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Die Autor:innen gehen typischen Fragestellungen und Herausforderungen modernen Organisierens auf den Grund. Vor dem Hintergrund der Systemtheorie Niklas Luhmanns bieten die drei Expert:innen Erklärungsansätze und Hilfestellungen. Dieses Werk wendet sich an Führungskräfte, die darüber rätseln, wieso viele Interventionen in ihrem Unternehmen einfach nicht greifen. An Organisationsentwicklerinnen und -entwickler, die sich über „unerklärliche“ Widerstände in Changeprozessen wundern. Und auch an Weiterbildende und Beratende, die das in großen Teilen unsichtbare Geflecht Organisation entwirren wollen, um dessen Mitglieder wirkungsvoll unterstützen zu können.
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Seitenzahl: 175
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Judith Muster, Andreas Hermwille, Jens Kapitzky
Lehren von Luhmann
Angewandte Systemtheorie: Pragmatische Lösungsansätze für Organisationen
managerSeminare Verlags GmbH – Edition managerSeminare
Judith Muster, Andreas Hermwille, Jens Kapitzky
Lehren von Luhmann
Angewandte Systemtheorie: Pragmatische Lösungsansätze für Organisationen
© 2024 managerSeminare Verlags GmbH
Endenicher Str. 41, D-53115 Bonn
Tel.: 0228-977910
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ISBN: 978-3-98856-374-3
Herausgeber der Edition managerSeminare:
Ralf Muskatewitz, Jürgen Graf, Nicole Bußmann
Lektorat: Vera Sleeking
Coverfoto: istock/jacoblund, Grafik: Sonntag/Wikipedia
Illustrationen: Stefanie Diers
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt
Ihre Download-RessourcenBegleitend zum Buch stehen Ihnen Arbeitshilfen für die persönliche Verwendung zum Download im Internet zur Verfügung. Sie können die Vorlagen jederzeit in hoher Qualität abrufen und einsetzen.https://www.managerseminare.de/tmdl/k,20255
Vorwort
1.Statt einer Einleitung: Viele Probleme sind gleichzeitig LösungenVon Dr. Judith Muster und Andreas Hermwille
2.Hierarchie und Führung unterscheidenDr. Judith Muster und Andreas Hermwille
3.Führung von unten geht immerDr. Judith Muster und Jens Kapitzky
4.Verantwortung ungleich VerantwortlichkeitDr. Judith Muster und Jens Kapitzky
5.Initiative ergreifen ist gefährlichDr. Judith Muster und Andreas Hermwille
6.Hilfsbereitschaft kann schadenDr. Judith Muster und Andreas Hermwille
7.Zeitmangel ist ein soziales ProblemDr. Judith Muster und Lars Gaede
8.Routinen machen flexibelDr. Judith Muster und Finn-Rasmus Bull
9.Radikales Feedback ist riskantDr. Judith Muster und Dr. Eva Zepp
10.Dumme Ideen sind oft unaufhaltsamDr. Judith Muster und Andreas Hermwille
11.Ohne Schauseiten geht es nichtDr. Judith Muster und Andreas Hermwille
12.Es zählt der Arbeitsalltag, nicht der PurposeDr. Judith Muster und Andreas Hermwille
13.Transformation erfordert VergessenDr. Judith Muster und Andreas Hermwille
14.Ausblick: Mensch bleiben in der OrganisationDr. Judith Muster und Andreas Hermwille
Service
Erstpublikationen der Texte, auf die Bezug genommen wird
Zum Weiterlesen, zum Hören und zum Sehen
Autorinnen und Autoren
Stichwortverzeichnis
Wir leben in einer komplexen Welt, durch die zu navigieren nicht leicht ist. Entsprechend groß ist der Orientierungsbedarf der Unternehmen und ihrer Führungskräfte. Nicht von ungefähr jagt seit Jahren ein Managementtrend den nächsten. Doch was als sicheres Erfolgskonzept für gute Führung, optimale Zusammenarbeit und krisenfeste Organisationsgestaltung verkauft wird, enttäuscht in der Umsetzung oft. Manches, was auf dem Papier bestechend klingt, erweist sich in der Praxis als wenig wirksam – oder schafft sogar neue, ungeahnte Probleme. Vielleicht auch aus dieser Ernüchterung heraus wächst seit einigen Jahren in der Management- und Führungswelt das Interesse an einem Gegenpol zu den vielen vermeintlich erfolgssicheren Organisations- und Führungsrezepten: Systemtheoretisches Denken ist en vogue, und vor allem die Systemtheorie Niklas Luhmanns erlebt im Business ein ungeahntes Revival.
Auf den ersten Blick ist das erstaunlich. Denn Luhmann (Jahrgang 1927) hat einen Großteil seiner Arbeiten in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts verfasst. Und er machte Ernst mit dem irrwitzigen Plan, den er, als er 1969 seine Professur für Soziologie an der Uni Bielefeld antrat, verkündete: „Theorie der Gesellschaft; Laufzeit: 30 Jahre; Kosten: keine“.
In der Tat: Als Luhmann 1998 starb, hinterließ er mit seiner Systemtheorie ein Mammutwerk, das nicht weniger beanspruchte, als alle Bereiche der modernen Gesellschaft analytisch zu durchdringen und die grundlegenden Logiken sozialer Systeme zu beschreiben. Allerdings galt und gilt Luhmanns Systemtheorie immer auch als schwere, weil hochabstrakte Kost. Dabei bieten gerade die älteren Schriften Luhmanns (die er vor seiner sogenannten autopoietischen Wende verfasst hat) erstaunlich konkrete Hilfestellungen, um den Führungs- und Arbeitsalltag mit seinen unerklärlichen Wechselwirkungen und überraschenden Dynamiken besser zu verstehen. Mit Luhmanns Analysen im Hinterkopf versteht man plötzlich, warum man sich die Mühe sparen kann, ein Unternehmen von oben herab umkrempeln zu wollen. Warum gerade Unternehmen, die agil sein wollen, dumm wären, auf Routinen zu verzichten. Warum es für alle Beteiligten gut ist, wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Führungskräfte „unterwachen“. Oder auch, warum Zeitmanagement eine verteufelt schwierige Sache ist.
Aus der Überzeugung heraus, dass Luhmann-Lektüre Führungskräften auch heute noch spannende Aha-Momente bescheren kann, entstand die Idee zur Artikelserie „Lehren von Luhmann“ im Magazin manager-Seminare. Drei Jahre lang brach die Soziologin und Organisationsberaterin Judith Muster gemeinsam mit ihren Co-Autoren relevante Einsichten des „Großmeisters der Systemtheorie“ auf den modernen Managementalltag herunter. Das Buch, das Sie nun in Händen halten, fasst die Texte dieser Serie zusammen. Es startet, statt mit einer Einleitung, mit einem Beitrag, der wohl am besten veranschaulicht, was es heißt, sich die systemtheoretische Brille aufzusetzen. In dem Text („Viele Probleme sind zugleich Lösungen“) geht es um das Denken in funktionalen Äquivalenten: Was auch immer in Organisationen passiert, hat eine verborgene Funktion.
Damit ist bereits die detektivische Grundperspektive gegeben, die uns durch das Buch begleiten wird: Gib dich nie mit dem erstbesten Eindruck zufrieden, sondern schürfe tiefer nach den verborgenen Abhängigkeiten und Wechselwirkungen im System. Was du entdecken wirst, wird dir helfen, deine Probleme bei der Wurzel zu packen. Doch, auch das lernen wir von Luhmann: Es wird nie gelingen, sämtliche Widersprüche aufzulösen – vor allem nicht die Tatsache, dass die Interessen von Mensch und Organisation immer bis zu einem gewissen Grad in Widerspruch zueinander stehen werden. Dass dennoch eine „würdevolle Koexistenz“ möglich ist, das ist die versöhnliche Botschaft des Textes „Mensch bleiben in der Organisation“, der – statt eines Schlusswortes – den ermutigenden Abschluss dieses Buches bildet.
Sylvia Jumpertz, Redakteurin beim Magazin managerSeminare
Von Dr. Judith Muster und Andreas Hermwille
Der naheliegende Lösungsversuch ist nicht unbedingt der beste
Wenn Menschen im Kontext der Arbeit als zupackend beschrieben werden, so ist das in der Regel positiv gemeint. Geradlinigkeit und praktisches Vorgehen haben in Organisationen einen guten Ruf. Wer „macht“, muss sich nicht den Vorwurf gefallen lassen, untätig zu sein. Besonders hohe Anerkennung genießt das Machertum, wenn Probleme ins Spiel kommen, für die die Lösung offensichtlich scheint. Wenn es brennt, dann ist schließlich keine theoretische Abhandlung über die Frage angebracht, wie man Feuer löscht, es muss einfach nur aufhören zu brennen. Diese Aussage hält man zumindest so lange für wahr, bis man zum ersten Mal gesehen hat, wie ein Fettbrand mit Wasser „gelöscht“ wurde. Nach der großen Explosion weiß man dann den Wert von überlegtem Handeln vor „einfach mal machen“ wieder zu schätzen. Im Kontext von Organisationen muss es nicht zwingend zu Explosionen kommen, wenn man die naheliegendste Lösung über ein Problem stülpt. Aber dass dies hilft, sollte man auch nicht erwarten.
Ein Beispiel: Rüde Teamleitungen
Im Rahmen unserer Beratungstätigkeit hatten wir es mit einer Organisation zu tun, in der auf der Ebene der Teamleitungen ein rüder und lauter Tonfall zur Normalität zu gehören schien. Wenn Teammitglieder sich nicht verhielten, wie die Leitung dies vorsah, wurde das nicht im Gespräch geklärt, sondern, indem die Teammitglieder von der Leitung angeschrien und beleidigt wurden. Dieses Verhalten wurde in der Organisation als Problem wahrgenommen, und die Ursache war schnell identifiziert: Offensichtlich waren die Teamleitungen mit ihren Aufgaben überfordert. Ihre Fähigkeiten schienen nicht auszureichen, um die ihnen anvertraute Rolle angemessen ausfüllen zu können. Vor die Frage gestellt, das Personal auszutauschen oder es nachzuschulen, entschied man sich für Letzteres – und initiierte einen Workshop zum Thema Leadership-Qualitäten.
Im ersten Moment wirkt dies wie die freundliche, mitarbeiterorientierte Variante – schließlich wurde niemand hinausgeworfen. Dennoch stellte sich die Maßnahme als zwecklos heraus. Mehr noch: Die Teamleitungen fühlten sich nicht ernst genommen angesichts der Unterstellung, sie wären zu inkompetent, um zu führen. Was war da schiefgelaufen?
„Man sieht den Wald vor Bäumen nicht“
Nach Beobachtung des Systemtheoretikers Niklas Luhmann sind die Ursachen für Probleme meist weniger naheliegend als angenommen. Sichtbares Verhalten auf „einige naheliegende Ursachen“ zurückzuführen, heißt für Luhmann, sich in die Gefahr zu begeben, dass man sich „im Dickicht komplizierter wechselwirkender Bedingungen verliert, ohne die großen Zusammenhänge in den Griff zu bekommen“. Viel von dem Verhalten, das in Organisationen zu beobachten ist, ist nämlich laut Luhmann auf „abgeleitete Probleme“ zurückzuführen. Also auf Probleme, die sich aus „Nachteilen anderer Entscheidungen oder aus strukturellen Weichenstellungen“ ergeben. Weil jedoch diese strukturellen Weichenstellungen und die anderen Entscheidungen zu den Grundpfeilern der Organisation geworden sind, kann man sie nicht mitbedenken, geschweige denn infrage stellen. „Man lebt immer schon in eingerichteten Verhältnissen“, nennt Luhmann das. „Man sieht den Wald vor Bäumen nicht“, könnte man auch dazu sagen.
Wenn man aber etwas nicht mehr infrage stellen kann, dann kann es im eigenen Bewusstsein auch keine Ursache für ein Problem sein. Dieser Ausschluss wird in der Regel nicht wissentlich vollzogen. Er folgt einfach daraus, dass man sich aus den „eingerichteten Verhältnissen“ heraus nun mal nicht selbst beobachten kann. Ohne zurückzutreten und die eigene Position zu hinterfragen, bleibt einem nichts anderes übrig, als nach direkten – vermeintlich auf der Hand liegenden – Sinnzusammenhängen zu suchen. Da wird dann zum Beispiel das Verhalten von Mitarbeitenden auf deren Charakter oder deren persönliche Inkompetenz zurückgeführt. Die Teamleiter verhalten sich aggressiv? Es wird an mangelnden Leadership-Fähigkeiten liegen, die muss man stärken. Von den Mitarbeitenden kommen zu wenig Ideen? Dann sind sie vermutlich unkreativ. Und man muss ihrer Kreativität mit Kreativitätsworkshops, Design Thinking, vielleicht auch Appellen, mutiger zu sein, auf die Sprünge helfen. Und schon ist man – eingeschränkt durch die eigene Scheuklappensicht – auf einer falschen Fährte der Problemlösung.
Die Analysen Luhmanns, die Ihnen in diesem Band vorgestellt werden, unterstützen Sie darin, einen Schritt zurückzutreten, Scheuklappen abzulegen, und den „Wald“ zu sehen – das „Ökosystem“ Organisation. In diesem System mag es Geschehnisse geben, die im ersten Moment absurd erscheinen, die nicht als „normal“ sondern als „unnormal“, vielleicht auch als „schlecht“ bewertet werden. Übernehmen wir aber die Perspektive, dass sie „eine Funktion für den Bestand des Handlungssystems“ haben, dann zeigt sich:
Was man als Problem beobachtet, stellt gleichzeitig eine Lösung für ein anderes Problem dar.
Die Frage ist, für welches andere Problem?
Das Problem ist eine Lösung eines anderen Problems
Im Fall der schreienden Teamleiter und Teamleiterinnen stellte sich heraus, dass dieses Verhalten erst mit der Einführung einer neuen Gruppenstruktur zu beobachten war: Man hatte eine neue Ebene in die Organisation eingezogen, die näher am operativen Geschehen sein und koordinierend wirken sollte. Die Aufgabe der Teamleitungen war es, dafür zu sorgen, dass in ihrem Team – jeweils um die 50 Mitglieder zählend – alles nach Plan lief, dass etwa die Zielvorgaben der Produktion und die Sicherheitsvorschriften eingehalten wurden. Die Notwendigkeit, diese Aufgabe zu erfüllen, war das Bezugsproblem. Und die Teamleitungen bearbeiteten es durch aggressives Auftreten. Warum aber ausgerechnet so?
Nach Luhmann ist wiederkehrendes Verhalten ein „variabler Systembeitrag“, also ein Beitrag, der prinzipiell „ablösbar, ersetzbar, austauschbar“ ist. Ist das erst einmal bewusst, kann man nach „funktional äquivalenten Leistungsmöglichkeiten“ suchen. Vereinfacht gesagt, fragt man sich: Geht es nicht auch anders? Wäre es also im Fall der Teamleitenden auch anders als mit Aggressivität gegangen? Die Antwort lautet in dem Fall: Nein. Dass die Wahl auf Einschüchterung fiel, lag wahrscheinlich am einfachen Zugriff auf das Mittel. Theoretisch wäre das Aufbauen von freundschaftlichen Beziehungen zu den Mitarbeitenden ein passendes Äquivalent gewesen. Denn in einer Freundschaftsbeziehung haben beide Seiten Interesse daran, einander nicht zu enttäuschen. Bei einer Führungsspanne von eins zu fünfzig war diese Lösung aber nicht verfügbar. Ein Tag hat zu wenig Stunden, um so viele persönliche Beziehungen glaubwürdig aufrechtzuerhalten.
Was den Teamleitern von vornherein fehlte, war eine personenunabhängige Lösung, die die Arbeitsleistung der Mitarbeitenden hätte sicherstellen können. Die Teamleiter hätten ihres einschüchternden Verhaltens beispielsweise nicht bedurft, wenn die Organisation ihnen offiziell die Verantwortung für viele Bereiche gegeben hätte, an denen die Mitarbeitenden ein persönliches Interesse haben. Etwa die Zuweisung von Schichten, die Planung des Einsatzortes, die Genehmigung von Urlaubsanträgen. Zuständig für diese Themen, hätten die Teamleader nicht auf Einschüchterung setzen müssen. Sie hätten vielmehr eine Tauschbeziehung zu den Teammitgliedern aufbauen können, in der beide Seiten etwas geben können, was die andere Seite begehrt. Damit hätte man das Ausgangsproblem alternativ bearbeitet.
Bei der Lösungswahl ist die wichtigste Frage: Was handelt man sich ein? Nicht nur zur Untersuchung von Problemursachen ist die funktionale Analyse nützlich. Sie ermöglicht es auch, zu prüfen, ob es für die bisher im Unternehmen gewählten Strukturen nicht auch funktionale Äquivalente gibt. Solche, die vielleicht andere, leichter zu ertragende Folgeprobleme erzeugen. Durch die funktionale Analyse wird klar, dass die Gegebenheiten nicht alternativlos sind. Und dass es keine perfekten Lösungen gibt.
Welche alternativen Lösungen gibt es für das ursächliche Problem?
Und welche Folgeprobleme bringen alternative Lösungen wiederum mit sich?
Ein Beispiel für ein allgemeines Problem: Die Aufrechterhaltung von Leistungsmotivation
Eine aktuell populäre, spezifische Problemlösung für das Aufrechterhalten von Motivation in Organisationen ist das Stiften eines „Purpose“, beziehungsweise einer Zweckidentifikation, die Mitglieder dadurch motiviert, dass sie sich für eine Sache einsetzen, die ihnen selbst am Herzen liegt (vgl. ab S. 94). Es lässt nun sich funktional analysieren: Was handelt man sich damit ein?
So fällt zum Beispiel auf, dass Motivationsherstellung via Sinnstiftung den Handlungsspielraum der Organisation einschränkt. Der Grund: Die Organisation verliert sofort an Glaubwürdigkeit, sobald faktische Handlungen dem ausgerufenen Purpose widersprechen. Einmal auf die große Sache festgelegt, ist diese auch nicht mehr so einfach zu ändern. Sollte man es versuchen, wird auch dies zu Enttäuschungen der Organisationsmitglieder führen – die die Organisation in der Folge entweder verlassen oder zumindest alle Formen von Purpose-Erzählungen von da an distanziert bis zynisch beobachten werden.
Ein „Schritt zurück“ erleichtert es, andere Problemlösungen in den Blick zu nehmen. Es geht um (mangelnde) Leistungsmotivation? Ein simples Äquivalent wäre, dass das Erbringen von Leistung eine Grundbedingung ist. Also eine Voraussetzung dafür, überhaupt Mitglied in der Organisation zu bleiben. Was aber handelt man sich damit ein?
Denn auch daraus ergeben sich Folgeprobleme. Etwa, dass die Organisation nun beobachten muss, ob die Leistungen auch tatsächlich in vereinbarter Art und Weise (zum Beispiel hinsichtlich der Qualität und Geschwindigkeit) erbracht werden. Des Weiteren muss die Aufrechterhaltung der Mitgliedschaft für das Mitglied mindestens so viel Bedeutung haben wie die erbrachte Leistung für die Organisation. Daraus folgt zum Beispiel: Mit Unersetzbarkeit ist strikte Leistungskontrolle unter Androhung von Entlassung bei Versagen kaum vereinbar.
Die funktionale Analyse konfrontiert Normen
Dass die funktionale Analyse die „naheliegenden Lösungsansätze“ hinterfragt, bedeutet auch, dass formale Normen konfrontiert werden: mit anderen Möglichkeiten, soziales Handeln zu ordnen. Das lässt sich leicht missverstehen, etwa als Angriff auf bürokratische Traditionalisten und Traditionalistinnen, die eine straffe formale Struktur nur verteidigen, weil es diese schon immer gab. Doch auch moderne Arbeitsmodelle, etwa die agilen Arbeitsansätze, müssen es sich gefallen lassen, dass ihr „Geltungsanspruch“ nur eine Möglichkeit unter vielen ist, auf bestehende Probleme zu antworten. Durch Hinterfragen kann der Eindruck von Respektlosigkeit entstehen, hat Luhmann einmal angemerkt. Diese Beobachtung ist mit Blick auf den aktuellen Management-Diskurs überraschend aktuell. Die Relativierung des unbedingten Geltungsanspruches eines Modells durch das Aufzeigen der Alternativen wird von den jeweiligen Verfechtern und Verfechterinnen oft als persönlicher Affront verstanden. Dabei ist es sehr hilfreich, den Fokus auf einzelne Lösungsangebote mittels funktionaler Analyse zu überwinden. Man befähigt sich damit, so Luhmann, „andere Möglichkeiten des Zusammenlebens im Blick zu behalten“. Und man kann erkennen, dass man „spezifische Lösungen für allgemeine Probleme“ vor sich hat, „die in anderen Sozialordnungen ihre Äquivalente haben“.
Im Kern hat Luhmann uns mit der funktionalen Analyse drei wichtige Fragen an die Hand gegeben, die unseren Umgang mit Problemen – und organisationalen Gegebenheiten – maßgeblich verbessern können:
1.Wenn ein gezeigtes Verhalten oder ein sich wiederholendes Muster eine Lösung darstellt – was ist dann das Problem?
2.Was sind funktionale Äquivalente, die man stattdessen einsetzen kann?
3.Was sind Lösungsprobleme, die diese Äquivalente mit sich bringen?
Am Schluss steht dann eine Entscheidung an: Welche, durch die Lösung neu erzeugten Probleme können wir dauerhaft am ehesten ertragen? Und welche Lösung kommt mit den geringsten Kosten daher?
Mit dieser Methode kann man Lösungen identifizieren, die tatsächlich die Ursachen des beobachteten Problems bearbeiten. So muss man nicht ständig persönliche Eigenschaften von Mitarbeitenden für Probleme verantwortlich machen, man gewinnt vielmehr einen Blick auf tiefere Zusammenhänge in der Struktur. Und man lernt, damit umzugehen, dass es keine perfekten Lösungen geben kann. Nur Lieblingsprobleme, mit denen man sich fortan herumschlagen möchte.
Treten wir also einen Schritt zurück, um eine erweiterte Perspektive zu gewinnen, und betrachten wir das „Ökosystem“ Organisation und die funktionalen Zusammenhänge darin. „Womit“ „was“ in Organisationen gelöst wird bzw. welche „Lösungen“ welche Probleme verursachen können und wo alternative Lösungen liegen könnten, das zeigen die einzelnen Kapitel zu unterschiedlichen Themenbereichen auf. Mit Bezug auf konkrete Beispiele aus dem Unternehmensalltag, geht es um folgende Themen:
Wo überall in Organisationen Führung stattfindet – und auf welche Weise (2. Kapitel ab S. 16 und 3. Kapitel ab S. 26).
Wie in Organisationen neue Impulse entstehen – und was es so schwer macht, Impulse einzubringen (4. Kapitel ab S. 34 und 5. Kapitel ab S. 42).
Wann Organisationsmitglieder anderen persönliche Ressourcen wie Hilfeleistung und Zeit zur Verfügung stellen - und wann und warum das ein schädliches „Zuviel“ werden kann (6. Kapitel ab S. 50 und 7. Kapitel ab S. 58).
Wie Routinen im System eine stützende Rolle spielen – und welche Funktion das hat (8. Kapitel ab S. 64).
Wann radikales Feedback für die Organisation schädlich sein kann - und warum manche „dummen Ideen“ sich auf diese Weise auch nicht aufhalten lassen werden (9.Kapitel ab S. 70 und 10. Kapitel ab S. 78).
Warum einerseits für Organisationen „Schauseiten“ unabdingbar sind und andererseits das große Schauseiten-Thema Purpose weniger wirkungsvoll ist als behauptet (11. Kapitel ab S. 86 und 12. Kapitel ab S. 94).
Warum die Transformation einer Organisation nicht vollständig gesteuert ablaufen kann – und der Wandel dennoch planend begleitet sein muss (13. Kapitel ab S. 102).
Ein Bonus-Kapitel: „Vertrauen senkt die Komplexität“ vertieft, wann es in Organisationen nötig ist, Zweifel bewusst auszuklammern und Vertrauen als kontrollierbare Handlungserwartung einzusetzen.
Das Bonus-Kapitel zu diesem Buch steht Ihnen online und zum Herunterladen zur Verfügung. Auf die Download-Ressourcen können Sie zugreifen, indem Sie auf das nebenstehende Icon oder auf den Link auf der Impressumsseite 2 klicken.
Dr. Judith Muster und Andreas Hermwille
„Wer führt – und auf welcher Grundlage?“ – Eine Betrachtung von Führung außerhalb und innerhalb von Hierarchien erklärt, wieso es manchmal so schwer zu beurteilen ist, wer sich gut für eine Führungsrolle eignet. Es zeigt sich: Hierarchie und Führung müssen getrennt voneinander betrachtet werden. In diesem Kapitel wird damit eine Perspektive vorgestellt, die Führungskräfte davon entlastet, qua ihrer Persönlichkeit immer überzeugende Angebote machen zu müssen und die den Blick für die Führung durch Mitarbeitende öffnet.
Außerhalb von Organisationen ergibt sich Führung eher zufällig und abhängig von der Beziehungsqualität der Beteiligten: Wer zeigt in einer Gruppe Initiative? Wer bringt Ideen ein und andere dazu, ihm oder ihr zu folgen? Die Antworten auf diese Fragen spielen auch in vielen Assessment-Center-Planspielen und Teambuildingmaßnahmen eine Rolle. Egal, ob eine Gruppe eine Brücke aus Papier bauen soll, die einen Backstein hält, oder ob sie gemeinsam ein Pitch für ein grauenvolles Produkt entwickeln soll: Den Beobachterinnen und Beobachtern bei diesen Maßnahmen geht es selten um das eigentliche Ergebnis. Sie wollen sich vielmehr ein Bild der eingesetzten Verhandlungskünste machen: Wo sind sich die Beteiligten schnell einig? Wo gibt es Konflikte? Gibt es Gefährdungen für die Zusammenarbeit? Wer überzeugt als Leader, und wer folgt? Wer hat das Zeug, zu führen?
Man kann vom Verhalten in Teambuildingmaßnahmen und Assessment Centern in der Tat Rückschlüsse auf die Person ziehen. Jemand, der sehr kompetitives Verhalten zeigt, wenn es bloß um ein paar wohlwollende Worte und ein paar Süßigkeiten geht, wird vermutlich auch dann, wenn mehr auf dem Spiel steht, die Ellbogen ausfahren. Und wer darüber in Rage gerät oder trotzig sein eigenes Nebenprojekt beginnt, wenn die anderen seine Vorschläge beim Bastelprojekt ignorieren, ist wahrscheinlich auch im Arbeitsleben nicht der angenehmste Teamplayer. Trotzdem gibt es eine deutliche Grenze, die den Transfer von einem Teambuilding Workshop aufs Arbeitsleben massiv erschwert: Selbst wenn man es exakt mit den gleichen Menschen zu tun hat, kann der Umstand, dass sie später – im Rahmen ihrer Rolle – in der Organisation agieren, ihr Verhalten komplett auf den Kopf stellen.
Führung im Kontext: elementare und formale Systeme
Ursache dafür ist der Wechsel von einem „elementaren“ sozialen System (einer Familie, einer Gruppe Freunde, dem zusammengelosten Grüppchen in einem Workshop) in ein formales System – die Organisation. Dort gelten andere Gesetzmäßigkeiten, die besonders bei der Frage „Wer zeigt hier Führung?“ in Erscheinung treten.
Wenn suggeriert wird, eine „elementare“ Führung sei auch im Organisationskontext das Beste, ist das falsch. Ebenso falsch ist die Idee, dass Führung dort allein qua formaler Position funktioniert. Folgen wir dem Soziologen Niklas Luhmann, erkennen wir: Es ist komplizierter.