Lehrbuch der biologischen Medizin - Hartmut Heine - E-Book

Lehrbuch der biologischen Medizin E-Book

Hartmut Heine

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Beschreibung

Das Grundsystem als wissenschaftliche Basis der biologischen Medizin Wo entstehen Krankheiten im Körper und wo setzt eine Therapie am besten an? Die Antwort ist ganz einfach: im Grundsystem. Das System der Grundregulation ist die wissenschaftliche Basis der biologischen Medizin, in ihm werden alle biologischen Vorgänge reguliert. Eine Störung der Grundregulation hat grundlegende Bedeutung bei der Krankheitsentwicklung insbesondere chronischer Erkrankungen oder von Tumoren. Das Grundsystem bildet auch die gemeinsame theoretische und funktionelle Basis einer Vielzahl komplementärmedizinischer Methoden. Dieses Lehrbuch ist eine gut strukturierte, ausführliche Einführung in dieses komplexe Erklärungsmodell. Es beschreibt die regulativen Zusammenhänge des Grundsystems, gibt Hinweise für die Therapie und stellt die Bezüge zu einzelnen Therapieverfahren her. Die 4. Auflage wurde komplett überarbeitet und um neue Erkenntnisse aus der Regulations- und Tumorforschung erweitert. Das Grundlagenwerk zum tieferen Verständnis der biologischen Medizin.

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Lehrbuch der biologischen Medizin

Grundlagen und Extrazelluläre Matrix

Hartmut Heine

4., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage

91 Abbildungen

Vorwort zur 4. Auflage

Ende der Siebziger-Jahre des vergangenen Jahrhunderts haben mich Mitglieder des sogenannten „Wiener Teams“ unter ihre wissenschaftlichen Fittiche genommen. Von Pischinger in den Nachkriegsjahren begründet, haben diese hochbegabten Ärzte und Forscher die Brücke zwischen Schul- und Komplementärmedizin geschlagen. Mit Prof. Dr. med. Dr. med. h.c. Alois Stacher, verstorben am 20. Juli 2013, ist das Team erloschen. Er war mir bis zuletzt Freund und Mentor. Als sichtbares Zeichen seiner überragenden Kompetenz hat er uns die von ihm begründete „Wiener Internationale Akademie für Ganzheitsmedizin“ (GAMED) hinterlassen.

Die Grundregulationsforschung hat sich aus der Humoralpathologie entwickelt, die von Galen (129–199 n. Chr.) begründet wurde. Dieser selbst steht in der Tradition der hippokratischen Medizin, die in der antiken Säftelehre der Pythagoräer wurzelt. Das wissenschaftliche Fundament der biologischen Medizin enthält daher einen durchgehenden Duktus, wie er sonst nur noch von Astronomie und Mathematik bekannt ist. Die theoretische Begründung der biologischen Medizin stellt den gegenwärtigen Gipfel der ältesten medizinischen Tradition der Menschheitsgeschichte dar. Biologische Medizin ist daher keinesfalls nur Komplementärmedizin!

Dieses Buch soll Bildung vermitteln und nicht nur Ausbildung im Sinne eines praktischen Handelns. Lediglich auszubilden führt zu Spezialistentum, das uns heute zunehmend Bildung durch Wissenschaft erschwert. Der damit verbundene Verlust an Nachdenklichkeit mindert die Urteilskraft. Bildung bedingt ein selbstverantwortetes Können, eine Lebensform des Sich-Auskennens und der Orientierungskraft. Dies wird in der Ausbildung von Ärzten und Therapeuten zu wenig bedacht. Vielmehr sind es in den angesprochenen Zusammenhängen Ungebildete und Orientierungsschwache, die insbesondere in der biologischen Medizin durch Statistikübungen vor allem in Form von Metaanalysen die Grundlagen- und klinische Forschung erschweren.

Wissenschaft bildet, indem sie ausbildet! Und: Nichts ist praktischer als eine gute Theorie (Thales von Milet, ca. 625 bis ca. 545 v. Chr.).

Mein großer Dank gilt allen, die mir beim Zustandekommen dieses Werkes mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben. Die am schwierigsten zu bewältigenden Bausteine haben meine Frau Elke (Literaturerfassung, Erstellung der Abbildungen, Schreiben des Manuskripts) und unsere gemeinsame liebe Freundin und jahrzehntelange Mitarbeiterin Frau Gertrud Schaeg (Elektronenmikroskopie und Beratung bei feinstrukturellen Problemen) bewältigt.

Herrn Bernhard Kohl, Geschäftsführer der magnet-activ GmbH, hat uns immer wieder über finanzielle Hürden bei der Erstellung des Werkes geholfen. Dafür sei ihm herzlich gedankt. Dem Karl F. Haug Verlag Stuttgart sind wir für das professionelle Projektmanagement (Herrn Cornelius von Grumbkow und Frau Elisabeth Schäffner) zu großem Dank verpflichtet.

Neuhausen, August 2014

Hartmut Heine

Einleitung

Ärztliches Tun ist an der Zielstrebigkeit des Organismus sich zu erhalten orientiert („Selbstheilungskräfte“). Diese naturgegebene Zweckhaftigkeit verlangt vom Arzt kunstvolles Handeln. Denn Heilung ist nicht Herstellung einer Sache, sondern Wiederherstellen eines individuellen Zustandes. Die Materie, an der der Arzt seine Kunst ausübt, ist bereits das Kunstwerk selbst – der Patient. Die Zweckorientierung in der Heilkunst bedarf jedoch der Wissenschaft, um die Bedingungen der Gesundheit durch Erforschen von Krankheitsursachen überhaupt verstehen zu können. Die mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert aufgekommene reduktionistische Naturwissenschaft hat aufgrund der Forderung nach kausalanalytisch erhobenen, objektiven Daten das Zweckdenken als subjektiv und unwissenschaftlich abqualifiziert. Während damit in der Technik und der am Ursache-Wirkungs-Denken orientierten Medizin ein ungeheurer Fortschritt erzielt wurde und noch wird, kann das kausalanalytische Denken in der Medizin nicht uneingeschränkt gelten. Denn der Arzt hat es immer mit dem jeweiligen Subjekt, dem je individuellen Einzelfall zu tun, der durch keine analytische Bestandsaufnahme erschöpft werden kann. Um zur richtigen Diagnose und zu angemessener Therapie zu gelangen, ist ärztliche Urteilskraft als Gabe persönlicher Intuition und Erfahrung unabdingbar. Wie sollen Arzt und Patient mit ihren Ängsten, Hoffnungen, Fantasien und Kreativität umgehen angesichts der als gültig angesehenen Kriterien Objektivierbarkeit, Wiederholbarkeit und Vorhersagbarkeit bei zunehmender Zersplitterung der Humanmedizin in immer weitere Teilgebiete? Einen Ausweg stellt die Rückbesinnung auf die hippokratische Medizin dar, die als Gesundheitslehre und -erziehung zu verstehen ist. Galen (129–199 n. Chr.) zog daraus den Schluss, dass Gesundheitsbewahrung über die Krankheitsüberwindung zu stellen wäre. Die Medizin war über Jahrtausende eine Lehre von der Gesundheit, ehe sie zum System der Krankenversorgung wurde.

Die Medizin als Naturwissenschaft muss daher durch Gesundheitslehre und -erziehung zur Kulturwissenschaft ergänzt werden. Gesundheitslehre ist der gebildete Umgang mit der Umwelt, Lebensmitteln, Arbeitswelt und zwischenmenschlichen Beziehungen ▶ [706].

In der wissenschaftlichen Medizin hat sich ein genetisches Paradigma durchgesetzt, wonach die bedeutendsten Krankheiten bereits intrauterin oder nachgeburtlich gentechnologisch diagnostiziert und behandelt werden könnten. Dabei wird übersehen, dass nur etwa zwei Prozent aller Krankheiten monogen sind, d. h. einem linearen dominanten Erbgang unterliegen. Auf 98 Prozent aller Krankheiten, die die eigentliche Gesundheitsbedrohung des Menschen darstellen, lässt sich dieses Paradigma jedoch nicht anwenden (Übersicht s. ▶ [768]). Es ist eine irrige Annahme, komplexes biologisches Geschehen mit entsprechend komplexem multifaktoriellen Krankheitsgeschehen durch gentechnologische Analyse kausal erklären und behandeln zu wollen. Das in 98 Prozent aller Krankheiten vorliegende hochvernetzte polygene Verhalten, auch als Disposition bzw. innere „Krankheitsursachen“ bezeichnet, wird zusätzlich durch individuelle Umwelt- und Inwelteinflüsse als Exposition überlagert und vernetzt. Daraus entsteht ein nichtlineares Verhalten, das von Rückkopplungen, d. h. Rückwirkungen von Teilsystemen auf das System selbst („Regelkreise“), geprägt ist. Langfristige Vorhersagen sind bei nichtlinearem Verhalten aber nur schwer möglich.

Das genetische Material (Genom) ist zwar als dauerhaftes Programm zu Erhalt und Evolution einer biologischen Art notwendig, aber nicht ausreichend für Vorhersagen individueller Lebens- und Krankheitsverläufe. Im Korrelationsfeld von Erleben und zugeordneten körperlichen Leistungen wird die individuelle psychosomatische Konstitution als Gesundheits- wie Krankheitsfähigkeit eines Individuums sicht- und erlebbar. Disposition und Exposition weisen aber als somatopsychische bzw. psychosomatische Begriffe keine Linearität auf. Sie haben vielmehr mit der Lebensordnung des Menschen im Ganzen zu tun. Diese in der antiken Medizin als „diaita“ dargestellte Beziehung bedient sich der „physis“, des natürlichen Wachsens und Gedeihens, und erreicht eben damit den „nomos“, das rechte Maß und die Regel, den kultivierten Lebensstil einer verbindlichen Lebensordnung. Das geht nicht ohne „paideia“, ohne Weisung und Lenkung, ohne „arete“, die Tugend, und „sophrosyne“, die Einsicht, nicht ohne die Bildung in jenem geschlossenen Milieu, das die Alten „kosmos“ nannten, die gefühlte Ordnung eines harmonisch durchstimmten Universums ▶ [707]. Dessen Maßstab finden wir auch im Mikrokosmos, im Zusammenspiel der Zellen und der sie umfangenden Grundsubstanz (im Folgenden als extrazelluläre Matrix – ECM – bezeichnet). Auch hier ist es das Ziel, den Organismus im Ganzen zu formen und zu gestalten. Bei Nichterreichen oder Verlust eines individuell zuträglichen Milieus ist daher auch eine Grundregulation, d. h. Wechselwirkungen zwischen Zelle und ECM, auf Dauer nicht möglich. Der beginnende Circulus vitiosus mündet schließlich ein in Dysregulation, in chronische Erkrankungen und Tumoren. Biologische Medizin bzw. Ganzheitsmedizin heißt daher auch, das innere und äußere Milieu aufeinander abzustimmen. Es kann keiner gesunden oder gesund bleiben, wenn er nicht als Mensch gewollte und geliebte Verbindung mit seinesgleichen hat. Um dies heilkundlich auszuloten und zu wissen, dass dicht neben dem Nutzen die Noxe steht, braucht die Heilkunst die Wissenschaft, die Theorie. Sie strebt nach Regeln, nach jener Norm, die als Ethos menschliches Leben durchwirkt und maßgeblich ist für unser Verhalten und Handeln. Das der Norm zugrundeliegende Ethos ist höchst verpflichtend für einen Beruf, der Hilfe in Not verspricht und das Not-Wendende zum Ziel hat ▶ [707]. Der gegenwärtige Mangel an Ethik ist ein Verlust an Subjektivität zugunsten einer vermeintlich wertungsfreien Objektivität. Daher ist auch der Zellbegriff lediglich eine morphologische Abstraktion. Biologisch gesehen kann er nicht ohne das Lebensmilieu der Zelle, die ECM, verstanden werden.

In der Polarität von Pathogenese und Salutogenese (Aktivierung der Selbstheilungskräfte) ist die Medizin als Ganzes, als Heilkunst erfasst. Gegenwärtig wird durch Umwelteinflüsse, Lebensformen und Überalterung die individuelle Konstitution zunehmend labiler. Dies korreliert mit der Zunahme von chronischen Erkrankungen, Allergien und Tumoren in allen Altersgruppen.

Konstitution lässt sich allgemein als Einheit von Seele und Leib erfassen ▶ [838]. Diese unauflösliche Einheit äußert sich im Befinden. Befindensstörungen seelischer Art werden daher immer auch als körperliche Störungen zur Geltung kommen und umgekehrt. Besonders deutlich wird dies in der modernen Gesellschaft, die im krassen Missverständnis von Individualität zur sozialen Isolierung einzelner und ganzer Gruppen neigt. Die erhöhte Mortalitätsrate sozial isolierter Menschen hat sich dabei als unabhängig von den Lebensgewohnheiten (Rauchen, Übergewicht, körperliche Aktivität, ökonomischer Status, Teilnahme an präventiven Gesundheitsprogrammen) erwiesen ▶ [796]. In den westlichen Industrieländern zeigen nach diesen Autoren etwa ein Drittel der Menschen, die mit gesundheitlichen Problemen einen Arzt aufsuchen, keine Anzeichen einer organischen Erkrankung.

Aufgrund der enormen diagnostischen Möglichkeiten moderner Medizin werden derartige psychosomatische Störungen in ein organisches Erkrankungsschema gepresst und entsprechend falsch behandelt. Die dabei sich entwickelnden Patientenkarrieren können sich über Jahrzehnte erstrecken, wobei die moderne biotechnische Medizin zu einem „Risikofaktor ersten Grades“ werden kann. Balint (1896–1970) war einer der ersten, der den technologischen Ansatz der Medizin um den biografischen Aspekt wie auch die gegenwärtige dynamische Lebenssituation des Patienten erweiterte. Er wies darauf hin, dass Patient und Arzt in ein kommunikatives System eingeschlossen sind, wobei der Arzt selbst aktiver Teilnehmer ist. Ähnlich wie die Atomphysiker in der Quantentheorie zu Beginn dieses Jahrhunderts erkannten, dass der Beobachter selbst Einfluss auf sein Objekt hat, können objektive Beobachtungen überhaupt nicht existieren, sondern nur Beobachtungen, die in einer Kommunikationsmatrix eingeschlossen sind.

Unsere Beobachtungen sind immer abhängig von unserer anatomisch-physiologischen Struktur, von der gegebenen sozialen Stufe oder unserem Platz in der gegenwärtigen Gesellschaft und Kultur sowie den Denk- und Handlungsweisen in unserer „ökologischen Nische“. Von besonderer Bedeutung sind dabei der Einfluss der eigenen Familie, die ganz persönliche Biografie, unser Wissen, unsere Arbeit, Gefühlsleben und Dynamik.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur 4. Auflage

Einleitung

1 Wissenschaftliche Basis der Komplementärmedizin

1.1 Anregung und Förderung endogener Eigenleistungen

1.2 Wirksamkeitsnachweis und Placebo in der biologischen Medizin

1.3 Organismen als determiniertes Chaos

1.3.1 Determiniertes Chaos und Selbstähnlichkeit

1.4 Grundregulation

1.4.1 Historische Zusammenhänge

1.4.2 Regulation, Ordnung und Zeit

1.4.3 Die ECM als Molekularsieb

1.4.4 Biologische Systeme als elektromagnetische Sender und Empfänger

1.4.5 Strukturkomponenten und Struktur der ECM

1.4.6 Synthese der PG/GAGs

1.4.7 Zelloberflächen- und Basalmembranproteoglykane

1.4.8 Kleine ECM-Proteoglykane (Small Leucine-Rich Proteoglycans, SLRPs)

1.4.9 Nichtproteingebundene Glykosaminoglykane (GAGs) der ECM (Hyaluronsäure [HA] und Heparin)

1.4.10 Struktur- und Vernetzungsglykoproteine

1.4.11 Piezo- und Pyroelektrizität von Kollagen

1.4.12 Glykokalyx – Informationsfilter zwischen ECM und Zelle

1.4.13 Basalmembranen

1.4.14 Regelung und Norm

1.4.15 Selbststabilisierende Ordnung als Lebensprinzip

1.4.16 Stofftransport in der Grundsubstanz

1.4.17 Die extrazelluläre Matrix als poröses Gel. Redoxregulation. Bedeutung von Kieselsäure

1.4.18 Energie des zellulären Halbleiters

1.4.19 Neurogener Anschluss der ECM. Bedeutung der Zytokine

1.4.20 Biorhythmus und Selbstheilungskräfte

1.4.21 Physiologische Leukozytolyse

1.4.22 Bioelektrische Phänomene

1.4.23 Alternsprozesse in der Grundregulation

1.4.24 Immunologie der alternden Grundregulation

1.4.25 Anti-Aging-Maßnahmen

1.4.26 Anschluss der Mitochondrien an das Entzündungsgeschehen

2 Immunologie

2.1 Stammesgeschichte des Immunsystems

2.1.1 Übersicht zum Immunsystem

2.1.2 Unspezifische Immunreaktionen

2.1.3 Aktivierende und hemmende Rezeptoren

2.1.4 Lösliche Faktoren der unspezifischen Abwehr

2.1.5 Akute entzündliche Reaktion

2.1.6 Adaptive Immunreaktionen

2.1.7 B-Zellrezeptor und lösliche Antikörper

2.1.8 Der T-Zellrezeptor (TCR)

2.1.9 Vielfalt von Antikörpern und Antigenrezeptoren

2.1.10 T-Zelle und Thymus

2.1.11 Immuntoleranz und Autoimmunität

2.1.12 Immunkomplexe (Antigen-Antikörper-Komplexe)

2.1.13 Das Gefahrenmodell der Immunität

2.1.14 Diät und Immunität

2.2 Gerinnung

2.2.1 Lokale Aspekte der Gerinnung

2.2.2 Reaktivität der Endothelzellen

2.3 Chronische Krankheiten

2.3.1 Unheilbarkeit chronischer Krankheiten

2.3.2 Gender-Medizin

2.3.3 Gender-Reaktionsmuster

2.3.4 Genetische Hintergründe chronischer Krankheiten

2.4 Tumorgeschehen

2.4.1 Biografie und Krebskrankheit, Psycho-Onkologie

2.4.2 Psycho-Onkologie im „Spiegel der Neurone“

2.4.3 Bedeutung des Frontalhirns für überdeckte Hemmung

2.4.4 Genetische Hintergründe menschlicher Tumorzellen

2.4.5 Einheitliche funktionelle Merkmale von Tumorzellen

2.4.6 Grundregulation, extrazelluläre Matrix und Onkologie

2.4.7 Bedeutung der aeroben Glykolyse („Warburg-Effekt“) im Tumorgeschehen

2.4.8 Bedeutung der ECM für die Krebsentwicklung

2.4.9 Tumorwachstum, Tumorrandentzündung und Metastasierung

2.4.10 Proteasen und ihre Inhibitoren im Tumorgeschehen

2.4.11 Paraneoplasien

2.4.12 Biologisch-medizinische Therapie in der Onkologie

2.5 Schmerz und Stress

2.5.1 Physiologie und Pathophysiologie des Schmerzgeschehens

2.5.2 Sympathische Reflexdystrophie (SRD)

2.5.3 Manuelle Therapie und Kinesiologie (Applied Kinesiology AK)

2.5.4 Stress

2.5.5 Ganzheitliche Zahnmedizin

2.6 Altern und Ernährung

2.6.1 Geriatrie und Gerontologie

2.6.2 Altern aus der Sicht der Grundregulation

2.6.3 Die Bedeutung von Sauerstoffradikalen und Insulin bzw. insulinähnlichen Molekülen für den Alterungsprozess

2.6.4 Pathophysiologie des Übergewichts (Adipositas)

2.6.5 Metabolisches Syndrom und Diabetes Typ II

2.6.6 Ergänzende therapeutische Ansätze aus biologisch-medizinischer Sicht

2.7 Altersdemenzen

2.7.1 Milde Gedächtnisstörungen

2.7.2 Depression

2.7.3 Altersbedingte epileptische Anfälle

2.7.4 Parkinson-Krankheit

2.7.5 Alzheimer-Demenz

2.7.6 Alter und Alzheimer-Demenz

2.7.7 Entwicklung der Alzheimer-Demenz

2.7.8 Die perineuronale extrazelluläre Matrix (PECM)

2.7.9 Die Bedeutung von Appican für die Entwicklung der Alzheimer-Demenz

2.7.10 Ammenfunktion der Astrozyten

2.7.11 Alzheimer-Demenz – eine auf das Gehirn begrenzte unspezifische Entzündung

2.7.12 Therapeutische Konsequenzen

3 Auswahl der wichtigsten regulationstherapeutischen Verfahren

3.1 Akupunktur und Elektroakupunktur nach Voll (EAV)

3.1.1 Strukturprinzip des Akupunkturpunktes

3.1.2 Histophysiologie der Akupunkturpunkte

3.1.3 Bioelektrische Wandlerfunktion des Akupunkturpunktes

3.1.4 Stärkung des Parasympathikus durch Akupunktur

3.1.5 Ohrakupunktur

3.2 Neuraltherapie

3.3 Homöopathie

3.3.1 Informationstheorie der Wirkung von „low dose“-Präparaten am Beispiel von g-Strophanthin (Strophactiv® D 4)

Teil II Anhang

Abbildungsnachweis

Literatur

Autorenvorstellung

Anschriften

Sachverzeichnis

Impressum

1 Wissenschaftliche Basis der Komplementärmedizin

1.1 Anregung und Förderung endogener Eigenleistungen

Aus der antiken Medizin ist überliefert, dass Einflüsse jeder Art sowohl heilend wie krankmachend wirken können. Dies zeigen Krankheiten, deren Ätiologie und Therapie besonders gut erforscht ist, wie die Ulkuskrankheit. Es ist bekannt, auf welch vielfältige Weise diese entstehen und mit wie vielerlei Maßnahmen man sie lindern kann. In diesem Zusammenhang ist die von Paracelsus (1493–1541) überlieferte Regel wichtig, dass viele Krankheitsprozesse gleichen Wesens sind und nicht der Stoff, sondern die Dosis das Heilsame ist. Daher müssen viele Krankheiten durch die Heildosis ein und desselben Mittels heilbar sein (Redundanz) und die Heildosis sehr vieler Mittel muss ein und dieselbe Krankheit lindern oder heilen können (Pleiotropie), ganz wie es die Erfahrung lehrt. Diese biologisch-medizinische Sichtweise ist um das Arndt-Schulz-Gesetz (Rudolf Arndt, Psychiater, Greifswald, 1835–1900; Hugo Schulz, Pharmakologe, Greifswald, 1853–1932) zu erweitern. Danach regen schwache Reize die Homöostase (besser Homöodynamik) an, starke hemmen sie und stärkste führen zum Tod. In jüngster Zeit ist dieses „biologische Grundgesetz“ (als Arndt-Schulz-Gesetz bezeichnet; ▶ [16]) als Hormesis wieder in den Blickpunkt wissenschaftlichen Interesses vor allem der Toxikologie geraten (▶ [95], Übersicht s. ▶ [426]). Es hat sich zeigen lassen, dass viele Chemotherapeutika, Antibiotika, nichtsteroidale Entzündungshemmer (NSAID), Toxine u. a. m. mit zunehmender Verdünnung eine u-förmige Dosis-Wirkungs-Beziehung zeigen, mit Umkehrung ihrer toxischen Effekte, die dann wieder zurückkehren (▶ Abb. 1.1). Calabrese und Baldwin ▶ [95] haben u. a. gezeigt, dass z. B. ein so starkes Karzinogen wie Dioxin im Rattenversuch im Low-dose-Bereich von 0,01 bis 0,001 μg/kg/Tag Tumorbildung erheblich zurückdrängen kann und sich bei weiterer Konzentrationsabnahme der Effekt nicht mehr zeigen lässt. Sie beobachteten weiter, dass durch geringfügige Ganzkörperröntgenbestrahlung (0,5–2 Gy) eine Aktivierung des Immunsystems erfolgt, die eine Abnahme experimenteller Tumoren bei der Maus verursachte. Auch für den Menschen liegen derartige Befunde vor. Es darf nicht vergessen werden, dass Schwachbestrahlungen im deutschen Kulturraum zur Anregung des Immunsystems schon Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt wurden ▶ [625].

Abb. 1.1 Hormesiseffekt. Wirkung von Dioxin auf die Entwicklung von Brustkrebs bei Ratten. Im Low-dose-Bereich (0,001 μm/kg/Tag) ist das Tumorwachstum stark vermindert

(nach Kaiser [426].)

Ähnliche biphasische Hormesis-ähnliche Effekte lassen sich auch in der Psychologie beobachten: Bei hohem Stress, z. B. als Zeuge eines schweren kriminellen Aktes, ist die Erinnerung an das Geschehen nur gering (Yerkes-Dodson-Gesetz). Dies ist durch die hohe Glukokortikoidfreisetzung während des Geschehens bedingt, wogegen geringe Dosen die Erinnerung verstärken ▶ [551]. Im Scheitel der u-förmigen Hormesiskurve liegt der Bereich, wo mit sehr geringen Dosen z. B. eines Toxins eine Störung der Homöostase durch Überkompensation (rebound) wieder einreguliert werden kann ▶ [95]. Beziehungen zwischen Hormesis und Homöopathie wurden experimentell von Endler ▶ [179] nachgewiesen.

Von Rattan ▶ [660] wurde vorgeschlagen, für alle natürlichen und synthetischen Substanzen, die einen Hormesiseffekt zeigen, den Begriff „Hormetine“ zu verwenden. Dies dürfte für die meisten substanzhaltigen Homöopathika gelten.

Es ist dringend notwendig, das Phänomen Hormesis stärker in der Praxis zu berücksichtigen, denn „To continue to ignore this reality is one that society can do only at its own financial and health risk”▶ [95].

Eine kybernetische Sichtweise lässt diese Zusammenhänge besser verstehen. Nichtlineare Wechselwirkungen sind aufgrund ihrer Rückkopplungsschleifen empfindlich gegenüber allen möglichen kleinen Einflüssen („Randbedingungen“). Dies erkennt man auch bei chronischen Krankheiten, wo ein geringfügiger Anlass (u. a. Wetterumschlag, Kältereiz) einen neuen Schub auslösen kann (Zweitschlag). Das Arndt-Schulz-Gesetz und der Hormesiseffekt zeigen, dass stets das Individuum in seiner Ganzheit betroffen ist.

Das bedeutet, dass bei gleicher Diagnose im Unterschied zur Schulmedizin in der biologischen Medizin die Patienten nicht in gleicher Weise, sondern entsprechend der Anamnese unter Berücksichtigung von Konstitutionstyp, Diathese („Krankheitsbereitschaft“), Temperament, geistiger und seelischer Verfassung individuell verschieden behandelt werden müssen. In diesem Zusammenhang ist nochmals auf die große Bedeutung von Exposition und Disposition zu verweisen. Denn erst bei genauerem Erfassen der Bedeutung von Umwelt und Erbgut können individuelle Varianten von Krankheitsverläufen erfasst werden.

Die biologische Medizin stellt unter wissenschaftssoziologischen Gesichtspunkten eine „außerordentliche Wissenschaft“ dar, da sie nicht dem kausalanalytischen Denkstil der konventionellen Medizin entspricht. Die biologische Medizin ist außerdem heterogen, was sich in verschiedenen Bedeutungsnamen wie „Ganzheitsmedizin“, „Erfahrungsmedizin“, „Naturheilkunde“ u. a. widerspiegelt. Neben systematischen Ansätzen wie Phytotherapie, Neuraltherapie, Homöopathie, Elektroakupunktur und Akupunktur ist noch eine große Zahl weiterer diagnostischer und therapeutischer Verfahren von Bedeutung (▶ Tab. 1.1). Ihnen allen ist als ganzheitlicher Aspekt gemeinsam, dass sie der Verwirklichung des individuellen Menschen in Gesundheit und Krankheit dienen. Deshalb kann sich die biologische Medizin als Ganzheitsmedizin auch nicht auf häufigkeitsabhängige Normalwerte und starre nosologische Entitäten festlegen, wie dies in der konventionellen Medizin („Schulmedizin“) durch „künstliche Therapien“ geschieht. Diese weisen dem Organismus im Prinzip eine passive Rolle zu und versuchen, krankhafte Veränderungen oder die ihnen zugeschriebenen Ursachen direkt zu beseitigen durch:

operative und chemische Ausschaltung

pharmakologische Lenkung und Gegensteuerung zur Wiederherstellung einer kybernetisch definierten Norm

künstlichen Ersatz von fehlenden oder mangelnden Körperwirkstoffen, ausgefallenen Organen und Funktionen

Tab. 1.1

 Biologisch-medizinische Verfahren.

Therapie

Therapieverfahren

Klassische Regulationstherapien

Phytotherapie

Homöopathie

Traditionelle Chinesische Medizin

Ayurveda

Physiotherapie und Balneologie

Therapieweisen mit gezielter Wirkung auf die Grundregulation

sämtliche Akupunkturverfahren

Neuraltherapie

Bioresonanzverfahren

Therapieweisen mit systemischer (unspezifischer) Anregung der Grundregulation

Kneipp’sche Heilweise

diätetische Verfahren

alle über geistig-psychische Anregung laufende Heilverfahren

asiatische und indische Medizin

anthroposophische Medizin

Musik-, Mal- und Gesprächstherapie

Ab- und ausleitende Heilverfahren

Purgieren

Brechverfahren

Blutentziehung

Aderlass

Schröpfen

Verfahren nach Baunscheidt

Blutegel

diaphoretische Verfahren

Hautatmung

Schweißabsonderung

Hautreizverfahren

Rubefaszienzen

Teil- und Vollbäder

Vesikanzien

Cantharidenpflaster

Diurese

emenagoge Methode nach Aschner

Die Maßnahmen werden möglichst spezifisch, nach dem Ligand-Rezeptor-Prinzip („Schloss-Schlüssel“), gezielt und reizarm durchgeführt mit einkalkulierten Nebenwirkungen. Die Wirkungsdauer ist, abgesehen von zeitunabhängiger Ausschaltung, zunächst auf die Anwesenheit der Wirkstoffe und Kunsthilfen begrenzt.

Die Therapieweisen der biologischen Medizin (▶ Tab. 1.1) wirken dagegen indirekt als Reaktion bzw. Regulationsleistung auf eine entsprechende Reizbelastung hin (Reiz-Reaktions-Therapie). Auch hier sind drei verschiedene Wirkprinzipien zu differenzieren:

Aktivierung von Selbstheilungs- und Erholungsprozessen durch Dämpfung übersteigerter Reaktionen, Schonung des Organismus, Ruhigstellung bestimmter Funktionen, Isolierung und Abstinenz von belastenden Faktoren.

Normalisierung durch Anregung und Übung innerer Selbstordnung. Die gesetzten Reize können im Unterschied zur direkten pharmakologischen Funktionskorrektur durch wiederholtes Anregen körpereigener Kräfte eine Wiedereinregulierung vegetativer Gleichgewichte („vegetative Gesamtumschaltung“) bewirken. Die dadurch anregbaren rhythmischen Organfunktionen bewirken ihrerseits eine verbesserte Koordination und Ökonomie aller Funktionsabläufe, eine Normalisierung und Regeneration der Gewebstrophik mit Verbesserung adaptiver Leistungen und Hebung der unspezifischen Resistenz.

Systematische Steigerung von Funktionsbeanspruchungen durch Kräftigung von Funktionskapazitäten und Organleistungen aufgrund spezifischer trophischer wie auch plastischer Anpassungsprozesse des Organismus.

Der Vergleich zeigt, dass sich die Maßnahmen der Schulmedizin stets gegen manifeste krankhafte Veränderungen richten und daher im Prinzip pathogenetisch orientiert sind. Biologisch-medizinische Maßnahmen zielen dagegen auf Anregung und Förderung endogener Eigenleistungen, die schon unter den jeweils individuellen Verhältnissen Bestand und Gesundheit des Organismus ermöglichen ▶ [14]▶ [30]▶ [423]▶ [796].

Beachte

Es ist daher falsch, wenn die Schulmedizin die Anwendung ganzheitsmedizinischer Therapieweisen nur dann für möglich hält, wenn sie nach dem Kausalprinzip spezifisch auf zelluläre, molekulare und submolekulare Entitäten zurückgeführt werden können.

Bei den ganzheitlich ausgerichteten biologischen Therapieweisen ist es vor allem das Wiedereinschwingen chronobiologischer Vorgänge, die den anhaltenden Wirkungen zugrunde liegen und durch monotherapeutische Anwendungen häufig nicht zu erzielen sind. Die von der Schulmedizin stets beanstandete schwache Pharmakologie der biologischen Medizin zielt darauf ab, durch Regeneration rhythmischer Funktionsabläufe wieder eine Synchronisation und Normalisierung physiologischer Kerngrößen zu erreichen. Denn jede Periodik weist eine Aktiv- oder Leistungsphase sowie eine trophotrope Regenerationsphase auf. Derartige „biologische Fenster“ können häufig, vor allem wenn es sich um Befindensstörungen handelt, mit geringsten pharmakologischen Wirkstoffkonzentrationen (Homöopathie!) wieder für allgemeine Regulationsprinzipien geöffnet werden. Dabei ist zu bedenken, dass die Beziehungen zwischen therapeutischer Reizdosis und Reaktionsdynamik nicht stetig sind, sondern u. U. mehrere Optima durchlaufen können. Die Wirksamkeit kann daher auch nicht im akuten Versuch beurteilt werden, da sie im besonderen Maße von Individualfaktoren bestimmt wird. Deshalb ist in der biologischen Medizin auch der Tierversuch als kausale Erkenntnismethode ungeeignet. Auch am Gesunden kann der Wirkungsnachweis nur mit Einschränkung geführt werden. Die therapeutisch angestrebte Wirksamkeit lässt sich nur im zeitlichen Längsschnitt mit dichter Beobachtungsfolge und unter Beachtung besonderer Kriterien für die reaktiven Prozesse darstellen bzw. kontrollieren. Hier liegt der Wert von Kasuistiken und Kohortenstudien.

Es ist leicht erkennbar, dass die kausalanalytische Objektivierung von Krankheiten für die meisten medizinischen Probleme nicht gilt. Denn fiktive Gesamtheiten können nur gebildet werden, wenn für diese das Ursachensystem mit allen Randbedingungen als konstant angesehen werden kann; d. h. die Laborbedingungen müssen dann auch außerhalb des Labors Gültigkeit besitzen. Dies trifft aber in der Medizin praktisch nicht zu: Zwar ist das System Mensch jeweils nach dem gleichen Strukturprinzip aufgebaut, die jeweiligen individuellen Beziehungen und Bedingungen, in die es sich fügt und denen es ausgesetzt ist, sind dagegen multivariabel. Ein Wirksamkeitsnachweis im kausalanalytischen Sinne kann daher nur im eingrenzbaren Mikrobereich erfolgreich sein. Der Umkehrschluss bedeutet dann, dass ein Erfolg auch nur hier gefunden werden kann. Man ist daher umso erfolgreicher, je mehr man in den kontrollierbaren Mikrobereich vorstößt, da dort die oben genannten Prämissen hinlänglich erfüllt werden können. Diese Situation ist derzeit in der medizinisch-zellbiologischen Forschung deutlich zu erkennen, mit der Folge ständig zunehmender gravierender Nebenwirkungen.

1.2 Wirksamkeitsnachweis und Placebo in der biologischen Medizin

Die biologische Medizin geht bewusst von variablen individuellen Randbedingungen aus und entzieht sich damit weitgehend naturwissenschaftlich-experimenteller Kontrolle. „Die Verteilungsgesetze der dabei interessierenden Variablen sind uns verschlossen und wir haben keine Aussicht, sie uns je zu erschließen“ ▶ [353]. Wie ist dann mit den Daten ganzheitlich medizinischer Forschung umzugehen? Ein angemesseneres Vorgehen ist, anstatt von hochgerechneten Stichproben auszugehen, die Befunde als Dokumentation einer real existierenden Gesamtheit aufzufassen. Das Erkenntnisziel liegt somit in der Deskription (wie dies ganz besonders das Arzneimittelbild in der Homöopathie verdeutlicht!). Hier wird der Prozess der Wirksamkeitsprüfung nicht mehr an einer Stelle unterbrochen, sondern das gesamte Geschehen wird als einer Blackbox immanent betrachtet.

Bei den auf „Hilfe zur Selbsthilfe“ ausgerichteten biologischen Therapieweisen steht das subjektive Befinden des Patienten im Vordergrund. Dabei werden keine Randbedingungen festgelegt. Daher kann es in der biologischen Medizin auch kein Placebo geben. Dies gilt auch für die Schulmedizin ▶ [386]. Kienle hatte bereits 1976 nach Auswertung mehrerer hundert klinischer Studien gezeigt, dass die placebokontrollierten randomisierten Doppelblindstudien in ihrer Signifikanzprüfung nicht besser abschneiden als die durch ärztliche Beurteilung von Einzelfällen erhobenen Wirksamkeitsbeurteilungen.

Allerdings kann die Rolle von Placebo auch in ganz anderer Bedeutung gesehen werden, nämlich als ärztliche Selbstkontrolle im Dialog mit dem Patienten. Wie sonst kann man verhindern, dass die Ärzte die Resultate zu voreingenommen beurteilen? Andererseits, wer an einem klinischen Versuch teilnimmt, muss darüber informiert sein, dass es auch eine Kontrollgruppe geben wird. Gibt man den Patienten in dieser Gruppe nicht einmal ein Placebo, werden zu viele von ihnen einfach wegbleiben und damit die Relevanz des ganzen Versuchs gefährden. Ein Placebo kann jedoch dem Patienten, z. B. mit einem Pankreaskarzinom, dem die Medizin nicht mehr helfen kann, noch etwas Mut und Hoffnung geben ▶ [27].

Häufig wird bei medizinstatistischen Erhebungen übersehen, dass alle statistischen Tests lediglich einen Filter für Hypothesen bilden, aber nicht zur Hypothesenbildung verwendet werden können. Erst die richtig formulierte Nullhypothese (man nimmt das Gegenteil von dem an, was man beweisen will) führt zu einem brauchbaren Studiendesign und brauchbaren statistischen Aussagen. Die Statistik selbst ist prinzipiell wertfrei ▶ [635]. Wissenschaftliche Fragestellungen in der biologischen Medizin müssen daher immer zunächst darauf überprüft werden, ob ein Signifikanztest der Fragestellung überhaupt angemessen ist oder ob eine saubere Dokumentation von Einzelfällen („single case studies“) eher zum Ziel führt. Dies ist aber kein statistisches Problem, sondern muss im Vorfeld durch die Fachkenntnis der Forschenden abgeklärt werden ▶ [353].

1.3 Organismen als determiniertes Chaos

Biologische Systeme sind energetisch offen und daher in der Lage, mit ihrer Umgebung Energie und Materie auszutauschen. Sie zeigen keine Linearität, sondern komplexe Vielfalt, die einem biologischen Fließgleichgewicht unterliegt ▶ [58]. Die dabei auftretenden Ordnungszustände sind nicht stabil, d. h. sie stehen nicht in einem thermodynamischen Gleichgewicht, wodurch eine Rückkehr zum Ausgangszustand nicht möglich ist. Die damit verbundenen Rückkopplungsprozesse bedingen, dass Wechselwirkungen nicht einfach addiert werden können, sondern das Ganze stets mehr ist als seine Teile. Rückkopplungen haben biologisch gesehen den Vorteil, dass die Funktionszustände eines Systems nicht fest fixiert werden müssen, sondern selbstorganisatorisch, d. h. spontan zum Ausgangspunkt immer neuer Entwicklungen werden können. Diese Spontaneität aufgrund hoher Vernetzung und die Abhängigkeit von den Randbedingungen sind charakteristisch für dynamische Systeme und lassen keinen linearen Algorithmus zu, aus dem Anfangs- und Endzustand und damit das zukünftige Verhalten voraussagbar wären. Für Organismen hat sich dafür der Terminus „determiniertes Chaos“ etabliert ▶ [582]. Damit gilt aber auch für biologische Systeme, dass kleine Änderungen im gegenwärtigen Zustand große Veränderungen in der Zukunft hervorrufen können. Einmal auftretende Ungenauigkeiten werden nicht eliminiert, sondern den bestehenden Fehlern zugeschlagen. Das „determinierte Chaos“ erlaubt flexible Reaktionen auf kleinste Störungen und macht dadurch Anpassungsprozesse möglich. Dabei ist die Regelung der Homöodynamik eines Organismus unter physiologischen Bedingungen so stabil, dass trotz verschiedenster äußerer und innerer Einwirkungen der Normalzustand meist sehr schnell wieder hergestellt wird. Die Eigenschaft eines nichtlinearen Systems, trotz Störungen und kurzfristiger Abweichungen immer wieder in den angestammten Rhythmus zurückzukehren, wird in der Chaostheorie als Attraktor bezeichnet. Ist das Attraktorverhalten zyklisch, wie dies in der Natur weit verbreitet ist (z. B. Kreislauf, Planetenbewegungen, Jahreszeiten), spricht man von einem Grenzzyklusattraktor ▶ [141]▶ [621]▶ [648].

Unser Organismus als Ganzes weist einen in die Zukunft gerichteten Zeitpfeil mit genetisch bedingter Strukturbildung und davon weitgehend unabhängigem Strukturwandel auf. Dies hängt von einer passenden Energiezufuhr ab („dissipative“ Energie, z. B. Sauerstoff, Nahrung, Licht und Wärme). Wird einem nichtlinearen System – das einfachste Beispiel sind viele durch Federn verbundene Pendel – geeignete Energie zugeführt, verteilt sich diese über das ganze System. Dabei können in einzelnen Teilbereichen Resonanzen auftreten, wodurch zeitlich begrenzte Ordnungsinseln entstehen. Dadurch werden dann in der Nachbarschaft weitere Teilgebiete beeinflusst usw. Denn anders als in linearen Systemen (z. B. einfaches Pendel) können in nichtlinearen die Frequenz und Amplitude nicht unabhängig voneinander variieren ▶ [648]. Ein Organismus verhält sich wie gekoppelte Pendel, allerdings differenzierter: Fehlt geeignete Energie (z. B. Nahrung) über eine gewisse Zeit, kommt es zunächst zu reversiblen Schäden, erst danach zu irreversiblen. Dies beruht darauf, dass ein nicht ausreichend versorgter Teilbereich für Zeit oder Dauer durch eine selbst oder medizinisch hergestellte Reaktionsänderung von anderen Einheiten übernommen werden kann (Redundanz). Der Preis dafür ist jedoch eine gewisse Ordnungsänderung („Erinnerung“). Durch Redundanz und Reversibilität aller auf molekularer Ebene ablaufenden Prozesse sind Krankheiten bis zu einem irreversiblen Stadium durch Zufuhr geeigneter Energie prinzipiell heilbar. Allerdings bleibt aufgrund der durch Redundanz verursachten „Erinnerung“ die Gefahr, dass sich bei Wiederauftreten einer vergleichbaren Situation die Krankheit schnell wieder einstellen kann.

1.3.1 Determiniertes Chaos und Selbstähnlichkeit

Nur am Rande von Chaos kann sich Neues wie Leben und die stets damit verbundenen Krankheiten entwickeln. Denn aus hochgradig geordneten und stabilen Systemen, z. B. Kristallen, kann nichts Neues entstehen. Andererseits sind chaotische Systeme wie Wasserdampf oder Gase völlig formlos. Wirklich komplexe Dinge wie Lebewesen, Staaten, Galaxien usw. treten stets an der Grenze zwischen starrer Ordnung und Zerfall auf ▶ [493]. Dieser Rand am Chaos („determiniertes Chaos“) ist durch Selbstähnlichkeiten gekennzeichnet, wie dies untereinander Menschen, Tiere und Pflanzen eindrucksvoll zeigen. Die größte Selbstähnlichkeit besteht dabei innerhalb von Arten. Nur diese können sich auch geschlechtlich fortpflanzen, wodurch evolutiv Neues entstehen kann.

Zeitlich begrenzte Ordnungssysteme finden sich ebenfalls nur am Rande von Chaos. Sie unterliegen einer selbstorganisierten Kritizität▶ [380]. Als Beispiel kann ein Sandhaufen dienen, bei dem es, wenn er aufgeschüttet wird, ab einem bestimmten Schüttungsgrad, abhängig von der Qualität des Sandes, zeitlicher Zufuhr, Höhe, Temperatur usw., zum Abgang von Sandlawinen kommt. Darauf geht der Sandhaufen in eine andere stabile selbstähnliche Form über, worauf sich der Vorgang wiederholen kann.

In lebenden Systemen erfolgt die Aufschüttung durch autokatalytische Prozesse und nicht zufällig. Nur dadurch konnten Gene, die Reduplikation der DNS und ihre Transkription und damit letztlich der als Evolution beschriebene Prozess entstehen.

Beachte

Autokatalyse (Autopoiese) am Rande von Chaos enthält keine Zufälligkeit, sondern konvergiert gegen Selbstähnlichkeiten (Typen, Muster). Damit ist eine Schwäche der Darwin‘schen Evolutionstheorie offensichtlich, die nur zufällige Mutationen und Selektion kennt ▶ [380].

Das in der Natur herrschende Prinzip der Raumfüllung durch selbstähnliche Strukturen führt auf ein Prinzip, in dem die kulturtragende Dreidimensionalität der euklidischen Geometrie nur einen Spezialfall darstellt. Dies lässt sich folgendermaßen begründen ▶ [743]: Die elementaren Bestandteile von Tieren und Pflanzen, nämlich ihre Zellen, sind sich erstaunlich ähnlich. Dies gilt vor allem dort, wo z. B. wie bei den Säugetieren der Grundbauplan stets der gleiche ist. So haben Elefanten keine größeren Leber-, Nieren- oder Lungenzellen als Mäuse, nur sehr viel mehr. Insbesondere zeigen, unabhängig von der Tierart, isolierte Zellen in vitro etwa dieselbe Stoffwechselaktivität. Ähnliches gilt für den Sauerstoffverbrauch, Flüssigkeitsdurchsatz durch eine Nierenzelle oder Wärmebildung. Die stoffwechselbedingte Wärmeerzeugung eines Tieres sollte eigentlich seinem Körpervolumen proportional sein, die Wärmeabgabe dagegen der Oberfläche. Dann müsste ein Elefant überhitzen, eine Maus dagegen erfrieren. Alle Stoffwechselaktivitäten finden an Oberflächen statt (Atmung, Verdauung, Urinausscheidung, Zirkulation). Da aber Oberflächen mit zunehmender Körpergröße langsamer anwachsen als Volumina, müsste eine Elefantenlunge schlechter arbeiten als die einer Maus. Beides trifft bekanntlich nicht zu. Denn die Stoffwechselintensität eines Tieres steigt weder proportional zu seinem Volumen (V3) noch zu seiner Oberfläche (D2). Vielmehr liegt die Anstiegsrate zwischen der 3. und 2. Potenz. Derart gebrochene Dimensionen („Fraktale“) sind das Maß für Selbstähnlichkeit. Die Vermessung biologischer Objekte hat gezeigt, dass sie eine fraktale Dimension zwischen 2,2 und 3 besitzen, d. h. zwischen der 2. und 3. Potenz liegen. Dieser Wert stimmt sehr mit dem von 2,22 für das Anwachsen der Stoffwechselrate bei zunehmender Körpergröße überein. Wenn daher die Stoffwechselaktivität von Organismen pro Volumen und Oberfläche eine fraktale Dimension von 2,22 haben, so ist daraus zu schließen, dass ein optimal gebauter Organismus im Wesentlichen 2,22-dimensional sein muss. Fraktale Dimensionen haben aber auch ihre Grenzen, z. B. geht die Dimension 2,22 an einer Organgrenze in die 3. Dimension über. Den Ordnungszuständen im determinierten Chaos liegt somit eine fraktale Geometrie zugrunde.

Determiniertes Chaos und Fraktale erlauben die Natur sehr viel besser interpretieren zu können als lediglich das Ursache-Wirkungs-Prinzip. Hier zeigen sich Möglichkeiten, eine zukünftige Medizin einheitlich theoretisch zu begründen. Das Prinzip der Fraktale als Bausteine der Natur beinhaltet gleichzeitig das Prinzip der sensiblen Abhängigkeit von den Anfangs- und Randbedingungen. Stets ist eine große Palette von Teilursachen zu finden. Je nachdem, worauf der Untersucher gerade den Schwerpunkt seiner Beobachtung richtet, wird er bei nur monokausalem Denken eine andere Ursache finden als bei plurikausalem, was im Bereich der Befindensstörungen, chronischer Krankheiten und Tumoren zu einem unauflöslichem Dilemma führt ▶ [264]. So ist Bluthochdruck eben nicht allein mit einem vermeintlich spezifischen Blocker therapierbar, wenn dahinter z. B. ein multifaktorielles metabolisches Syndrom steht.

Beachte

Die fraktale Sichtweise befreit die Medizin aus dem kausalanalytischen und dem damit verbundenen dreidimensionalen Käfig euklidischer Geometrie. Denn: Im Reich der Organismen gibt es keinen rechten Winkel! Die dreidimensionale Sichtweise hat uns zwar unsere technische Kultur beschert, die aber angesichts zunehmender ökologischer, sozialer und medizinischer Probleme dringend erweiterungsbedürftig erscheint.

1.4 Grundregulation

1.4.1 Historische Zusammenhänge

Organismen sind evolutive, selbstreproduzierende, energetisch offene und zweckbestimmte Systeme, die selbst aus einer Vielzahl untereinander und mit der Umwelt wechselwirkender Subsysteme bestehen. Diese auf Wiener ▶ [844]) und v. Bertalanffy ▶ [58] zurückgehende kybernetische Sichtweise hat ihren Ursprung in einem Natur- und Medizinverständnis, das mit Entstehen der Hochkulturen einsetzte (etwa 500 v. Chr., „Achsenzeit“ nach Jaspers) ▶ [3]▶ [415]). Dabei spielen für die Erkenntnisgewinnung in der antiken Medizin natürliche Gegensätze wie innen – außen, schwach – stark, feucht – trocken usw. eine entscheidende Rolle. Die Einzelkomponenten lassen sich kombinieren, z. B. kalt – trocken, warm – außen usw., wodurch dynamische Verhältnisse beschrieben werden können, wie sie u. a. auch für phasenhafte Krankheitsabläufe gelten ▶ [326]. Besonders in der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) wurden antithetische Begriffspaare wie Yin – Yang und ihre „Wandlungsphasen“ zu einer Gesundheitslehre weiterentwickelt, die zur Grundlage der Akupunkturtherapie geworden sind ▶ [301]▶ [326]. Auch die altindische Ayurveda-Medizin weist in ihrer Wind-Atem-Anschauung und der Gleichgewichtsphysiologie der bestimmenden Elemente Luft, Galle und Schleim mit ihren krankheitsverursachenden Störungen Beziehungen zum westlichen und chinesischen System natürlicher Entsprechungselemente auf. Aus den Gegensatzpaaren wurde in den Hochkulturen eine Symbolik entwickelt, die sich auf die vier „Urelemente“ Feuer, Wasser, Luft und Erde bezog ▶ [171]▶ [595].

Die hippokratische Medizin hat daraus eine Krankheitslehre entwickelt, in der sie den einzelnen vier Elementen jeweils eine Körperflüssigkeit zuordnete: Das Feuer hatte seine Entsprechung in der „gelben Galle“ (Cholé), das Wasser im „Schleim“ (Phlegma), mit der Luft korrespondierte das „Blut“ (Sanguis) und die Erde wurde durch die „schwarze Galle“ (Melancholé; meinte die dunkle, halbflüssige Milzpulpa) repräsentiert ▶ [3]▶ [595]. An der Funktion des menschlichen Leibes seien alle diese vier „Säfte“ (humores) beteiligt, allerdings in unterschiedlicher Weise. Beim Gesunden sollten die Säfte in einem ausgewogenen Mischverhältnis stehen, wobei die nicht krankhafte Prävalenz eines der Säfte einem bestimmten Temperament bzw. Konstitution entspräche. Bis in unsere Zeit werden Choleriker, Phlegmatiker, Sanguiniker und Melancholiker unterschieden.

Die Säftelehre hat sich besonders unter dem Einfluss von Galen (129–199 n. Chr.) zur Humoralpathologie weiterentwickelt. Wichtigste diagnostische Methoden waren Harnschau (Uroskopie) und Pulsqualitäten. Therapeutisch wurden vor allem evakuierende Maßnahmen (Aderlass, Schröpfen, Förderung der Harnentleerung, Schwitzen, Abführen, Erbrechen) angewandt. Ziel war es, das Missverhältnis der Säfte (Dyskrasie) wieder auf eine harmonische, gute Mischung (Synkrasie, Eukrasie) zurückzuführen. Dieses gegensteuernde Therapieprinzip („contraria contrariis“) hat sich bis heute, vor allem in der Komplementärmedizin, erhalten ▶ [3]▶ [595].

Der letzte große Vertreter der Humoralpathologie war der Wiener Pathologe Carl von Rokitansky (1804–1878), ein Zeitgenosse Rudolf Virchows (1821–1902), dem Begründer der Zellularpathologie ▶ [300]. Rokitansky hatte aufgrund seiner großen autoptischen Erfahrung die Schwäche der Humoralpathologie klar erkannt: „Sie wäre lediglich ein auf Empirie gegründetes Theoriegebäude, das sich für keine systematische Einteilung von Krankheiten (Nosologie) eignete“ ▶ [185]. Um Abhilfe zu schaffen, hatte Rokitansky mit den ab 1850 einsetzbaren, leistungsfähigen Lichtmikroskopen und aufkommender histologischer Technik begonnen, seine Vorstellung einer modernen Humoralpathologie („Krasenlehre“) zu entwickeln. Deren funktionelle Basis sah er im Blut, das im Bereich der Endstrombahn ernährende „Säfte“ an die Gewebe abgäbe, die auch über die Endstrombahn entsorgt würden ▶ [185]▶ [680]. Aufgrund der damals und auch heute noch für Routinehistologie angewandten Technik der Gewebebehandlung (Entwässern, Paraffineinbettung) konnten und können keine „Säfte“ dargestellt werden. Die Zelle, nach Virchow die „wahrhaft organische Einheit“, war jedoch abbildbar, wodurch sich dessen Krankheitslehre, nach der alle Krankheitszustände des Organismus auf krankhafte Veränderungen der Körperzellen zurückgeführt werden können, anschaulich darstellen ließ ▶ [3]▶ [171]▶ [808]. Die von Virchow vorgelegten Tatsachen, publiziert in seiner Cellularpathologie, führten schließlich zum Zusammenbruch der Humoralpathologie. Rettungsversuche seitens französischer Mediziner (zuletzt Lumière 1927 ▶ [509]) hatten keinen Erfolg. Jedoch hat sich die wertvolle Vorstellung der Humoralpathologie, dass „Krankheit nur eine lokale Manifestation einer allgemeinen Stoffwechselstörung ist und dass sie daher am besten durch stoffwechselverbessernde, entzündungshemmende und blutreinigende Mittel, also durch allgemein eingreifende, den ganzen Körper beeinflussende Maßnahmen zu behandeln sei“ ▶ [185], in der Komplementärmedizin erhalten.

Im anglo-amerikanischen Raum spielte die Diskussion um die Humoralpathologie keine Rolle. Denn mit Beginn der Aufklärung im 16. Jahrhundert (Bacon 1561–1626, Descartes 1596–1659 und Vesalius 1514–1564) setzte sich dort schnell die kausalanalytische Denkweise auch in der Medizin durch. Danach hat jede Störung einen lokal definierbaren Anfang und einen anatomisch bestimmbaren Sitz ▶ [171]▶ [595]. Diese Überzeugung liegt letztlich auch der Virchow‘schen Zellularpathologie zugrunde.

Die Vorstellungen Rokitanskys wurden von Hans Eppinger (1875–1948; Ordinarius für Innere Medizin in Wien) unter Beachtung der Virchow‘schen Zellularpathologie in seiner Permeabilitätspathologie fortgesetzt. Eppinger schreibt in der Einleitung seines Werkes: „[...] gleichgültig, ob man zum Studium normales oder pathologisch verändertes Gewebe heranzieht, immer stößt man auf dasselbe Gefüge, nämlich die große Betriebsgemeinschaft Blut-Kapillarwand-Interstitium-Gewebszelle-Lymphbahn [...] ja man kann sogar einen Schritt weitergehen und feststellen, dass die Störung der Kapillarpermeabilität vielfach der ersten Szene im ersten Akt des Dramas ‚Krankheit‘ entspricht. In dem Sinne ist für mich die Permeabilitätspathologie auch die Lehre vom Krankheitsbeginn geworden [...] Die Beurteilung dieses Geschehens, speziell die Erforschung der diesen Mechanismus unterhaltenden Triebkräfte, begegnet großen Schwierigkeiten, denn das Terrain, auf dem sich diese Austauschvorgänge abspielen, ist nur schwierig einer direkten Betrachtung zugänglich [...] Vieles, was sich mir dabei als Neuland erwies, ist schon mehr oder weniger richtig von den Humoralpathologen vorausgeahnt worden; jedenfalls steckt in dieser alten Lehre so mancher richtige Kern, weswegen ich es begrüßen würde, wenn sich bald eine bleibende Verbindung zwischen Zellular- und Humoralpathologie anbahnen ließe, allerdings unter der einzig möglichen Voraussetzung, dass die neue Säftelehre einen ebenso gesunden wissenschaftlichen Unterbau erfährt, wie er für die Zellularpathologie schon seit langem erfolgreich errichtet wurde, [...] vielleicht bedeutet meine Permeabilitätspathologie, die ebenfalls eine Vereinigung von Zellular- und Humoralpathologie anstrebt, den ersten vorsichtigen Schritt auf diesem schwierigen, aber – wie ich glaube – sehr aussichtsreichem Wege.“ ▶ [185]

Ricker (1925) hatte in seiner Pathologie als Naturwissenschaft▶ [675] ebenfalls auf die überragende Bedeutung der Endstrombahn im Krankheitsgeschehen hingewiesen. Im Sinne einer Ganzheitsmedizin haben Eppinger und Ricker völlig Recht, „dass bei den uns besonders interessierenden Krankheiten mehr oder weniger alle Kapillaren unseres Organismus einen Schaden davontragen“ ▶ [185]. Der dabei als Erstes zu beobachtende perikapilläre feine, praktisch eiweißfreie ödematöse „Begleitstreifen" kann sich bei Fortdauern der Noxe zur serösen Entzündung entwickeln, mit zunehmender Verbreiterung des Raumes zwischen jetzt eiweißdurchlässigen Kapillaren und Zellen. Damit ist eine Schädigung ihrer Ver- und Entsorgung eingetreten (▶ Abb. 1.2). Eppinger hat u. a. darauf hingewiesen, dass die Kapillaren der oberen Extremitäten auch bei Pneumonie und akuter Hepatitis für Plasmaeiweiß durchlässig werden. Allgemein bekannt sind kutane Paraneoplasien bei nichtmetastatischen Hautveränderungen unter Chemotherapie, Hautveränderungen bei kardiopulmonalen Erkrankungen, Langzeitdialyse und Nierentransplantation, Exantheme bei Infektionen u. a. m. (Übersicht s. ▶ [813]).

Abb. 1.2 Perikapillärer„Begleitstreifen“ (gelbe Pfeile) als erstes Anzeichen einer Kapillarschädigung (Salamander, intrakardiale Injektion von Fluoreszein).

(aus Eppinger [185])

Den nächsten und entscheidenden Schritt in der Zusammenführung von Humoral- und Zellularpathologie machte der Wiener Ordinarius für Histologie und Embryologie Alfred Pischinger (1899–1983), unterstützt von einem Arbeitskreis hochbegabter junger Ärzte und Forscher („Wiener Team“). Pischingers System der Grundregulation beruht auf einer einfachen Tatsache: „Der Zellbegriff ist genaugenommen nur eine morphologische Abstraktion. Biologisch gesehen kann er nicht ohne das Lebensmilieu der Zelle genommen werden“ ▶ [641]. Man wird dies heute als trivial ansehen, dennoch zeigt der vorausgegangene kurze historische Überblick, wie schwierig der Erkenntnisweg war, die regulationsmedizinische Humoralpathologie und die kausalanalytisch begründete Zellularpathologie als sich gegenseitig bedingend im „System der Grundregulation" zusammenzuführen. Der Weg dorthin führte über die funktionell-morphologische Aufklärung der zwischen Endstrombahn und zu versorgenden Zellen als Transitstrecke eingezogenen Grundsubstanz (jetzt als extrazelluläre Matrix – ECM – bezeichnet ▶ [278]▶ [279]. Die Gesamtheit der ECM („ungeformtes und geformtes Bindegewebe“) macht ca. 30 % des Körpergewichtes aus und ist damit das größte Organ im Körper ▶ [300]. Wie Pischinger erkannte, wird die ECM des Bindegewebes auf jeden Reiz hin situationsgerecht von Abkömmlingen der embryonalen Mesenchymzelle (Fibroblast, Chondroblast, Osteoblast, glatte Muskelzelle, Retikulumzelle, ITO-Zelle im Disse-Raum der Lebersinus) gebildet ▶ [38]▶ [295]. Im neuronalen Bindegewebe (Neuropil) bilden Neurogliazellen, insbesondere die Astrozyten, die ECM. Sie können jedoch kein Kollagen und Elastin synthetisieren (Übersicht s. ▶ [300]). Pischinger ▶ [641] wies darauf hin, dass die ECM das gemeinsame Wirkfeld der „zyto-humoralen“, „axo-(neuro-)humoralen“ und der „angio-(hämo-)humoralen“ Regelfunktionen wäre. In der Folge kam es darauf an, die Strukturkomponenten der ECM aufzuklären, um sie zusammen mit der Zelle in einen funktionellen Kontext bringen zu können. Nach Pischinger wurde dies von Heine (seit 1983) weitergeführt.

Die Überwindung der Linearität im medizinischen Denken ist angesichts einer ständigen Zunahme von Patienten, die auf Nebenwirkungen behandelt werden müssen oder daran versterben (ca. 25 000 Todesfälle pro Jahr in Deutschland ▶ [200]), vordringlich.

Die durch ein ausuferndes Spezialistentum festgelegten Therapieschemata haben als Grundstruktur das „Schloss-Schlüssel-Prinzip", wonach ein Pharmakon an einen geeigneten zellulären Rezeptor binden muss, um eine messbar objektivierbare Wirkung zu erzielen. Dabei wird der Unterschied zwischen Wirkung und individueller Wirksamkeit nicht mehr beachtet. Durch den Zwang, über einfache Ursache-Wirkungs-Beziehungen, Modelle von Krankheiten als Syndrome isoliert darstellen zu müssen, wird das Krankheitsereignis aus seinem biologischen Zusammenhang gerissen. Das individuelle Phänomen des Krankseins wird dem nächstgelegenen Syndrom subsumiert und damit kausalanalytisch instrumentell zugänglich. „Ärztliche Erfahrung wird insoweit gar nicht mehr gebildet, weil sich das Handeln am Modell orientiert und nicht an der Wirklichkeit“ ▶ [221]. Zusätzlich können hinter gleicher Symptomatik unterschiedliche Krankheiten verborgen sein. Deshalb kann auch der randomisierte Doppelblindversuch nur eine Methode der Erkenntnisgewinnung sein. Es ist falsch, ihn für die alleinige Methode zu halten, da Erfahrungsberichte und Kasuistiken gerade das können, was der „objektive“ kontrollierte klinische Versuch nicht kann: das Individuelle der Krankheit in den Vordergrund ärztlicher Bemühungen zu stellen.

Das Virchow’sche Zellularparadigma ist in der modernen Medizin deshalb so erfolgreich geworden, weil sich besonders bei akuten und durch Mikroorganismen verursachten Erkrankungen einzelne objektivierbare Ursachen finden und ausschalten lassen. Die Berücksichtigung kybernetischer Zusammenhänge zwingt jedoch, den Boden monokausalen Denkens zu verlassen. Denn zumeist ist bei biologischen Systemen kein kausaler Zusammenhang zwischen steuernden Eingaben einerseits und Ergebnissen an den Ausgängen andererseits zu beobachten.

1.4.2 Regulation, Ordnung und Zeit

Die Schwierigkeiten, lineare Ursache-Wirkungs-Beziehungen in Organismen zu finden, liegen in der Tatsache begründet, dass es sich dabei um hochvernetzte, energetisch offene und daher nichtlineare Systeme handelt. Sie tauschen mit ihrer Umgebung Energie und Materie aus. Dadurch können auch die dabei auftretenden Ordnungszustände nicht stabil sein. Sie schwingen fernab von einem thermischen Gleichgewicht, das im Allgemeinen eine Rückkehr zum Ausgangszustand nicht erlaubt. Leben läuft daher entlang eines gerichteten Zeitpfeiles ab. Zeitabhängige Ordnungszustände korrelieren mit der Fähigkeit zur Selbstorganisation bei Zufuhr geeigneter Energie (dissipative Energie). Dies wird nicht von genetischen Faktoren bestimmt, sondern reaktiv von den auf sie einwirkenden inneren und äußeren Milieufaktoren. Der Phänotyp (die äußere Erscheinung) entspricht diesem hochkomplexen Netzwerk epigenetischer Faktoren, dem der Genotyp auf „Nachfrage“ die organischen Grundbausteine liefert.

Die hohe Vernetzung von Milieu- und Systemfaktoren schließt zufällige Strukturentwicklungen aus. Nichtlineare, energetisch offene Systeme haben jedoch die Fähigkeit zur Autokatalyse, wodurch spontan neue Ordnungszustände u. U. auch an unphysiologische Prozesse angepasst (Adaptation) auftreten können.

Aufgrund der Unumkehrbarkeit des Zeitpfeiles organismischer Ordnungszustände unterliegen Lebewesen der Evolution, d. h. der zweckmäßigen Anpassung an die jeweiligen Lebensverhältnisse ▶ [743]. Zweckmäßigkeit (Finalität) ist ein teleologischer Begriff, der im Widerspruch zum Ursache-Wirkungs-Denken steht. Der Widerspruch löst sich im polaren Denken des „Sowohl-als-auch“ auf, das dem Prinzip der biologischen Medizin „Hilfe zur Selbsthilfe“ entspricht.

1.4.3 Die ECM als Molekularsieb

Als kleinster gemeinsamer funktioneller Nenner eines Organismus ist nicht, wie Virchow meinte, die Zelle zu sehen, sondern die Zelle mit dem sie umgebenden Milieu, über das sie ver- und entsorgt wird. Selbst einzellige Lebewesen brauchen eine für sie zuträgliche Umgebung. Ursprünglich scheint dies das Meerwasser gewesen zu sein, dessen Zusammensetzung sich im Gewebswasser erhalten hat ▶ [300].

Das eine Zelle umgebende Milieu und die Zelloberfläche selbst müssen dabei bestimmte physiko-chemische Eigenschaften aufweisen (Molekülgröße und -ladung, onkotischer Druck, pH- und rH-Gradienten u. a. m.), um ihre Funktionen koordinieren zu können. Denn es muss sichergestellt sein, dass die ca. 15–18 Liter Gewebswasser bei 75 kg Körpergewicht ständig in Bewegung bleiben („innerer Kreislauf“ ▶ [185]). Nur dadurch können Metaboliten an die Zellen heran- und Kataboliten abgeführt werden. Die Flüssigkeitsbewegung stellt hauptsächlich ein Wechselspiel zwischen der wasseranziehenden Kraft der Kolloide, vor allem von Albumin im Blutplasma (kolloidosmotischer oder onkotischer Druck), dem hydrostatischen Kapillardruck und dem Gewebswasser dar. Die Größe der Flüssigkeitsmenge, die bei Passage der Körperblutmenge (ca. 4,5 Liter bei 75 kg Körpergewicht) durch das Kapillarsystem als „Blutwasser“ (eiweißfreies Ultrafiltrat) abgegeben wird, soll 11–13 % der Blutmenge betragen. Das Gewebswasser wird dann als Rückresorbat im venösen Kapillarschenkel wieder aufgenommen. Ein geringer Anteil fließt über das Lymphsystem ab ▶ [185]. Jede Kapillarschädigung im Sinne einer Permeabilitätsänderung gefährdet daher die Ver- und Entsorgung der nachgeschalteten Zellen. Der ganze innere Kreislauf ist daher von der Undurchlässigkeit der Kapillaren für großmolekulare Proteine abhängig. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Gewebswasser nicht frei im interstitiellen Bindegewebe fließt, sondern aufgrund des Aufbaus der extrazellulären Matrix (ECM) aus wasserbindenden Makromolekülen (Proteoglykanen und Glykosaminoglykanen (PG/GAGs), Kollagen, Elastin u. a. m.) besteht ▶ [278]▶ [279]. Dadurch wird die ECM zu einer besonderen Art von Gel, das bei Erhöhung der Wasserzufuhr quillt, wodurch das Auftreten von freiem Wasser verhindert wird ▶ [307]▶ [743]. Bei Flüssigkeitsverlust kann das Gel das eingelagerte Wasser stärker festhalten als das Plasmaalbumin. Diese Ungleichheit der Wasserbindungsfähigkeit von Proteinen in der Blutbahn und der ECM bewirkt, dass erst bei relativ starken Wasserverlusten bzw. Überwässerung eine für die Zelle osmotisch nachteilige Veränderung in ihrer unmittelbaren Umgebung auftritt. Außerdem wird bei Erhöhung des Flüssigkeitsgehaltes in der ECM das Zuviel an Flüssigkeit in das Lymphgefäßsystem abgeführt. Erst wenn auch dieses die Flüssigkeit nicht mehr abtransportieren kann, kommt es zum Ödem. Andererseits kann auch eine beschädigte Kapillare die Rückresorption nur ungenügend leisten, vor allem dann, wenn sich auf beiden Seiten Eiweiß befindet. Letztlich kann der Übertritt von Plasmaproteinen in die ECM zum vollständigen Stillstand des inneren Kreislaufs führen mit lebensbedrohender Ödembildung ▶ [185]. Bedeutsam ist, dass bei kochsalzarmer Diät der onkotische Druck ansteigt, d. h. der innere Kreislauf begünstigt wird, wogegen er bei kochsalzreicher Diät sinkt. Bei Asthmatikern und Adipösen ist der innere Kreislauf vermindert, bei konstitutionell mageren Personen relativ hoch ▶ [185].

Leider erfolgt die Darstellung einer Zelle meist ohne Berücksichtigung ihres Anschlusses an die ECM (vgl. ▶ [214]). Dies stellt eine unzulässige Vereinfachung dar, da entscheidende Regelmechanismen der Zellver- und -entsorgung unberücksichtigt bleiben ▶ [321]. Der innere Kreislauf ist über die Kapillaren an das Endokrinium und über die Endausbreitung der vegetativen Nervenfasern an das ZNS angeschlossen.

Abb. 1.3 Zellversorgung.a Konventionelle Darstellungb Polysaccharidnetz der ECM. Jeder Zelle ist die ECM als Molekularsieb vorgeschaltet.

Vertiefendes Wissen

Es gibt daher keine Erkrankung, an der der „innere“ Kreislauf nicht beteiligt wäre.Wenn auch das Molekularsieb zwischen Kapillare und Zelle organtypisch gestaltet ist und bis auf ca. 80 nm schrumpfen kann (u. a. Lunge, endokrine Drüsen), so ist eine ECM doch stets vorhanden (Übersicht s. ▶ [300]). Das bedeutet, dass jede Zelle in ihrer Funktionalität von der Beschaffenheit und Regelung der vorgeschalteten ECM abhängig ist. Dieses holistische Prinzip zeigt, dass in jedem Körperteil die Gesamtinformation des Körpers vertreten ist.Nach Art von Hologrammen ist z. B. von Ohr (Ohrakupunktur), Fuß (Fußzonenreflexmassage) oder somatotopischen Projektionsfeldern (Mikrosysteme des Organismus) aus ein Zugang zu den Regulationsmechanismen des Körpers möglich ▶ [240]▶ [264].

1.4.4 Biologische Systeme als elektromagnetische Sender und Empfänger

Biologische Systeme sind energetisch offen, nichtlinear, autoregulativ und elektromagnetisch schwingungsfähig. Aus bioelektrischer Sicht stellen sie Sender wie auch Empfänger dar ▶ [52].

Die im Organismus generierten elektromagnetischen Felder interagieren mit den Organ- und Zellfunktionen einschließlich der biorhythmisch ablaufenden Enzymreaktionen ▶ [293]. Zelluläre elektromagnetische Felder können als Trägerwellen moduliert und von Zelle zu Zelle weitergegeben werden, um schließlich im Empfänger aufgenommen, gleichgerichtet und verstärkt zu werden. Beispiele sind das EKG, EEG, EMG u. a. m. ▶ [52].

Da Zellen auf kleinstem Raum über elektrische Selbstinduktivität, Kapazität und Widerstand verfügen, resultieren entsprechend elektromagnetischer Gesetze Schwingkreise mit sehr hoher Eigenfrequenz ▶ [183]. Allein die Schwingungen der Zellmembran bilden bereits ein hochfrequentes elektromagnetisches Wechselfeld, das nach Berechnungen von Fröhlich ▶ [215]▶ [217] im Mikrowellenbereich (Gigahertz bis Terahertz) liegt. Aufgrund der zellulären Mikro- und Nanodimensionen sind zelluläre Schwingkreise von der elektrischen Flussdichte (Permittivität) in den Zellen abhängig ▶ [183]▶ [217]. Im Schwingkreis bildet die Zellmembran den Induktor, das Zytoplasma die Kapazität, und der Widerstand ist durch die Permittivität mit dem Dielektrikum aus Kieselsäure-Wasser-Verbindungen im Zytoplasma gegeben. Die Permittivität gibt an, wievielmal größer die elektrische Flussdichte wird, wenn statt Vakuum oder Luft ein anderer Stoff als sog. „Dielektrikum“ eingesetzt wird. Durch das Dielektrikum wird die Kapazität des (zellulären) Leiters vermehrt ▶ [183]. Dies gilt insbesondere für Wasser, das die höchste Dielektrizitätskonstante (ε~81,1) hat ▶ [147]. Es ist in der Zelle stets an hochpolymere Kieselsäure (Sin(H2O)n) gekoppelt ▶ [307]. Das Silicium (Si) in der Kieselsäure hat ausgezeichnete Halbleitereigenschaften und ist daher, wie in Kap. ▶ 1.4.17 näher erläutert wird, hoch geeignet zur Bildung zellulärer Transistoren (Übersichten bei ▶ [147]▶ [307]).

Zellen bilden über Zellkontakte (Maculae adhaerentes [Desmosomen], Zonulae occludentes und gap junctions [nexus ]) elektrisch gekoppelte funktionelle Zellverbände. Über gap junctions können u. a. kleine Moleküle, Zytokine und Elektrolyte wie Na+, K+ und Ca2+ transportiert werden. Die transzellulären Kanälchen der gap junctions sind durch randständige Proteine (Connexine) gegen die Zellmembran isoliert. Dadurch entstehen elektrotonische Zellkopplungen, die auch als elektrische Synapsen bezeichnet werden ▶ [690]. Über gap junctions können Verschiebeströme laufen, wogegen die über den gap junctions angeordneten Zellhaften wie das Gitter einer Kathodenröhre wirken, d. h. gleichrichtende und verstärkende Wirkung auf den Verschiebestrom in den Kanälchen haben. Soll ein möglichst effektiver Verschiebestrom über die Zellkontakte fließen, ist eine hohe elektrische Flussdichte (Permittivität) von Wasser notwendig. Denn nur dann kann bereits ein kleines elektrisches Feld einen hohen Verschiebestrom erzeugen ▶ [183]. Über die Zellkontakte, insbesondere durch die Kanälchen der gap junctions, werden die zellulären Transistoren in Gruppenschaltung („gemischte Schaltung“, d. h. Schaltung sowohl in Reihe als auch parallel) verbunden. Transistoren sind Halbleiterdioden (s. u.), die als Leistungsverstärker und steuerbare elektrische Ventile (Gleichrichter) arbeiten ▶ [147]. Zellverbände liegen daher im Organismus als gekoppelte Schwingkreise mit Transistoreigenschaften vor.

1.4.5 Strukturkomponenten und Struktur der ECM

Das hohe Potenzial struktureller Diversität von Kohlenhydraten macht deren Polymere zu unübertroffen effizienten Trägern von Informationen. So können z. B. aus vier verschiedenen einfachen Kohlenhydraten (Hexosen) theoretisch 35 560 unterschiedliche Tetrasaccharide gebildet werden. Das genetische Material ist sehr viel bescheidener. In mehrzelligen Organismen werden in den Genen je 4 Nukleotide (Adenin, Guanin, Cytosin, Thymidin) jeweils zu dritt so miteinander kombiniert (43=64 Kombinationsmöglichkeiten), dass die Bildung von 32 Aminosäuren für die Synthese aller Proteine gesichert ist. Diese kleinzahlige „genetische Monotonie“ ist wegen ihrer verhältnismäßig geringen Störanfälligkeit für die Entwicklung langdauernder Strukturen (an denen Evolution wirksam wird) wie des Skeletts, der Nerven, Blutgefäße, Sehnen u. a. m. von großer Bedeutung (genetisches Langzeitgedächtnis). Das Gegenteil gilt für die Regulation der ECM und der Glykokalyx, da sich die hohe Kombinierbarkeit ihrer Zucker schnellen komplexen Veränderungen anpassen kann („Kurzzeitgedächtnis").

Beachte

Kohlenhydratmoleküle stellen daher neben Nukleinsäuren und Proteinen ein drittes Alphabet des Lebens dar, das entschlüsselt werden muss, wenn man die Lebensvorgänge umfassender verstehen lernen will ▶ [500].

Die wichtigsten Strukturkomponenten der ECM sind Proteoglykane und Glykosaminoglykane (PG/GAGs) (▶ Abb. 1.4, ▶ Abb. 1.5), Strukturglykoproteine (verschiedene Kollagentypen, Elastin) sowie Vernetzungsglykoproteine (u. a. Fibronektin). Der Zusammenhang zwischen einem PG, einem GAG, einem Strukturglykoprotein, einem Vernetzungsglykoprotein und den an sie gebundenen kleinmolekularen Stoffen (Wasser, Zytokine, Hormone, Peptide, Neurotransmitter usw.) wird als Matrisom bezeichnet (▶ Abb. 1.6) ▶ [248].

Abb. 1.4 Schema eines Proteoglykans.

(nach Mörike et al. [568])

Abb. 1.5 Struktur und Synthese der PG/GAGs.a Schema eines PG/GAG-synthetisierenden Fibroblasten. 1 Golgi-Apparat, 2 Golgi-Vesikel mit PG/GAGs, 3 Freisetzung der PG/GAGs in die ECM.b Schema eines PGs, das über link-(Verbindungs-)Proteine (a) an Hyaluronsäure (Doppellinie) bindet; b Dermatansulfat, c Keratansulfat, d Heparansulfat, e Chondroitinsulfat. b–e gebunden an das Proteinrückgrat.c Schema der flüssig-kristallinen Wasserbindung (feingestrichelt) zwischen den GAG-Ketten und Wasserdomäne (grob gestrichelte Hülle) der PGs sowie ihre Bindung an Hyaluronsäure.d Ultrastruktur des Anschnittes eines PG/GAG synthetisierenden Fibroblasten (Haut, Mensch). In den Golgi-Vesikeln (2) ist ein Netzwert aus PG/GAGs (Pfeilköpfe) zu erkennen. Diese Vesikel öffnen sich an der Zelloberfläche und setzen ihren Inhalt in den Extrazellulärraum frei, wo sie sich zu größeren Aggregaten (3, eingekreist) verbinden. (40 000-fache Vergr.)

Abb. 1.6 Matrisom. Vier Makromoleküle der ECM und von diesen transitär gebundene Moleküle (TP) des Stoffwechsels, des Zytokinnetzwerkes, des Abwehrsystems u. a. m. Die n-Potenz der Klammer weist auf die sich wiederholende, selbstähnliche (fraktale) Gestalt von Matrisomen in der ECM. PG/GAGs Proteoglykane/Glykosaminoglykane, StGL Strukturglykoproteine, VGL Vernetzungsglykoproteine.

(nach Grimaud und Lortat-Jacob [248])

PGs stellen den Hauptanteil der ECM dar. Sie finden sich überall im Interstitium, in allen Interzellulärräumen, in den Schleimen, intrazellulär und im Zuckeroberflächenfilm (Glykokalyx) der Zellen ▶ [278]▶ [279]. Sie werden in der Peripherie von Abkömmlingen der embryonalen „omnipotenten“ Bindegewebszelle, der Mesenchymzelle, im ZNS von Astrozyten gebildet ▶ [185]▶ [300]. Dieser phylogenetisch uralte Zelltyp („Stammzelle“) findet sich bereits bei den primitivsten Mehrzellern wie den Schwämmen. In der menschlichen Ontogenese tritt die Mesenchymzelle bereits mit Beginn der dritten Entwicklungswoche auf ▶ [278]▶ [279]. Mesenchymale Zellen dringen in Begleitung von Blutgefäßen in alle Organe ein, überziehen als Periost und Perichondrium alle Skelettelemente und bilden sämtliche Formen von Bindegewebe. Markanteste Vertreter sind Fibro-, Osteo-, Chondro- und Myoblasten. Die Mesenchymzelle bildet auch Stammzellen u. a. des Retikulo-Histozytären Zellsystems (RHS), der hämotopoietischen Zellen im Knochenmark sowie der retikulären und dendritischen Zellen in den lymphatischen Organen ▶ [300]. Alle diese Zellen können untereinander gerichtete informative Zellhaften bilden (gap junctions), über die kleine Ionen und Moleküle transportiert werden können. Auch Lymphozyten können mit diesen mesenchymalen Zellformen derartige intensive Kontakte bilden („immunologische Synapsen“). Auf diese Weise entsteht ein körperweites Informationsnetz, das zwar über die Endformation der vegetativen Nervenfasern („Synapsen auf Distanz“) an das ZNS und Hormonsystem gekoppelt ist, aber im Wesentlichen mechanosensibel reagiert, d. h. diese Zellformen reagieren erst, wenn ihnen ein Reiz aufgezwungen wird.

Der Molekularsiebcharakter der ECM wird wesentlich durch ein Grundgerüst aus elektronegativen PG/GAGs bestimmt. Die PGs tragen an einem bis zu 300 nm langen Proteinrückgrat bürstenartig angeordnet bis über 100 sulfatierte GAG-Seitenketten (▶ Abb. 1.5, ▶ Tab. 1.2). Die Masse des Proteinrückgrates beträgt lediglich 5–10 % der totalen Masse eines PG-Moleküls ▶ [486]▶ [679].

Tab. 1.2

 Übersicht über die wichtigsten Proteoglykane (nach verschiedenen Autoren).

Proteoglykan

Art und Zahl der GAG-Seitenketten

Molekulargewicht (kDa)

Gene und Chromosomen-Mapping

Gewebe, Zellen

Topografie

Chondroitinsulfat-Proteoglykane (ChSPGs, Hyalectane)

Versican

Chondroitinsulfat (ca. 20–25)Dermatansulfat (ca. 10)

~1000

CSPG25q13.2

bindet an Hyaluronsäure, Kollagenfibrillen und Lektine

ECM, Wand von Blutgefäßen

Aggrecan

Chondroitinsulfat (ca. 100)Keratansulfat (ca. 30)

> 2500

AGC115q26

bindet an Hyaluronsäure, Kollagenfibrillen und Lektine

Knorpel (50 mg/cm3)

Neurocan

Chondroitinsulfat (3–7)

ca. 1000

NCAN

bindet an Hyaluronsäure

Zentralnervensystem

Brevican

Chondroitinsulfat (1–3)

ca. 700

BCAN1q25-q31

bindet an Hyaluronsäure

Zentralnervensystem

Appican

Chondroitinsulfat (2)

ca. 500

bindet an Hyaluronsäure

Zentralnervensystem

Heparansulfat-Proteoglykane (HSPGs)

Syndecan

Heparansulfat (3)Keratansulfat (1)Dermatansulfat (1)Chondroitinsulfat (1)

ca. 600

ZelloberflächeVerbindung zum Zytoskelett

ZellmembranBasalmembran

Perlecan

Heparan/Chondroitinsulfat (3)

400–500

HSPG21p36

bindet Laminin und Kollagen Typ IV

Basalmembran

Glypican

Heparansulfat (4)

ca. 480

Zelloberflächen PG

Zellmembranvon Fibroblasten

Agrin

Heparansulfat (3)

ca. 250

AGRN1p32-pter

synaptischer Spalt

Synapsen

Kleine Leucin-reiche Proteoglykane

Decorin

Chondroitin/Dermatansulfat (1)

100–350

DCN12q23

bindet Lamininund KollagenTyp IV

ECM

Biglykan

Chondroitinsulfat (2)Dermatansulfat (2)Keratansulfat (2)

200–350

BGNXq28

Zelloberfläche

VerbindungZelle zu ECM

Am Proteinrückgrat sind die GAG-Seitenketten α- oder β-glykosidisch an bestimmte Aminosäuren (Serin, Threonin, Asparagin) gebunden (▶ Abb. 1.4). Gestreckte GAG-Ketten, bis zu einem tausendstel Millimeter lang, ohne Protein bildet die überall in der ECM auftretende, nicht sulfatierte Hyaluronsäure (Heparin als weiteres freies GAG wird bei Degranulation von Mastzellen in die ECM freigesetzt). Die GAG-Ketten von PGs werden von ca. 1 nm langen Disacchariduntereinheiten aus Glukuronsäure (oder deren Epimerisationsprodukt Iduronsäure) und einem Hexosamin (z. B. N-Acetyl-D-Galaktosamin) gebildet ▶ [29]▶ [278]▶ [279]▶ [405]. Die verbreitetsten PGs sind das Chondroitinsulfat-(ChSPG-) und Heparansulfat-Proteoglykan (HSPG), dazu kommen Keratansulfat- und Deramatansulfat-PGs (▶ Abb. 1.5). Das Molekulargewicht der PG/GAGs kann von ca. 40 kDa bis etwa 1000 kDa (= Kilodalton) betragen (▶ Tab. 1.2). Ihre Halbwertszeit beträgt einige Tage bis Wochen, die der Zellmembran-gebundenen PGs dagegen nur wenige Stunden ▶ [267]▶ [405].

Die PGs lassen in der ECM eine gewisse topografische Anordnung erkennen: Die ChSPGs binden über den Aminoterminus ihres Rückgrates an Hyaluronsäure (daher als „Hyalectane“ bezeichnet), mit ihrem C-terminalen Ende an alle weiteren Zuckerstrukturen in der ECM ▶ [405]. Die HSPGs binden dagegen im Wesentlichen an die Zelloberfläche mit transmembranösem Kontakt zum Zytoskelett (▶ Abb. 1.8).

Zwischen den Hyalectanen und membranständigen HSPGs vermitteln sog. Matrix-PGs, zu denen u. a. die „kleinen Leucin-reichen PGs“ wie das Decorin und Biglykan zählen (▶ Tab. 1.2, ▶ Abb. 1.7) ▶ [405]. Leider werden für die PG/GAGs Trivialbezeichnungen benutzt, die keinen Rückschluss auf ihren chemischen Aufbau zulassen (▶ Tab. 1.2). Zusätzlich sind intrazelluläre und sogenannte „Teilzeit“-PGs, deren Proteinrückgrat auch ohne GAG-Seitenketten auftreten kann, zu berücksichtigen ▶ [405].

1.4.6 Synthese der PG/GAGs

Die Natur tritt uns überall mit ungeheurer Vielfalt gegenüber. Die offenbar unbegrenzte Variationsfähigkeit liegt in den Kombinationsmöglichkeiten der Biopolymere. Prinzip dabei ist, wie es z. B. die Nukleinsäuren (DNA, RNA), Proteine und Proteoglykane (PGs) zeigen, dass an ein häufig periodisch gebautes Grundgerüst in bestimmten Abständen Seitenketten angehängt werden (▶ Abb. 1.7).

Um ein optimales Polymer zu erzeugen, wird ein Minimum von Seitenketten bestimmter, in höchst effektiver Aufeinanderfolge an das Proteinrückgrat angehängt. Dazu werden im Verlauf der Evolution entstandene hierarchisch geordnete „Baukästen“ benutzt. Schon bestehende und bewährte Strukturen werden dabei modifiziert und neu kombiniert ▶ [732]. Denn das Kombinieren von Modulen (bzw. Module; der amerikanische Ausdruck „Motifs“ sollte vermieden werden) ist viel einfacher, schneller und weniger störanfällig als jeweils eine Neukonstruktion zu beginnen. Es ist z. B. viel einfacher und effizienter, Computer durch Zusammenfügen von vorgefertigten Platinen zu bauen, als immer wieder von vorne anzufangen. Außerdem können durch die Modulbauweise leicht Modifikationen angebracht werden.

Module als kleinste Strukturelemente können weiter zu Domänen verknüpft werden, wobei mehrere Domänen zu Untereinheiten arrangiert werden können. Dadurch entstehen nahe verwandte Moleküle, aber mit z. T. sehr abgewandelten Funktionen, wie es z. B. die PGs zeigen. Bestimmte Domänen von ECM-Komponenten, wie das Fibronektin, können u. a. Wachstumsfaktoren speichern und regulieren. Andere Module und Domänen in ECM-Komponenten sind in der Lage, auch direkt an Zelloberflächenrezeptoren wie die Integrine zu binden ▶ [398]. Im selben ECM-Molekül, z. B. dem Fibronektin, können koexistente Module für Zelladhäsion und Wachstumsfaktoren auftreten (▶ Abb. 1.16), wodurch auch Rezeptoren zur Cluster-Bildung zusammengezogen werden können. Nicht nur, dass dadurch stabile Gradienten von Faktoren entstehen, sondern auch der cross talk zwischen den Rezeptoren wird gefördert, wodurch vielfältige Zellreaktionen zustande kommen können ▶ [398].

Eine wichtige allgemeine Eigenschaft der ECM-Komponenten ist ihre Fähigkeit zur Formveränderung, Flexibilität, Dehnbarkeit und mechanischer Spannung. Dadurch werden u. a. kryptische Bereiche freigelegt, wodurch z. B. Bindungsbereiche für weitere Faktoren freigelegt werden können ▶ [398].

Die Synthese der PG/GAGs erfolgt in der Weise, dass zunächst an entsprechenden Genabschnitten die Messenger-RNS der PG/GAGs kopiert und an die ribosomale RNS auf dem endoplasmatischen Retikulum (ER) gebunden wird. Dann erfolgt die Synthese zunächst des Proteinrückgrates auch für die GAGs (Hyaluronsäure und Heparin). Taucht in der Aminosäurenkette eine bestimmte Aminosäure (Serin oder Asparaginsäure) auf, beginnt im ER die Anknüpfung der Bindung von Zuckerseitenketten, die endständig energiereiches Nukleotid-Uridinphosphat (UDP) tragen. Bei ChSPGs und HSPGs wird als erster Zucker Xylose über die ER-membranständige β-D-Xylosyltransferase an Serin gebunden (es werden jedoch nicht alle Serinreste xylosyliert). Weitere Transferasen binden dann die weiteren Zucker an. Die energetisch schwierigste Hürde ist die Sulfatierung der entstehenden GAG-Seitenketten. Die Aktivierung des Sulfates erfolgt durch Bildung von 3’-Phospho-Adenosin-5’-Phosphosulfat (PAPS). Zucker-Sulfotransferasen binden dann das Sulfat an N-Acetyl-Galaktosaminmoleküle. Während dieser Syntheseschritte werden die PG-Moleküle bis in den distalen Bereich des ER verschoben, wo sie schließlich vesikulär im Golgi-Apparat verpackt werden. Dort erhalten sie noch den letzten Schliff, z. B. Anheftung von Sialinsäure an das Ende der Zuckerseitenketten bei den PGs. Bei den GAGs erfolgen vorher schon durch Endoglykosidasen der ER-Membran die Abspaltung des Proteinrückgrates und die Verknüpfung energiereicher Zucker zu Hyaluronsäure oder Heparin. Die Ausschleusung der PG/GAGs läuft über Verschmelzung der Membran der Golgi-Vesikel mit der Zellmembran und Öffnung der Vesikel nach außen (▶ Abb. 1.5) ▶ [846].

Derzeit sind mehr als 30 PGs bekannt (die bedeutendsten siehe ▶ Tab. 1.6). Sie sind in alle lebenswichtigen Funktionen eingeschaltet: Molekularsiebbildung in der ECM, Zellwachstum und Differenzierung, Zellhaftung, Biorhythmus, Abwehr, Reifung der Gewebe, räumlicher Gewebsbau und Viskoelastizität, Ausrichtung der Kollagenfasern, Filter- und Ionenaustauscherqualitäten, Wasserorganisation, Speicherung von Proenzymen, Zytokinen und Hormonen, Chemotaxis der Zellen, Neuritenwachstum, Synapsenfunktion, Wundheilung, Transparenz der Cornea, Verschlackung, Tumorwachstum und Metastasierung ▶ [300]▶ [405].

Versican. Am Beispiel von Versican, dem im gesamten Organismus verbreitetsten PG, einem ChSPG, lässt sich das funktionelle Gefüge der PGs generell erläutern (Übersichten bei ▶ [267]▶ [405]) (▶ Abb. 1.4, ▶ Abb. 1.7). Das Proteinrückgrat ist ca. 300 μm lang, mit einem Durchmesser von ca. 2 nm. Es bindet über seinen Amino-(NH2-)Terminus an Hyaluronsäure (HA) und seinen Säure-(COOH-)Terminus an Karbohydrate in der Umgebung. Der dazwischen liegende Abschnitt lässt sich in drei Domänen gliedern (▶ Abb. 1.7) ▶ [405]:

Abb. 1.7 Verschiedene Formen von Proteoglykanen. I–IV Domänen.a Versican (Hyalectan, Chondroitinsulfatproteoglykan). Von links nach rechts: Ig Immunglobulintyp-Modul; LP Link-Protein-Modul; GAG Glykosaminoglykan-bindende Domäne (α und β stellen alternative Spleißvarianten verschiedener Exone dar); EG Epithelialer Wachstumsfaktor-Modul; Lektin, ein C-Typ Lektin-ähnliches Modul; CR Complement regulatorisches Protein. Glykosaminoglykanseitenketten sind durch Ellipsenketten dargestellt.b Perlecan (Heparansulfat-Proteoglykan). SEA, ein Modul zuerst in Spermaprotein, Enterokinase und Agrin entdeckt. LA Low density Lipoprotein Rezeptor A-Modul, LE Laminin-1 und Epithelialer Wachstumsfaktor ähnliches Modul; LamG zuerst auf der G-Domäne gefundene α-1-Kette von Laminin-1; EGF Epithelialer Wachstumsfaktor Modul.c Decorin (kleines Leucin-reiches Proteoglykan). Von links nach rechts: SP Signalpeptid; PP Propeptid; Cys Cystein-reiche Region; LRR Leucin-reiche Module; Cx Cystein-wiederholende Sequenzen; Lx Leucin-wiederholende Sequenzen; Nx N-terminale Cystein-reiche Sequenzen. Eine Glykosaminoglykan-reiche Sequenz ist durch eine Kette von Ellipsen, einzelne Glykosaminoglykanketten durch einfache gepunktete Kreise gekennzeichnet. Gestrichelte Linie, Krümmung des Moleküls zwischen den Cysteinregionen.

(modifiziert nach Iozzo [405])