaft, die diese Christen geprägt hat, den Sinn des Leidens von vornherein leugnet, und die Vorstellung, Schmerz um der Wahrheit willen zu ertragen, lächerlich erscheint.

Ketman und die Murti-Bing-Pille11

Für Menschen, die in der freien Welt aufgewachsen sind, ist es schwierig, das Ausmaß und die Abgründe der Lüge zu begreifen, die nur zur Wahrung der bloßen Existenz unter dem Kommunismus erforderlich war. All die Lügen und die Lügen über die Lügen, die die Basis für das kommunistische System waren, gründeten auf der folgenden fundamentalen Lüge: Der kommunistische Staat ist die einzige Quelle der Wahrheit. Orwell schrieb in seinem Buch 1984: »Die Partei befahl einem, die Beweise der eigenen Augen und Ohren zu leugnen. Das war ihr höchstes und wichtigstes Gebot.«12

Unter der Diktatur von Big Brother begreift die Partei, dass sie durch die Veränderung der Sprache – Neusprech ist ihr Wort für den Jargon, den sie der Gesellschaft aufzwingt – die Kategorien kontrolliert, in denen die Menschen denken. »Freiheit« ist Sklaverei, »Wahrheit« ist Falschheit etc. Zweidenk – »zwei gegensätzliche Überzeugungen gleichzeitig zu akzeptieren« –, das ist die Weise, wie die Menschen lernen, ihren Verstand der Parteiideologie zu unterwerfen. Wenn die Partei sagt: Zwei und zwei gibt fünf, dann gibt zwei und zwei fünf. Das Ziel ist es, die Person davon zu überzeugen, dass jede Wahrheit im Verstand existiert und der richtig geordnete Verstand alles glaubt, was die Partei als wahr bezeichnet.

Orwell schreibt:

»Es war, als drücke eine gewaltige Kraft einen nieder – etwas, das in den Schädel eindrang, das Gehirn zertrümmerte, einem Angst vor der eigenen Überzeugung machte und einen fast dazu brachte, den eigenen Sinnen nicht länger zu trauen. Schlussendlich würde die Partei noch verkünden, dass zwei und zwei fünf ergibt, und man würde es glauben müssen. Es war unvermeidlich, dass sie diese Behauptung früher oder später aufstellten. Die Logik ihrer Position verlangte es. Ihre Philosophie leugnete nicht nur stillschweigend die Gültigkeit von Erfahrungen, sondern auch die bloße Existenz einer äußeren Realität. Die schlimmste aller Ketzereien war gesunder Menschenverstand.«13

Heutzutage haben wir keinen allmächtigen Staat, der uns so etwas aufzwingt. Unter dem sanften Totalitarismus praktizieren die Medien, die Universitäten, die amerikanischen Unternehmen und andere Institutionen den Neusprech und zwingen alle Übrigen, sich täglich im Zweidenk zu üben. Männer haben Perioden. Die Frau, die vor einem steht, muss »er« genannt werden. Diversität und Inklusion bedeutet, denjenigen auszuschließen, der sich ideologischer Gleichförmigkeit widersetzt. Gleichheit bedeutet, Menschen ungleich zu behandeln, ungeachtet ihrer Fähigkeiten und Leistungen, um ein ideologisch korrektes Ergebnis zu erzielen.

Um einen Satz von Orwell auf unsere eigene Situation zu übertragen: »Das Büro für Diversität, Gleichstellung und Inklusion hat befohlen, die Beweise der eigenen Augen und Ohren zu leugnen. Das war ihr höchstes und wichtigstes Gebot.«

Viele Christen werden diese Lügen heute durchschauen, aber sie werden sich dafür entscheiden, ihre Stimme nicht zu erheben. Ihr Schweigen wird sie nicht retten, sondern, so Miłosz, innerlich zerfressen.

In seinem Schreiben über die Hinterhältigkeit des Kommunismus zitierte Miłosz aus einem Roman aus dem Jahr 1932 mit dem Titel Unersättlichkeit. Darin schrieb der polnische Autor Stanisław Witkiewicz über eine zeitnahe Dystopie, in der die kulturell erschöpften Menschen der Dekadenz verfallen waren. Eine mongolische Armee aus dem Osten drohte das Land einzunehmen.

Als Teil des Planes, das Land zu übernehmen, tauchten nun Menschen auf den Straßen auf und verkauften die »Murti-Bing-Pille«, benannt nach einem mongolischen Philosophen, der einen Weg gefunden hatte, eine Tablette zu produzieren, die seine »Don’t worry, be happy«-Philosophie beinhaltet. Wer die »Murti-Bing-Pille« einnahm, hörte auf, sich über das Leben Sorgen zu machen, selbst wenn alles um ihn herum auseinanderfiel. Als die Armee aus dem Osten eintraf, ergaben sich die Menschen frohgemut und sie waren erleichtert, von ihren inneren Anspannungen und Kämpfen befreit zu sein.

Doch der Friede war nicht von Bestand. »Aber weil sie ihre frühere Persönlichkeit nicht vollständig loswerden konnten«, schreibt Miłosz, »wurden sie schizophren.«14

Was geschieht jedoch, wenn die »Murti-Bing-Pille« nicht mehr wirkt und man sich selbst unter der Diktatur der offiziellen Lügen wiederfindet, in der jeder, der der Parteilinie widerspricht, ins Gefängnis wandert?

Man wird zum Schauspieler, sagt Miłosz. Man erlernt die Praxis des ketman. Dies ist ein persischer Begriff für die Praxis, äußerlich das Erscheinungsbild islamischer Rechtgläubigkeit zu wahren und innerlich davon abzuweichen. Ketman