Lehrbuch der Liebe und Ehe. Formen der Liebe - Franz Blei - E-Book

Lehrbuch der Liebe und Ehe. Formen der Liebe E-Book

Franz Blei

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Lehrbuch der Liebe und Ehe. Formen der Liebe

Lehrbuch der Liebe und Ehe. Formen der LiebeA Lehrbuch der Liebe und EheVorwort11.11.21.31.41.51.61.71.81.91.101.111.121.1322.12.22.32.42.52.62.72.82.92.102.112.1233.13.23.33.43.53.63.73.83.93.1044.14.24.34.44.54.64.74.84.94.104.114.1255.15.25.35.45.55.65.75.85.95.105.115.125.135.145.1566.16.26.36.46.56.66.76.86.96.106.1177.17.27.37.47.57.6B Formen der LiebeVorbemerkungenB.1 Das ErotischeB.2 Die phallischen RitenB.3 Die HäterenB.4 Die sokratische FreundschaftB.5 Daphnis und ChloeB.6 Der Baum der ErkenntnisB.7 Die GeishaB.8 Archaische LandschaftB.9 Die jungfräuliche MutterB.10 Die MinneB.11 Der Roman von der RoseB.12 Die Auferstehung der VenusB.13 Die erotische BesessenheitB.14 Das DecameroneB.15 Das Maß der SchönheitB.16 Die Femmes GalantesB.17 Die Sünde des FleischesB.18 Der Don Juan – Legende und SymbolB.19 Der Preziöse StilB.20 Der galante SchäferB.21 Die Prinzessin von ClevesB.22 Der frivole StilB.23 Die kleinen Meister des frivolen StilsB.24 MiniaturenB.25 Der venezianische KarnevalB.26 CasanovaB.27 Die Pornographische IdealistikB.28 Der Marquis de SadeB.29 Der empfindsame StilB.30 Die böse LustB.31 Ehe und LiebeB.32 Die romantische LiebeB.33 Stendhal über die LiebeB.34 Dialogische IntermezziB.35 Das junge MädchenB.36 Die erotische MorbidezzaB.37 Der romaneske ErosB.38 Der romantische Eros bei Richard WagnerB.39 Nietzsche über die LiebeB.40 SchlußbemerkungenFußnoten zu Formen der LiebeImpressum

Lehrbuch der Liebe und Ehe. Formen der Liebe

Verfasser: Franz Blei

Herausgeber: Gabriel Arch

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books.gabrielarch [at] t-online.de

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© Copyright Gemeinfreies Titelbild: Wikimedia Commons, A high resolution image of an orchid, leicht modifiziert, CC0 1.0, Fotograf: Nicolas Perrault II

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A Lehrbuch der Liebe und Ehe

Vorwort

In einem verbreiteten Buche über das Leben des sexuellen Mittelstandes und dessen heutige Leiden verschenkt der ärztliche Verfasser die Erfahrungen einer wie er sagt fast fünfzigjährigen Praxis so gut wie für nichts. Er weiß und lehrt, wie annehmlich es sei und das von ihm in Betracht gezogene Liebesleben fördernd, wenn sich die daran Beteiligten des öfteren an den sekretierenden Körperteilen etwas waschen. Oder er setzt auseinander, wie es für das Glück und vor allem auch für die Dauer einer Ehe von großer Wichtigkeit sei, die Positionen der Kopulation zu variieren, und er gibt da gleich ausführlich ein Dutzend verschiedener Positiones amoris an, alle wie er sagt höchst geeignet, das Vergnügen nicht reizlos werden zu lassen, – nicht immer ganz einfache Stellungen, aber alle doch mit einigem Fleiß und gutem Willen zu erlernen. Sagt also nach dem Abendbrot der vollbärtige Gatte zu seiner Frau Gemahlin: »Heute, Luise, wollmermal an Stellung fünf rangehn«, –

Und voll Eifer studiert die gerne willige Gattin Was ihr der schlicht behaarte Finger zu lesen gebietet, wie man im idyllischen Versmaß es nur sagen kann.

Nun, für solche in diesem Punkte Unglückliche und Verzweifelte ist das hier vorgelegte Buch nicht geschrieben. Es enthält weder Einschärfungen was das Waschen betrifft, noch Anweisungen über die mannigfachen Exekutionen des Beischlafes. Der Verfasser verläßt sich hier auf die gute Kinderstube seiner Leser und Leserinnen und auf ihr Ahnen, daß dem immanenten tragischen Geist der Liebe mit so komischen Einfällen der funktionellen Praxis nicht beizukommen ist. Der praktische Arzt schreibt für die Millionen, die nichts als funktionieren, aber nicht lieben. Und die ihren Untergang und ihre blöde Qual eben daraus haben, daß sie nichts als funktionierend sündigen: der Mann damit, daß er ohne Liebe eine Frau beschläft, die Frau damit, daß sie es ohne Liebe geschehen läßt, gleichgültig, ob sich das in einer Ehe vollzieht oder in dem, was man ein Verhältnis nennt, der Stunde oder einer längeren Dauer. Beziehungen, die sich nur so von Schoß zu Schoß herstellen, muß wohl das Waschen gelehrt werden. Und in der gelernten Variante ihres sogenannten Vergnügens erleben diese Paare nur rascher noch als sonst den Ekel und Widerwillen voreinander. Denn in den Sekreten und Eingeweiden können sie nie finden, was sie da suchen: Liebe. Denn diese ist nur aus dem eigenen Gefühle zu erschaffen. Sie finden höchstens Lust, die sich mindert, woran alle Variationen des körperlichen Mittels nichts ändern. Nicht an einer mangelhaft ausgebildeten Physik der geschlechtlichen Funktionen gehen diese ehelichen und anderen Paarungen zugrunde, nicht unter dem Mangel der Delikatesse und des Taktes in der Kopulation leiden sie und wäre ihnen durch Weckung solcher Delikatesse zu helfen und durch akrobatische Ausbildung, sondern sie leiden, weil sie etwas tun und tun lassen, das ohne die Adelung durch das Gefühl der Liebe nichts als gemein ist. Kein menschlicher Liebesakt kommt ohne die Phantasie zustande, und wo die Liebe dieser Phantasie nicht Bahn und Richtung weist, führt sie in die Irre des Irrsinns und der Verzweiflung. Die zunehmende Häßlichkeit der Menschen, äußere wie innere, hat darin ihren Grund, daß die Menschen sich ohne die Adelung ihres Triebes durch die Liebe paaren und ohne Liebe empfangene Kinder gebären, diese oft so unerwünschten weil nicht ausgespülten Effekte des sich Vergessens im gleichgültigen Zufall eines Schoßes oder einer Umarmung.

Es wäre falsch und sinnlos, jener absoluten ganz anarchischen Liebe das Wort zu reden, hinter welcher nichts als der Tod steht, den wir oft jene jungen Paare freiwillig sich geben sehen, weil sie »sich nicht heiraten können«. Oder weil »die Eltern dagegen« sind. Die Liebe gibt sich, um sozial möglich zu sein und sich nicht in der ihr eigentümlichen Anarchie zum Tode zu bringen, das Amalgam mit allerlei verankernden Strebungen, Gedanken, Interessen, Gefühlen. Die Liebe begibt sich, um sich zu erhalten, ihrer prädominanten exklusiven Stellung. Auch die Ehe oder jede andere Form des dauernden Zusammenseins hat hier ihren Ursprung, indem das Zusammensein das Wilde, Eigengesetzliche der Liebe lähmt, ihm den scharfen Stachel nimmt, denn man will ja leben und nicht in der Leidenschaft verbrennen. So muß also das Nest gebaut werden. So muß im Vertraulichen und Gewöhnlichen des Alltags die Liebe auf die Probe gestellt werden, die sich nicht in den Flitterwochen nach der ersten Nacht beweist, sondern in den Jahren nach dem ersten Ehejahr. Diese Regulierung des verheerenden Feuers und dessen Leitung, daß sie das Ganze einer Gemeinsamkeit durchwärme und nicht nur das nächtliche Lager erhitze: das ist die zivilisierte Form, welche die zerstörerische Leidenschaft der Liebe annehmen muß, um als Liebe bestehen zu bleiben.

Nichts ist leichter als dem sinnlichen Appetit nachzugeben: nur ein bißchen Angst ist zu überwinden; nur ein bißchen Scheu ist zu verdrängen. Das alles schafft der Körper selber zusamt der Illusion, daß es sich dabei um Liebe handle – um nach der umnachtenden Ohnmacht den aus ihr Erwachten auf die harten Klippen seines Fragens zu werfen: ist das die Liebe?

Sie ist eine Begabung wie eine andere. Und hat ihre Nachahmer und Dilettierer wie jede andere. Die Unzähligen zählen hier nicht, die sich der Liebe für fähig halten aus keinem andern Grunde, als daß sie imstande sind, zu beschlafen und sich beschlafen zu lassen. Wär es bloß das, dann hinderte uns nichts, auch von der Liebe der Schweine, der Hunde und der Schweinehunde zu reden, was nur denen einfällt, welche das Um und Auf, Wunsch und Ziel, Anfang und Ende dieser menschlichen Beziehung als die tierische Beziehung sehen, die in der Kopulation besteht. Das aber ist zu wenig und ist auch zu viel. Zu wenig, weil es diesem Vorgang nichts als das Triebhafte gibt und ihm das mystische Siegel nimmt, das er für den Menschen bedeutet. Zuviel, weil es diesem Akt mehr zu tragen aufbürdet, als er tragen kann und aus ihm ableitet, was aus ihm gar nicht ableitbar ist. Erst die Widerstände gegen den nichts als anreizenden Eros machen aus ihm den aufbauenden Eros. Was nur und gleich dem Triebe nachgibt, funktioniert wohl, aber lebt nicht in jenem Sinn, den wir Menschen dem Leben geben. Es ist aber nicht jede Menschenseele unsterblich. Nur die lebendige ist es. Nicht die im Triebleben erstorbene.

Ich habe darauf verzichtet, die Mannigfaltigkeit der Phänomene, die der Titel umschreibt, in den starren Rahmen eines Systems zu pressen. Auch die Vorliebe für einen bestimmten Gedanken in einem Theorem sich ausleben zu lassen, liegt mir fern. Ich will den Leser, den geneigten, nicht überreden. Nur zu seinen eigenen Gedanken über diese Gegenstände veranlassen. Ihn also nachdenklich machen. Auch dort, wo es anders aussieht und Urteile gefällt werden, wird der Leser deren Einschränkung auch ohne besondern Hinweis zwischen den Zeilen bemerken. Er wird auch den Ton nicht mißverstehen, in dem zuweilen Musik gemacht wird. Der Ernst eines Gegenstandes wird nicht immer nur dadurch bewiesen, daß ich mit größerem Ernst von ihm spreche und mit einer angemaßten Würdigkeit den Leser übertölpele. Ich spreche au pair zu ihm, nicht von einem Katheder oder Podium zu ihm hinunter. Ich habe nichts zu lehren, wovon ich nicht wüßte, daß ein Leser mehr und Besseres davon verstünde. Dieses Lehrbuch soll eine Konversation sein, und es sieht nur materiell so aus, als ob ich allein spräche und unwidersprochen. Man wird merken, daß ich mir selber widerspreche, nicht mit Absicht, aber aus Höflichkeit, die es aus sich nicht verträgt, in Dingen »recht zu haben«, wo es ein solches Rechthaben gar nicht geben kann. Es stehen ja nicht so einfache Gegenstände zur Entscheidung oder überhaupt zur Entscheidung wie ein Würfel oder eine Kugel, deren unterschiedliche Merkmale so deutlich sind für jedermann, daß da kein Streit von Meinungen aufkommen kann.

All das heißt aber nicht, daß ich hier den Zufall und die Willkür walten lasse. Der Kreis des zu Betrachtenden ist so weit gezogen, daß er alles Auffallende enthält, und die Ordnung ist so getroffen, daß vom Zentrum aus gegen die Peripherie hin die verkleinernde Perspektive deutlich wird. So war wenigstens die Absicht. Ob sie immer erreicht ist, hat der Leser zu entscheiden, der vom Leben verwundete Leser, der weiß, daß ein Buch keine Kur ist dafür. Und der weiß, daß wir alle an dieser Wunde sterben müssen.

1

1.1

Eltern und Erzieher sprechen von der sexuellen Not als einem charakteristischen Novum dieser Zeit, das früheren Zeiten fremd gewesen wäre. Etwa jenen vor dreißig Jahren, als es unter den bürgerlichen jungen Mädchen weder Freigelassene noch Emanzipierte, sondern streng bewachte und sich selbst bewachende Jungfrauen gab, unter denen hie und da einmal eine zu einer Halb-Jungfrau entartete. Diese jungen Mädchen von damals waren vom jungen Mann von damals so gut wie unverführbar. Das Risiko war zu groß. Das Abtreiben unerwünschter Folgen war nicht in Mode, und die Verführung führte zu einer erzwungenen Heirat. Die Jungfräulichkeit der Braut war eine höchst wichtige Voraussetzung für die Eheschließung. Als ich Student in Zürich war, verführte ein reichsdeutscher Student eine junge Schweizerin. Das Mädchen wurde schwanger und dessen Verwandte stellten an den Verführer die Forderung, den Schaden durch Heirat gutzumachen. Der deutsche Student aber schlug die Hacken aneinander und erklärte, er heirate kein Mädchen, das sich vor der Ehe einem Manne hingegeben hat. Von dieser Anschauung brachten ihn auch nicht die vielen Ohrfeigen ab, die er bekam.

Außer den Eltern waren für eines jeden jungen bürgerlichen Mädchens Unschuld Schutzwachen aufgestellt: die Prostituierten. Sie hüteten die Reinheit der häuslichen Herde ihrer Gasse. In ihren Armen, nicht wie heute in denen seiner Klassengenossin, stillte der Sohn bürgerlicher Eltern seinen ersten Durst. Man konnte mit weit mehr Recht und Sinn von der sexuellen Not jener Jugend von damals sprechen. Denn das heutige junge bürgerliche Mädchen der großen Städte ist freigelassen, und keine Zeit sah es willfähriger. Nie boten sich dem Manne mehr Mädchen an als heute, und hat der Mann heute nur einiges Geld, kann er da haben was er will. Die in ihrer sozialen Position bedrängte Prostituierte wird immer seltener. Man mußte ihr alle Straßen freigeben und sie von der Kontrolle befreien, denn sie zahlt Steuern und hat, wirtschaftlich von dem riesigen Angebot der Nicht-Prostituierten bedroht, ein Recht auf behördliche Hilfe. Die heutige Prostituierte ist längst nicht mehr »das Weib des armen Mannes«, sondern die willige Bereitschaft für Perversionen einer Klientel, die anders als bei der Prostituierten nicht zu ihrer Erfüllung kommen. Kein junger Mann von heute hat es nötig, die Umarmung einer Prostituierten zu suchen. »Wir würden verhungern,« sagte ein Mädchen der Straße zu einem jungen Mann, »wenn wir auf euch angewiesen wären«. Die dafür sorgen, daß diese Mädchen nicht verhungern, sind ältere Familienväter, die in ihren ehelichen Betten das nicht finden, was sie bei der Prostituierten für Geld haben können und heimlich suchen gehen.

Die sexuelle Not der heutigen Jugend ist die sexuelle Not der heutigen Eltern, die in Erinnerung an ihre eigene Jugend vor dieser Jugend ihrer Kinder fassungslos stehen und mit der Tatsache nicht zurechtkommen, daß ihre siebzehnjährige Ilse in dem achtzehnjährigen Fritz einen Freund und Bettgenossen hat. In dieser Not fragen sie nach rechts und hören da: Zucht, Strenge, Prügel, Beten, langer Rock, langes Haar in Zöpfen. Fragen sie nach links, und hören da: ausleben lassen, fördert die Gesundheit, Sport, Fortschritt, Folgen beseitigen, Schutzmittel gegen Konzeption. Ohne rechtes Vertrauen zur Predigt von rechts und zur Predigt von links sind diese heutigen Eltern, denn sie können was immer sie raten oder befehlen sollen nicht aus der Sicherheit ihrer eigenen Ehe stützen, denn diese Ehe ist zumeist ohne jede beispielsetzende Kraft dafür, wie recht zu leben sei. Oder gar wie das Glück zu erreichen sei. Denn in begreiflicher Täuschung operieren sie immer mit diesem leeren Begriff der glücklichen Ehe, ohne sagen zu können, was das ist. Höchstens, was das nicht ist. Und empfinden sich als Beispiel einer nicht glücklichen Ehe. Gab es je eine Frau, die im Alter nicht erklärt hätte, die Wahl ihrer Jugend sei ein Irrtum gewesen? Je einen Mann, der im Alter nicht sagen könnte, es hätte statt dieser Frau ihm ebenso gut ein anderer Ziegelstein auf den Kopf fallen können?

1.2

Die Mutter von 1928, die nächstens fünfzig wird, trägt sich wie ihre achtzehnjährige Tochter, aber in müden sterilen Gedanken über die vermeinten Freiheiten dieser Tochter und an den engen Pferch des eigenen Lebens damals, als die Verwandten ihre Mitgift und sein Einkommen zusammenrechneten und übereinkamen, es ergäbe eine glückliche Ehe. Und der Einwand, der schüchterne, daß sie den Mann eigentlich nicht liebe, damit widerlegt wurde, daß man ihr sagte, die Liebe würde sich schon in der Ehe einstellen. Es gab eine kleine Lust, die sich immer mehr minderte, und Kinder. Oder Untreuen des Gatten, über die sie verzweifelte, wie es sich gehörte. Oder kleine eigene Untreuen, die auch nicht das Glück brachten, das man sich davon versprach oder versprochen bekam. Es war nicht viel anders als mit dem Gatten. Vielleicht schlimmer. Wie auch immer: angesichts ihrer Achtzehnjährigen, die ihr Leben vor sich hat, werden die Gedanken der Fünfzigjährigen, die es hinter sich hat, bitter, und so werden es ihre Worte, die sie zur Tochter spricht. Sie, die Mutter, meint, es liege zwischen ihr und der Tochter wirklich jene Welt, von der die Achtzehnjährige im Kampf um ihre vermeinten Freiheiten behauptet, daß sie läge. Es liegt aber nichts sonst dazwischen, als daß die eine alt geworden ist und ihr schwaches Denken um den Punkt kreist, der wie ein Fragezeichen geformt ist: Hat es sich gelohnt? War es das Richtige? Nun kann sie keine Liebe mehr fühlen und keine mehr wecken. Die sozialen Ambitionen und Zwecke, die sie in der Ehe ihrer Liebe beigemischt hat, sind alle so gut es eben ging erfüllt oder als nicht mehr erfüllbar erkannt. Sie ist einsam und friert. Sie sträubt sich, die zerfallende Fruchthaut zu sein, die ihren Sommer und Herbst gehabt hat. Längst ist der Gatte neben ihr erkaltet. Er ist noch da, weil er keinen sichtbaren Grund hat, eine Gemeinschaft aufzugeben, die er gewohnt ist. Sie ist nicht ein bißchen mehr jung, um noch etwas wünschen zu können, wozu Jugend gehört. Und ist doch noch nicht alt genug, um leichten Herzens zu verzichten. Ohne Zukunft, die sich ihr in den ihr fremd werdenden Kindern entzieht, wühlt sie die Erinnerungen auf, und es sind lauter kurze abgerissene Fädchen, ein verwirrter Knäuel. Versucht sie mit ihrem Manne darüber zu sprechen, so macht der über so vom gewohnten Reden Abweichendes erstaunte Augen und versteht nicht. Oder er lacht. Oder er wird ärgerlich. Ganz grob kann er sie auch eine dumme Gans nennen. Was sie sich denn eigentlich erwartet habe? Mit welchem Titel? Mit welchem Recht darauf? Und was fehlt ihr denn? Es fehlen ihr nicht das Haus, nicht das Geld, nicht das Auto, nicht die Kinder. Es fehlt ihr nichts als der Sinn ihres so Gelebten, und es quält sie, die Alternde angesichts der Jugend, die nicht zu beantwortende Frage, ob es für sie nicht ein anderes, schöneres Leben hätte geben können, so wie es, so meint sie, die heutige Jugend lebe.

Und der Vater dieser Kinder von heute, der Mann an die Sechzig, der Gatte dieser erschöpften bitteren Frau? Durch die immer rostiger werdende Maschine seines Leibes läuft das Arbeitspensum des Tages. Die Frau an seiner Seite ist ihm in diesen dreißig Jahren einer Ehe fremder geworden als sie es am Hochzeitstag war. Eine alte Frau wie irgendeine. Seltsam, daß man sie umarmt und drei Kinder mit ihr hat, gerade mit ihr. Es hätte auch jede andere sein können. Wie alle Männer hat er ein äußerst kurzes Gedächtnis für die gewährten Freuden einer Nacht: sechs Stunden später hat er sie vergessen. Er bestreitet aus diesen Dingen nicht das geringste in seinem Leben. Seine Geschäfte, sein Kredit, sein geistiges Tun sind ihm bedeutend wichtiger. Aber er mußte ein Leben lang dieser Frau immer das Gegenteil versichern mit Worten, die er als lügenhaft empfand. Die Frau brauchte das, verlangte es, und er gab nach, sagte diese Worte. Denn Frieden und Ruhe hingen davon ab. Er lebte zur Frau hin in einem Pathos der Worte, dem keinerlei Gefühl solch gesprochenen Wortes entsprach, ja dem jedes wirklich Gefühlte widersprach. Er mußte mit den Worten Dingen eine Bedeutung und Wichtigkeit geben, die sie faktisch für ihn gar nicht besaßen. Er erinnert sich, daß er mit nicht geringerem Vergnügen auch bei anderen Frauen als dieser im Bette lag, der er immer wieder zu versichern hatte, – Gott was nur alles! Jetzt ist er so alt, daß diese Last von ihm genommen. Aber er hat sie so lang getragen, daß er krumm und stumpf darüber geworden ist. Die Kinder? Er läßt sie tun, was sie wollen. Seine Erfahrungen lassen ihn zu keinerlei Pädagogik kommen. Er mißtraut seinen Urteilen, indem er sie für Vorurteile hält. Weniger als seine Frau geartet und geneigt, das, was sich vollzieht, mit Gefühlen zu begreifen und zu versteifen, hat er im Alter einen Sinn für die Komik des sexuellen Pathos bekommen. Und so schlägt er nicht wie die Mutter über die Artung und das Treiben der Kinder die Hände über den Kopf, sondern ist eher geneigt, dazu zu lächeln.

1.3

Welchen Sinn erfüllte denn die Ehe? Welchen Sinn kann sie heute noch erfüllen?

Der älteste Hordenführer erkannte im Kampf und auf der Jagd die Söhne reiner, nämlich seiner Abstammung an ihrer frohen Tapferkeit und ihrem lebhaften Mut, wie die Bastarde, die Söhne zweifelhafter Herkunft am Fehlen dieser vornehmsten Tugenden. Das gute Blut in allen Nachkommen rein zu erhalten und zu vererben bestimmte die Wahl, die der Mann unter den Frauen traf. Auf Verunreinigung des Blutes durch Ehebruch stand das Köpfen. Des Mannes gelegentliche Lust an der Sklavin berührte die Ehe nicht, denn die Kinder der Sklavin waren zufällige Bastarde und schlecht. Persönliche Tapferkeit und Schönheit des Leibes stehen heute in geringerem Ansehen als Schlauheit und alle Arten zerebraler Gewandtheit – der Sport ist für staunende Zuschauer – also Bastardeigenschaften. Ob diesen modernen Tugenden die Ehe nachgegeben hat oder ob umgekehrt der beklagte Verfall der Ehe diese Bastardvorzüge gezeitigt hat, mag man nach Neigung entscheiden. Jedenfalls verlangte das Talent, auf der Börse reich zu werden, keine reine Ahnenreihe des mit diesem Talent Begabten. Die Rangunterschiede der älteren Zeit sind heute nur Geldunterschiede; in sogenannten fortschrittlichen Ländern wie den United States sind sogar schon die Bildungsunterschiede nur mehr solche des Geldes; in Europa soll es noch nicht soweit sein. Jedenfalls ist heute die Heirat vor allem ein Handel. Daß die Ware nicht immer, wie in der Türkei, beim Käufer bleibt, durch den Ehebruch zeitweilig in andre Hände kommt, durch die Ehescheidung den Besitzer wechselt, diese Tatsachen wurden so häufig, daß man dagegen moralisch schon ganz unempfindlich geworden ist – Kinder lachen darüber im Theater. Der Gatte weiß zumeist, daß er mit der Ehe den Ehebruch, nicht nur den seinen natürlich, eingeht; er vermeidet solang als möglich seine eigene Lächerlichkeit, indem er über Menelaus lacht. Kann er das nicht mehr gut, d.h. gibt es einen öffentlichen Skandal, so schießt er zuweilen und scheidet er sich. Das ist alles. Daß die monogame Ehe, wenn auch mit einigen Formalitäten, geschieden werden kann, hebt sie in der Idee, die ihr zugrunde liegt, völlig auf. Es fehlt nur noch eins, sie auch praktisch aus der Welt zu bringen: die Abschaffung der Mitgift. Bleiben müßten dann Paare, aus dem Adelsgefühl des Blutes einander treu, aus Verpflichtung gegen die Rasse abschweifende Instinkte bändigend, daß der Mann sagen kann: ich betrüge eine Frau nicht, die meinen Namen trägt, und die Frau: ich will von keinem andern Mann als von diesem Kinder gebären. Die Logik führt, wie man sieht, zur Utopie.

Die schamlose Geldheirat begann unter Louis XIV., der den Provinzadel ruinierte, indem er ihn an den Hof zog. Fumer ses terres nannten es die Barone, die reich heiraten mußten, um bei Hofe leben zu können. Hundert Jahre später konstatierte der ältere Mirabeau die Verheerungen. Und wieder hundert Jahre nachher ist die Geldheirat eine Selbstverständlichkeit, die keinen Zynismus mehr wie zur Entschuldigung aufwendet. Das Gesetz gab nach, indem es die Ehe als Kaufvertrag, den Ehebruch als ein Eigentumsdelikt, die Ehescheidung als eine Geschäftsauflösung behandelt und die Rechte der Kinder in Hinsicht auf ihr Geldvermögen wahrt. Die Komödie geht so: der betrogene Gatte, über den alles lacht. Die betrügende Gattin, aller Sympathien sicher. Der Freund, irgendeiner, der mit nichts weiter als mit einem Absteigequartier bezahltes Vergnügen – die Frau, die Zigarren des Gatten, dessen Jagd, dessen Komik – unverantwortlich genießt: er erfreut wie alle Schlauen. Dieser betrogene Gatte ist der Bankier seiner Frau, die ihre Liebe einem andern gratis gibt. In Frankreich hat man ein Gesetz angenommen, das der Frau verbietet, sich nach der Scheidung mit ihrem Geliebten zu verheiraten. Gott sei dank, sagten die Geliebten und zahlten erleichtert weiter die sechzehn Franken Strafe für das flagrant délit. Man denke ein Gesetz: der Ehebrecher muß die Geschiedene heiraten, d.h. er muß Bankier seiner Frau werden und Betrogener früher oder später. Entflieh mit mir und sei mein Weib ist eine Romansentimentalität. Von hundert betrügenden Frauen wird eine bereit sein, ihren bequemen Bankier aufzugeben, um ein neues Geschäftsverhältnis mit dem begreiflich mißtrauischen Freunde einzugehen. Es ist kein Unterschied dann zu bemerken zwischen der berufsmäßigen Kurtisane und der Frau, die ihren Gatten betrügt und nicht verläßt, weil der ihr alle Bequemlichkeiten des Lebens verschafft, kein Unterschied als dieser, daß die betrügende Frau lügt, die andre aber tapfer und ehrlich ist. Doch – alles dies sind Bêtisen der sozialen Kritik. Am Ehrbegriff einer ritterlichen Zeit diese heutige Zeit zu messen und zu verurteilen ist ebenso müßige Pedanterie, wie es Ohnmacht bedeutet, sich in die Bequemlichkeiten einer konstruierten künftigen Humanität zu begeben und von da aus bitter das Haus zu schmähen, in dem man wirklich lebt. Einen Zustand erkennen und mißbilligen bedeutet noch nicht ihn aufheben, bedeutet meist nicht einmal, sich im eigenen Leben danach richten. Die Menschen dieser Zeit verlangen Respekt nur vor ihrer Maske, denn sie sind unvornehmen Blutes zumeist und häßlichen Gesichtes, was sie alle wissen, denn sie sagen innerlich alle du zueinander wie zu den Hunden. Nehmen wir es hin mit Höflichkeit, die jenen langen Stäben gleicht, mit denen Herolde das Volk von der Majestät zurückhielten. Die Höflichkeit schafft die weiteste Distanz und ist das einzige Mittel, in aller Art Demokratie ungeärgert für sich zu leben. Daß wir Moral sagen und vom Ethos schweigen, daß wir Manieren verlangen und nicht Pflichten höchster Ordnung, daß wir m. a. W. Hofman sind und nicht Pascal, das ist der Demokratie aller Art Macht auch über uns Solitäre, und ist unsre Ideologie, daß wir noch immer eine Gesellschaft denken, wo es doch nichts als bloß sehr viele Leute gibt. Sagen wir es also nicht katonisch, daß die Ehe des Geldheiratens mit oder ohne Ehebruch – das Laster ist so dumm wie die Tugend – keine Ehe mehr ist. Sagen wir, sie ist ein Rethorikerthema, und lassen wir jedem das Recht auf seine Dummheit.

1.4

Ein Konzilium staatlicher, kirchlicher, medizinischer und belletristischer Personen berät über den Patienten, dem es überall weh tut: die Ehe. Die aber ist nicht kränker, als sie es sonst schon immer war. Der eigentliche Patient ist das Kind.

Das Institut der Ehe auf die Natur des Menschen zu gründen, ist je weder dem Staat noch der Kirche eingefallen. Zur Befriedigung der Natur gibt es andre und näher liegende Mittel. Erst eine irrtümliche Staatstheorie, die als Basis jeder sozialen Entwicklung die Beziehungen der Geschlechter annahm, versuchte das. was weder theoretisch noch empirisch zu halten ist. Nichts als den bloßen Geschlechtsakt haben die Ehe und die ephemere Vereinigung miteinander gemein. Auf das Ephemere läßt sich keine »soziologische« Theorie gründen, denn es hat keine sozialen Effekte. Solche hat nur die mono- oder polygame Dauer-Ehe, als ein bestimmtes, rechtlichen Regeln unterworfenes Institut. Die Ehe ist nicht »natürliche« Keimzelle der Staatsbildung, sondern umgekehrt: die ehelichen Vorschriften sind eine verpflichtende Ordnung, die zum Ziele hat, das geschlechtliche Leben und die Kinder einer bestimmten Reglementierung zu unterwerfen innerhalb einer schon vorher existenten sozialen Gruppierung. Diese Reglementierung entspringt nicht einem Instinkt, der ja nur zum Geschlechtsakt führt, sondern einem zum Brauche gewordenen staatlichen Zwang. Die staatliche und nach ihr auch die kirchliche Autorität hat ihr Hauptinteresse an den Kindern.

Die Kirche konnte es nicht machen wie Ugolino, der seine eignen Kinder aufaß, um ihnen einen Vater zu erhalten. Sie nahm also das staatliche Institut der Dauerehe hin und fügte nichts weiter hinzu als die Weihe eines Sakramentes, das besagt, daß Ehen im Himmel geschlossen werden, also untrennbar sind durch den Menschen. Nicht weniger logisch als der Staat sah sie in der Ehe nichts dem Menschen »Natürliches«, sondern ein Institut, in dem sich die Interessen des Einzelnen dem erkannten weitern Interesse seiner Gruppe unterwerfen. Bis auf heute kümmert es weder Kirche noch Staat, ob sich die Eheschließenden im individuellen Sinn dieses Wortes lieben, weshalb die Kirche auch in der Nicht-Liebe keinen Grund einer Trennung der Ehe sieht. Sie erkennt nur einen einzigen Grund an: die Nichtvollziehung der Ehe. Eine Ehe, die keine Anstalten trifft, Kinder zu zeugen, erscheint der kirchlichen Logik als keine Ehe. Sie weiß, daß zu diesem Geschäfte das, was man Liebe nennt, nicht nötig ist. Sie dachte und denkt nicht daran, aus der Ehe so etwas wie eine Reglementierung der individuellen Geschlechtsbeziehungen zu machen. Sie überläßt das nichts als Individuelle ganz dem Individuum. Sie kennt das Anarchische der individuellen Liebesgefühle und tut alles, sie in dem Institut der Ehe nicht gelten zu lassen. Mit der Staatskirche kam ein Zwiespalt in das spirituelle Programm der Kirche, den zu lösen sich Jahrhunderte Moraltheologie vergeblich bemühten. Staatlich geworden erleidet die Kirche eben alle Wandlungen und Schicksale des Staates. Halb von theologischen Vorstellungen durchdrungen, wie in seiner Gesetzgebung, appelliert der Staat immer wieder in den Nöten an seine adoptierte Zwillingsschwester, die Kirche. Mit sinkendem Erfolg.

Die Kirche leidet an der Fassung ihres Begriffes der Sünde und erleidet ihn. Die Haltung der Kirche gegenüber der Ehefrau ist nur wenig verschieden von jener der Antike. Durchaus gegen ihren Willen ließ sich die Kirche im 5. Jahrhundert eine weibliche Gottheit in der Madonna abringen, gab hier einem Laienempfinden nach. Aber nur dem Mütterlichen gab sie in dieser Gestalt Raum, – alle »sündige Liebe« wurde durch die Unbeflecktheit der Empfängnis eliminiert. Die Frau hat Kinder zu gebären, nichts weiter. Weil die Welt sich weiter zeugen muß. Ganz nah an die Erbsünde, an den Fluch, der aus dem Paradies treibt, ist diese physiologische Tatsache gerückt. Die Ehe genügt, das Geschlecht bis zu dem Tage zu erhalten, welcher als der jüngste einmal anbrechen wird. Nur um die Kinder handelt es sich der Kirche. In schwierigen Geburtsfällen ist auf das Kind Rücksicht zu nehmen, nicht auf die Mutter. Wo nur die Lust die Geschlechter zueinander führt, ist diese Lust Sünde. Die Liebe zu Gott muß so stark sein, daß Eheleute die lustvollen Gefühle der Liebe, falls sie vorkommen, nur grade dulden, aber weder aufsuchen noch gar Freude daran empfinden. Der fromme eheliche Mensch wird das notwendig Natürliche in deutlicher Spaltung seiner Person in einen tierischen und göttlichen Leib mit geschlossenen Augen tun. Er wird es erleiden. Nicht erfreuden. Oder solches bereuen, wenn es doch eintritt. Es erwies sich, daß der Mensch einer solchen Spaltung seiner integralen Person fähig war, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, unter einer Voraussetzung: daß er im Sanatorium der Kirche blieb, welches unausgesetzt sowohl an der Krankheit wie an deren Heilmitteln arbeitete. Es erwies sich, daß der Mensch fähig war, sowohl Zuschauer wie Akteur in dem göttlich-dämonischen Theater zu sein, das sich in seinem Innern spielte. Er lernte die Mechanik von Auftritt und Abgang, er bekam Tiefen und Höhen, Vordergründe und Hintergründe. Folgte er dem kirchlichen Regisseur, konnte nichts passieren. Entzog er sich ihm, so entfesselte er den Gott oder den Teufel, und das Gleichgewicht war zerstört, der Mensch kein Mensch mehr, sondern der von Gott oder dem Teufel Besessene, Heiliger oder dessen Gegenpol, Einzelner, Losgelöster, Irregulärer auf eigne Gefahr. Übrigens konnte auch die Kirche nur die kleinen Sünder fangen. Gegen die großen als neue instituierende Kräfte war sie ohne Macht: sie fand sich mit ihnen ab.

Die Kirche hat den Begriff der fleischlichen Sünde den Menschen nicht gegen ihre Natur aufgezwängt. Unter verschiedenen Namen haben die Alten die sinnliche Leidenschaft als eine schwere Krankheit erkannt und beschrieben, als eine Art Behexung. Die Kirche hat diese Behexung mit dem Namen Sünde moralisch getauft und den Begriff vertieft. Daß die Sünde weiter als Krankheit angesehen wurde, zeigt die Ausarbeitung der kirchlichen Heilmittel, der Art wie der Zahl nach. Die Wollust der Kreaturen ist gemengt mit Bitterkeit, das hätte auch ein von der sinnlichen Leidenschaft gepeinigter Grieche sagen können. Es ist nichts spezifisch Christliches in dem Satz, den die Kirche in ihrer Frühzeit nur für großes Orchester gesetzt hat, wofür die Antike mit ihrem sehr schwach entwickelten Dualismus der Welt keinen Anlaß hatte. Die Erdsüchtigkeit der Antike war weit stärker als ihre Jenseitssüchtigkeit, ihre Todesfurcht größer als ihre Sterbenssehnsucht.

Nicht der Trieb, sondern dessen Effekt, das Kind, ist der Kirche einziges Interesse. Und des Staates. Außereheliche Kinder, die »Kinder der Sünde«, läßt sowohl Staat wie Kirche die Sünde der Eltern büßen. Denn was in der Ehe als ein notwendiges Übel grade nur geduldet wurde, das war außerhalb der Ehe vom Bösen. Notdürftig in der Ehe mit Weihwasser besprengt, mußten die Eheleute, wollten sie ihr Seelenheil nicht verlieren, immer auf der Hut sein vor der Lust. Das war der seltsame Umweg, auf dem die außerhalb der Ehe als Sünde verfolgte Liebe zu gewissen Zeiten als Constituens der Ehe auftrat, immer etwas fremdartig wie der Brauch zeigt, daß man mit einigem Erstaunen von einer »Liebesehe« spricht als einem Ungewöhnlichen. Denn die Liebe gehört als ein Affekt nicht in eine dauernde Institution. Sie tritt da, vom Dritten kommend, nur störend und zerstörend auf. Oder enthüllt bald in ihrer kurzen Dauer das Problematische ihres Daseins in der Ehe. Aber da sich das Dasein der Liebe nicht leugnen ließ, kam es in den periodischen Schwächen der Kirche zu diesen Sentimentalismen, welche der Ehe auch die Liebe als Mitgift vindizierten, wenn nicht gleich bei der ehelichen Wahl, so als ein sicheres Produkt des Paktes, als ein zu erwartender Effekt des ehelichen Zusammenlebens. Es ist nicht daran zu zweifeln, daß oft so was wie Liebe in der Ehe wurde, eine leidenschaftslose Liebe, die dem meist leidenschaftslosen Temperamente der meisten Menschen durchaus entspricht. Die Kirche konstituiert sich ja in ihren Anschauungen nicht aus den Extremen, sondern gut demokratisch aus der großen Masse der Mitte. Sie wird diese Ehen mit einer nicht besonders affektiv qualifizierten Liebe immer als die rechten und gemäßen ansehen, aus ihnen Bestätigung ihrer Anschauung und Haltung holen und mit ihrer Hilfe die Klippen ihres dogmatischen Nomos umschiffen. Diese Klippen wurden in ihrer Gefährlichkeit erst im 19. Jahrhundert sichtbar, zu dessen Beginn es aufkam, daß die Liebe zu ihrem Ziele die dauernde Vereinigung in einer Ehe habe. Die frühern für eine Eheschließung maßgebenden Motive sozialer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Natur wurden zwar in der Regel nicht ausgeschaltet, aber sie kamen in der Anschauung, oft auch in der Praxis, an die zweite Stelle –, die erste nahm die gefühlsmäßige Beziehung der Eheschließenden ein, das, was sie die Liebe nannten. Damit aber trat die Ehe in ihre Krise: sie bekam die sie heute auszeichnende Labilität. Denn jenes Gefühlsmäßige stellte sich, was dessen Dauer betrifft, als eine Täuschung heraus. Die erst vorhanden geglaubte oder wirklich vorhandene Liebe verschwand, und die Eheleute finden in ihrer aus Gefühlen geschlossenen Ehe den Sinn nicht mehr: sie trennen sich, um diesen Sinn in einer neuen Ehe zu suchen. Oder sie suchen die Liebe außerhalb ihrer Ehe, wenn sie aus innern oder äußern Gründen zu einer Trennung sich nicht entschließen können. Oder sie verzichten auf die Liebe und lassen andre Momente des ehelichen Beisammenseins als wichtiger sich an deren Stelle setzen: Kinderaufzucht, Freundschaft, Hausführung, helfendes Beisammensein, was eine gelegentliche immer matter werdende sexuelle Annäherung nicht ausschließt, besonders, wenn eine freudige oder traurige Spannung in ihrem Ablauf auch die erotischen Komplexe virulent macht.

Um das Lager der ehelichen Liebe stehen Engel und Teufel. Sich über das gelinde Feuer der ehelichen Liebe lustig zu machen, um zum Preise der leidenschaftlichen Liebe Kantaten zu singen, ist ein beliebtes Thema lyrischer Jugendlichkeit, die weder die Flamme noch das Feuerchen kennt. Diese eheliche Liebe wird unterwertet aus Überwertung des erotisch Passionellen, das, je seltener es wird, um so mehr Panegyriker findet, die gar nicht merken, daß sie der erotischen Leidenschaft schon längst grobe Surrogate gewöhnlicher Ausschweifung gegeben haben, wie sie eine Zeit liefert, die für jede sexuelle Nachfrage das entsprechende Angebot bereit hat. Die Beziehungen der heutigen Menschen werden immer flüchtiger, augenblickshafter, was sich auch im Erotischen bemerkbar macht, insofern jede erotische Spannung zwischen den Individuen schwindet, da jede momentane sexuelle Erregung um ein geringes sachlich zu stillen ist. Die erotische Spannung ist aber nur in der relativen Dauer einer sinnlich-geistigen Beziehung möglich, und die Verbundenheit in einer Ehe begründet die sexuelle Entspannung zum Vorteile der in ihr engagierten Individuen. Die eheliche Verbundenheit krümmt den allzu scharfen Stachel der sinnlichen Leidenschaft und rettet das Individuum, dem in der Leidenschaft der Verlust droht für die höhern Werte der Sozietät. Aber in der sexuellen Entspannung liegen diese Möglichkeiten einer erotischen Spannung nur dann, wenn nicht wie heut meistens Eigenliebe zu einer Ehe geführt hat, die in ihr nichts als das Mittel zur Befriedigung von Bedürfnissen und Erfüllung von Zwecken sieht, die außerhalb jeder Liebe, also auch der Ehe liegen. Die moderne Ehe zeigt kaum je irgendwelche sexuelle Pigmentierung, von ihrem erotischen Charakter ist daher gar nicht zu reden. Sie ist ein Zweckverband, der eine Form entlehnt und sich bemüht, diese Form nach außen zu wahren. Es hat sich daraus sehr viel Heuchelei entwickelt als eine der bedeutendsten sittlichen Leistungen des 19. Jahrhunderts. Balzac und Stendhal haben sie in Meisterwerken beschrieben.

Alle Umstände heutigen Lebens wirken daraufhin, daß sich die Ehe von der staatlichen und kirchlichen Kontrolle emanzipiert und als ein nichts als privater Status etabliert. Erst das Kind wird Staat und Kirche auf den Plan rufen: die Eltern müssen Garanten seiner Aufzucht und Erhaltung sein, beide nach ihren Mitteln, ob noch vereinigt oder schon wieder geschieden. Man sagt, die Geburten gehen zurück. Das wäre Grund genug, daß sich die Ehe gegen ihre kirchliche und staatliche Einschnürung wehrt, wie eben auch irgendein Liebespaar nicht die Polizei um Erlaubnis für ihre Liebe fragt. Eine vernünftige Gesetzgebung wird einmal nichts mehr über die Ehe bestimmen. Sondern nur über die Kinder.

1.5

Aus den leidenschaftlichen Anstrengungen, welche die Frauen vor dem Kriege um die Gewährung des Wahlrechtes in die Parlamente machten, glaubten manche, daß dort, wo die Frauen nach dem Kriege in die Parlamente einzogen, das Wesen dieser Vertretungen sich radikal ändern würde. Man glaubte, daß die außerordentliche Niederlage, die das männliche Politisieren im Kriege und nachher erlitten hatte, den guten Verstand der Frauen mobilisieren würde und daß sie als die Partei der Frauen, nichts als der Frauen, gegen die abgenutzten politischen Ideologien der Männer stehen würden. Das stellte sich alsbald als ein irriger Glaube heraus. Die in den Zeiten von den Männern und für eine wesentlich männliche Welt geschaffenen Rahmen und Inhalte des Politischen erwiesen sich als weit stärker als der Verstand der Frauen, die mit dem Stimmzettel ihre Stimme verloren zu haben scheinen. Als ob es das Selbstverständlichste wäre, ordneten sie sich in die vorhandenen Männerparteien ein, als deren Komparsen durchaus und ohne irgendeinen Versuch, diesen Parteiinhalten etwas von ihrem Weiblichen hinzuzufügen. Als einzigen Effekt ihrer Anwesenheit in den Parlamenten konnte man höchstens dieses bemerken, daß die männlichen Abgeordneten etwas hypokriter wurden, zum Beispiel in Angelegenheiten des Alkoholverbotes in manchen Ländern oder in gewissen Fragen der öffentlichen Moral, Erziehung und Kunst. Da gaben die Männer, den Vorwurf Schweinehunde zu sein fürchtend, nach.

Man kann Meinungen darüber haben, ob dieses völlige Verschwinden der parlamentarischen Röcke hinter den parlamentarischen Hosen am System liegt, aber daß es an den Vertreterinnen liege, kann man nicht behaupten, denn es sind ja die Frauen als Wählerinnen, die ihre Delegaten dahin geschickt und ihnen die Marschroute gegeben haben. Es ist nirgendwo eine bekannt geworden, die erklärte, daß die Frau als Frau ins Parlament gewählt würde. Sondern immer nur als das zufällig weibliche Mitglied einer Männerpartei. Sie bringt Wünsche ihrer Geschlechtsgenossinnen vor, aber immer nur innerhalb des politischen Männerprogramms ihrer Partei, von dessen Wichtigkeit und Richtigkeit sie durchaus überzeugt ist. Gehört sie zur konservativen Gruppe, wird sie etwa die Erleichterung in Sachen Ehescheidung bekämpfen wie die Männer dieser Gruppe. Im andern Lager wird sie für Erleichterungen sein wie die Männer ihrer Gruppe. Als ob es nichts gäbe, das die Frauen alle auf der einen Seite gegen die Männer auf der andern Seite versammelte. Das ist seltsam. Denn es gibt eine Menge Dinge des öffentlichen, privaten und staatlichen Lebens, die zuungunsten der Frau gesetzlich oder konventionell festgelegt sind, und man sollte meinen, daß solche Ungerechtigkeit von allen diesen parlamentarischen Frauen empfunden und erkannt und sie also einigen würde, diese Ungerechtigkeit zu beseitigen. Gewiß, es wird die Ehebrecherin nicht mehr lebendig begraben. Man hat subtilere Tötungsarten gefunden, entsprechend unseren schwächern Nerven. Auch die Kindsmörderin aus Angst vor der Schande wird nicht mehr geköpft. Aber der ihr vom Gesetz vorgeschriebenen Gebärung eines Kindes durch Abtreibung sich zu entziehen, bleibt mit schweren Strafen verboten auch dann, wenn dieses Kind Frucht aus einer Notzucht oder einem Inzest ist. Der Staat schiebt hier den Arzt beiseite, um den Priester entscheiden zu lassen, dem das Kind mehr gilt als die Mutter. Es ist unverständlich, daß diese parlamentarischen Frauen ganz darauf verzichten, die elementaren Begriffe des Lebens von den über sie gelegten politischen Schichten zu befreien, ja diese Schichten für die Elemente nehmen.

Nur die Frau hat alle Beweise für ihre Aussage: dieses ist mein Kind. Nicht der Vater. Der kann, daß dieses Kind das von ihm gezeugte Kind sei, höchstens glauben. Aber um es beweisen zu können, müßte er Anstalten getroffen haben wie ein vorsichtiger und genauer Experimentator in einem Laboratorium: er müßte die als Jungfrau erkannte Mutter so lange einsperren, bis die von ihm und vor Zeugen vollzogene Schwängerung festgestellt ist. Praktisch wird der Vater ja mit seiner behaupteten Vaterschaft fast immer recht haben. Theoretisch bleibt es aber eine Behauptung, eine Annahme, ein guter Glauben. Vorsichtig ausgedrückt kann er nur aussagen: wahrscheinlich bin ich der Vater dieses Kindes. Nicht so die Mutter. Ihre Anwesenheit bei der Geburt ist ihr Wissen: dieses Kind habe ich geboren, es ist mein Kind. Das Kind kann nur eine Mutter haben, aber theoretisch viele Väter. Diese sinnfällige Tatsache ignoriert eine Gesetzgebung, die im Falle einer Ehescheidung das vorhandene Kind zum Streitobjekt macht, es beim sogenannten Verschulden der Frau der Mutter wegnimmt und dem Vater gibt, auch dann, wenn er nachweislich praktisch gar nicht der Vater ist. Mit diesem Gesetz im Rücken wird das Kind in einer innerlich gelösten Ehe ein Erpressungsmittel des Mannes nur zu oft, indem er die Frau vor der Scheidung zurückhält und zum Verbleiben in der Ehe zwingt mit der Drohung, daß er der Mutter das Kind nehme. Leicht ist ja eine Schuld konstruiert, die das Gesetz auf die Seite des Mannes bringt.

Vom Verbot der Ehe zwischen Blutsverwandten abgesehen, sind alle Ehegesetze Gesetze um das Kind und wesentlich vermögensrechtlicher Natur. Das Gesetz nimmt die Ehe als das Institut an, in dem legal erbende Kinder erzeugt werden. Für das Gesetz ist die Ehe nichts als ein Verband zu diesem Zwecke. Was es sonst noch dazu behauptet, ist Dekorationsstück aus der Sakristei und praktisch ohne Wert, weil ohne Anerkennung. Über die Heiligkeit der Ehe ist noch in keinem Gerichtssaal anläßlich einer Scheidung ernsthaft von den Beteiligten disputiert worden. Sondern nur über die Erhaltungspflichten des Mannes gegenüber der Frau, die er möglichst zu drücken sucht oder aus Schuld der Frau ganz abstreitet. Oder über die Zusprechung des Kindes und wer die Kosten seiner Erhaltung zu tragen hat.

Hat ein Amt zur Kenntnis genommen und festgestellt, daß die zwei Leute, die heiraten wollen, nicht blutsverwandt sind, könnte diese Ehe für den Staat ohne jedes Interesse und eine nichts als private Angelegenheit zweier Menschen bleiben, die mit getrenntem Geldvermögen miteinander leben, solange es ihnen gefällt und ohne Geldverpflichtung auseinandergehen, wenn es ihnen nicht mehr gefällt. Die Möglichkeit eines Kindes wirft aber ihren Schatten voraus und macht die Eheschließung gesetzlich interessant. Wem gehört das Kind im Falle einer Trennung der Ehe? Immer und unter allen Umständen der Mutter. Wer hat für das Kind bis zu dessen Mündigkeit zu sorgen? Immer der Mann, der sich als der Vater des Kindes bekannt hat, dann, wenn die Mutter vermögenslos ist. Eine Frau kann zwölf Kindern das Leben geben. Das ist eine aufziehbare und übersehbar kleine Schar und jedem von den Zwölfen kann die zärtliche Liebe der Mutter zuteil werden. Ein Mann kann zwischen zwanzig und fünfzig dreißig Jahre hindurch jedes Jahr etwa hundert Kinder zeugen, also im Ganzen die unübersehbare Schar von dreitausend Kindern. Dieser Umstand macht was man die Vaterliebe nennt etwas problematisch. Jedenfalls ist sie nur ein sehr schwächliches Pendant zur nicht zu bestreitenden Liebe der Gebärerin zu ihren Kindern. Diese Zahlen sollten den Streit um das Kind zu einer historischen Angelegenheit machen.

1.6

Die kinderlose Frau erfüllt kein Mysterium. Ihre Zwecke sind menschliche Begreifbarkeiten, in sich erklärt und mit sich hinfällig. Nur die gesegnete Ehe ist ein Sakrament, das heißt: ein allem Begreifen Unzugängliches, mit unsichtbaren Fäden an das Ewige gebunden. Die Mutter verwahrt das große Erbe: sie gibt dem Kinde das Lächeln und die Sprache weiter. Sie erschafft das Kind, sie gebiert es nicht nur.

Das Mitleid, das wir Männer immer mit der Frau haben – die Frau nie mit dem Manne – das ist, weil es dauernd in uns liegt: meine Mutter hat ihr Leben für mich gegeben in Schmerzen und durchwachten Nächten. Daß wir die Frauen lieben, das haben wir von der Mutter. Ich sage: lieben; denn dieser Begriff schließt die böse Lust ein, da er der weitere ist Und der geliebten Frau die Würde gibt, die wir an unserer Mutter kennen. Ohne diese Würde stürzt alles in der Frau durcheinander, Sinne und Seele sind ein Unverbundenes, böse Lust und Verzweiflung lösen sich immer ab in der Herrschaft über die arme Kreatur, die mit dem Geliebten nicht die Würde der Liebe bekam ... Weiß man es nicht, daß die großen Wollüstigen Angst vor der Wollust haben? Denn sie hat für sie immer ein schlimmes Ende. Den Saccus der Sterblichkeit nannte sie der heilige Bernhard. Deshalb ist dieser Kampf des Mannes mit dem wilden Tiere der Frau, die nur Wollust ist, deren Mähne sie hüllt von oben bis unten. Nicht um dem Tiere diesen rauchenden Atem, an dem es sich selber verbrennt, zu nehmen, nicht um ihm die Krallen, mit denen es sich selber verwundet, abzureißen, geht der Mann in den Käfig, in dem es schlürft und schwankt, berauscht am eigenen Schlürfen und Schwanken. Der Mann bändigt das Tier, oder es zerreißt ihn. Feurigen Atem, Krallen, Rausch des Schwankens nimmt er ihm nie! Er bändigt das Tier, denn er ist seiner Mutter Sohn. Er bändigt es, indem er es liebt. Denn die Liebe umschließt die Lust. Liebt er es nicht, so zerreißt es ihn. Deshalb haben die großen Wollüstigen Angst vor der Wollust.

Eine Frau könnte sagen: »Ganz gewiß ist der Ehebruch unsittlich. Aber aus anderen Gründen als religiösen. Da die Ehe keine Angelegenheit der Religion ist, diese vielmehr nur so gut es ging mit der Ehe sich abfand, so ist auch der Ehebruch nicht unsittlich im religiösen Sinne. Er ist es aber, weil – doch zuvor: woran liegt es, daß für uns Frauen der Gatte so leicht der lächerliche Mann, ja, der einzige Mann ist, der für uns überhaupt lächerlich werden kann? Aber, liebe Geliebte, gibt es denn einen Geliebten, an den nicht auch die Reihe kommt, Gatte zu sein, lächerlich zu werden? Und darin liegt das Unsittliche: daß wir den Mann degradieren, um uns eine Entschuldigung dafür zu geben, daß wir ihn betrügen. Wir müßten anfangen, uns auf andere Gründe des Ehebruchs zu besinnen, wenn die Ehe schon einmal gebrochen werden soll. Es müßten Gründe sein, die den Gatten nicht ändern.« So könnte eine Frau sprechen: um es ganz zu verstehen, muß man es auch mit den Augen hören.

Eine Frau könnte auch das sagen: »Brächte man alles in eine Ordnung, was die Männer – besonders (oder nur?) in den Büchern – gegen uns sagten und sagen, es käme heraus, daß wir gerade in dem, was sie gegen uns haben, für sie als höchst positiv existieren; ich meine so: nähmen wir es uns zu Herzen und würden anders, gewöhnten wir uns ab, was man an uns tadelt und von uns leidet, so würde dem Manne seine Welt mehr als völlig entweiht nur sein – er würde den Stachel des Lebens verloren haben. Die am meisten respektierten Frauen sind den Männern die langweiligsten. Wir alle hören: die Frauen sind Kinder. Das ließe man uns ja noch. Nun halten aber unsere Kinderhände Bogen, Köcher, Gift und Pfeil. Für ein einziges Ziel notabene! Und schon steht das griesgrämig anklägerisch in den Männersätzen gegen uns. Legten wir aber, was wir halten, aus den Händen, mein Gott! der Unglücklichste darüber wäre der Mann. Wir haben kein Vergnügen an dem, was man uns läßt, aber leiden sehr an dem, was man uns verweigert. Wie die Kinder. In der Distanz von uns, in der männlichen Einsamkeit, bekommen wir das vorgeworfen, aber wer weiß nicht, wie in der Nähe das ganz anders wird! Das Manuale unserer Schlechtigkeiten, vom Manne geschrieben, ist das Manuale unserer Tugenden für den Mann (zum Mann). Alles gegen die Liebe hat nur die Liebe gesagt: der Haß ist blind.«

Man soll das nicht vergessen: die Frauen haben die größte Mühe mit dem Leben, und allein die Liebe entlohnt sie dafür. Deshalb mögen sie es vom Manne, daß er sie liebe. Sie ist ihr Lohn für Dienst und ist ihr Sonntagsausgang der Magd. Haben sie die Liebe nicht, so fehlt ihnen alles. Dann dienen sie ohne Lohn wie ein Sklave, hassen den Herrn und befreien sich, nicht um frei zu sein, sondern um sich zu rächen.

1.7

Die monogame Ehe unserer Zivilisation ist weder eine religiöse, noch eine staatliche Institution gegen Wunsch und Willen des Menschen. Nur daß sie bis ans Ende des Lebens dauere, verlangt gegen den Menschen die Kirche. Nur daß sie bis an die weitgesteckte Grenze des überhaupt Erträglichen dauere, verlangt der Staat gegen den Menschen. Beide Institute, Kirche und Staat, geben so dem ganz privaten Entschluß zweier Menschen, in ehelicher Vereinigung zu leben, etwas Zwanghaftes und legen den beiden ein Joch des Erleidens auf, an dem sie sich wund scheuern und gegen das sie sich in zunehmendem Maße wehren, indem sie Erleichterung der Ehescheidung durch eine entsprechende Änderung der Gesetzgebung fordern oder aus einer Kirche austreten, die in ihrem Rigorismus nicht nachgibt. Der Verbalismus, mit dem Staat und Kirche die Ehe als ein heiliges Institut umgab, hat auf diese Menschen von heute keinerlei Wirkung mehr. Die Metaphysik der Mutterschaft, die man ehemals lehrte, ist als eine etwas verlogene Sentimentalisierung erkannt. Daß die Frau, die Kinder haben will, solche nur in einer Ehe gebären und aufziehen könne, das glaubt heute niemand mehr, außer dort, wo man das kurze Weiberhaar für eine Sünde und den Zopf für das Symbol der Keuschheit hält. Aber wir können von Sitten, Bräuchen und Anschauungen dieser Zeit sprechend und als charakteristisch für diese Zeit uns nur an das halten, was die große Stadt auf ihrem Asphalt hervorbringt, nicht das Dorf auf seinem Weideplatz. Dorthin wird heute gerade das Vorgestrige gedrungen sein, das Abgelegte, das Abgestorbene. Wie man aus den lächerlichen Filmstücken wahrnehmen kann, die für die Anschauungen dieser Gegenden hergestellt werden. Dort mag »das Kind der Sünde« noch etwas bedeuten, sonst nirgendswo. Und selbst dort wird sich heute ein Zuschauer sagen, daß die Sünde eigentlich ganz lustig war.

Das Problematische jeder Ehe, bei deren Zustandekommen wenn auch noch so mäßige Liebesgefühle eine Rolle gespielt haben, liegt darin, daß in dieser Ehe das, was man die geistige Liebe nennt, die Kameradschaftlichkeit, die Freundschaft wohl wachsen kann, aber das, was man die physische Liebe nennt, sich mindert und das sexuelle Interesse, das man für einander hatte, abnimmt bis zum Erlöschen. Für diese Minderung und dieses Erlöschen gibt es Auswege außerhalb der Ehe, und ein Zeitalter wie das unsere, das dem Sexuellen nicht mehr wie die Generation vor dreißig Jahren diese tragische Maske gibt und dem das Genitale nicht schlechthin schon das Passionelle ist, wird, kommt es aus Not zu diesen Auswegen außerhalb der Ehe, diese Ehe noch nicht für erschüttert oder gar für verloren halten. Wohl aber, wenn sich herausstellt, daß aus dieser ehelichen Gemeinschaft nicht die erhoffte spirituelle Liebe sich bildete und wuchs, die an tausend Zeichen erkennbar ist und sich in tausend Zeichen merkbar macht. Gegen dieses Fehlende werden alle Versuche nichts nützen, die das Paar in der Variation des sexuellen Vergnügens anstellt, denn solches ist mit jeder Frau und nicht nur mit dieser, mit jedem Manne und nicht nur mit diesem erreichbar. Ja es werden solche Versuche im Sexuellen den letzten Keim einer erwarteten und für das eheliche Zusammensein notwendigen spirituellen Liebe zerstören. Die Gleichgültigkeit des Mannes gegenüber dem bestimmten Anlaß seines sexuellen Funktionierens ist weit größer als die respektiven Gattinnen meist annehmen. Er hat wenig Neigung, dem Falle eine besondere Auszeichnung zu geben. Wenn ihm die Frau zu nichts sonst gut ist als dazu, wird sie vergeblich eine wichtige Rolle in seinem Leben zu spielen versuchen. Sie wird immer nur eine unter vielen und allen Frauen sein. Und es wird der Augenblick kommen, wo ihm das höchst bewußt wird, und dies wird der kritische Augenblick sein, wo er an die Scheidung denkt. Er sieht den Aufwand einer Ehe nicht ein, aus der er nicht mehr hat als das sexuelle Vergnügen, auch ohne Ehe jederzeit und leicht zu finden.

1.8

Vor etwa dreißig Jahren kam eine Formel auf: Des Weibes Inhalt ist der Mann. Kleine Sinne, die sich langweilten, ließen sich verlocken. Alles was sonst Inhalt war – nicht viel – wurde entfernt und der leere Raum für den Mann geschaffen, daß er ihn ausfülle. Aber er dachte gar nicht daran, und jene Frauen kamen in eine kritische Situation, in der sie sich mit der kritischen Bemerkung zu behaupten suchten: »Es gibt keine Männer mehr.« Und da alle menschlichen Werte nicht von jenen sozial bestimmt werden, die sie naiv besitzen, sondern von den anderen und mehreren, die sie sentimentalisch beanspruchen, bekam das Wort, daß es keine Männer mehr gibt, denselben öffentlichen Kurs wie das andere von des Weibes Inhalt. Da war eine alte Dame, die das Lob der früheren Männer sang und auf die Frage, ob die Männer damals andere Nasen hatten, antwortete: »Nein, aber man trug sie anders.« Das war eine alte Dame, hatte keinen Titel mehr in dieser Angelegenheit, die für sie eben nicht anders zu erledigen war. Aber die jungen Frauen von heute sollen sich nicht täuschen. Einmal nicht darüber, daß das Verlangen nach dem Mannesinhalt nicht nur kein Beweis, sondern meistens das Gegenteil dessen ist, was man das Talent zum Manne nennt. Die es haben, leben ohne Wunsch und Formel ein Leben, das sie anders kaum denken können. Es gibt sehr wenig solche Frauen: sie finden ohne zu suchen die wenigen Männer, die auf der Höhe ihrer eigenen Art stehen, und machen kein weiteres Wesen daraus. Wer tapfer ist, der beschäftigt sich nicht damit, eine Definition der Tapferkeit zu suchen. Und weiter: schlecht geweckte und gereizte Sinne sind noch keine starken Sinne deshalb, weil ihre Präsenz sich abhebt. Und schließlich: des Lebens Inhalt ist keineswegs die Liebe. Sie mag es für wenige Menschen sein, für die Mehrzahl ist es Arbeit und Dummheit und irgendwo darein versteckt etwas, das man, um sich ein Sonntagsvergnügen zu machen, Liebe nennt, die aber eine Ausnahmeerscheinung ist wie die Kunst und ein Überfluß wie sie. Die Menschen nennen ihre mehr oder weniger geglückten Begattungsversuche Liebe und sich selber Liebende. Der Seiltänzer nennt, was er treibt, eine Kunst und sich einen Künstler. Begreifliche Sublimierungen. Man zwinge, was sich ein Liebespaar nennt, sechsunddreißig Stunden ununterbrochen in einem Bett zu verbringen: es gibt keine härtere Strafe für jene, die sagen, die Liebe sei der Sinn der Welt. Denn sie ist nur eine der Arten – die schmerzlichste –, in denen sich das Leben verbraucht; aber sie rechtfertigt sich als Sinn des Lebens nur dann, wenn sie dieses Leben ganz und gar verbraucht: ein sehr seltenes Schauspiel, daß ein Teil stärker ist als das Ganze. Denn das Ganze, das ist das Leben, und das hat keinen anderen Sinn als sich selber: leben um zu leben.

Was sie ist, nein, das kann man nicht sagen; aber was die Liebe nicht ist, das kann man sagen: sie ist weder dieses – nicht etwas komische? – Bedürfnis nach der Kopulation, und nicht dieser üble Selbstmordversuch, wie man die gewöhnliche Wollust – den Anfall – nennen kann; und ganz bestimmt ist sie nicht dieses große, schlecht verschnürte Paket Sentimentalitäten, das einem die Frauen oft als ihre »Liebe« in die Arme legen und das man mit Grimassen der Verzweiflung nur so lange trägt als es die Höflichkeit verlangt. Wenn Frauen schon keine lebhaften Sinne haben und keinen Leichtsinn des Geistes, der die Sinne in den Frauen ins Gleichgewicht bringt, so sollen sie um Gottes willen nicht die »Gefühle« diesen Mangel ersetzen lassen. Denn nichts ist so stumpf und leer und tot in der Liebe wie »das Herz«. Man muß es bis zum Zerbrechen verschweigen können. Aber von der mehreren Liebe hat Herr de la Rochefoucauld recht, der sagt: Die Liebe ist das einzige Mittel, die Frauen zu bekommen, welche für Geld nicht zu haben sind.

Aus im einzelnen nicht feststellbaren Ursachen hat sich in dieser Attitüde der Frau dem Manne gegenüber ein radikaler Wandel vollzogen. Gewiß: es denkt heute das Mädchen im Beruf, daß es ihr Damenideal nur erreichen kann durch die Mittel, die ein Mann ihr dafür zur Verfügung stellt. Die sogenannte Emanzipation, welche Scharen von Frauen in den selbständigen Erwerb losließ, hat auch das Damenideal verbreitet, aber ohne die hinreichenden Mittel dafür, es zu erreichen, außer mit Hilfe des reichen Freundes. So ist der Mann Inhalt all dieser freigelassenen Mädchen, welche die Fahnen der Befreiung schwenkten, geblieben. Nur die Schwierigkeiten, ihn, diesen Freund, wirklich zu machen, sind außerordentlich gewachsen. Was man ein Verhältnis nennt, ist für den Mann ein Minotaurus, der die sieben Tage der Woche verschlingt. Und seine Zeit ist so kostbar wie sein Geld geworden. Und der Erwerb dieses Geldes weit aufregender als die Eroberung einer Frau. So zieht er dem Verhältnis, das Zeit kostet, die eheliche Frau vor, die Zeit spart.

1.9

Nicht die sittliche Substanz, aber ihre Wertgebungen ändern sich in den Zeiten, ohne daß wir imstande wären, die Ursachen dafür genau anzugeben. Denn diese sich ändernden Wertgebungen verfolgen keine erkennbare Linie, die auf ein erkanntes Ziel gerichtet ist, sondern laufen eher an einer Spirale. Was gestern oben, ist heute unten, was heute unten, kann morgen wieder oben sein. Man kann hier mit einigem Anstand nur beschreiben, was ist, nicht aus irgendwelchen Anschauungen fordern, was sein sollte und das, was ist, verwerfen. Wer das tut, übertreibt eine zufällige Anschauung zum Gesetz, macht aus einem Vorurteil ein Urteil, ohne für das Gesetz und das Urteil mehr einsetzen zu können als die Lebhaftigkeit seines Vortrages.

Daß die sexuelle Moral heute weit nachgiebiger und nachsichtiger geworden ist, als sie es vor dreißig, ja noch vor zwanzig Jahren war, werden da und dort darüber trauernde oder geärgerte Pastoren, Pfarrer und Staatsanwälte eben durch ihre Klage bestätigen. Aber auch dieses, daß die sittlichen Standardwerte, die sie aufstellen, mumienhaft und verstaubt, wenn auch gut gemeint sind – die Fakten dieses heutigen Lebens wissen mit ihnen nichts anzufangen und kommen mit ihnen nicht mehr zurecht. Was diese Pädagogen den Heutigen für den Kampf des Lebens in die Hand geben, sind, wie einer sagte, Gewehre, die sich nach rückwärts gegen den Träger entladen.

Gegen diese Lockerung der sexuellen Moral spricht nicht, daß sie am häufigsten von Leuten ausgeht oder praktiziert wird, die es sich, weil sie Geld und Zeit haben, leisten können. Man weiß, daß die andern, die nicht das Geld und die überflüssige Zeit dafür haben, immer diese Aufstellungen der reichen Kaste zu den ihren zu machen versuchen, soweit das möglich ist. Einmal war der Seidenstrumpf ein Privilegium, heute trägt ihn als ihr selbstverständlich zukommend jedes Ladenmädel. Selbst in Sowjetrußland ist der Versuch mit dem staatlich geförderten Proletkult mißlungen. Der Mensch schaut in seinen Aspirationen hinauf, nicht hinunter. Der radikalste Proletarier will die Dreizimmerwohnung des Kleinbürgers, dieser die Villa des Bürgers, dieser das Schloß des Adels, dieser die Krone, und die Krone bringt Gott nah.

Das Beispiel des Seidenstrumpfes möge nicht überdehnt und angenommen werden, es handele sich bei dem so radikalen Wandel in der sexuellen Moral um eine snobische Mode reicher Leute der Großstadt: wir merken diesen nur bei ihnen rascher und deutlicher als im bürgerlichen Mittelstand. Es ist dieser Wandel der sexuellen Moral ja nur eine Teilerscheinung eines viel weiter fassenden Vorganges, der kurz so beschrieben werden kann: Die ideologischen Vorstellungen der Zeit von vor dreißig Jahren liegen im Sterben und machen die letzten Versuche, durchaus geänderte Lebensverhältnisse der heutigen Menschen mit ihren Wortgebilden zu decken. Ihres alten Sinnes sind diese Wortschalen entleert und einen neuen Sinn aufzufangen und zu halten sind sie ungeeignet. Vergeblich mühen sich ihre Priester und Lobpreiser eine alte Mythologie in Glanz zu setzen und ihre Formen zu empfehlen. Die Schatten größerer Zeiten werden beschworen, damit sich diese Zeit an ihnen aufrichte, aber es bleiben Schatten und es ist die tragikomische Widerlegung solchen Versuches, daß Kinoschauspieler ihnen »Leben« geben. Nur die sogenannten nationalen Kreise, die sich weniger durch ihr politisches Programm als durch das schlechte Deutsch vorstellen, das sie reden und schreiben, nur diese wissen nicht, daß es gewitzte Judenjungen aus Budapest und Czernowitz sind, die ihnen das Nationale in so Liedern vom rheinischen Mädchen und ebensolchen Filmstücken liefern, womit sich, nur um viele Etagen tiefer, wiederholt, was Heine tat oder im Politischen der Professor Stahl, der Programmatiker des deutschen Konservativismus.

Vergeblich mahnen bischöfliche Hirtenbriefe und pastorale Rundschreiben, zu den alten Idealen der sexuellen Moral zurückzukehren. Vergeblich, denn eine Zeit, die vier Jahre lang Männermillionen aufeinander mordend losgelassen, kann es nicht mehr wichtig nehmen, daß irgendwo auf dem Lande ein Mädchen den Umstand seiner Jungfräulichkeit mit einem Pathos umgibt, als ob es sich hier um einen höchst bedeutenden sittlichen Wert für die Menschheit handele. Dieses Pathos ist ins Lächerliche gesunken, denn der heutige Mann sieht in solcher sexuellen Romantik keinerlei Garantie für eine glückliche Ehe. Es ist ja diese für den erwarteten Ehegatten aufbewahrte Jungfräulichkeit nie ein sittlicher Wert gewesen, sondern bei dem Mädchen ein höchst unzulänglicher, weil nichts als anatomischer Beweis ihrer Reinheit und beim Manne Wunsch des Schüchternen und Unfähigen, der allen Grund hatte, einen Vergleich mit andern Männern zu scheuen. Der heutige Mann verlangt, insofern er nicht ein geistig recht inferiores Wesen ist, von der Frau andere Qualitäten als diese Unberührtheit, die ihm bei einer Vierundzwanzigjährigen nur sagt, daß diese Person eine höchst geringe Erfahrung des Lebens besitzen müsse, da sie alle ihre Energien auf nichts sonst gewandt hatte als darauf, ihre Intaktheit zu bewahren. Er wird geneigt sein, solche Übertriebenheit komisch zu finden, und wird ihr ein Mädchen vorziehen, das diese Intaktheit nicht mehr besitzt, weil er sich mit diesem Mädchen rascher verständigt und besser in diese kameradschaftliche Beziehung kommt, auf die er für die Ehe einen weit größeren Wert legt als auf den sexuellen Sentimentalismus eines Geschöpfes, das aus diesem fiktiven Kapitel ihrer Jungfernschaft eine hundertprozentige Verzinsung schlagen will.

Unsere bisherige Zivilisation hatte als eines ihrer Fundamente die Virginität der Braut. Man legte Wert darauf, eine Vestalin zu heiraten, wenigstens dem anatomischen Befund nach. Diese Zivilisation ist im Abbruch. Ein Zeichen dafür ist, daß sich der Mann nichts mehr aus der Vestalin macht. Das ruft die Verteidiger der alten Zivilisation auf die Zinnen. Aber die Mauern schwanken.

1.10

Was die Tugendhaftigkeit der Frau betrifft, so war sie bei dem flüchtigen Interesse, das der Mann am Sexuellen nur nimmt, nie ein wichtiges Stück seines sittlich-sentimentalen Repertoires. Wenn er auch aus Nachgiebigkeit so getan hat, als ob sie ihm so wichtig wäre wie die häuslich brauchbaren Eigenschaften seiner Frau. Mindestens in seinem schlechten Gewissen wußte er ja, daß er der Untugend einer Frau mehr Vergnügen verdankt als ihrer Tugendhaftigkeit, und nur von seiner Ehegattin mit Steinen versorgt warf er sie auf die Frau mit Seitensprüngen. Denn die Achterklärung der Untugendhaften ging primär nicht vom Manne, sondern von der Gattin aus, die in jener andern, die auch meist hübscher war und sein mußte, um eben in Untugend zu fallen, die Rivalin fürchtete und keine Mühe scheute, sie sozial zugrunde zu richten. Diese Angst vor der Rivalin, die den Gatten verführen könnte, brachte, wie man weiß, selbst eine nichts als hübsche, aber tugendhafte Frau in die Gefahr, als eine Untugendhafte verschrien zu werden: bloß weil sie hübsch war und sich entsprechend kleidete, traute man es ihr zu, von ihrer Hübschheit einen Gebrauch zu machen, der den Ehegatten in Gefahr brachte. Es war vor dreißig Jahren weit schwieriger, als hübsche Frau für eine anständige Frau zu gelten als es zu sein. Auch hier hat sich die Zeit geändert.

In den Theaterstücken ist nicht mehr die alte Jungfer komische Figur, sondern die junge Jungfer, und nicht nur für die Männer im Parkett, sondern auch für die Frauen. Und nicht nur für die Frauen, sondern für sich selber. Ehmals war sie stolz darauf, tugendhaft zu sein. Heute geniert sie sich dessen. Schon als Backfisch. Dieser Glaubenssatz der alten Mythologie unserer Zivilisation ist in der neuen sich bildenden als ein Aberglaube entlarvt worden. Eine unendliche Zahl vor dreißig Jahren ernstgemeinter und ernstgenommener Stücke um die tugendhafte Heldin ist ins Belachte gesunken, und nur der Respekt vor einem Namen hindert es noch, daß man es bei einigen Stücken von Ibsen nicht tut oder noch nicht. Das »darüber kommt kein Mann hinweg« des Hebbelschen Tischler Anton ist heute völlig unverständlich, nachdem bereits die Frauen darüber weggekommen sind und die untugendhaft sich vergessende Tischlertochter nicht mehr verunglimpfen. Die Männer in ihrer leichtfertigeren Art sexuellen Dingen gegenüber wären ja immer darüber weggekommen, wenn sich die Frauen, die Untugend zu fürchten Grund hatten, nicht dazwischen gestellt und den Mann eingeschüchtert hätten. Diese Frauen wußten, daß die Untugendhafte mit den Männern leicht fertig würde. Aber nicht mit ihnen. Frauen haben immer nur Frauen gefürchtet und tun es auch heute noch, nie Männer.

Die vier Jahre Krieg haben den Prozeß der Umbildung unserer sexual-moralischen Anschauungen nicht verursacht, aber beschleunigt. Die Verteidiger der alten Mythologie der Worte ohne Inhalt versuchen vergeblich, diese Änderung als nichts denn eine Nachkriegserscheinung der Verwilderung zu erklären, die vorübergehen werde, wenn man nur recht auf sie höre und tue was sie sagen. Die Hilflosigkeit dieser Prediger offenbart sich in den von ihnen empfohlenen Heilmitteln, nicht nur in denen des langen Rockes, der so ungemein Sexuelles wie die weiblichen Unterschenkel verberge, oder des langen Haares, wobei sie ganz vergessen, daß eben dieses lange Haar einen vielbesungenen erotischen Reiz besaß, den der pathologische Zopfabschneider zu würdigen wußte. Sondern auch in solchen Mitteln wie Trennung der Schulkinder nach Geschlecht und Religion, Verbot des gemeinsamen Badens, des Tanzens, des einfachsten Unterrichtes über die sexuellen Dinge. Das alles zeigt in seiner Kümmerlichkeit das Vergebliche solcher Bemühungen, eine sexuelle Moral von Gestern zu retten gegen die eine andere Moral von Heute bedingenden Fakten des Lebens, die es nicht mehr dulden, daß Angelegenheiten des Geschlechtlichen mit einem überbetonenden Pathos traktiert und mit einem romantischen Sentimentalismus garniert werden, der weit eher einem phallischen Kult entspricht als eine natürliche Dezenz diesen Dingen gegenüber ausdrückt.