Legendborn – Das geheime Erbe - Tracy Deonn - E-Book

Legendborn – Das geheime Erbe E-Book

Tracy Deonn

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Beschreibung

Um hinter das Geheimnis um den Unfalltod ihrer Mutter zu kommen, trat Bree Matthews einer Geheimgesellschaft bei: den Legendborn, die Nachfahren der Artusritter, die die Menschen seit Jahrhunderten vor den Dämonen beschützen. Durch die Legendborn entdeckte Bree, welche Macht in ihr schlummert – eine Macht, die sie für immer verändert hat. Im Krieg gegen die Dämonen bahnt sich ein blutiger Höhepunkt an: Nick, der Junge, in den sich Bree verliebt hat, wurde entführt. Um ihn zu retten, muss Bree lernen, ihre Kräfte zu kontrollieren, ohne sich selbst dabei zu verlieren ...

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Seitenzahl: 973

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Das Buch

Vierundzwanzig Stunden ist es her, dass die junge Studentin Bree Matthews Excalibur, das Schwert König Artus’, aus dem Stein gezogen und damit endgültig ihr magisches Erbe angetreten hat. Doch ihr bleibt keine Zeit, sich an ihre neue Rolle innerhalb der Legendborn, der Geheimgesellschaft, die seit den Rittern der Tafelrunde die Menschheit vor den Mächten des Bösen beschützt, zu gewöhnen: Nick, der Junge, in den sich Bree verliebt hat, wurde von den Dämonen entführt. Als der Anführer der Legendborn Bree verbietet, sich an seiner Rettung zu beteiligen, beschließt sie zusammen mit dem so mächtigen wie gut aussehenden Magier Sel, ihre große Liebe auf eigene Faust zu retten. Aber ihre Feinde lauern auch in den eigenen Reihen, und noch hat Bree keine Kontrolle über ihr Kräfte. Wenn sie ihren Freund retten will, muss Bree lernen, ihre Macht zu beherrschen – ohne sich dabei selbst zu verlieren …

Die Autorin

Tracy Deonn wuchs in North Carolina auf, wo sie Fantasy-Bücher und Südstaatenessen gleichermaßen verschlang. Nachdem sie ihr Kommunikations- und Performance-Studium an der University of North Carolina abgeschlossen hatte, arbeitete sie in den Bereichen Livetheater, Videospielproduktion und Schulbildungswesen. Wenn sie nicht gerade schreibt, nimmt sie an Science-Fiction- und Fantasy-Conventions teil und liest Fanfiction. Mit dem ersten Band ihrer LEGENDBORN-Reihe, Legendborn – Der geheime Bund, schaffte sie den Sprung auf die New York Times-Bestsellerliste. Die Fortsetzung Legendborn – Das geheime Erbe war sofort nach Erscheinen auf Platz 1.

TRACYDEONN

Das geheime Erbe

Roman

Aus dem Amerikanischen von Beate Brammertz

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:BLOODMARKEDDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 07/2023

Redaktion: Stefanie Adam

Copyright © 2022 by Tracy Deonn Walker

Copyright © 2023 dieser Ausgabe und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: © Kim Hoang, Guter Punkt, München unter Verwendung von Bilder von iStock (© alex_skp), iStock / Getty Images Plus (© mashakotcur) und Adobestock (© d1sk, © pit3dd)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29555-4V001

www.heyne.de

Für jedes Schwarze Mädchen, das jemals bei irgendetwas »die Erste« war

PROLOG

In meinen Adern brennen die Seelen meiner Vorfahren.

Vor vierundzwanzig Stunden habe ich Excalibur aus dem Stein gezogen. Jetzt zahle ich dafür den Preis.

Die uralte Klinge hat mich in Stücke gerissen. Wer ich war. Wer ich sein könnte. Wer ich nie wieder sein werde.

Ich bin zu Splittern meiner selbst geworden.

Die Briana Matthews, die Excalibur in Händen hielt, wurde zerschmettert – und zu etwas Neuem geformt.

Etwas Neuem. Etwas Mächtigem. So hat William es beschrieben.

Vergangene Nacht, als ich Excalibur hoch in die Luft hielt, hämmerten zwei Seelen wie Doppeltrommeln in meiner Brust: Vera, meine Urahnin, und Artus Pendragon höchstpersönlich. Obwohl die beiden viele Jahrhunderte trennen, haben sie mittels Magie die Macht in ihren Blutlinien und in mir verankert. Vera mit einer flehentlichen Bitte an ihre Vorfahrinnen. Artus mit einem Zauber für seine Ritter. Als der Kampf vorbei war und ich ins Bett fiel, dachte ich, sie wären beide fort. Dorthin verschwunden, wohin Geister gehen, sobald ihre Nachkommen nicht mehr von ihnen besessen sind.

Artus war verstummt. Vera schien sich zu verabschieden: »Eine Legende zu sein, hat seinen Preis, Tochter. Aber fürchte dich nicht, du wirst diese Last nicht alleine tragen.«

Doch ihre Worte waren kein an mich gerichtetes Lebewohl, sondern ein Willkommensgruß meiner Ahnen.

Nun, im Dämmerlicht der frühen Morgenstunden, liege ich in meinem Bett in der Lodge, dem alten Stammsitz der Legendborn. Doch ich komme nicht zur Ruhe. Ich bin hellwach. Die Decke habe ich weggestrampelt, meine Haut und Seele sind zum Zerreißen gespannt. Meine Locken kleben mir feucht im Nacken.

Keuchend wälze ich mich auf die Seite und kneife beide Augen zu. Krieche auf dem Boden herum. Spüre und höre, wie meine Nägel mit einem traurigen Laut in der Dunkelheit über das Parkett kratzen.

Als ich die Augen öffne, ist das Zimmer um mich herum verschwunden, und ich bin nicht mehr Bree. Sondern …

Selah. Veras Tochter, jetzt erwachsen und selbst schwanger.

Es ist mitten in der Nacht. Vor langer Zeit. Ich werde von einer Schwarzen Frau mit scharfsinnigen braunen Augen, deren Blick nervös über meinen Kopf in die Richtung huscht, aus der ich gekommen bin, in ein Haus gescheucht. Ihre warmen, starken Finger packen mich an der Schulter. »Beeil dich, Mädchen. Beeil dich!«, flüstert sie. Ich kenne diese Frau nicht, aber das Wort »Mädchen« wird mit Nachdruck und schwesterlicher Sorge betont.

Sie führt mich zu einer Falltür, die im hinteren Teil des Hauses in den Boden eingelassen ist. Hebt sie an und offenbart ein Kämmerchen aus verrottetem Holz in der Erde.

Für den Moment werde ich hierbleiben, aber morgen muss ich weiter.

Ich blinzle – und das Schlafzimmer der Lodge kehrt zurück. Dunkel und vertraut. Glänzendes Parkett aus breiten Eichendielen unter mir.

Einatmen. Ausatmen.

Augen schließen. Wieder öffnen.

Ich befinde mich in einem Diner. Mein Name lautet Jessie. Ich bin zwanzig Jahre alt.

In meinen Händen halte ich einen Stapel Speisekarten. Fünfzigerjahre-Musik dröhnt aus einer Jukebox.

»Hey, du! Mädchen!« Eine raue, unhöfliche Stimme ruft in meine Richtung. »Mädchen« wird mit einer unverhohlenen Häme ausgesprochen, die kaum das Wort verhüllt, das der Mann in Wirklichkeit meint. Die Beleidigung steht ihm mitten ins Gesicht geschrieben. Ich entdecke den weißen Mann, dem die Stimme gehört, am Tisch neben dem Eingang, mit dem selbstgefälligen Grinsen eines Menschen, der weiß, dass ihm niemand Einhalt gebieten wird. »Bedienung, bitte?«, seine Stimme trieft vor Sarkasmus und Spott. Ein Köder, mit dem er mich in die Falle locken will. Ich soll es nur wagen, ihm Paroli zu bieten.

Ein Aufwallen von Wut, die Wurzelkraft in meiner Brust entzündet sich und schwillt an – trotzdem gehe ich mit einem Lächeln im Gesicht durch das Restaurant auf ihn zu.

Am liebsten würde ich ihn ignorieren oder anschreien, aber das darf ich nicht.

Nicht hier, nicht heute. Aber irgendwann, irgendwo.

Als ich an einem anderen Tisch vorbeikomme, wirbelt eine weiße Frau in einem schwarz-silbernen Kleid herum. Ihre Hand schießt vor und umklammert meinen Arm. Ihre eindringlichen bernsteinfarbenen Augen verengen sich, und ich kann ihren Argwohn geradezu körperlich spüren. Ein scharfer Rauchfaden steigt mir in die Nase, als wäre gerade ein Streichholz entzündet worden.

Urplötzlich weiß ich, wer sie ist. Sie ist eine von denen. Eine Magierin des Ordens, vor dem meine Mutter mich als Kind immer gewarnt hatte. »Lass dich von diesen Ordensmerlins nicht fangen. Lauf weg, sobald du ihre blauen Flammen siehst.«

Mit laut hämmerndem Herzen schlucke ich das Feuer hinunter. Lösche es. Verberge es.

»Ma’am?« Meine Stimme ist klar und ruhig.

Die Merlin-Frau mustert mich von Kopf bis Fuß. Zweifel flackern in ihrem Gesicht auf. Ein Moment verstreicht. Kann sie mein Herz hören? Meine Angst spüren?

Schließlich sagt sie: »Schon gut. Entschuldigung.« Ihre Finger lösen sich von mir, dann sinkt ihre Hand an ihre Seite, und sie wendet sich wieder ihrem Essen zu. Der Geruch ihrer Magie verflüchtigt sich – eine Waffe, die zurück in die Scheide gesteckt wird.

In letzter Sekunde gerettet, stoße ich einen Seufzer aus. Das war knapp.

Ich bin nicht nur auf diesen Mann wütend. Eines Tages hoffe ich, auch den Merlins die Stirn bieten zu können.

Nicht hier, nicht heute. Aber irgendwann, irgendwo.

Als ich diesmal ins Zimmer der Lodge zurückkehre, bin ich wieder Bree, und meine verschwitzten Handflächen haben feuchte Abdrücke auf dem Holzboden hinterlassen.

Einatmen. Ausatmen.

Augen schließen. Wieder öffnen.

Mein Name lautet Leanne. Ich bin fünfzehn. Ich spaziere mit einer Freundin bei Sonnenuntergang an einem Park vorbei. Wir kichern. Albern herum.

In der Dunkelheit, blass und viele Meter entfernt, eine Kreatur. Ein fast durchsichtiger, glühender Hund im Park – und eine Gestalt, die ihn umrundet und mit aus Licht gefertigten Waffen angreift. Die Gestalt bewegt sich schneller, als es einem Menschen möglich sein sollte. Ozon steigt mir in die Nase. Der Geruch von brennendem Honig.

Ich erstarre. Hole lautlos Atem. Werde zu Stein, genau, wie meine Mutter es mich gelehrt hat.

Meine Freundin bleibt ebenfalls stehen und lacht, ein verwirrter Ausdruck in ihren braunen Augen. »Leanne, was …«

Ich höre ihre Worte kaum. Stattdessen lausche ich dem Mantra, das mir meine Mutter eingebläut hat. Ihre Stimme ist ein leises, wütendes Flüstern an meinem Ohr: »Die Merline dürfen dich nicht finden. Wenn du einen siehst, lauf weg. Hast du mich verstanden? Lauf weg!«

Ich schlüpfe aus meinen Schuhen, ziehe mir die Socken aus. So bin ich leiser. Dann murmle ich meiner Freundin eine Ausrede zu. Und renne weg.

Ich werde hin und her geschleudert, krümme mich zwischen Raum und Zeit.

Selah. Mary. Regina. Corinne. Emmeline. Jessie. Leanne. Ich erhasche sogar einen Blick auf meine Mutter Faye.

Acht Visionen. Acht Erinnerungen, die nicht meine eigenen sind. Acht Körper, in die ich schlüpfe. Acht Leben, in die ich hineingezogen werde, obwohl ich sie nie gelebt habe. Und in allen laufe ich weg.

Jede Nachkommin von Vera ist in den vergangenen zweihundert Jahren vor dem Orden weggelaufen. Jede Mutter hat diese Warnung an die nächste Generation weitergegeben. Und hier bin ich nun, in seinem Stammsitz.

Irgendwann gleite ich an einen schattenhaften Ort ohne Wände. Vor mir zwei nackte braune Füße, umhüllt von Flammen.

»Tochter von Töchtern.«

Ich rapple mich hoch, um Vera zu sehen. Sie wirkt wie immer: eine Frau in einer leeren dunklen Welt. Blut und Flammen wirbeln um ihre tiefbraunen Arme, ihre Haare stehen in alle Richtungen ab, als reichten sie bis ins Universum.

»Wo …?«

»Dies ist das Zwischenreich, die Ebene zwischen Leben und Tod.«

Die Ebene zwischen … Ich blicke mich in der Dunkelheit um und spüre sowohl ein Warten als auch dessen Vollendung. Wie Rauch, der sich im nächsten Moment in Materie verwandelt oder auflöst. Ein Geräusch, das gleichzeitig gehört wird und verstummt. Diese Dimension hier ist ein Beinahe- und ein Bereits-Ort.

»Du … Du hast mich schon einmal hierhergebracht«, keuche ich. »Als ich das Schwert herausgezogen habe.«

Sie nickt.

Ich spreche durch Tränen, und die Erinnerungen schmerzen in meiner Brust. »All diese Leben … all das Weglaufen …«

»Du musstest es mit eigenen Augen sehen, weil du verstehen musst, wer du bist.«

»Wer ich bin …?«

»Du bist unsere Pfeilspitze.« Ihre Stimme wird mit jedem Wort lauter. »Die Speerspitze. Der Bug unseres Schiffs. Die Flamme unserer schwelenden Glut. Du bist die lebendige Verkörperung unseres Widerstands. Die Offenbarung nach Jahrhunderten des Versteckens. Die aus Schmerz geschmiedete Klinge. Die zur Waffe gewordene Wunde.«

»Ich weiß …«, sage ich. »Ich weiß …«

»Nein. Tust du nicht.«

Die Flammen auf Veras Haut glühen heller. »Von der ersten Tochter zur letzten ist unser Feuer angeschwollen. Jedes Leben glüht heißer als das vorhergehende. Du verkörperst meine Blutlinie in ihrer reinsten und mächtigsten Form. Mit allem, was durch dich hindurchfließt, besitzt du die Macht, das zu beschützen, was das Böse zerstören will. Du kannst dich dem entgegenstellen, was bekämpft werden muss.«

Ihre Worte finden ihren Weg direkt in meine Brust, versengen mich von allen Seiten.

»Wir sind aus vielen Gründen weggelaufen. Wir sind weggelaufen, um uns zu schützen. Wir sind weggelaufen, um nicht zu sterben, damit unsere Töchter überleben konnten.« Vera tritt vor, und ihre Stimme ist wie träge, schwere Lava auf meiner Haut. »Doch ein Ziel, ein Traum beherrscht alles andere. Weißt du, was es ist, Bree?«

Keuchend schüttle ich den Kopf. »Nein.«

Die Flammen auf ihrer Haut züngeln immer höher, und ihre Haare breiten sich immer weiter aus, nach oben und zur Seite, sodass ich nicht mehr sehe, wo sie enden. Ich blinzle noch einmal … und bin wieder ein zitternder, schweißgebadeter Teenager auf dem Fußboden eines historisch bedeutenden Stammsitzes. Hastig sauge ich Luft in meine brennenden Lungenflügel. Die Tränen, die ich vergieße, sind meine und auch wieder nicht.

So, wie Veras Stimme vorhin einem vulkanischen Fluss glich, ist sie jetzt kühl und obsidianschwarz. Rasiermesserscharf.

»Wir sind weggelaufen … damit dir dieses Schicksal erspart bleibt.«

TEIL EINS STÄRKE

Ich zögere.

Mein Verstand sagt mir, dass alles in Ordnung ist. Es hat schließlich schon ein halbes Dutzend Mal geklappt, kein Problem. Schutzzauber sind magische Barrieren, aber diejenigen vor meinem Schlafzimmerfenster wurden gesprochen, um Eindringlinge fernzuhalten, nicht um Bewohner einzusperren.

Dennoch … erscheint es mir wie eine kluge Idee, den lautlosen, schimmernden Vorhang aus Licht, der die Lodge umgibt, auszutesten, bevor ich mich mit meinem ganzen Körper hindurchwage. Nur für alle Fälle.

Ich bewege meine erhobene Hand in Richtung des geöffneten Fensters, bis sie auf Äther trifft. Bei der Berührung lodert die silberblaue Magieflamme auf, wehrt mich aber nicht ab. Stattdessen kräuselt sie sich in trägen Wellen um meine Fingerknöchel und mein Handgelenk. Sie kitzelt und ist warm, aber harmlos. Meine Fingerspitzen gleiten durch die schillernde Schicht, bis sie auf der anderen Seite auf kühle Nachtluft treffen. Als ich die Hand zurückziehe, beruhigt sich die Magie wieder.

Ausgezeichnet.

Der Wind frischt auf und bläst mir einen Schwall würzige Gerüche ins Gesicht: Stechend scharfer Zimt. Warmer Whiskey. Rauch von herabgebrannten Scheiten.

Normalerweise erneuert Sel seine Schutzzauber am frühen Abend, bevor die Shadowborn-Aktivitäten zunehmen, und so ist seine unverkennbare Äthersignatur immer noch frisch. Er kann Schutzwälle nur um bestimmte unbewegliche Orte legen. Gebäude, ein kreisrundes Stück Land, ein Zimmer. Ich wurde – gegen meinen Willen – genau aus dem Grund in die Lodge gebracht, weil sie eine Festung aus Schutzzaubern ist. Sie umhüllen jeden einzelnen Ziegel und Stein und sind stärker als die früheren, sodass niemand das Haus ohne die Hilfe eines Legendborns oder Merlins betreten kann.

Ich bin erst seit einem Monat Artus’ erweckte Erbin und erahne bereits teilweise, wie Nick sich sein ganzes Leben lang gefühlt haben mag. Unterdrückt. Gefangen. Mächtig und gleichzeitig vollkommen ohnmächtig. Ruhelos.

»Puh!« Ein weiterer Windstoß trifft auf meine empfindliche Nase. Ich zucke zusammen und drehe mich um. Blicke zum Wecker am Nachttisch. Halb elf.

Gleich ist es so weit.

Seufzend falle ich aufs Bett zurück. Sel und die Legendborn haben wahrscheinlich gerade den ersten Kontrollpunkt ihrer Patrouille erreicht, das kleine Wäldchen am südlichen Ende des Campus. Egal, wie sehr ich versuche, mich zu beruhigen, mein gesamter Körper ist gespannt wie eine Sprungfeder. Selbst meine Kiefer sind fest zusammengepresst. Ich warte.

Eine Brise weht durch das geöffnete Fenster, und die Kälte des frühen Herbstes streicht über meine Wangen. Eine Warnung, dass der Winter mit schnellen Schritten naht und uns die Zeit davonläuft.

Ich sollte nicht hier sein.

Dieser Satz geht mir jeden Tag in Endlosschleife durch den Kopf. Egal, wo ich bin oder was ich tue, von irgendwo aus den Untiefen meiner Seele brodeln diese Worte nach oben, fließen meine Kehle empor und wirbeln in meinem Kopf herum.

Ich sollte nicht in dieser Englisch-Vorlesung sitzen. Ich sollte kein Vier-Gänge-Menü im Speisesaal der Lodge essen. Ich sollte nicht in einem weichen Bett schlafen, sicher hinter den wehrhaften Mauern der Lodge.

Gewiss ahnen meine Freunde längst, wie es mir geht. Wie könnte es anders sein? Greer sitzt in dieser Vorlesung neben mir, weshalb sier sieht, wie ich nervös mit den Knien wippe. Wahrscheinlich weiß sier, dass ich jeden Moment von meinem Platz aufspringen könnte. Beim Vier-Gänge-Menü weicht mir Pete nicht von der Seite, während ich auf meinem Teller herumstochere und dabei das Essen vergesse. Wenn die Legendborn um zwei von ihrer nächtlichen Patrouille zurückkehren, bin ich stets wach und erwarte sie an der Haustür.

Die Legendborn verharren in Warteposition. Ich verharre in Warteposition. Und das schon seit den Ereignissen in der Ogof y ddraig, der Höhle des Drachen. Seit ich – wir – Mord und Verrat erlebt haben und sich uns bittere Wahrheiten offenbart haben.

Seit Nick mir im Schlaf entrissen wurde, verschleppt von Isaac Sorenson, dem mächtigen Königsmagier, der durch Eid an Nicks Vater gebunden ist. Seitdem fehlt jede Spur von den dreien.

Unterdessen liegt Verzweiflung wie ein Stück Kohle in meinem Magen – und allein der Gedanke an Nicks Entführung facht sie zu einer schmerzhaften Flamme an, hell und vertraut.

Vor einem Monat, tief unter dem Campus der University of North Carolina (UNC), wurde die Seele von König Artus Pendragon zum Leben erweckt – in mir, seinem wahren Erben. Sein Erwachen gilt als Zeichen, dass Camlann, der uralte Krieg zwischen den Legendborn und den Shadowborn, erneut ausgebrochen ist. Und gleich am nächsten Tag haben die Regenten, die gegenwärtigen Anführer des Ordens der Tafelrunde, uns befohlen … einfach nichts zu unternehmen. Wir sollen den Unterricht besuchen, Klausuren schreiben, sogar auf Partys gehen, wenn man uns einlädt. Wir können es uns nicht leisten, Aufmerksamkeit auf die Bruderschaft – oder mich – zu ziehen, während der Geheimdienst der Regenten Informationen über unsere Feinde und Nicks Entführung durch einen namhaften, treu ergebenen Diener sammelt. Bis auf Weiteres wurde den Legendborn aufgetragen, abzuwarten und Däumchen zu drehen.

Für uns bedeutet das Wochen des kollektiven Atemanhaltens, während wir kurz vor einem Krieg stehen. Doch für mich bedeutet es außerdem, allein in meinem Zimmer in der Lodge zu sitzen, während die Legendborn draußen Jagd auf unsere Feinde machen.

Mein Vater kannte den Orden als eine altehrwürdige Studentenverbindung. Er wusste, dass Nick mich eingeladen hatte beizutreten. Aber nachdem mein Dad von meinem überstürzten Umzug in das Wohnheim außerhalb des Campus erfahren hatte, verlangte er eine Erklärung von mir. Es bedurfte des Dekans, meiner besten Freundin Alice und meiner ehemaligen Therapeutin Patricia, um ihn zu überzeugen, dass die Lodge respektabel und sicher ist. Ich konnte ihm nicht die ganze Wahrheit sagen, aber ich habe ihm versichert, dass es keinen sichereren Ort gebe. Und das stimmt auch, es ist nur …

Ich sollte nicht hier sein. Ich will nicht hier sein.

Weshalb ich beschlossen habe, dass ich … nicht hierbleibe.

Zumindest für ein paar Stunden.

Ein weiterer Blick auf die Uhr. Es ist jetzt Viertel vor elf. Das sollte ausreichen.

Während ich auf das Fensterbrett klettere, muss ich leise kichern. Selbst mit Artus’ Stärke hätte ich niemals auch nur in Erwägung gezogen, aus einem Fenster im zweiten Stock zu springen, hätte ich nicht Sel erlebt, der es vom dritten aus konnte – mit mir huckepack.

»Vielen Dank für den Tipp, Königsmagier«, murmle ich und grinse, während ich auf der schmalen hölzernen Fensterbank balanciere.

Der Unterschied zwischen einem Sprung und einem Sturz? Ein entschlossenes, festes Wegstoßen von der Steinmauer der Lodge.

»Eins.« Ich atme tief ein. »Zwei.« Ich beiße die Zähne zusammen. »Drei!« Ich springe.

Bei meiner Landung höre ich die Stimme meiner Trainerin Gillian, die mir rät, den Aufprall bewusst abzufedern, indem ich die Knie leicht anwinkle. Damals, als Gill mich zum ersten Mal trainiert hatte, bevor ich Artus’ übernatürliche Stärke besaß, hätten meine Beine nicht einmal einen Sprung aus ein paar Meter Höhe abfedern können. Ein Sprung wie dieser hätte die gesamte Wucht des Aufpralls direkt durch meine Fußknöchel in meine Knie und Hüfte gejagt.

Jetzt bewirkt Artus’ Stärke, dass ich mir nichts breche, aber meinem Gleichgewicht hilft sie nicht. Ich rapple mich auf, schwanke leicht, schaffe es jedoch, aufrecht stehen zu bleiben. Ein Fortschritt. Ich habe mich erst einen Meter vom Gebäude entfernt, als mich eine Stimme mitten in der Bewegung erstarren lässt.

»Eines Nachts wird er dich erwischen.«

Ich wirble herum und sehe eine Gestalt, die sich aus den Schatten schält. William in einer grünen Denimjacke und blauer Jeans mit einem gequälten Lächeln im Gesicht.

»Und was wird er dann tun?« Ich verschränke die Arme. »Mich wieder anschreien?«

Williams Mund zuckt. »Ja. Und zwar sehr laut.« Er legt den Kopf in den Nacken und späht zu meinem dunklen Fenster hoch. »Kein schlechter Sprung. Oder, besser gesagt, keine schlechte Landung. Du gewöhnst dich langsam an Artus’ Stärke.«

»Ja, nur …« Ich schüttle den Kopf. »Stärke allein reicht nicht aus.«

»Das tut sie nie.« William weiß am besten, was Stärke ist und was nicht. Zwei Stunden am Tag ist er der Stärkste von uns allen. Stärker als ich. Stärker als Sel. Sogar noch stärker als Felicity, die Erbin von Lamorak.

Stille. Ich kaue auf meiner Lippe herum. »Bist du hier, um mich aufzuhalten?« Er könnte es, wenn er wollte. Wahrscheinlich sollte er es tun, aber …

William seufzt und steckt die Hände in die Gesäßtaschen seiner Jeans. »Nein. Du würdest nur weiter versuchen, dich rauszuschleichen. Und dir immer abenteuerlichere Wege dafür ausdenken.«

Als ich William zum ersten Mal traf, war ich von einem Höllenhund verletzt worden. Er heilte mich – ich war dabei kaum bei Bewusstsein –, ohne meinen Namen zu kennen oder danach zu fragen. Und nicht viel später – als er genug wusste, um zu ahnen, dass meine Gründe, mich dem Orden anzuschließen, nicht ganz ehrlicher Natur waren – behandelte er erneut meine Verletzungen. William kennt die Macht von Geheimnissen und verurteilt andere nicht, wenn sie welche bewahren. Im Grunde ein echter Segen. Insbesondere heute.

Anstatt mich zurechtzuweisen, betrachtet er mich mit sanfter Miene und wartet ab, bis ich meine Vergehen von selbst gestehe. Ich seufze. »Wie lange schon?«

»Wie lange ich weiß, dass du dich heimlich rausschleichst?« Mit einem Kopfnicken deutet er auf meinen rechten Arm. »Seit Montagmorgen, als mir beim Frühstück die schlecht verbundene Verbrennung an deinem Handgelenk aufgefallen ist.«

Das war vor vier Tagen. Die Verbrennung ist bereits fast komplett verheilt. Ich verberge den Arm hinter meinem Rücken. »Ich dachte, unter meinem Ärmel konnte es niemand sehen.«

»Das stimmt auch. Niemand außer mir.«

Ich bin dankbar, wie viel William einfach … weiß, ohne etwas zu sagen. Doch ich will nicht mit ihm über die Verbrennungen diskutieren, die ich einfach nicht vermeiden kann.

»Sel wären sie ebenfalls aufgefallen, hätte er dich an dem Tag gesehen.«

»Nun, er hat mich an dem Tag aber nicht gesehen«, murmle ich.

William erwidert nichts.

»Ich dachte, du wärst mit den andern auf Patrouille.« Ich zeige mit dem Finger von mir zu ihm. »Oder ist das deine Schicht als mein Leibwächter?«

»Bree.« William mustert mich eine Weile, lässt die freundliche Ermahnung wie ein sanftes Gewicht auf meine Schultern sinken. »Das kannst du uns wohl schlecht vorwerfen, oder?«

»Nein.« Ich blicke weg und wiederhole die Überlieferung, die mich niemand seit jener Nacht in der Höhle vergessen lässt. »›Wenn ein vollständig Erweckter Artus durch die Hand eines Shadowborn niedergestreckt wird, gehen die Häuser der Legendborn für immer unter.‹ Schon verstanden.«

Es war eigentlich gar nicht mein Plan gewesen, mich unbemerkt aus der Lodge zu stehlen, zumindest nicht anfangs. Doch dann verriet Greer mir vergangene Woche, dass Sel den Erben und Knappen befohlen hat, mich auf dem Campus von einem Gebäude zum nächsten zu eskortieren. Unauffällig, damit ich nicht merke, wie die anderen mich vor potenziellen Angriffen beschützen. Heimlich, damit mich ihre Fürsorge nicht beleidigt.

Ich bin dennoch beleidigt.

Kochende Wut wallt selbst jetzt in mir auf, und ich balle die Fäuste – bis sich meine Nägel in die Haut bohren. Ich fauche leise und öffne die Hände wieder. Artus’ Stärke stört mehr, als dass sie nützt, wenn ich sie nicht einsetzen darf. Seufzend drehe ich mich wieder um und bemerke, dass William meine Hand beäugt. Herrgott, ihm entgeht auchgar nichts!

William hebt eine Augenbraue. »Wenn du es verstehst, warum bist du dann so wütend?«

»Ich sollte mich selbst ganz gut verteidigen können. Und ich sollte genau wie jeder andere in diesem Krieg kämpfen.«

»Das wirst du auch. Nur noch nicht sofort.« Er späht an mir vorbei in Richtung meiner geplanten Route in den Wald. »Willst du zur Arena?«

Es zu leugnen, ist sinnlos. Ich nicke.

Seine Miene wird skeptisch. Sich heimlich aus der Lodge zu schleichen, ist eine Sache, allein zur Arena zu gehen, etwas ganz anderes. »Es ist spät, und die Gedenkfeier ist morgen in aller Frühe …«

»Ich weiß.« Ich kaue auf meiner Lippe. Natürlich habe ich die Gedenkfeier nicht vergessen. Wie könnte ich auch? Die feierliche Zeremonie des Ordens für Russ, Whitty, Fitz und Evan ist das erste Begräbnis, an dem ich seit der Beerdigung meiner Mutter teilnehme. »Ich bleibe nicht lang weg. Versprochen.«

»Bree …«

Ich ziehe die Mundwinkel nach unten. »Bitte.«

Mit einem Seufzen und amüsierten Augenrollen gibt er meinem Flehen nach. »Okay.« Zu meiner großen Überraschung tritt er dann an meine Seite. »Aber ich komme mit.«

Ich blinzle. »Wirklich?«

Er zuckt mit den Schultern. »Nach dir!«

Wir beide kennen den Trampelpfad durch den Wald gut genug, um ihn auch ohne meine Taschenlampe zu gehen. Wäre Sel hier, könnte er uns den Weg mit einer Handfläche voll Äther leuchten.

Aber wenn Sel hier wäre, würde er mich zurück ins Haus schleifen, obwohl seine Schutzzauber jetzt einen dreifachen Ring um die Lodge bilden. Der am Fenster war nur der erste.

Als wir den zweiten Schutzschild passieren, bemerkt William meine Reaktion. Meine gerümpfte Nase und die tränenden Augen. »Deine Blutmagie ist faszinierend.«

»Du meinst, dass ich Äther riechen kann?« Die einzige Form von Blutmagie, die mir jederzeit zur Verfügung steht, ist mein passives Talent, Magie zu erspüren: das zweite Gesicht, das mir erlaubt, Äther zu sehen und ihn bei Berührung zu ertasten. Eine Nase, die mir verrät, ob jemand ihn bei einem Zauber benutzt.

»Nicht nur das Riechen von Äther. Die Legendborn spüren ebenfalls, wenn Äther in der Luft liegt und als Waffe eingesetzt wird, aber du kannst erkennen, wer ihn benutzt und in welcher Stimmung …« Staunend schüttelt er den Kopf.

Veras Blutmagie sollte in erster Linie ihren Nachfahrinnen helfen, Äthernutzer in der Nähe zu erspüren, die womöglich Jagd auf sie machen – insbesondere Merlins.

»Ich bin neugierig.« Er zeigt in Richtung des Schutzzaubers, den wir gerade hinter uns gelassen haben. »Was hast du über diesen Zauber gerade erfahren?«

Ich hole Atem. »Er brennt leicht, also war Sel wütend.«

William kichert. Zögert. Lässt sich meine Antwort in der analytischen Art eines Mediziners durch den Kopf gehen. »Du klingst leicht verschnupft. Bist du allergisch auf ihn?«

Ich denke einen Moment über seine Worte nach. »Nein. Es ist mehr … als würde jemand mit einem sehr intensiven Eau de Cologne an mir vorbeigehen.«

William duckt sich unter einem Ast hindurch. »Sel hinterlässt einfach einen bleibenden Eindruck.«

»Selbst wenn er nicht in der Nähe ist! Die Schutzzauber, die Legendborn-Bodyguards, all die Vorschriften. Es raubt mir die Luft zum Atmen!«, schnaube ich.

Da lacht William, und seine grauen Augen funkeln.

»Was?«, frage ich.

Er lächelt sanft. »Du klingst genau wie Nicholas.«

Zum zweiten Mal an diesem Abend trifft mich von innen heraus ein bohrender Schmerz. Da ich ihn vorhin mit aller Macht weggeschoben hatte, kommt er nun umso stärker zurück. Der tiefe Kummer, Nick verloren zu haben, ist nicht die vernichtende Woge an Trauer, die mich immer noch trifft, sobald ich an meine Mutter denke, sondern etwas Schärferes. Der Schmerz gleitet wie ein Skalpell durch meine Rippen, ohne dass ich mich dagegen wehren kann. Die Bäume verschwimmen. Meine Augen brennen. Ich bleibe stehen.

Nick war direkt an meiner Seite, als er entführt wurde. Er hatte gerade seinen Titel verloren und war von seinem Vater verraten worden, und dennoch war er bei mir, während ich mich in seinem Bett ausruhte. Manchmal glaube ich, mich an die Hitze seines Atems an meinem Schlüsselbein zu erinnern, das beruhigende Gewicht seines Arms um meine Mitte. Worte, an meiner Schulter geflüstert: »Du und ich, B.«

»Bree.« William stellt sich genau in mein Blickfeld. Seine Stimme ist leise, ein beruhigendes Flüstern. »Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass sein Vater ihm Böses will.«

Ich blinzle die Tränen fort, die mir unwillkürlich in die Augen steigen. »Das Böse wird ihn finden. Und zwar früher, als wir es tun, wenn wir weiter so lahm sind.«

William wählt seine Worte mit Bedacht. »Es ist zweihundertfünfundvierzig Jahre her, seit das letzte Mal ein Erbe von Artus gerufen wurde. Keiner von uns hat je erlebt, was wir gerade erleben. Alles, was ich über den Hohen Rat der Regenten weiß, spricht dafür, anzunehmen, dass sie … besonnen handeln. Vorsicht walten lassen, wenn ein Krieg sich am Horizont abzeichnet und die Leben von Onceborn in Gefahr sind.«

»Onceborn-Leben sind nicht die einzigen, die in Gefahr sind«, beharre ich. »Nick wurde von einem kaltblütigen Mörder entführt. Sein Leben schwebt ebenfalls in Gefahr.«

William presst die Lippen zu einer geduldigen Linie zusammen. »Genau wie deins.«

Normalerweise streite ich mich nicht mit William, nicht wirklich. Doch bei diesem Thema liefern wir uns regelmäßig einen bissigen Schlagabtausch.

»Allerdings glaubt jeder, der von der Existenz des Ordens weiß, immer noch, dass Nick Artus’ Erbe ist.« Ich hole tief Luft. »Und sein Vater und Isaac sind mit ihm irgendwo dort draußen auf der Flucht, während unzählige Shadowborn ihn weiterhin um jeden Preis töten wollen. Was bedeutet, dass sein Leben im Moment in viel größerer Gefahr ist als meins.«

Das ist ein Totschlagargument, und William versucht nicht einmal, es zu widerlegen. Meine Identität zu meiner eigenen Sicherheit geheim zu halten, war der erste Erlass, den die Regenten beschlossen hatten. Bis zu dem Zeitpunkt, als Artus mich in der Ogof y ddraig gerufen hatte, war Nicholas Davis in aller Augen der Erbe von Artus gewesen. Für die Legendborn-Welt ist Nicholas Davis immer noch Artus’ Erbe. Doch das stimmt nicht. Ich bin es. Nick ist nicht von der Uni beurlaubt worden, um sich auf die Thronbesteigung vorzubereiten, sondern wurde entführt, und ich bin diejenige, die auf dem Thron sitzen wird. Im Moment gibt es keine zwanzig Menschen auf der Welt, die das wissen – und mein Leben hängt davon ab, dass dieser Kreis von Vertrauenspersonen so klein wie möglich bleibt.

Als erweckte Erbin von Artus, die den Immerwährenden Zauber in sich trägt, bin ich die lebende, atmende Verkörperung der Legendborn-Macht. Wie ein Motor speisen mein Blut und mein Leben die Magie, mit der die Seelen und übermenschlichen Fähigkeiten der ursprünglichen dreizehn Ritter mit ihren Nachkommen verbunden sind. Wenn ich durch die Hand eines Shadowborn-Dämons sterbe, wird der Zauber gebrochen, und fünfzehn Jahrhunderte Legendborn-Macht erlöschen. Kein Erbe wird jemals wieder gerufen werden, und die Menschheit fällt unter die Herrschaft der Shadowborn. Dämonen werden sich ungestört an menschlichen Emotionen laben, Chaos und Konflikte schüren und willkürlich und erbarmungslos zuschlagen. Alles klar, also nur kein Stress!

William seufzt. »Du wirst … nach dem Ritual bei allem mehr Mitsprache haben.«

Ich verdrehe die Augen. »Dem Ritual, bei dem ich das Schwert erneut aus dem Stein ziehe. Dieses Mal vor Publikum?«

William runzelt die Stirn. »Das Schwert spontan im Kampf zu ziehen, war notwendig …«

Und das war nicht nur ich allein, denke ich. Es waren Vera, Artus und ich. Alle zusammen. Nicht eine Hand, sondern drei.

»Du musst in aller Form und willentlich deinen Titel für dich beanspruchen, um die offizielle Übergabe der Macht einzuleiten. Insbesondere in Kriegszeiten ist das notwendig.«

Ich schnaube verächtlich. »Artus ruft seinen Erben nur in Kriegszeiten, William.«

»Im Krieg gegen altbekannte Feinde, vielleicht. Wenn diese Mimikry-Goruchel, dieser Rha…« William verstummt und atmet scharf ein, bevor er es erneut versucht. Als müsste er seinen Mund zwingen, den Namen des Dämons auszusprechen, der Evan Cooper umgebracht und so gut imitiert hat, dass er den gesamten Orden an der Nase herumführen konnte. »Sollte Rhaz die Wahrheit gesagt haben, könnten weitere Feinde hier auf dem Campus herumlaufen. Und selbst wenn er lügt, können wir dennoch nicht riskieren, die Aufmerksamkeit auf dich oder Nicks Abwesenheit zu lenken. Nicht, solange die Tore sich jede Nacht öffnen und Camlann naht. Unsere Streitkräfte sind nicht vollständig.«

Es stimmt. Eine vollzählige Tafelrunde besteht aus sechsundzwanzig Legendborn: dreizehn Erben mit ihren mit ihnen verbundenen Knappen, die an ihrer Seite kämpfen. Die Tafelrunde hat mich hinzugewonnen, als Artus mich gerufen hat, aber Rhaz hat vier von uns ermordet: Fitz. Evan. Russ. Whitty. Ihre Namen stehen in Williams Augen geschrieben. Tote Ritter der Tafelrunde, tote Krieger, tote Freunde.

Als Fitz starb, wurde sein jüngerer Bruder von Sir Bors gerufen, um ihn unverzüglich zu ersetzen. Aber Evan, Russ und Whitty waren Knappen, und ihre Erben haben noch keinen Ersatz für sie gesucht. Nicht dass sie viele Optionen hätten. Nachdem sich die Kunde wie ein Lauffeuer verbreitet hatte, dass Whitty nur wenige Stunden nach seiner Berufung als Williams Knappe von einem Dämon getötet worden war, hatten die meisten Pagen, die sich im diesjährigen Turnier im Wettstreit um einen Platz als Knappe miteinander gemessen hatten, ihre Bewerbung zurückgezogen.

Und dann waren da Nick und ich. Nick mag seine Position als Artus’ Erbe verloren haben, aber er ist dafür der Erbe von Lancelot. Die Ordensregeln schreiben zwingend vor, dass wir uns nun jeder für sich einen Knappen erwählen müssen.

Merlin hatte für die ursprüngliche Tafelrunde sechsundzwanzig Mitglieder festgelegt. Sechsundzwanzig brauchen wir, um unsere volle Macht zu erlangen – und im Moment fehlen uns fünf.

Der Krieg ist da, und wir sind nicht bereit.

»Die Regenten werden dir ein Königreich in Gefahr übergeben, Bree. Doch sie werden auch dafür sorgen, dass du dabei von einem Kreis von Beratern umgeben bist, denen du vertrauen kannst. Ich für meinen Teil bin froh darüber.« Williams Stirn legt sich in einem seltenen Anflug von Schmerz in Falten. »Wir haben viel zu viele Verluste erlitten, um nicht auf der Hut zu sein. Wir werden nur eidgebundenen Verbündeten an unserer Seite vertrauen.«

In der Dunkelheit drücke ich sanft seinen Unterarm, bevor wir weitergehen.

Ich kaue auf meiner Lippe. »Apropos Eide … Sel …?«

»Sel würde uns Bescheid gegeben, wenn er durch seinen Eid spürt, dass Nick in Gefahr schwebt«, sagt William gelassen. »Nick ist ein wertvolles Pfand. Lord Davis wird den richtigen Schachzug damit machen wollen.«

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass Merlin diesen Eid nicht wenigstens mit irgendeiner Art Peilsender oder so ausgestattet hat. Was nützt ein Bodyguard, der spürt, wenn sein Schützling in Gefahr schwebt, wenn er nicht weiß, wo er sich aufhält?«

»Früher sind Königsmagier ihrem Mündel nicht von der Seite gewichen.« William hebt eine Augenbraue. »Heutzutage gestaltet sich das etwas schwieriger.«

Als wir die leere Arena erreichen, ist dort fast kein Laut zu hören, die kalte Nachtluft hat wohl die Tiere und Insekten vertrieben. Unsere Schritte hallen laut, während wir die in den Berghang geschlagene Steintreppe hinabsteigen. Der widerliche süßsaure Geruch von abgestorbenen Blättern und feuchtem Holz strömt uns von unten entgegen.

Am Abend der ersten Prüfung hatte mich Nick genau diese Stufen hinabgeführt – meine Augen waren damals durch Sels Zauber blind gewesen. Während ich jetzt nach unten gehe, kann ich seine großen, warmen Hände fast an der Schulter spüren. Kann ich fast seine Stimme hören – ein amüsiertes leises Lachen aus einer vergessenen Erinnerung.

»Ganz ruhig, B., ganz ruhig. Das Problem ist: Solltest du fallen, verlangt der Kodex der Ritterlichkeit, dass ich hinterherspringe.«

»Trägst du immer noch seine Halskette?« Williams Stimme reißt mich aus meinem Tagtraum.

Wir haben den Fuß der Treppe erreicht. William ist genau hinter mir und betrachtet verstohlen meinen Daumen, der über die Pendragon-Münze an der Kette auf meiner Brust streicht.

Meine Ohren werden heiß. »Ja.«

Die Münze war ein Geschenk von Nick, und nun verbindet sie uns beide miteinander. Das Wappen des Hauses von Artus und Zeichen des Königs, der wilde Drache, auf der einen Seite, und das Legendborn-Symbol – ein Diamant mit vier Spitzen über einem Kreis – auf der anderen. Ich erinnere mich, wie entrüstet ich gewesen war, als Nick sie mir damals geschenkt hatte und ich damit dann angeblich auf eine Art zu ihm »gehörte«, die sich nicht richtig angefühlt hatte. Später habe ich mir eingeredet, ich könnte auf eine Art zu ihm gehören, die sich tatsächlich richtig anfühlt. Und dann ist genau das passiert.

Ich schüttle den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben, und betrete die grasbewachsene Arena. Als wir die Mitte erreichen, bleibt William unvermittelt stehen. »Sels letzter Schutzzauber …«

»Folgt der Waldgrenze. Ich habe es überprüft.« Mit dem Kinn deute ich auf die andere Seite des offenen Felds. Sels dritter und äußerster Wall setzt ein paar Meter hinter jenem Graben ein, in dem ich mich damals mit dem Pagen Sydney während des Turniers versteckt hatte. Dort formt der Schutzzauber einen riesigen Kreis um den Battle Park mit der Lodge im Zentrum.

William nickt zufrieden. »Na schön. Zeig mir, was du draufhast, kleiner Page!«

Ich weiß, was er da tut. Scherzhaft ruft er mir ins Gedächtnis, dass, obwohl ich – nicht Artus – die Kampfprüfung erfolgreich gemeistert habe, indem ich meine mühsam erarbeiteten Fähigkeiten eingesetzt habe, die anderen Erben mir im Ätherkampf aber immer noch um Jahre voraus sind. Seit sie sechs Jahre alt sind, bereiten sie sich darauf vor, die Ätherfähigkeiten ihrer Ritter zu übernehmen. Das Training mit Gummi- und Holzversionen der Lieblingswaffen ihrer Ritter haben sie mit sieben begonnen. Ich bin sechzehn und stehe gerade erst am Anfang – ich komme also zehn Jahre zu spät.

William will mir wohl ins Gedächtnis rufen, dass ich nicht zu hart mit mir ins Gericht gehen soll. Mich daran erinnern, dass er, egal, wie geschickt er ist, ein Mensch ist, genau wie ich. Und Menschen müssen Schritt für Schritt lernen, mit Äther umzugehen.

Ein Medium kann die Toten nicht kontrollieren. Selbst wenn es mir möglich wäre, nach Belieben mit Artus in Kontakt zu treten, kann – und werde – ich mich nicht darauf verlassen, dass er Besitz von mir ergreift, damit ich seine Macht ausüben kann. Ich muss in der Lage sein, Äther selbstständig zu nutzen und zu beherrschen, genau wie die anderen, wenn ich ihre Anführerin sein will.

Ich atme laut und abgehackt. Mein Herz hämmert gegen meine Rippen. Ich schließe die Augen. Versuche, meinen Puls zu beruhigen. Hole erneut Atem. Öffne meine Handflächen gen Himmel.

»Überall um dich herum ist Äther.« Williams Stimme klingt sanft in meinen Ohren. »Sogar an deinen Fingerspitzen.«

Überall um dich herum ist Äther. Er ist immer da.

»Ein Flüstern. Mehr braucht es nicht.«

Ich grinse. »Sel bittet nicht flüsternd um die Macht, er reißt sie an sich.«

William schnaubt. »Ein Vorbild, dem du nicht unbedingt folgen musst.«

Ich atme tief ein und greife in die warme Luft, bis Äther über meine Haut tänzelt. Dann öffne ich die Augen – und rufe den Äther. Lade ihn ein, sich von seinem unsichtbaren, gasförmigen Zustand in jene Energie zu verwandeln, die ich sehen und bearbeiten kann – und blaues Feuer entzündet sich um meine Hände und Arme.

»Gut«, murmelt William, »Äther in Magieflammen umzuwandeln, ist die erste Hürde. Jetzt musst du ihn formen …«

Die Magieflamme wird heißer. Ich keuche laut auf, gebe jedoch nicht nach und stelle mir vor, wie die wirbelnden Feuerfäden die feste Form von Excalibur bilden. Vor meinem geistigen Auge modelliere ich Artus’ Schwert und dränge die Flammen in dieses Bild. Ich stelle mir einen peitschenden Äthersturm vor, der sich Schicht für Schicht zu Artus’ Klinge aufbaut, bis dünne Lagen von Magie zu einer scharfkantigen Waffe werden.

Doch mein Wille ist nicht stark genug, um die Magieflamme zu einem Festkörper abzukühlen. Meine Bilder funktionieren nicht.

Da sind nur Flammen.

Anstatt sich zu einer stofflichen Masse zu verfestigen, schlagen meine Flammen höher. Die dünnen Härchen an meinen Unterarmen versengen, ein verbrannter Geruch steigt mir in die Nase. »Komm schon …«, murmle ich.

William tritt einen Schritt vor. »Bree, hör auf. Wir versuchen es ein andermal.«

»Nein.« Ich muss es jetzt versuchen. Solange die Flammen hier sind. Die Klinge ist ein … ein Langschwert. Breit und silbern mit einer Blutrinne in der Mitte …

»Bree …«

»Ich kann das!« Ich beiße die Zähne fest zusammen. Der Knauf ist kreisförmig. Mit einem roten Diamanten in der Mitte …

Mein Keuchen wird lauter, bis es in einen leisen Schrei übergeht. Obwohl der Äther mich verbrüht, weigere ich mich, ihn freizugeben.

»Bree, hör auf …«

»Nein! Ich muss nur noch …«

»Hör auf!«

Die Magie frisst sich in meine Haut, verbrennt sie immer stärker. Ich kreische – und lasse den Äther endlich los.

Die Wucht der Explosion fährt in den Boden und peitscht mir Erde und abgestorbene Blätter ins Gesicht, bevor der noch schimmernde Äther endlich verblasst.

»Verdammt!« Ich ramme mit der geballten Faust ein Loch in den Boden.

Hustend wedelt William sich den Staub aus dem Gesicht. »Jetzt hast du Schmutz in deinen Wunden.«

Ich stöhne auf. Er hat recht. Und die Erde ist auch in meinen Haaren. Ich werde sie noch einmal waschen müssen, wenn ich morgen ordentlich aussehen will. »Verdammt!«, wiederhole ich.

William kniet sich an meine Seite und legt eine silberüberzogene Hand auf meinem Unterarm. Er hat den heilenden Äther so rasch herbeigerufen, dass ich es nicht einmal bemerkt habe. Der frische Zitrusduft seiner unverkennbaren Äthersignatur flutet meine Nase. »Alles okay.«

»Nein, ist es nicht! Diesmal habe ich versucht, Artus’ Schwert zu formen. Davor war es sein Schild. Herrgott, nicht mal einen schlichten Stulpenhandschuh kriege ich hin. Ich kann nichts von Artus’ Rüstung formen, ganz zu schweigen davon, dass der Äther fest genug würde, um wirklich Schaden anzurichten.«

William berührt sanft meinen rechten Arm und schnalzt missbilligend mit der Zunge. Die Verbrennungen tun höllisch weh, jetzt sogar noch mehr, nachdem Erde in die offenen Wunden gekommen ist. »Äther in feste Materie zu verwandeln, war auch für mich überwältigend, selbst nach allem, was ich gelernt hatte …«

»Ich habe keine zehn Jahre Zeit!«, rufe ich.

An Sels Wutanfälle gewöhnt – die weitaus hitziger und lauter als meine sind –, zuckt William nicht einmal oder blickt auch nur auf, sondern fährt ungerührt mit seiner Arbeit fort. »Selbst nach allem, was ich gelernt hatte, hat es langes Üben erfordert, bis ich Gawains Dolch visualisieren und formen konnte. Ich habe mir die Repliken im Waffendepot unzählige Male angesehen, um mir ihr Gewicht einzuprägen, das Gefühl ihres Hefts in meiner Hand. Du musst die Waffe in- und auswendig kennen, um sie herzustellen. Ich schätze, für Excalibur brauchst du noch mehr Zeit. Vergiss nicht, es ist einzigartig. Ein Ätherschwert, das durch jeden einzelnen Erben Artus’, der es benutzt hat, stärker geworden ist und das sich mit jeder Hand, die es hält, verändert.«

Williams Beschwörungsformeln sind buchstäblich heilender Balsam. Beruhigend, tröstlich.

»Dein Zauber brennt überhaupt nicht. Du kühlst den Äther …« – mit der linken Hand zeige ich in die Luft – »… einfach ab.« Ich deute auf mein Handgelenk, das von schimmernder silberblauer Flüssigkeit umwickelt ist.

»Der Äther, den ich herbeirufe, ist nicht so heiß wie deiner. Und ich rufe ihn nicht in solchen Mengen herbei wie du.«

Ich runzle die Stirn. »Was bedeutet das?«

»Es bedeutet, was wir bereits wissen. Dass du ungewöhnlich bist. Du besitzt eine neue Art von Macht – oder, besser gesagt, eine neue Kombination zweier Mächte. Die unsichtbare Energie, die wir Äther nennen, ist ein veränderliches, fließendes Element, das durch unseren Willen bearbeitet wird, doch was wir damit tun können, wird auch davon bestimmt, wer den Äther nutzt. Ich kann Gawains Beschwörungsformeln nutzen und eine Rüstung formen – keine genaue Replik der echten aus dem sechsten Jahrhundert, damals gab es noch keinen Plattenharnisch –, doch es muss eine Variante sein, die zu Gawains Gabe passt. Die einzige Waffe, die wir erschaffen können, ist die unseres Ritters. Merlins dagegen können mit ihrem Dämonenerbe alles herbeizaubern, was sie wollen: einen Stab, einen Hund, einen Schutzwall. Du selbst hast Äther in seinem elementaren Zustand der Magieflamme genutzt, um im Kampf Dämonen zu verbrennen – etwas, das Legendborn nicht können.« Er zögert. »Was ist mit deiner Blutmagie? Kannst du den Äth… die Wurzelkraft aus deinem Innersten hervorholen und sie dann zu einem festen Körper formen?«

Ich schüttle den Kopf. »Blutmagie und Wurzelkraft funktionieren so nicht. Sie sind defensiv, nicht offensiv.«

Was die Legendborn als »Äther« bezeichnen, heißt bei uns »Wurzelkraft«. Anstatt Waffen herzustellen, rufen Wurzelbeschwörerinnen normalerweise ihre Ahnen an, um Zugang zu Wurzeln in der Nähe zu bekommen – und damit eröffnen sich ihnen unzählige Möglichkeiten, sie können heilen oder auf Erinnerungspfaden gehen.

Doch Veras Blutmagie geht noch einen Schritt weiter. In der Höhle hatten sich rote Wurzelflammen tief in mir entzündet, die aus mir hinaus an meinen Armen und Händen hinabflossen. Aus meinem Mund war purpurrotes Feuer geströmt und hatte das Dämonenfleisch der Isel verbrannt – aber erst, nachdem sie mich angegriffen hatten.

William summt gedankenverloren vor sich hin und gleitet mit seinen äthergetränkten Fingern an meinem linken Arm entlang. Das pulsierende Brennen an meiner rechten Hand ist bereits zu einem Jucken verklungen. »Was du in der Ogof getan hast … das war viel mächtiger als alles, was eine Legendborn-Waffe jemals ausrichten könnte. Du hast sie überhaupt nicht gebraucht, du warst die Waffe.«

Williams Worte erinnern mich an Veras. Du verkörperst meine Blutlinie in ihrer reinsten und mächtigsten Form. Die Erinnerung an ihre Stimme raubt mir fast den Atem, jede Silbe schmerzt wie ein Schnitt. »All diese Macht – Artus’ Ätherrüstung, Veras Blutmagie … ich habe darüber keine Kontrolle. Genau wie eben.« Ich drehe mich wieder zu William, meine Stimme ist nun fester. »Aber ich muss lernen, sie zu kontrollieren, bevor die Regenten herausfinden, dass ich es nicht kann.«

»Warum? Du bist Artus’ erweckte Thronerbin. Ob Kontrolle oder nicht, ändert nichts daran. Beim Ritual kannst du den Titel für dich beanspruchen, ohne auch nur einen einzigen Plattenharnisch der Ätherrüstung herbeigezaubert zu haben. Du hast das Schwert aus dem Fels gezogen.« Er grinst mich an. »Du bist seine Erbin, versengte Unterarme hin oder her.«

»Aber wenn ich die Suche nach Nick anführen soll, muss ich mir den Respekt der Regenten und der anderen Erben verdienen. Ich muss so gut sein, wie Nick es wäre.«

»Nun«, sagt William mitfühlend. »Ich denke, es ist nur eine Frage der Zeit, was Artus’ Fähigkeiten betrifft. Und bis dahin weißt du zumindest, wie deine Blutmagie funktioniert.«

Schnaubend stampfe ich mit dem Fuß auf. »Nicht so gut, wie ich es gerne hätte. Hätte ich bloß nicht vor meiner Blutmagie die Augen verschlossen, auch wenn ich damals gar nicht wusste, was das ist. Ich wollte mich einfach nicht mit dem Tod meiner Mutter beschäftigen müssen. Wäre ich die Dinge direkt angegangen, hätte ich schon vor Monaten Zugang zur Wurzelkraft gehabt.«

William mustert mich. »Ist es das, was du jetzt hier tust? Deine Probleme direkt angehen?«

Einen Moment lang denke ich nach, und Veras letzte Worte kommen mir wieder in den Sinn. Heiß und bitter und klar. Wir sind weggelaufen … damit dir dieses Schicksal erspart bleibt. Dann die meiner Mutter, aus einer versteckten Erinnerung, die sie mir hinterlassen hat. Wenn die Zeit kommt, falls sie denn kommen sollte, dann hab keine Angst. Kämpfe. Meine Mutter wusste nicht halb so viel über unsere Blutmagie wie ich und hat sie dennoch für das Richtige eingesetzt. Um Menschen zu retten.

»Ja«, erwidere ich. »Kein Weglaufen mehr.«

»Was zum Teufel tut ihr zwei hier?«

Selwyns Stimme peitscht förmlich durch die Arena – und trifft uns beide. Mit einem leisen Seufzen blicke ich hoch. William seufzt ebenfalls und schüttelt den Kopf.

Sels große dunkle Gestalt steht hoch oben auf dem felsigen Hügel. Viel zu weit weg, um seine Miene auszumachen, aber ich brauche kein zweites Gesicht, um seine Wut zu spüren. Selbst aus dreißig Meter Entfernung versengt sein Blick meine Wange.

Er tritt über den Rand der Schlucht. Sein Mantel bauscht sich hinter ihm in der Luft, als sein Schatten am Stein herabsaust. Kaum gelandet ist seine verschwommene Gestalt im Bruchteil einer Sekunde an meiner Seite.

Der Blick seiner goldenen Augen ist hart. Er scheint gerade von der Jagd zurückgekehrt: gerötete Wangen, vom Wind zerzauste rabenschwarze Haare, Schmutzflecken an seinem dunklen Mantel, sein unverkennbarer Äthergeruch wabert in einer Wolke um ihn, frisch und beißend, wie ins Feuer gegossener Whiskey.

»Raus mit der Sprache!«, faucht Sel und starrt William an.

William stößt ein weiteres, noch tieferes Seufzen aus und fährt mit seiner Arbeit fort. »Hallo, Selwyn. Schon von der Jagd zurück?«

»Der Campus ist sauber«, zischt Sel. »Gewiss kannst du meine Sorge nachvollziehen, als ich nach Hause kam und von euch beiden jede Spur fehlte. Du hast zwei Minuten – nein, eine, um mir eine Erklärung zu liefern, bevor ich Br…« Sels funkelnder Blick entdeckt meinen Arm in Williams Händen.

Er muss stinkwütend sein, wenn er so lange braucht, um den heilenden Äther, der meinen Arm vom Ellbogen bis zum Handgelenk umschließt, zu registrieren. »Du hast dich verbrannt.« Er sieht mich mit kalter Wut an. »Schon wieder.«

Es ist das erste Mal, dass er mir seit seiner Ankunft in die Augen schaut. Das erste Mal, dass wir uns seit einer Woche wiedersehen. Die ersten Worte, die er nach diesem langen Schweigen an mich richtet.

Und nun geht derselbe Streit weiter, der uns auseinandergetrieben hat.

Ich beiße mir auf die Lippe, um ihn nicht anzuschreien. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht Däumchen drehend in meinem Zimmer sitzen kann, während ihr alle auf die Jagd geht und kämpft. Ich sollte …«

»Du solltest in der Lodge sein!«, schnauzt er mich an. »Hinter drei Schichten Schutzzauber, Briana!« Er zeigt auf meine Wunden. »Ist das nicht Beweis genug?«

Scham und Verlegenheit färben meine Wangen rot. Dazu kommt die Kränkung, dass Selwyn mich mit meinem vollen Namen anspricht, um mich auszuschimpfen. »Sobald ich Artus’ Äther kontrollieren kann, brauche ich keine Schutzzauber mehr. Und du wirst mir nicht bis in alle Ewigkeit Befehle erteilen, Königsmagier!«

Er wirft mir einen eiskalten Blick zu. »Ich werde dir genau bis zu dem Moment Befehle erteilen, an dem du das Königsritual vollendet hast, und keine Sekunde früher damit aufhören!«

Ich gebe ein wortloses, frustriertes Jaulen hinter zusammengebissenen Zähnen von mir. »Und was ist mit allen anderen?«

Sel hebt eine dunkle Augenbraue. »Könntest du die Frage konkretisieren?«

»Du …« Ich will aufstehen, doch William hält mich zurück. Es ist noch nicht Mitternacht. Mit Artus’ Stärke könnte ich mich aus seinem Griff befreien, doch das würde ich William nie antun. Er mischt sich in unseren Streit nicht ein, aber er ist mit jeder Faser seines Körpers Heiler – und würde mich auf gar keinen Fall mit einer frischen Wunde davonspazieren lassen. »Du hast den anderen befohlen, mich auf dem Campus zu beschatten!«

Sels Mund wird zu einer dünnen Linie. »Jawohl.«

»Ich brauche keine Bodyguards …«

»Offensichtlich schon.« Er schüttelt den Kopf. »Hast du auch nur den blassesten Schimmer …«

Ein kurzes, kreischendes Heulen von der anderen Seite der Arena lässt ihn verstummen. Mein Herz hämmert so schnell gegen meine Rippen, dass es wehtut. Ich kenne diesen Schrei …

»Sel …«

Augenblicklich verwandelt sich sein Gesichtsausdruck von überrascht in konzentriert. »Wir nehmen sie in die Mitte!«, befiehlt er William und hastet an meine rechte Seite, während Äther in seine beiden Handflächen strömt.

William ist bereits aufgesprungen und baut sich hastig links von mir auf. Seine Ätherrüstung setzt sich in einer blitzschnellen Woge aus klirrenden Metallplatten und Ringen zusammen. Ich verbeiße mir ein neidvolles Seufzen.

Das schrille Kreischen gellt erneut durch die Arena, hallt von der Felswand zurück zu den Bäumen, spielt unseren Ohren Streiche. »Wie viele?«, frage ich.

»Zu viele. Könnte ein Rudel sein.« Sel blickt hinter uns zur Anhöhe, wo der Wald sich in der pechschwarzen Nacht bis zur Lodge erstreckt. Ich errate seine Gedanken: Er will, dass ich den Weg zurücklaufe, zurück in die Sicherheit hinter dem Schutzzauber. »Verschwinde!«

»Nein.« Ich recke das Kinn hoch. »Ich besitze Artus’ Kraft!«

Seine Augen blitzen zornig. »Aber nicht seine Weisheit.« Egal, welcher Plan gerade in seinem Kopf entsteht, meine Fähigkeiten spielen darin keine Rolle. »William, wir brauchen Gawains Stärke. Wie lang noch?«

William wirft einen raschen prüfenden Blick zum Mond über uns, um abzuschätzen, wann die Macht in seinem Blut zu wirken beginnt. »Nur noch ein paar Minuten …«

Sel flucht leise. »Das dauert viel zu lang.«

»Bring Bree zurück zur Lodge«, erklärt William. »Ich schaffe das allein.«

Sels Augen verengen sich in der Dunkelheit, sehen mehr als unsere – und sein Gesicht wird aschfahl. »Nein, William, das schaffst du nicht.«

»Selwyn!« Gekränkt legt sich Williams Stirn in Falten. »Ich habe gesagt, ich schaffe das! Hör auf …«

»O nein …« Schließlich sehe ich, was dort im Wald auf uns zukommt.

Williams Blick folgt meinem ausgestreckten Finger, und er erbleicht ebenfalls. »Gütiger Himmel!«

Zwölf riesige, gepanzerte und vollständig materialisierte Höllenfüchse erscheinen zwischen den Bäumen. Diese Isel mögen niedere Dämonen sein, aber sie sind so groß wie Lastwagen. Schulter an Schulter bilden sie eine etwa zwanzig Meter breite Front. Rauchender grüner Äther kräuselt sich um ihre Körper und wirbelt bei jedem Peitschen ihrer geschuppten Schwänze in kleinen Wolken auf.

William lässt sein Handgelenk einmal kreisen – dann ein rasches Schnalzen nach oben – und zwei glänzende Panzerhandschuhe legen sich um seine Unterarme. »Das ist kein Rudel …«

»Nein.« Sel fletscht die Zähne. »Das ist eine richtiggehende Armee.« Mittlerweile hat er genug Äther, um eine wirbelnde Wolke um unsere Fußknöchel zu bilden – kühl und völlig unter seiner Kontrolle –, aber ich weiß nicht, ob es ausreicht. Sel und ich waren kaum in der Lage, drei zu besiegen, und die waren halb so groß wie diese hier und nur teilweise materialisiert.

Nie zuvor habe ich so viele vollständig materialisierte Shadowborn auf einmal erlebt. Wie viel Äther müssen sie in sich aufgenommen haben, um fest genug zu werden, dass sogar Onceborn sie sehen könnten?

Die Füchse schnappen nach Sels Schutzzauber. Rammen die Köpfe dagegen. Testen die Stärke des Walls aus. Äther splittert bei jedem Aufprall ab und bildet helle Kreise in der Luft.

»Der Schutzzauber wird sie aufhalten, nicht wahr?«, frage ich.

Wie zur Antwort tritt der Fuchs, der uns genau gegenübersteht, einen Schritt zurück und duckt sich tief. Mit einem ohrenbetäubenden Kreischen reißt er seine Kiefer weit auseinander – und der Äther von Sels Schutzzauber fließt in einem Strom aus silbernem Rauch in sein geöffnetes Maul.

»Oh, Sch…« Ein weiteres Kreischen lässt Sel verstummen, dann kreischt noch einer und noch einer, bis alle zwölf Füchse einen Teil seiner Magie in sich einsaugen … und sich sein Schutzzauber direkt vor unseren Augen auflöst.

Sel steht wie erstarrt da. Nur sein Blick folgt seinem schwindenden Schutzzauber, der sich in zwölf Strudeln in die Mäuler der Füchse leert. Ich weiß nicht, ob er gerade nachdenkt oder durchdreht. Himmel, ich will nicht miterleben, wie Sel austickt.

Äther ist im Kampf gegen mächtige Shadowborn ein zweischneidiges Schwert. Es kann als Waffe fungieren … oder unsere Feinde verleiben es sich ein und gewinnen so an Stärke. Manchmal passiert beides in ein und derselben Schlacht.

William spannt den Körper an. In jeder Faust hält er jetzt einen Gawain-Dolch. »Wir könnten die anderen alarmieren.«

Blitzschnell kommt Sel wieder zu sich und schüttelt den Kopf. »Keine Zeit.«

Ich trete vor und errege damit die Aufmerksamkeit des größten Fuchses. Sein Maul schnappt zu, und er senkt den Kopf, bis seine dunkelgrünen Augen mich direkt ansehen. Die Füchse zu beiden Seiten ihres Anführers wenden sich nun ebenfalls mir zu und starren mich durchdringend an.

»Sie wissen, wer Bree ist«, faucht Sel. »Sie sind ihretwegen hier.« Er bellt Befehle, ohne die Füchse eine einzige Sekunde aus den Augen zu lassen. »Bring sie hoch zur Lodge. Sollten die Höllenfüchse an mir vorbeikommen, rettet euch ins Untergeschoss und öffnet die Mauer der Zeitalter. Versiegelt die Wand hinter euch, flieht durch die Tunnel.« Er schüttelt den Mantel ab, sodass sein T-Shirt zu sehen ist, damit er im Kampf Arme und Oberkörper frei bewegen kann. »Ich halte sie auf.«

»Wie denn?«, rufe ich. »Die Shadowborn fressen den Schutzzauber! Sie werden auch deine Waffe verschlingen!«

Sein Blick verdunkelt sich. »Dafür müssen sie sie erst kriegen.«

Sel geht auf die Füchse zu und lässt dabei Äther zu einem wahren Wirbelsturm anschwellen. Der Wind pfeift und wirbelt immer schneller, dann verfestigt er sich zu der Form, die der Königsmagier haben will: eine silberne Ätherkette, die Glied um Glied immer länger wird. An dem einen Ende materialisiert sich ein schweres, rundes Gewicht von der Größe eines Softballs, an dem anderen ein Schaft mit einer scharfen, gebogenen Klinge.

Augenblicklich erkenne ich die Waffe von den Übungsstunden in der mit Sels Ätherbestien gefüllten Arena wieder: Es ist eine Kettensichel. Mit der Kette lässt sich ein Feind wie mit einem Lasso einfangen und heranziehen. Die Sichel dagegen durchtrennt Körperteile mit einem sauberen Schnitt.

Sel packt die Sichel mit der linken Hand und reißt mit einem lauten Stöhnen die schwere Kugel am anderen Ende der Kette in die Luft. Die Muskeln in seinem Rücken und seinen Armen spannen sich an, als er das Gewicht über seinem Kopf kreisen lässt. Bei der zweiten Umdrehung bewegt sich die Kugel schon so schnell, dass sie nur noch ein silbern verschwommener, surrender Fleck in der Dunkelheit ist. Das Kreischen der Füchse wird lauter.

Zwei warme Hände drehen mein Gesicht von dem hypnotisierenden Anblick weg. Keuchend wirble ich herum und starre William an. Seine Augen glühen jetzt in dem pulsierenden Dunkelgrün von Gawain. »Wenn er dich beschützen muss, kann er sich nicht selbst beschützen!«, schreit er über den Lärm hinweg.

»Aber …«

»Wir müssen verschwinden, Bree!«

Ich schlucke schwer und nicke dann. Okay.

Wir laufen los.

Doch es ist zu spät. Wir schaffen nur ein paar Schritte in Richtung der Steinstufen am Felshang, bevor William erschrocken aufschreit.

Ein großer Schatten saust die Anhöhe herab, eine schwarze Kugel in Menschengestalt, die geradewegs auf mich zuschießt.

Ohne anzuhalten oder auch nur langsamer zu werden, beugt sich der Schatten in allerletzter Sekunde vor und reißt mich in einer schwindelerregenden Bewegung über seine Schulter. Die Welt stellt sich auf den Kopf. Jeglicher Atem verlässt mich in einem schmerzhaften Zischen. Die Gestalt wirbelt herum, legt mir den Arm wie einen Schraubstock über die Oberschenkel und jagt den Weg zurück, den sie gekommen ist, bevor William auch nur reagieren kann.

Mir ist schwindlig, und die Panik dreht auch meinen Verstand wie einen Kreisel. Mein Kopf schlägt bei jedem Schritt gegen den Rücken meines Entführers, und meine Gedanken zersplittern in tausend Scherben.

Eine Shadowborn-Truppe. Vollständig materialisiert – stark genug, um die geschwächten Legendborn zu überwältigen. Sel allein am Schutzwall, ohne die geringste Chance.

Entführt. Jemand hat mich im Innern des Schutzwalls überrumpelt – es kann kein Dämon sein. Auch kein Goruchel-Gestaltenwandler. Ein menschliches Wesen hat mich angegriffen, genau in dem Moment, als Sel mir den Rücken zugekehrt hat … perfekt abgestimmt mit dem Dämonenangriff, zu perfekt …

Auf einmal schießt mir die Antwort durch den Kopf.

»Meine Herrin, Morgaine …« Rhaz hatte uns gewarnt, hatte mich gewarnt …

Shadowborn und Anhänger Morgaines, die zusammenarbeiten. Sich gegen den Orden verschwören.

Jäh meldet sich mein Überlebensinstinkt. Wut pumpt Klarheit durch meine Venen.

Ich werde mich nicht kampflos geschlagen geben.

Die Morgaine hat mich bereits halb die Steintreppe nach oben geschleppt, als William die Verfolgung in voller Rüstung aufnimmt. Mit geballter Faust hämmere ich gegen den Rücken der Gestalt. Einmal. Zweimal.

»Autsch.« Die Morgaine stöhnt vor Anstrengung unter Artus’ Stärke – gut –, stolpert und lässt mich fast fallen.

Bevor ich noch einmal zuschlagen kann, schlingt die Morgaine den linken Arm fester um meine Beine, springt den Rest der Anhöhe hinauf und landet mit einem Satz auf dem Felsplateau.

Im nächsten Moment katapultiert sie sich weiter. Diesmal landen wir auf den unteren breiten Ästen einer riesigen weißen Eiche im Wald zwischen der Lodge und der Arena.

Immer noch über die Schulter der Gestalt geworfen, hebt sich meine Brust mit ihrer, als sie tief Atem holt – und wieder springt und dann noch einmal, bis wir uns sechs Stockwerke hoch auf einem der mittleren Äste des Baums befinden.

Unvermittelt beugt sich die Morgaine vor und setzt mich langsam ab, sodass ich mit dem Rücken an dem mächtigen Stamm lehne. Der Ast unter mir ist gerade einmal breit genug, dass meine Füße nebeneinander daraufpassen. Die harte Rinde an meinem Rücken wirkt irgendwie beruhigend, doch der Boden liegt erschreckend tief unter uns.

Binnen weniger Sekunden hat mich die Morgaine in so großer Höhe festgesetzt, dass ich unmöglich fliehen könnte, selbst mit Artus’ Stärke in den Beinen.

Das Kreischen der Füchse hallt in der Ferne wider – dann folgt ein wütendes Geheul. Als die Gestalt über den Ast huscht, wird sie von grünen und blauen Ätherblitzen erleuchtet. Sie ist ungefähr so groß wie ich und trägt einen ledernen schwarzen Waffenrock und eine Tarnhose. Aus fingerlosen Handschuhen schauen blasse Finger hervor. Gesicht und Haare der Morgaine werden von einer schweren Lederkapuze verdeckt, während sie den Boden unter uns mit den Augen absucht.

Es spielt keine Rolle. Ich muss meinen Feind nicht sehen.