Leichen im Forst - Christian Schlosser - E-Book

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Christian Schlosser

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Beschreibung

Jahre sind nach einem entsetzlichen Mord vergangen. Jahre, in denen die Justiz täglich neu ihre Unfähigkeit bewiesen hat, sie das Leid der Opfer und Hinterbliebene ignorierte. Unbarmherzig holt die Zeit ein vertuschtes Verbrechen wieder ans Licht des Tages, entreißt das Opfer dem Vergessen, dreht den Spieß des Unrechts um und macht aus den Mördern Opfer und erbarmungslos Gejagte. Damit beginnt die Geschichte, dessen Hintergrund anfangs noch keiner ahnt. Entsetzen bei der Polizei. Den Ermittlern bietet sich auf einem wenig befahrenem und weit abgelegenen Forstweg ein entsetzlicher Anblick. Festgebunden auf einem Sägebock, liegt eine männliche Leiche mittleren Alters, welcher offenbar mit medizinischer Sachkunde die Genitalien entfernt wurden. Aus dem Anus ragt ein langer Stab, hergestellt aus Bruchholz in der Umgebung. Vorab, so stellt sich schnell heraus, wurde das Opfer mit zwei Schüssen bewegungsunfähig gemacht, danach kurz betäubt und musste sein grausames Ende nach dem Erwachen aus der Narkose über lange Zeit hilflos erleben. Im Fahrzeug des Toten findet sich ein Karton mit der Beschriftung "Schweigegeld", dessen Summe nicht nur kryptisch, sondern vor allem lächerlich gering ist. Verglichen mit echten Lösegeldern oder Schweigegeldern, ergibt der Betrag scheinbar keinen Sinn. Fieberhaft arbeitet ein ganzer Stab an der Aufklärung des Verbrechens, bis, nur wenige Kilometer entfernt, eine exakt gleich gelagerte Tat geschieht. Dem noch nicht genug, bekommen die beiden Witwen Tage später die präparierten Geschlechtsteile ihrer Ehemänner als "Wandschmuck" per Post geliefert. Allmählich gelingt es Kommissar Bernhard, die mystische Botschaft der Zahlen des "Schweigegeldes" teilweise zu entschlüsseln, kommt jedoch damit zu spät. Die Mordserie reißt nicht ab, alle durchgeführt nach dem gleichen Muster, welches einer Hinrichtung gleicht. Schlussendlich sind 5 Männer und eine Frau tot. Während die Polizei im Dunkel tappt, gerät die Bevölkerung mehr und mehr in Aufruhr. Wochenlang geschieht nichts mehr, die Presse zerreißt die Polizeiarbeit in der Luft. Als ohne ersichtlichen Grund von heute auf morgen die Mordserie zusammenbricht, drohen die Fälle als "Cold Case" in den Akten zu landen. Dann geschieht das geradezu Unglaubliche - der Täter liefert selbst die Aufklärung, offenbart sich den Ermittlern und die Zahl der Toten steigt weiter ...

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 – Erster Tatort (6. August 2020 – 10.05 Uhr)

– Forsthaus Bleienfelde (6. August – 11.03 Uhr)

– Familie Kunzmann (6. August – 12.05 Uhr)

– Arbeitsgruppe „Forst“ (6. August – 12.49 Uhr)

– Obduktion Kunzmann (6. August – 17 Uhr)

Kapitel 2 – Erkenntnisse der besonderen Art (7. August – 8 Uhr)

– Besuch in der Pathologie (7. August – 10 Uhr)

Kapitel 3 – Ärger und ein Sondereinsatz (10. August)

– Villa Kunzmann (10. August – 11.40 Uhr)

Kapitel 4 – Besprechung (15. August – 14 Uhr)

Kapitel 5 – Zweiter Tatort (15. August – 15.30 Uhr)

– Befragung Gisela Kriese (15. August – 16.45 Uhr)

Kapitel 6 – Herausforderung (18. August – 9.30 Uhr)

– Obduktion Kriese (19. August – 10 Uhr)

Kapitel 7 – Aufruhr im Revier (24. August – 11.30 Uhr)

Kapitel 8 – Sitzen auf dem Pulverfass (25. August – 6.30 Uhr)

– Verhör Marianne Ewert

Kapitel 9 – Kaffee am Vormittag (28. August)

Kapitel 10 – Ergebnisse (1. September – 8 bis 9 Uhr)

– Schüsse an der Villa (1. September – 9.25 Uhr)

– Sven Baumann (1. September – 13 bis 20 Uhr

– Annäherung (1. September – 22 Uhr)

Kapitel 11 – Außer Kontrolle (2. September – 10.44 Uhr)

Kapitel 12 – Unerwartete Wende (3. September)

Kapitel 13 – Start Operation „Vogelflug“ (4. September)

– Angriff und Katastrophe (5. September)

Kapitel 14 – Hasenbraten mit Überraschung (6. September)

– Neue Erkenntnisse (7. September)

– Polizeiarbeit ( 9. bis 13. September)

Kapitel 16 – Lieferung außer der Reihe (14. September)

– Grumsiner Forst (14. September – 10.30 Uhr)

– Obduktion Dahl (14. September - 15 Uhr)

Kapitel 17 ­– Kündigung und Polizeiarbeit (15. bis 17. September)

Kapitel 18 – Fahndung und Lösung (18. bis 26. September)

Kapitel 19 – Fundort Damm ( 7. Oktober)

– Obduktion Damm (16 Uhr)

Kapitel 20 – Tatort Karla Kunzmann (30. Oktober)

– Obduktion Karla Kunzmann (2. November – 9 Uhr)

Kapitel 21 – Unerwartete Einladung (23. November)

– Leichenfund

– Grüße aus dem Jenseits

Kapitel 22 – Feier mit Unterbrechung (28. November)

– Tatort Ewert (28. November)

Kapitel 23 – Hinweise (1. Dezember und 2. Dezember)

Kapitel 24 – Schweigender Einsatz (3. Dezember)

Kapitel 25 – Weiße Rosen (18. März 2021)

– Rückblende

– Start in ein neues Leben

Impressum

Kapitel 1 – Erster Tatort (6. August 2020 – 10.05 Uhr)

Typisch für die Jahreszeit, der Kalender zeigte den 6. August, herrschten über 30 Grad über Brandenburg. Kaum ein Wölkchen stand am Himmel und die Sonne brannte auf das Land. Die Hitzewelle über dem Bundesland hielt bereits seit der letzten Juniwoche an. Wenn überhaupt, regnete es nur Minuten, zumeist örtlich und scharf begrenzt. Selbst hier im Wald war es schwül und heiß. Kaum dass sich ein Lüftchen regte, die Luft stand schwer wie ein Koffer. Intensiver Geruch nach Harz kitzelte verführerisch in der Nase. Friedlich wirkte es, lud Naturfreunde zu einem Waldspaziergang, Pilzsammler zur Pirsch und Verliebte zu einem Picknick im Schatten ein. Merkwürdig und auffallend, dass sich kaum ein Vogel hören ließ. Zumindest hier, in einiger Entfernung von der nächsten Szene, herrschte auf den ersten Blick Frieden. Doch nur wenige Dutzend Meter von der Idylle entfernt, surrten Myriaden von Aasfliegen als schillernde dunkle Wolken durch die Gegend, konzentrierten sich an einer Stelle, flogen wieder auf und summten gierig auf der Suche nach einer Mahlzeit zurück. Dort roch es nicht mehr nach Wald und Leben, sondern nach Tod und Verwesung. Genau das, was die Insekten brauchten, was sie mochten, ein Ort wo sie sich wohlfühlten, sich vollfressen, danach schamlos in aller Öffentlichkeit paaren und sofort ihre Eier ablegen konnten.

Polizeiwagen, davon gut ein halbes Dutzend und schätzungsweise 20 gelangweilt wirkende Beamte, sperrten weiträumig den Waldweg ab. Krächzende und verrauscht klingende Stimmen aus Funkgeräten durchbrachen hin und wieder die Stille. Motorengeräusche waren zu hören, ein Leichenwagen und ein Notarztwagen näherten sich dem Bereich, blieben stehen. Zwei Rettungssanitäter stiegen aus und ein Notarzt näherte sich gemächlichen Schrittes mit einem Koffer. Unverständlich die Hinzuziehung eines Arztes für einen Tatort dieser Art, denn es wurde eine Leiche gemeldet und diese benötigen in aller Regel keinen Arzt mehr. Kurz nach 10 Uhr war es, die Hitze trudelte gemächlich ihrem Höhepunkt entgegen, welchen sie üblicherweise gegen 15 Uhr erreicht. Rotweiße Flatterbänder mit der Aufschrift „Polizeiabsperrung“ markierten einen Bereich von gut 500 Quadratmetern, in deren Mittelpunkt ein „Mercedes“ der S–Klasse stand, dessen Fahrertür weit geöffnet stand. Ungewöhnlicher Ort zum Parken, es sei denn, ein Pärchen hat sich hier zum lauschigen Schäferstündchen verabredet.

Keine zwei Meter neben dem noblen Fahrzeug, fast mittig im Weg, befand sich ein Holzbock mit einem Stück Baumstamm darauf, kaum mehr als 1,5 Meter lang. Quer darüber liegend etwas, was man aus der Entfernung nicht ausmachen konnte. Wäre da nicht das auf dem Stamm liegende, noch nicht erkennbare, würde normalerweise in dieser Idylle ein unbedarfter Beobachter jetzt zwei kräftige Waldarbeiter erwarten, welche links und rechts davon stehend, rhythmisch hin– und herziehend, mit einer Säge ein Holzstück zerteilen. Dem war aber nicht so. Hier gab es nichts zum Zerteilen. Jedenfalls nichts, was Waldarbeiter gewöhnlich mit Muskelkraft oder Motorsägen zu zerlegen pflegen.

Weiß gekleidete Männer der Spurensicherung bewegten sich mit nahezu schon tänzelten Bewegungen um das Stück aufgebocktes Holz und dessen Auflage, suchten aufmerksam nach Spuren, machten Fotos. Fauliger Geruch nach verwesendem Fleisch und Fäkalien hing in der Luft, verdrängte den Wohlgeruch des Harzes von Kiefern, Tannen und den aromatischen Duft von Pilzen, welche gerade ihrer Hochsaison entgegenstrebten.

Forstfahrzeuge hatten dem Weg im Laufe der Zeit schwer zugesetzt, tiefe Löcher in den Boden gewühlt. Einige davon waren mit wenigen Zentimetern Wasser gefüllt. Schaukelnd näherte sich ein dunkler Wagen mit dem Kennzeichen der Brandenburger Polizei, wippte sich vorsichtig durch die Schlammkuhlen, quälte sich durch den Matsch der wenigen Pfützen des Regens vom Vorabend zu der Absperrung durch, hielt an. Direkt neben zwei der schlammigen Lachen. Drei Männer stiegen aus, dumpf klatschend schlossen sich die Türen. Neben dem Wagen stehenbleibend, zündete sich der Fahrer genüsslich eine Zigarette an, schaute plötzlich ärgerlich nach vorn, dann nach oben, trat leise fluchend die Zigarette aus. Bohrte sie mit den Schuhen tief in den Waldboden, fluchte abermals unterdrückt, denn nun schauten die Schuhe so aus, wie der Matsch des Weges. Lehmbraun und schwarz, mit reichlich Tannennadeln darin. Seit Wochen hatte es die höchste Waldbrandstufe in der Region und da konnte der kurze Regenguss von gestern Abend auch nichts daran ändern. Die wenigen Tropfen drangen nicht einmal einen Millimeter in den trockenen Boden ein, waren zwischen Blättern und Nadeln längst verdunstet. Waldbrandwarnstufen gelten bekanntlich auch für Beamte. Resigniert setzte sich der Mann ins Auto, die Tür fiel zu, Fenster blieb offen und wenig später brannte die nächste Zigarette im Inneren des Fahrzeugs. Die beiden anderen Männer bewegten sich schnellen Schrittes vom Fahrzeug weg.

„Mal sehen“, begann Kriminalhauptkommissar Günter Bernhard, der Kleinere der beiden, schnaufte dabei leicht asthmatisch, „ob die Beschreibung stimmt. Manche können ja auf die Kacke hauen, dass es nur so spritzt. Gepaart mit angeblichem Wissen vom letzten Sonntagskrimi und reichlich Fantasie, hat es schnell das schönste Horrorszenario.“

„Glaube ich eher nicht. War der Förster mit seiner Tochter“, ließ sich sein Assistent Senf, von der Statur wesentlich größer, zugleich aber dünner, als der Chef, vernehmen.

Bereits sein leicht unterwürfiges Gebaren ließ darauf schließen, dass er der Rangniedere der beiden sein musste. Ganz am Anfang seiner Laufbahn stehend, wollte sich nichts verbauen, war von Natur aus Typ Muttersöhnchen, welcher sich gern anbiedert, doch bei Problemen schnell das Weite sucht, statt auf den Tisch zu hauen, wenn es ernst wird.

„Menschen dieses Schlages, können eigentlich eine tote Wildsau oder einen Rehbock von einer Leiche unterscheiden“, fügte er erklärend hinzu, begann dabei in der Jackentasche zu kramen, und brachte ein Notizblock zu tage. „Förster Heinrich Albrecht war der Anrufer. Dessen Angaben nach war er wohl …“

„Schon gut“, wurde er unterbrochen, „Daten später. Förster ist er? Gehe deshalb mal davon aus, dass er das unterscheiden kann“, brummte der Chef bestätigend. „Sag mal, warum bist du vorhin erst in den Pampas zugestiegen?“

„War heute noch nicht in der Dienststelle“, rechtfertige sich Senf aufgeregt, wirkte grundlos nervös, „habe noch Zeugenbefragungen in Busdorf wegen des Falls Möller gemacht. Wäre Blödsinn gewesen, zurückzufahren, denn da hätten wir uns glatt verpasst. So habe ich eben auf euch gewartet. Hat doch perfekt geklappt“, die letzte Anmerkung klang am Schluss des Satzes geradezu weinerlich.

„Brauchst dich nicht zu rechtfertigen“, lenkte Bernhard ein, „hatte dich heute Morgen nicht gesehen und plötzlich standest du an der Haltestelle wie bestellt und nicht abgeholt. Wann hast du den Anruf überhaupt bekommen?“

„Kurz nach 6 Uhr morgens. Hatte Bescheid gesagt, dass die dir zusätzlich noch einen Zettel auf den Schreibtisch hinterlegen, bin nach Busdorf und nun eben da.“

„Von dir war also der Zettel?“, stellte Bernhard fest. „Chef Bauer hat mächtig Druck gemacht, tat so, als brennt der Wald ab und der Staatsanwalt wittert wohl schon das Kapitalverbrechen des Jahrhunderts. Kennst den ja mit seinem Übereifer.“

„Eben genau der, hat es auch verbockt, dass ich sofort nach Busdorf bin. Hätte doch Zeit bis morgen gehabt“, schimpfte Senf.

„Egal wie, wer, wo oder was auch immer. Wir sind da und fertig“, gelassen blickte sich Bernhard um, blinzelte nach oben in die Baumwipfel.

„Chef, wer geht voran? Weißt doch“, betonte Senf mit fast schon ängstlichen Blick zu seinem Vorgesetzten, „ich habe einen schwachen Magen und Aktionen dieser Art sind nichts für Mutters Sohn.“

Kaum 20 Meter vom Fahrzeug entfernt, war der Weg trocken, teils von tiefen Rissen durch die Trockenheit durchzogen, denn hier hatte es keine schützenden Bäume mehr.

„Kollege Senf“, feixte der Chef zurück, betonte das vornehme Wort „Kollege“ deutlich und glitt dabei in einen ironischen Tonfall über. „Michael, dein überaus schwaches Verdauungsorgan ist allgemein bekannt, mir ohnehin. Irgendwann, so meine Hoffnung, wirst du es auch mal lernen, in der Pathologie eine Stulle zu essen und das ohne zu kotzen. Wie bereits gesagt, positiv denkend, gebe ich die Hoffnung nicht auf.“

„Großer Kriminalkommissar Bernhard“, ulkte der andere zurück, „wenn ich mal dein gesegnetes Alter erreichen sollte, wünsche ich mir eine hübsche schlanke Braut auf den Bahamas, Swimmingpool, viele Cocktails, lecker Wildschwein am Spieß …“

„Geografie 6, setzen und durchgefallen! Auf den Bahamas gibt es keine Wildschweine, es sein denn, ich komme dich drüben besuchen und bringe welches mit“, korrigierte in der Vorgesetzte. „Geh mal voran. Kotze mir ja nicht den Tatort voll!“, fügte er noch sarkastisch hinzu, lachte spöttisch.

Beförderte dann mit einem Schubs seinen Untergebenen vor sich, mitten in die erste Wolke süß, fauligen Leichengeruchs. Schlagartig blieb der stehen, würgte und zog aus der Hosentasche seines Anzuges ein Taschentuch, bedeckte damit stöhnend das Riechorgan.

Wenige Meter trennten die beiden Männer noch vom Tatort und der Geruch wurde mehr und mehr unerträglich. Senfs Augen quollen nach vorn, drohten erst aus den Höhlen und dann auf den Waldboden zu fallen.

„Odeld aber mächtig hier im Wäldle“, stellte Kommissar Bernhard gelassen fest, zog aus der Jackentasche einen einfachen Mund–Nasen–Schutz und setzte ihn sich auf.

Die sich den beiden sich zeigende Szene war selbst aus einigen Metern Entfernung an Ekel und Grausamkeit eigentlich nicht mehr zu überbieten, selbst dem alten Hasen Bernhard verschlug es die Sprache und den Atem, was nicht nur an dem Geruch lag.

Bäuchlings, quer auf dem mittleren Baumstamm, welcher normalerweise dort zersägt wird, lag eine männliche Leiche, die Hände mit Kabelbinder zusammengebunden. Diese waren mit einem Holzpflock, welcher im Boden steckte, dort fest fixiert. So wie ein Hering die Zeltschnüre stramm am Boden festhält. Hosen waren heruntergelassen und die ohnehin durch das Kleidungsstück gefesselten Beine, ebenfalls mit einem Pflock, im Boden verankert. Schräg im Anus steckte ein dicker Ast von 5 bis 6 Zentimetern Durchmesser. Zumindest erschien es auf den ersten Blick Ast zu sein. Fast einen Meter lang ragte dieser aus dem Körper heraus und an dessen Ende schaukelte traurig in der Flaute eine kleine dreieckige rote Warnfahne. Unter dem Stamm und der Leiche war Blut zu sehen. Nicht Blut, sondern unglaublich viel Blut. Rechnet man bei einem erwachsenen Menschen mit einem Standardvolumen von rund 5 bis 6 Litern, war dieses mit Sicherheit komplett ausgelaufen. Immer wieder sammelten sich die Fliegen dort, ließen sich kaum von den anwesenden Menschen stören.

„Na dann wollen wir mal“, Bernhard ging näher, schluckte kurz, holte tief Luft und drehte sich suchend um.

Kollege Senf stand, wie befürchtet, außerhalb der Absperrungen, beglückte, wie vermutet, mit seinem Mageninhalt die Natur und die abgegebene Geräuschkulisse, ließ bereits nach dem ersten Ton selbst den letzten mutigen Singvogel in den Wipfeln der Bäume verstummen. Missmutige Blicke der Leute von der Spurensicherung fielen in Richtung des Kollegen mit dem schwachen Magen.

„Soll sich nicht so haben“, knurrte gereizt einer der weißbekleideten Männer der Spurensicherung. „Ach, hallo, grüße dich Bernhard, habe dich nicht sofort erkannt wegen des Mundschutzes.“

„Ah, schau an, schau an. Großmeister zum lustigen Oberschenkel, mein lieber Doktor Schlosshauer!“, die beiden Männer kannten sich seit Jahren, gaben sich die Hände.

„Weichei ist wieder mal am Kotzen?“, der Doktor wartete keine Antwort ab.

„Hast was anderes erwartet?“, bekam er spöttisch zur Antwort. „Sachlage?“, kalt und präzise forderte der Kommissar die Daten ab.

„Hatten wir noch nicht“, bekam er zur Antwort, „schön und gut mit dem fetten Stecken im Arsch, aber schau mal da“, er ging in die Hocke und deutete von unten nach oben zur Leiche hin, verzog dabei angewidert das Gesicht.

„Heilige Jungfrau Gottes, Eier ab?“, Bernhard schluckte, kniff unwillkürlich die Beine zusammen, wie es fast jeder Mann tut, wenn er an Schmerzen in diesem hochsensiblen Körperbereich denkt.

„Nicht nur die Eier, alles ab“, bestätigte man seinen Verdacht. „Bekommt keine Hausfrau hin, das war ein richtiger Fachmann.“

„Wie kommst du darauf, dass es ein Mann war?“, Bernhard feixte provokativ.

„Du mit deinem fast schon pathologischem Genderwahn“, schimpfte der Arzt lautstark los. „Glaubst etwa, ich lege hier Gendersternchenpausen ein, um das bescheuerte innen zu sagen? Oder ‚Gebärfähige‘ und ‚Samenspender‘? Bei ‚Eltern 1‘ und ‚Eltern 2‘ sind die Spinner bereits angekommen. Eigentlich kann es nur noch schlimmer werden. Die Bekloppten gehören meiner Meinung nach alle in die Klapse. Da drinnen, können sie den ganzen Tag innen, Sternchen oder Doppelpunkt krähen und mit Teddybären werfen.“

„Reg dich ab, Alter! Habe ich nicht erfunden! Kommt, wie bekanntlich alles angeblich Gute, von über den großen Teich geschwappt“, spöttelte Bernhard, „mit dem Müll kann ich ohnehin nichts anfangen“, feixte er und lachte laut auf.

„Scheiße, bin ich wieder mal reingefallen?“, der Pathologe kratzte sich den Kopf, grinste.

„Und wie! Geilt mich richtig auf, wie du sofort hochgehst. Zur Sache zurück. Formulieren wir es andersherum. Könnte das ebenso gut auch eine Frau fabriziert haben?“

„Warum nicht?“, mutmaßte Schlosshauer, „nur müsste die vom Fach sein. Frauen dieser Sorte sind relativ dünn gesät. Wirklich, wüsste jetzt keine, fällt mir keine ein. Außer der Perle meiner Seziertische natürlich. Sauber amputiert, echt jetzt, könnte kein Chirurg besser hinbekommen. Der oder die Täter hat so etwas sicher nicht zum ersten Mal gemacht. Prekär an der ganzen Sache – das Gemächt ist leider auch noch weg! Heißt, nicht zu finden“, er räusperte sich, grinste breit.

„Weg? Willst mich veralbern?“, Bernhard kämpfte mit der Fassung. „Wo, verdammt noch mal, ist das Gehänge, ähm, meine, das Gemächt, abgeblieben?“, er drehte sich zu dem Arzt um, welcher ratlos mit den Schultern zuckte.

„Keine Spuren zu finden, auch keine Wildspuren. Karnivoren, welche auf derartige Leckerlis stehen, fallen in der Gegend schon mal aus. Der oder die Täter haben also das Dingens mitgenommen. Keine Ahnung warum. Fundort ist Tatort, so viel kann ich schon einmal sagen. Willst den Tathergang wissen? Jedenfalls so ungefähr?“, er brach ab, schaute fragend zu dem Kriminalisten hin.

„Sag schon“, knurrte der, „bei mir bleibt das Frühstück drinnen. Hatte heute ohnehin nichts außer Kaffee gesessen“, witzelte er.

„Näheres nach der Obduktion, wie immer“, begann der Pathologe seine Erklärung, wie sie in jedem billigen Krimi zu hören ist. „Pass auf. Das Opfer bekam aus größerer Entfernung nach dem Aussteigen einen Schuss ins rechte Knie, sackte zu Boden. Hier vor dem Wagen“, er deutete auf einen deutlich zu sehenden runden Abdruck im Boden. „Aus nächster Nähe, fast aufgesetzt, der zweite Schuss ins linke Bein. Äh, meine ins Knie. Schau selbst, da“, er tippte mit dem behandschuhten Zeigefinger an die Wunde.

Interessiert beugte sich der Kommissar hin, besah sich die Verletzungen.

„Hast recht, schaut anders aus und es sind deutliche Schmauchspuren zu sehen.“

„Sagte ich doch“, triumphierte der Arzt.

„Weiter im Text, ich höre.“

„Der Lappen mit der Spritze lag da hinten unter der Fahrertür“, damit hielt er dem Kommissar eine der üblicherweise bei der Polizei verwendeten Papiertüte vors Gesicht und holte dessen Inhalt heraus.

Innerlich grinste der Kommissar über die Papiertüte, denn in Krimis werden Zip-Tüten aus Plastik benutzt, welche vollkommen unsinnig für die Spurensicherung sind. Allein das Schwitzen der Beweisstücke darin würde jede Spur binnen kürzester Zeit unbrauchbar machen. Nur sehen die Zuschauer derartiger filmischer Machwerke in den Zip–Tüten besser, um was es sich handelt und das gestaltet die Handlung für diese „transparenter“.

„Mal sehen, womit der Knabe ruhig gestellt wurde“ ließ sich Schlosshauer hören. „Labor wird uns Genaueres sagen. Gehe von aus, dass er damit kurzzeitig betäubt wurde. Aber …“

„Ich weiß, näheres nach der Obduktion“, bellte Bernhard zurück, „rede schon weiter.“

„Nun ja, dann wurde das“, der Pathologe brach ab, deutete auf die Schnittfläche, „das Gemächt entfernt. Opfer gewendet, auf dem Bock fixiert, Hände und Füße am Boden verankert. Schlussendlich gab es den Pfahl durch den, das, äh, na siehst du selbst …“

„Unglaublich!“, der Kommissar schüttelte sich, „der lebte also noch zu dem Zeitpunkt?“

„Ja sicher!“, bestätigte der Pathologe, verdrehte dabei die Augen, als zweifelte er am Verstand und der medizinischen Sachkompetenz seines Gegenübers, „wenn überhaupt, dauerte der Rausch nur einige Minuten. Ausreichend, um den Rest zu erledigen. Übrigens, hier sind die Schleifspuren, lag der Bock direkt neben dem Weg, keine drei Meter entfernt, wurde von da aus erst an den Tatort gebracht. Gewissermaßen“, er grinste, „Parken auf den Meter genau. Inklusive Einparkhilfe!“

Aufmerksam besah sich Bernhard die Schleifspur des kurzen Stammes, nahm dann erst ein Schild mit der Aufschrift „Stop“ wahr, besah es sich verwundert. Besonderes war nicht an ihm zu erkennen, denn es handelte sich lediglich um ein Stück Pappe mit besagtem Schriftzug in weißer Farbe.

Rot umrandet, handgemalt und an eine Leiste genagelt, fand es seine Entsprechung zu den üblicherweise verwendeten Straßenschildern. Die Farbe glänzte, wirkte ölig und ein prüfendes Schnuppern bestätigte, dass es sich um Ölfarbe handelte, welche noch nicht getrocknet war.

„Wo kommt das denn her? Sage jetzt nicht …?“

„Genau, das Opfer hielt genau an dem Schild und stieg aus. Wurde demzufolge vom Täter dazu genutzt, sein Opfer so zu positionieren, dass es exakt vor seiner Flinte stand.“

„Perfide! Unglaublich, Alter! Wir zwei haben ja schon einige zusammen gesehen, aber das ist der Hammer. Nur damit ich das alles richtig verstehe, heißt, überhaupt verstanden habe: Schuss links, Schuss rechts, Betäubung, schnipp und schnapp, Dödel ab. Aufbocken und dann das Ding in den Arsch?“, fragend und ungläubig zugleich, schaute er zum Doktor hin.

„Salopp ausgedrückt und in Kurzform – ja“, bestätigte der Pathologe. „Schäme dich, du mit deinem widerlichen Proletendeutsch! Schau, so wie der aufgebockt ist, durfte er mehr oder weniger begeistert sogar sein Ende beschauen.“

„Spuren von Klebeband im Gesicht habe ich nicht gesehen“, stellte der Kommissar fest, „der muss doch vor Schmerz gejodelt haben, dass es bis Berlin zu hören war?“

„Möglich, meine, sogar sicher. Doch das ist hier so abgelegen, kaum anzunehmen, dass, außer Igel und Hase, jemand was gehört hat“, bestätigte Schlosshauer.

„Ach du Scheiße!“, Bernhard griff in die Hemdtasche, zog eine Schachtel Zigaretten heraus und suchte in der Hosentasche nach dem Feuerzeug.

„Waldbrandstufe 1!“, mahnte der Doktor, hob mahnend den Zeigefinger.

„Scheiße, stimmt ja“, Zigarette verschwand wieder. „Angaben zur ungefähren Tatzeit?“

„Sorry, plus minus weiß ich nicht, dürfte es ungefähr vor 48 bis 72 Stunden gewesen sein. Näheres …“, der Kommissar winkte genervt ab, unterbrach den Kollegen.

„Weiß ich doch, genaueres nach der Obduktion. Reifenspuren, Fußspuren? Theoretisch müsste der Täter, allein schon wegen der abgelegenen Lage, ebenfalls gefahren sein.“

„Nichts dergleichen. Unsere Leute suchen seit einer Stunde die ganze Umgebung ab. Der oder die Täter müssen geflogen sein oder kamen von Himmel geschwebt.“

„Sage mir lieber, Mord hin oder her, was bringt einen Menschen dazu, derart grausam zu sein? Mafiamord? Russenmafia? Rache? Rache, wofür, wofür denn?“, Bernhard grübelte.

„Woher soll ich das wissen?“, erwiderte der Pathologe lakonisch. „Vielleicht …?“

„Hatte dich nach deiner Meinung gefragt?“, raunzte Bernhard, wollte dann doch mehr wissen, „hast doch auch Fantasie, schon genug erlebt und gesehen? Russenmafia? Handschrift könnte passen, oder?“

Abwehrend hob der Doktor beide Hände, wedelte damit verneinend.

„He, hier hat es Tausende Möglichkeiten und ich soll dir die Lösung liefern? Mitten im Wald? Schau dir nur den fetten Schlitten an. Vielleicht hat der eine Ehefrau damit zu oft spazieren gefahren und der Ehemann es mitbekommen?“, er machte eine Pause, feixte anzüglich und Bernhard zeigte ihm einen Vogel.

„He, was mokierst du dich da“, protestierte der Pathologe. „Heutzutage, warum auch immer, werden die Bekloppten ständig mehr. Bekanntlich reichen erheblich weniger Gründe, um komplett auszuticken. Ebenso gut käme ein Ehrenmord gewisser Kulturkreise infrage. Dafür spricht eigentlich das Fehlen von dem Dingens da …“

„Hast recht, aber so?“, Bernhard beschaute sich weiter den Toten, „jedoch so auszurasten, ist echt eine Nummer zu heiß, da gehört eine unglaubliche Abgebrühtheit dazu.“

„Also doch Ehrenmord? Fällt mir noch was ein“, der Doktor überlegte. „Splatterfilme sind ‚in‘, wie es auf neudeutsch so schön heißt“, meinte der Pathologe, „möglicherweise hat sich einer so was reingezogen, es nachgespielt? Doch warum?“

„Komm, hör auf“, winkte der Kommissar genervt und angeekelt ab, „das sind doch die kranken Filme, wo man Leute massakriert? Idee behalte ich mir im Hinterkopf. Klingt so bescheuert, dass schon wieder was dran sein könnte. Noch etwas Wichtiges?“

„Ja, ach so, genau, beinahe vergessen. Komm mal mit“, forderte Doktor Schlosshauer auf und lief zur offenen Wagentür des „Mercedes“ hin.

Deutete dort auf Karton mit der Aufschrift „Schweigegeld“, welcher auf dem Fahrersitz stand. Eindeutig unbeschädigt, mit Klebeband verschlossen. Nachdenklich musterte der Kriminalmeister das Pappbehältnis, welches, wäre da nicht die seltsame Beschriftung gewesen, keinerlei Besonderheiten aufwies. Unter dem, wahrscheinlich mit einem dicken Faserschreiber, angebrachten Schriftzug „Schweigegeld“, war groß die Zahl 11237 und dahinter das Eurozeichen zu lesen. Die gesamte Beschriftung wirkte ungelenk, erschien in großer Eile angebracht.

„Schweigegeld? Seltsam, was ist das dann in drei Teufels Namen?“, staunte der Kommissar, kratzte sich am Kinn, „warum nicht Lösegeld?“

„Fragt sich hier jeder“, bekam er zur Antwort, „deshalb solltest du es dir ansehen.“

„Fotografiert, vermessen?“

„Klar, wird gleich noch auf Sprengstoff untersucht. Leute sind unterwegs“, antwortete der Pathologe, fummelte seinerseits nun nach Zigaretten, ließ es dann ebenfalls sein.

„Sind wir hier fertig?“, ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sich Bernhard um, schaute missbilligend in Richtung seines Dienstfahrzeuges hinüber.

Kollege Senf schien unweit davon die Zwangsentleerung seines Magens beendet zu haben, torkelte wie ein liebestrunkener Maikäfer zurück zum Wagen und setzte sich in die offene Beifahrertür. Zitternde Finger brannten sich eine Zigarette an, dumpf ploppend schloss sich die Tür. Surrend öffnete sich das Fenster.

„Halt, beinahe vergessen“, Bernhard wirkte leicht zerstreut. „Daten zum Opfer?“

„Mustergültig, alles vorhanden“, der Arzt, schien sich regelrecht darüber zu freuen, dass es mal keine Rätsel gab. „Brieftasche mit Führerschein, Ausweis und reichlich Bargeld. Sind über 400 €. Moment“, er entnahm seinem Koffer eine durchsichtige Plastikfolie mit seinen Notizen, „der Mann heißt Peter Kunzmann, 54 Jahre, ist Unternehmer aus dem Ort, macht irgendwas mit Holz. Fenster und Türen und so. Verheiratet, eine Tochter. Kunzmann gilt als unbescholten. Damit meine ich nur das, was man so schnell von den grünen Jungs erfahren konnte und die Dorfbullen kennen jeden hier. Rest ist ohnehin dein Bier.“

„Wunderbar, wenn jeder Fall mit der Identifizierung so einfach wäre, hätten wir es leichter“, Bernhardt freute sich, nahm den Umschlag und beschaute sich den Ausweis.

Zwei Fahrzeuge mit der Aufschrift „Kampfmittelräumdienst“ tauchten auf. Leichtfüßig sprangen drei Beamte heraus, näherten sich dem Tatort. Liefen zielstrebig mit ihren Koffern und einem Spürhund auf das Tatfahrzeug zu.

„So, ich muss jetzt“, der Pathologe schien es eilig zu haben, „sagen wir gegen 17 Uhr in meinen heiligen Hallen? Schaffe ich bis dahin, wenn du nicht weiter nervst“, fügte er bedeutungsvoll hinzu. „Schlimmstenfalls kannst du die letzten eleganten Handgriffe des großen Meisters Schlosshauer noch live miterleben. Eine große Bitte hätte ich noch, Kollege“, er feixte anzüglich, zeigte mit dem Daumen über die Schulter nach hinten zu Bernhards Wagen.

„Ja, ich weiß“, witzelte der wegen der Obduktion. „Meister Weichei soll zu Hause bleiben, Kamillentee bei Mutti trinken, ersatzweise Kakao und dabei einen Film von Rosamunde Pilcher schauen. Alternativ tut es auch das ‚Sandmännchen‘ vom ‚mdr‘ um 19 Uhr. “

Verblüfft schaute ihn der Doktor an: „Perfekt erraten. Weißt noch, als der Senf letztes Mal umkippte, hatten wir mehr mit seiner überall im Raum verteilten Kotze, als mit der Reinigung des Obduktionstisches zu tun. Dabei war das doch ein harmloser Fall.“

„Meinst den Russen mit den drei Kugeln im Kopf?“, Bernhard schmunzelte anzüglich.

„Genau der“, der Doktor grinste. „Dabei war kaum noch was drinnen in der Rübe. Hauptteil lag, bzw. klebte, damals am Tatort und kam später in der Tüte, die der Senf noch nicht mal zu Gesicht bekommen hat. Alles andere sah ja nicht so wild aus. So, genug geschwatzt, sagen wir bis 17 Uhr?“, sichtbar wollte er weg.

„Geht klar. Bis nachher“, nachdenklich drehte sich Polizeihauptkommissar Bernhard um, und schaute zu den Kollegen des Kampfmittelräumdienstes hin.

„Gehe mal vorsichtig davon aus, die Sache ist sauber“, meinte deren Chef. „Wir nehmen das Ding zur Sicherheit mit, bringen es dir nachher rüber ins Büro.“

„Danke!“, Bernhard beschaute sich noch einmal aufmerksam von allen Seiten die Leiche und ihm fiel noch etwas ein. „Halt!“, rief er dem Pathologen hinterher, welcher wie angewurzelt stehen blieb. „Wo wohnt der Förster, oder ist der noch hier?“

„Förster?“, der Arzt überlegte kurz. „Ach so, der Zeuge. Nein, der ist schon lange weg. Wohnt am Waldrand kurz vor dem Ort. Fahrt den Forstweg einfach bis Ende durch, dann rechts Richtung Bleienfelde. Wirklich nicht zu verfehlen. Albrecht hießt der Typ, soweit ich das jetzt im Kopf habe.“

„Geritzt, finden wir schon. Danke!“, antwortete Bernhard.

Damit stieg der Doktor in seinen Wagen und rauschte ab. Bernhard trabte, undeutlich wegen der Maske, pfeifend zum Dienstwagen zurück. Wich dabei geschickt hüpfend, was man ihm aufgrund seiner Körperfülle überhaupt nicht zutraute, den flachen schlammigen Kuhlen aus. Hinten öffnete sich, wie von Zauberhand, eine der Türen des Wagens und er stieg ächzend ein. Fiel wie ein Sack auf den Sitz, begann hektisch nach seinen Zigaretten zu fummeln. Aufgrund der Enge des Weges dauerte es einen Moment, bevor der Wagen gewendet hatte, gravitätisch schaukelnd, den Weg in die Gegenrichtung zurückfuhr.

Drei Fenster des Autos standen jetzt offen und dessen Insassen rauchten unverkennbar gemeinsam. Am Ende des Weges bog das Auto Richtung Bleienfelde ab, erreichte nur drei Minuten später das Forsthaus.

– Forsthaus Bleienfelde (6. August – 11.03 Uhr)

Links und rechts, wie ein dunkelgrüner lebendiger Vorhang, säumte der Wald die Straße. Riss dann unvermittelt auf und gab den Blick auf eine künstliche Lichtung frei, an deren Ende das Forsthaus stand. Kitschig wirkte die Szene, wie aus einem Film mit Luis Trenker entnommen und das Forsthaus mit seinem Balkon voller roter, weißer und gelber Blumen, war darin der Hauptdarsteller. In diese schmalzige Szene passten nur nicht die beiden Geländewagen vom Typ „Mercedes G“ Klasse, welche protzig wie zwei Wachhunde vor der Tür standen. Kaum hatte der Polizeiwagen gehalten, erschien der Förster in der Tür. Raschen Schrittes ging er auf die Besucher zu. Optisch entsprach er absolut nicht dem im Fernsehen so gern gezeigten Idealbild eines Försters, trug weder Lederhose noch Rauschebart, hatte keinen Gamsbarthut auf und auch die Pfeife fehlte. Sein rot–weiß kariertes Hemd und die braune Kordhose verwiesen eher auf einen Forstarbeiter, als auf den gesetzlich bestellten Hüter eines Waldes.

„Heinrich Albrecht, Förster hier“, stellte er sich vor. „Nehme mal an, sie kommen von der Polizei?“, fragte er und hielt grüßend die Hand hin.

„Nö“, brummte Bernhard, „wir kommen nicht, wir sind die Polizei. Ist das auch erlaubt?“

Zwei Hände griffen fest ineinander, beide Männer grinsten über das Wortspiel.

„Zeit?“, das Wort des Kommissars sollte offenbar eine komplette und nur auf das nötigste reduzierte Frage sein.

„Drinnen oder draußen?“, fragte der Förster.

„Egal. Ich mache es kurz. Will ihnen keine großen Umstände bereiten.“

„Elisabeth, ich meine, meine Tochter, hat ohnehin gerade Kaffee gekocht. Also, wenn es keine Mühe macht, rein in die gute Stube“, eine einladende Handbewegung folgte.

„Dank, ich lieber nicht“, wehrte Senf leichenblassen Gesichts die Einladung ab.

„Mein Mitarbeiter ist eine Stadteule“, entschuldigte Bernhard seinen Assistenten, „der bräuchte mal eine Einladung zum Schlachtfest, um das pralle Leben kennenzulernen.“

„Verstehe“, eher von schmaler Statur, hätte man dem Förster das dröhnende Lachen nicht zugetraut, eher Ivan Rebroff zugeordnet, „sicher wird der auch noch mal groß.“

„Groß ist der schon, eigentlich schon zu groß, nur ist ab 80 Zentimeter das Hirn nicht mehr mitgewachsen“, spöttelte Bernhard, folgte dem Mann ins Haus.

Kühl war es darin, roch nach Kaffee und Holz, wobei der alte Holzgeruch der Bauweise des Hauses geschuldet schien. Knarrend öffnete sich eine Tür, es ging in die Küche. Diese, was man von außen überhaupt nicht vermutet hätte, war modern eingerichtet und an der Küchenzeile stand eine junge Frau. Noch keine 35, wie Bernhard schätzte. Dunkelhaarig, breites offenes Gesicht, kaum 1,70 groß und überaus sympathisch in ihrer Jeans wirkend. Sie trug das gleiche karierte Hemd wie der Förster, allerdings dazu eine krachend enge Jeans, welche ihre Figur gut zur Geltung brachte. Stühle kratzen über den Dielenboden, die Männer nahmen Platz. Wortlos stellte die junge Frau drei Tassen auf den Tisch, Sahne und eine Zuckerdose folgten. Kaffee plätscherte aus der Glaskanne in die Tassen und diese fand umgehend wieder ihren Platz in der Kaffeemaschine. Ebenso wortlos setzte sie sich hinzu, schaute erwartungsvoll in die Runde, wartete, dass das Gespräch begann.

„Ja, wie fange ich an“, brummte Bernhard, „sie haben also angerufen, sprich die Leiche dahinten entdeckt?“

„Elisabeth war es“, korrigierte ihn der Förster, schaute zur Tochter hin und nickte.

„Genau“, begann diese und ihre Stimme klang ungewöhnlich hell, äußerst angenehm, fast ein wenig erotisch und diese Stimme brachte Bernhard zum Staunen.

„Wollte nur nach dem rechten schauen, Vater war noch mit den Hunden beschäftigt. Wir hatten letzte Woche eine Falle entdeckt. Natürlich gemeldet und entsorgt. Zwei Tage später war die nächste da. So ist es gekommen“, ihre Stimme klang ruhig und fest, verriet nicht die Spur von Aufregung. „Deshalb der morgendliche Ausflug.“

„Wie ging es dann weiter?“

„Ungewöhnlich viele Fliegen waren da, man hat als Waldmensch eine Nase dafür, wenn sich dich Viecher konzentrieren und dann roch es entsprechend. Nur war es nicht der Geruch nach verendetem Wild, wenn sie verstehen, was ich meine?“

„Nicht so richtig“, gab der Kommissar zu.

„Fünf Jahre vorher roch es fast gleich. Da hatten wir den Böhnhard dort gefunden. War der Obdachlose, der aus Busdorf, verstehen sie?“

„Sagt mir jetzt nichts der Name“, gab Bernhard zu, überlegte.

„Nicht?“, Elisabeth schien erstaunt, „der ist mit ein paar Leuten in Streit geraten und dabei kam es zu einer Messerstecherei. Hat halt den Kürzeren gezogen …“

„Ach!“, wurde sie unterbrochen, „alles klar! Mir war nur der Ort entfallen. Hatte damals eine andere Abteilung bearbeitet. Hier war das also? Vergessen, man wird halt alt.“

„In der Kneipe, das heißt, vor der Kneipe war es“, erklärte sie weiter. „Hat ein Messer abbekommen, sicherlich können sie sich denken, welches Klientel dahinter steckte?“, sie machte eine kurze Pause, fuhr dann fort, als keine Antwort kam. „Hat sich schwer verletzt hier im Wald versteckt und ist dort übelst verreckt. Entschuldigung, anders kann man es wirklich kaum bezeichnen.“

„Ja, erinnere mich an den Fall. Glaube, wenn ich mich richtig erinnere, die Täter wurden bereits zwei Wochen später gefasst.“

„Kommen wir auf den Punkt zurück“, die junge Frau ließ sich nicht aus dem Takt bringen, „jedenfalls haben wir den dort gefunden und da hatte es ähnliche Temperaturen. Überhaupt war alles ähnlich und es roch genauso.“

„Weiter?“, bohrte Bernhard.

„Wie weiter?“, sie schien leicht aus dem Konzept geraten zu sein. „Ach ja, ich habe die Szene gesehen, bin sofort zurück und habe Vater geholt. Rest kennen sie sicher?“

„Eben nicht“, stellte Bernhard fest, „ich bekam die Meldung von einer Leiche und bin dann sofort hierhergekommen. Mir wurde der Name des Anrufers mitgeteilt, also Albrecht und nun möchte ich von ihnen mehr wissen.“

„Mehr können wir nicht sagen“, mischte sich der Förster ein, „angefasst haben wir nichts, haben nur gesehen, dass da nichts zu machen ist.“

„Besonderheiten oder Auffälligkeiten bemerkt?“

„Überhaupt nicht. Heute Morgen lag da der Kunzmann und ich bin ab ans Telefon.“

„Ach“, tat der Kommissar interessiert, „sie haben erkannt, dass es der Kunzmann war?“

„Sicher, der schaute uns, mit Verlaub gesagt, doch regelrecht an. Wir waren keine 10 Meter entfernt. Keiner von uns benötigt eine Brille, um aus der kurzen Entfernung einen Menschen erkennen zu können. Außerdem, Kunzmann kannte doch jeder.“

„Verstehe“, brummte der Kommissar, nahm einen Schluck Kaffee, überlegte. „Sonst nichts Auffälliges die letzten Tage? Fahrrad, Auto oder Leute in der Gegend?“

Vater und Tochter schauten sich an, schüttelten den Kopf.

„Bis auf den Herbert Böckel, wirklich keinen“, stellte Förster Albrecht fest.

„Wer ist das? Böckel?“, Bernhards berufliche Neugierde war geweckt.

„Herbert Böckel“, erzählte Abrecht, „fast 80, hier aus Busdorf. Hat Pilze gesucht. Ist aber gut eine Woche her. Der ist oft im Wald. Egal wie trocken, der alte Kerl hat immer seinen Korb voll. Muss aber dazu sagen, der nimmt Zeug, was selbst ich nicht mal kenne.“

„Name, Adresse?“, schon hatte der Kommissar sein Notizheft aus der Tasche gezogen.

„Sie sind gut“, mischte sich die Tochter ein, „Einwohnermeldeamt vielleicht mal fragen? Wir kennen viele Leute, aber nicht von allen die Anschriften. Irgendwo Kirchstraße. Ist ein lieber Kerl, seit Jahren verwitwet und hat, soweit wir wissen, keine Kinder.“

„Gut, finden wir raus“, Bernhard schien enttäuscht zu sein. „Sonst fällt ihnen nichts ein? Radfahrer, Wanderer, Jogger, Autos, Schüsse oder so in den letzten 2 oder 3 Tagen?“

„Überhaupt nicht. Verstehen sie mal, wir nicht ständig in diesem Abschnitt. Unser Revier ist wesentlich größer und da hat es reichlich zu tun.“

„Schon klar. Wenn ihnen noch etwas einfällt“, er griff in die Jackentasche und zog eine Visitenkarte heraus, „dann rufen sie mich an.“

„Machen wir“, gleichgültig griff Elisabeth hin, legte diese auf die Küchenzeile.

„Können wir sonst behilflich sein?“, Albrecht schien den Kommissar loswerden zu wollen.

„Behilflich? Wie wäre es mit Beamtenbestechung?“, Bernhard feixte, weidete sich an den verblüfften Gesichtern der beiden.

„Bitte?“, Elisabeth schien empört, holte tief Luft.

„Runterkommen von der Tanne“, lachte der Kommissar, „hier hat es ja keine Palmen. Private Frage, hat nichts mit dem Fall zu tun. Klar?“

„Die wäre?“, Elisabeths Blick pendelte zwischen eingeschnappt und neugierig.

„Habt ihr ab und an mal einen richtigen Hasen? Nix aus dem Stall, so einen schönen Wald– oder Wiesenhoppel? Wäre echt scharf drauf und die sind im Laden schwer zu bekommen. Um nicht zu sagen, fast überhaupt nicht. Reh oder Hirsch sind kein Problem. Teile vom Feinsten, welche mich ehrlich gesagt, weniger interessieren. Ich mag eben Hase.“

Sichtbar erleichtert sahen sich die beiden an und lachten.

„Ist da die Privatnummer mit drauf?“, Albrecht drehte die Visitenkarte hin und her.

„Klar, steht hinten oder einfach Handy nehmen.“

„Wie hat man den Kunzmann erledigt, um mal so zu fragen?“

„Warum?“, misstrauisch blickt ihn Bernhard an.

„Wenn’s im Wald knallt, war ich das und habe für den Kommissar Bestechung geschossen und nach Hause geschleppt!“, dröhnend er auf. „Nicht das es die nächste Leiche im Revier gibt und ich bin der Verdächtige!“, der Witz traf den Punkt.

„Alter, der Witz war gut! Kunzmann wurde erstochen. Jedenfalls mehr oder weniger.“

„Wann kommt der Hoppel zu mir gehoppelt?“, Bernhard ließ nicht locker.

„Feldhasen erst ab Oktober. Wildkaninchen, wenn mir eines vor die Flinte läuft.“

„Mir egal, Wildhoppel und gut abgehangen, reicht mir völlig.“

„Bekommst demnächst! Heinrich, übrigens“, damit war das „Du“ besiegelt und der Handel mehr oder weniger perfekt.

„Nochmal, damit keine Missverständnisse aufkommen, junge Frau! Die Frage war rein privater Natur, hat nichts mit dem Fall zu tun! Nebenbei bemerkt – der Kaffee war große Klasse und sicherlich aus Sachsen? Sagen sie jetzt bitte ja!“

„Woher …?“, erstaunt sah sie dem Kommissar ins Gesicht, versuchte ein Lächeln.

„Kaffee, derart zu veredeln, können nur Sachsen! Demzufolge stammen ihre Vorfahren aus der Region, sie kennen es von einer Tante aus der Region, einer Oma oder was weiß ich. Reden sie, bevor ich sie zum Verhör vorladen lasse! Um hinter das Geheimnis des Gesöffs zu kommen“, Bernhard lachte verschmitzt.

„Mutter kam aus Leipzig“, bestätigte die junge Frau.

„Sagte ich doch, nur Sachsen und deren Töchter können das so gut!“

„Meine Frau lebt schon lange nicht mehr. Habe Elisabeth allein großgezogen“, warf der Förster leise ein, „damals war die Kleine gerade 12. Wusste aber schon lange von der Mutter, wie man richtigen Kaffee kocht. Rest steckt bei ihr im Blut.“

Schien mit den traurigen Worten die Kochkunst seiner Tochter erklären zu wollen und Bernhard schloss daraus, dass diese sich nicht nur auf Kaffeekochen beschränkt.

„Wieso das, meine, mit deiner Frau, wenn ich fragen darf?“, Bernhard war die Frage ein wenig peinlich, stellte sie trotzdem.

„Verkehrsunfall. Übrigens durch Wild, ein Keiler …“

Bernhard erhob sich, gab beiden die Hand, verabschiedete sich von ihnen mit einem festen Händedruck. Weiterführende Erklärungen waren nicht nötig. Vater und Tochter brachten den Kommissar vor die Tür, nahmen sich, als das Auto abfuhr, an die Hand und winkten dem Wagen nach.

– Familie Kunzmann (6. August – 12.05 Uhr)

Wie üblich in solchen Fällen, hatte der Kommissar jetzt noch eine unangenehme Pflicht zu erfüllen. Normal geschieht das zuerst, doch die Försterei lag direkt auf dem Weg dorthin und er konnte die Dinge miteinander verbinden. Jetzt musste die Familie, sprich die Ehefrau des Mordopfers, informiert werden. Angenehm sind Besuche dieser Art nie, doch Bernhard hat sich im Verlauf der Jahre eigens dagegen ein dickes Fell zugelegt, lässt keine Emotionen an sich heran, schaltet innerlich ab.

„Leute, ab zur Witwe“, brummte der Kommissar, „hier ist die Adresse.“

Reichte dabei dem Fahrer den Notizblock vor. Bernhard wusste genau, wo sich die Firma befand, die Privatanschrift hatte ihn nie interessiert. 10 Minuten später hatten sie das Ziel erreicht, welches sich am Rand der Ortschaft in einem kleinen Waldstück befand.

„Nobel, nobel“, pfiff er durch die Zähne, „nette Klitsche und sicher nicht von meiner Rente zu bezahlen. Selbst wenn ich die 100 Jahre beziehen würde.“

Neid kannte er nicht, war mit seinem Leben mehr oder weniger zufrieden. Doch was er hier zu sehen bekam, lag weit über dem Standard. Über den Daumen gepeilt betrug der Wert nur der Villa sicher weit über 2 Millionen Euro. Grundstück kam extra und die Preise im Ort waren wegen der Nähe zu Potsdam und zur Hauptstadt nicht gerade als niedrig zu beziffern. Das Grundstück war umzäunt und die Einfahrt durch ein massives Rolltor verschlossen. Gelangweilt stieg der Fahrer aus, klingelte und eine blechern klingende Frauenstimme fragte nach dessen Begehr.

„Polizei“, meldete sich der Kommissar aus dem Wagen heraus, denn er hatte schon längst die Kamera am Tor bemerkt und hielt seinen Ausweis in deren Richtung.

Surrend und ruckelnd öffnete sich das Tor und die Gruppe fuhr den mit Kies ausgelegten Weg hinter zum Haus, parkte direkt davor. Senf und der Kommissar stiegen aus, zogen sich die Jacken glatt und bevor sie klingeln konnten, flog die mondäne Haustür auf.

„Bullen?“, fragte eine hohe Stimme, welche zu einem jungen Mädchen gehörte, welches schräger nicht hätte aussehen können. „Echt jetzt, eh? Was wollt ihr hier?“

Auf der einen Seite trug sie wie abgefressen wirkende extrem kurz geschorene Haare, hinten eine Art Rattenschwanz und der Rest der verbliebenen einstigen Haarpracht, deren Naturfarbe nicht mehr auszumachen war, zeigte sich mit Rot, Grün und Lila verunstaltet. Wie heutzutage üblich trug das Mädchen eine kurze Hose. Diese für teures Geld „schön“ zerfetzt. „Modern“ eben und angeblich „wertvoller“ als ein intaktes Kleidungsstück. Ihre helle Bluse zeigte mehr als dass sie verhüllte, ließ, im wahrsten Sinne des Wortes, „tief“ blicken. Und da gab es, was die schlanke Figur von rund 1,6 Metern Größe kaum vermuten ließ, reichlich zu sehen, denn ein BH schien für die junge Dame mit Sicherheit ein Fremdwort zu sein.

„Kollege Senf“, wendete sich Bernhard ungerührt an seinen Assistenten, „nehmen sie bitte eine Anzeige gegen die junge Dame wegen Beamtenbeleidigung auf.“

„Spinnst wohl, Alter“, fauchte das schräg bunte Etwas los, ging drohend einen Schritt auf die Beamten zu.

„Michaela, wer ist dort?“, tönte es fragend aus dem Hintergrund. „Hatte ich das vorhin richtig verstanden mit Polizei?“

Gleichzeitig tauchte eine Frau mittleren Alters auf, der man es ansah, noch nie in ihrem Leben richtig gearbeitet zu haben. Ungeachtet der Mittagszeit trug sie nur einen Pyjama und darüber einen gestickten Morgenrock. Sicher keinen von der Stange.

„Chef, soll ich wirklich?“, stotterte Senf unsicher, schien sich auf den Befehl mit der Anzeige zu beziehen.

„Hatte ich meine Anweisung zurückgenommen?“, blaffte der los. „Unsere Fahrzeuge haben bekanntlich eingebaute Kameras und wie soll ich in der Dienststelle die offensichtliche und nicht geahndete Beamtenbeleidigung erklären?“

„Scheiße! Ehrlich jetzt?“, die verunstaltete Jugendliche schielte zum Auto hin.

„Alternativ können wir die junge Dame natürlich gleich zur Dienststelle mitnehmen. Haben wir die Sache hinter uns“, fuhr Bernhard ungerührt fort.

„He, Alter, sorry, war nicht so gemeint, war ein Witz, eh“, stammelte die Jugendliche und die Mutter schaute nichts verstehend in die Runde.

„Können sie mir bitte erklären, was hier vorgeht?“, fragte sie spitz, hielt dabei den Zeigefinger der rechten Hand vornehm unter das Kinn, als ob dieses und der Kopf eine Stütze für die Last ihres Reichtums benötigen würden.

„Guten Tag, erst einmal. Frau Karla Kunzmann?“, Höflichkeit ging vor und Bernhard war die affektiert tuende Frau sofort unsympathisch.

„Ja, sicher“, bestätigte diese mit gespielter Arroganz, „steht doch am Namensschild. Was wünschen sie, oder ist etwas passiert?“, Angst flackerte kurz in ihren Augen auf.

Linkisch und unsicher deutete die Hand der Frau den beiden Männern einzutreten. Konnte man aber auch anders interpretieren, denn sie wich nicht zur Seite.

„Kollege Senf, vergessen sie die Anzeige“, gab der Kommissar Senf zu verstehen, „wird jetzt hart für alle Seiten und da drücke ich mal ein Auge zu.“

„Anzeige? Was geht hier eigentlich vor!“, die Frau wurde sichtlich aufgeregt, „sagen sie schon, ist etwas passiert?“

„Zwischen Tür und Angel macht sich das schlecht. Dürfen wir eintreten?“

Abermals deutete die Hand der Frau an, einzutreten, gab die Tür jetzt frei.

„Ich bin Kriminalhauptkommissar Bernhard, das ist mein Kollege Senf“, zwei Ausweise tauchten vor der Frau auf.

„Kommen sie herein, bitte“, staksigen Schrittes, ohne die Ausweise näher in Augenschein zu nehmen, ging die Frau voraus in ein riesiges Zimmer, drehte sich um. „Nehmen sie Platz. Darf ich ihnen …?“

„Nein, danke, nehmen sie lieber Platz. Glauben sie mir, es ist besser so.“

Ohne erkennbaren Grund begann die Frau zu zittern, sackte in einem großen Sessel zusammen und starrte vor sich hin.

„Ich wusste es, habe es immer gewusst. Es geht um meinen Mann? Stimmt doch, oder irre ich mich? Eigentlich irre ich mich nie“, bei den letzten Worten übertrug sich das Zittern des Körpers auf die Stimme der Frau.

„Was haben sie gewusst?“, hakte Bernhard sofort ein.

„Irgendwann musste es mal passieren“, schluchzend sackte die Frau zusammen.

„Was musste passieren? Wann haben sie ihren Mann das letzte Mal gesehen?“

„Weiß nicht genau“, stammelte sie, dann schien es ihr wieder einzufallen. „War vor drei Tagen, am 3. August. Da ist er so gegen 9 Uhr weggefahren. Uhrzeit lege ich mich nicht fest. Kann etwas früher, aber auch etwas später gewesen sein.“

„Seitdem haben sie ihren Mann nicht mehr gesehen?“, Kopfschütteln war die Antwort.

„Ist ihnen etwas aufgefallen, als ihr Mann das Haus verlassen hat? Wirkte er nervös, hatte er Angst? Trug er etwas bei sich? Zum Beispiel einen Koffer, ein Paket?“, routiniert versuchte der Kommissar der Frau Informationen zu entlocken, überhaupt ein Gespräch in Gang zu bringen.

„Sagen sie mir lieber, was geschehen ist“, die Frau wurde laut, ihr Zittern hörte auf und die schlanke Gestalt im Morgenmantel straffte sich.

Grellrot lackierte künstliche Fingernägel, befestigt an dünnen Fingern und diese wieder an schlanken Händen, welche einer Pianistin oder Violinistin zu gehören schienen, wischten über das Gesicht. Wirkten trotzig, versuchten erfolglos über Tränen Herr zu werden.

„Frau Kunzmann, es ist wichtig, was sie uns sagen. Jedes Detail, glauben sie mir.“

Bernhards Stimme klag weich, fast einschmeicheln, beruhigend und väterlich.

„Nichts sage ich mehr ohne meinen Anwalt!“, fauchte diese ihn unvermittelt an.

„Ist ihnen natürlich freigestellt“, der Kommissar zeigte gelassen zum Telefon, was sich unweit der Sitzgruppe auf einer kleinen Anrichte befand. „Vorher nur die Information, deshalb sind wir hier, ihr Mann ist leider tot.“

„Tot? Wie tot? Warum?“, sie schien die Nachricht und die Realität verdrängen zu wollen.

„Genau das versuchen wir ja gerade herauszufinden. Deswegen sind wir hier.“

„Kann ich meinen Mann sehen?“

„Im Moment ist dies leider noch nicht möglich. Er befindet sich in der Gerichtsmedizin. Sobald es möglich sein sollte, gebe ich ihnen Bescheid.“

„Hören sie mal! Ich will ihn aber sehen! Sofort!“, die Frau war aufgestanden, wirkte wütend, zitterte dabei wie Espenlaub und das in der Wärme.

„Entschuldigung, Frau Kunzmann“, Bernhards Stimme wurde scharf, „dieser Tonfall mag bei ihren Angestellten Wirkung zeigen, bei mir jedoch keinesfalls. Bleiben wir sachlich. Je mehr Fakten ich jetzt erfahre, umso schneller finden wir den Täter und wird die Leiche ihres Mannes freigegeben. Also …?“

Lautlos hatte sich eine Angestellte von der Seite genähert, stellte ein Tablett mit drei Tassen, einer Kanne, Zuckerdose und einem Sahnekännchen auf den Tisch. Sinnend betrachtete sich der Kommissar die Frau um die fünfzig, welche in eine Art Uniform mit Rock gezwängt war, hier Hausmädchen und Bedienung zugleich spielte. Kalt und unnahbar wirkte sie, doch in ihrem Blick lag Unsicherheit, eigentlich blanke Angst. Teilnahmslos stand die Tochter am Fenster, schaute zu ihrer Mutter hin und was weder Senf noch der Kommissar für möglich gehalten hatten – sie hatte Tränen in den Augen.

„Wissen sie eventuell etwas, was uns weiter bringen könnte?“, fragte Bernhard zu ihr hin.

„Papa hatte einen Karton im Auto. Nicht sehr groß“, ihre Hände deuteten die Größe des Paketes an. „Zugedeckt mit einer dünnen Decke“, nicht mehr frech, aggressiv, sondern brüchig wie die einer alten Frau, klang die Stimme der Jugendlichen.

„Weiter?“

„Er hat nur gesagt, er müsse mal kurz weg, würde nicht lange dauern. Mehr weiß ich nicht. Wegen der Uhrzeit, fällt mir gerade ein, er ist genau 9.17 Uhr losgefahren.“

„Woher wissen sie so genau die Uhrzeit?“

„Sven, mein Freund, hat genau in dem Moment angerufen, als Papa zum Tor hinausfuhr. Deshalb weiß ich es so genau. Sagen sie, was ist mit Papa passiert?“

„Genaueres können wir ihnen derzeit nicht sagen, außer, dass er ermordet wurde. Sie verstehen das sicherlich?“

„Wo?“, mischte sich die Mutter ein.

„Nähe Forsthaus. Sie wissen, wo sich dieses befindet?“

„Verstehe“, was sie verstand, sagte die Frau nicht. „Ich möchte sie bitten, jetzt zu gehen. Oder wollen sie noch mehr wissen?“

„Ja, möchte ich, denn etwas erstaunt mich doch. Ihr Mann ist jetzt seit drei Tagen verschwunden. Warum haben sie keine Vermisstenanzeige erstattet? Geschah das des Öfteren, ich meine, dass er über Nacht wegblieb?“

„Manchmal ja“, flüsterte sie leise, ohne sich näher dazu zu äußern. „Manchmal eben auch über einige Tage“, fügte sie noch leiser hinzu.

„Gab es dafür triftige Gründe?“

„Weiß nicht genau, Geschäfte zum Beispiel. Kunden und Einkäufe von Holz. Wollen sie sonst noch etwas? Entschuldigen sie bitte, ich bin müde und möchte mich hinlegen.“

Sichtlich nahm ihr Bernhard die Nummer nicht ab, lenkte dennoch scheinbar ein.

„Derzeit habe ich keine Fragen mehr. Wir melden uns noch einmal bei ihnen, wenn es erforderlich wird“, Kommissar Bernhard war klar, dass er jetzt aus der Frau nichts mehr herausbringen würde, brach ab und erhob sich.

Senf sprang eilig auf, schaute unsicher zu seinem Chef hin.

„Nächstes Mal, junge Frau, bitte etwas mehr Respekt vor den Leuten“, wendete sich der Kommissar süffisant an die junge Frau, „welche die unschöne Aufgabe haben, Verbrechen aufzuklären. Geht doch sicherlich, oder?“

Bernhard lächelte, reichte ihr die Hand. Karla Kunzmann verweigerte den Beamten den Handschlag, behielt eisern ihre Hände in den weiten Taschen des Morgenmantels. Stattdessen brachte die Tochter die Besucher vor die Tür, hielt dort einen Moment inne, versuchte den Ansatz eines freundlichen Gesichtes zu zeigen.

„Papa war gut zu mir“, sagte sie leise, drehte sich um, so als befürchte sie Zuhörer, „sonst werden sie wahrscheinlich wenig Gutes über ihn hören. Nicht mal von meiner Mama. Mehr sage ich jetzt nicht dazu …“

„Müssen sie auch nicht als betroffene Angehörige“, versuchte Bernhard ihr eine Brücke zu bauen, machte weiter. „Wäre aber nicht schlecht und der Sache dienlich, wenn die uns einige Andeutungen machen würden.“

„Bestimmt nicht, jedenfalls noch nicht“, lehnte sie harsch ab, betonte dabei vielsagend das Wort „noch“ und dies entging dem Ermittler nicht. „Und hier am oder im Haus sage ich sowieso nichts. Müssen sie verstehen.“

Abrupt drehte sie sich um, ging zurück ins Haus und schloss die Tür. Bedeutungsvoll sahen sich die beiden Beamten an, stiegen in den Wagen und fuhren zur Dienststelle.

– Arbeitsgruppe „Forst“ (6. August – 12.49 Uhr)

Bei Ankunft von der halbstündigen Fahrt zum Präsidium, hatte sich Polizeianwärter Senf einigermaßen wieder gefangen, den Magen, sofern man das Szenario im Wald nicht detailliert erwähnte, wieder unter Kontrolle. Schwatzte anfangs fast schon bewundernd über die „heiße Braut“ und deren Reichtum und welch gute Partie die sicherlich sei. Missbilligende Blicke trafen ihn. Schwieg er danach den Rest der Fahrt über mehr oder weniger, schaffte es sein Chef hingegen, den Akku des Telefons mit Gesprächen fast auf null zu bringen. Wichtigste Nachricht dabei: Der Kampfmittelräumdienst hatte bei der Untersuchung des Kartons im Wald nichts Gefährliches gefunden, Entwarnung gegeben und die Abteilung Spurensicherung sich sofort mit weiteren Untersuchungen an die Arbeit gemacht. Außer den Fingerabdrücken der Leiche, dies stand schnell fest, war nicht eine einzige andere Spur daran zu entdecken. Röntgenaufnahmen zeigten, dass dessen Inhalt, den Bildern nach zu urteilen, wirklich nur aus Geld bestand. Lediglich konnte man dessen Summe nicht so genau erkennen, wie man es sich eigentlich erhofft hatte.

Kaum im Büro angekommen, von Bernhard bereits während der Fahrt ausgesucht, trafen sich um den großen Tisch in der Mitte herum einige Mitarbeiter, nahmen Platz, begannen sich lautstark zu unterhalten. Es ging um den Fall.

„Leute, herhören“, Kommissar Bernhard klopfte um Aufmerksamkeit heischend mit dem Löffel auf den Rand seiner Kaffeetasse. „Bevor wir uns gemeinsam den Inhalt des Paktes ansehen, warten wir auf die Spusi. Derzeit ist das Ding noch dort, die Jungs werden sicher gleich aufschlagen. Kleiner Motivationsschub zu Anfang – Staatsanwalt, Chef und Presse, stehen uns allesamt und mit Inbrunst auf den Hühneraugen!“

Wie auf Kommando, noch bevor einer auf die Mitteilung reagieren konnte, öffnete sich die Tür, zwei weitere Beamte, genau die Erwarteten, stießen hinzu, hatten den ominösen Karton mit dabei. Vorsichtig, jeden Schritt der Öffnung dabei fotografierend, wurde dieser mittels eines Messers geöffnet. Im Inneren befanden sich ein dicker Umschlag sowie ein Stoffbeutel, wie er gewöhnlich bei Geldinstituten verwendet wird. Im Umschlag steckten 11235 Euro in Scheinen, in dem Säckchen eine 2–Euro Münze. Erstaunt sahen sich die Mitarbeiter an. Lächerlich, das Geldsäckchen für eine Münze zu verschwenden, schoss es allen Anwesenden durch den Kopf.

Inhalt stimmte jedenfalls exakt mit dem außen vermerkten Betrag von 11237 Euro € überein. Geld wurde von der Spurensicherung gesichert und sofort ins Labor verbracht. Viel versprach man sich nicht von dem Ergebnis, doch man ließ keine Möglichkeit aus. Kaum hatte sich die Tür hinter ihnen geschlossen, begannen die erste Diskussion zwischen Senf und Bernhard.

„Schweigegeld? Glaube ich nicht“, sinnierte Bernhard. „Da hat es größere Summen und nicht so ein Pillepalle mit 237 hinten dran. Komisch, was hat das zu bedeuten?“

Senf, den Finger dabei wie im Unterricht heben, meldete sich zu Wort.

„Chef, möglicherweise ein verschlüsselter Betrag? Oder eine Codenummer? Hat vielleicht überhaupt nichts mit Geld, meine, mit Lösegeld oder so, zu tun?“

„Hast du dein Resthirn mit ausgekotzt“, fuhr ihn sein Vorgesetzter unwillig an. „Schon läppische elftausend hat nichts mit Erpressung zu tun. Verlangt werden da bekanntlich Summen, welche richtig schmerzen, einem die Tränen in die Augen treiben. Elftausend borge ich mir zur Not bei der Oma aus dem Sparstrumpf. Außerdem steht da nun einmal klar und deutlich Euro dahinter. Nix mit Code, oder so.“

Zustimmendes Nicken im Raum. Einer in der hinteren Reihe meldete sich.

„Elftausend, damit könnte man unsere Putzfrauen in Bedrängnis bringen.“

„Richtig“, pflichtete ihm der Kommissar bei, „hier haben wir es mit Sicherheit mit einer ganz anderen Liga zu tun“, fügte Bernhard hinzu. „Stinkt förmlich 100 Meter gegen den Wind. Nach dem, was ich auf die Schnelle so mitbekommen habe, war das Opfer alles andere als arm. Hätte den Betrag locker abzweigen können, nichts würde auffallen und ein geschickter Buchhalter, lässt die Summe unter was weiß ich verschwinden.“

Erneute Zustimmung im Raum. Routiniert, wie unter anderen Namen schon oft zuvor, bildete der Kommissar eine Arbeitsgruppe „Forst“. Bestehend aus den langjährigen und erfahrenen Kriminalisten Dieter, Michael, Jens, Sebastian, Jochen und Jörg. Jeder von ihnen war mindestens 10 Jahr bei der Truppe und arbeitet seit dieser Zeit mit Bernhard zusammen. Senf wurde mehr notgedrungen mit in die Gruppe involviert, galt als letztes Rad am Wagen, um ihm auch eine Chance zu geben.

Im Laufe der nächsten Stunde trudelten die ersten Fotos ein, eine Pinnwand füllte sich. Seitens der Spurenlage sah es dünn, um nicht gerade zu sagen, beschissen aus. Autospuren stammten ausnahmslos vom Wagen des Opfers. Fußspuren alle älteren Datums von Pilzsammlern und diese brachten keinen weiter. Hülsen fanden sich keine am Tatort und auch keine in dessen näherer Umgebung. Abergläubische Menschen könnten leicht zu der Überzeugung kommen, als wäre ein Racheengel durch die Luft geflogen, hätte das Opfer angeschossen, anschließend massakriert, um nach vollbrachter Tat auf seinen himmlischen Schwingen wieder gen Paradies oder Hölle zu entfleuchen.

„Wie kann das sein“, fragte Bernhard in die Runde, „dass es keine Fußspuren gibt?“

„Chef, es hatte geregnet!“, warf Senf allwissend tuend ein.

„Spaßvogel“, schimpfte Bernhard zurück, „und woher kommen dann die Spuren des Opfers? Ich fasse es nicht. Blödmann sage ich jetzt nicht, auch wenn es stimmt.“

Kleinlaut zuckte der Gescholtene zusammen, ringsum nickte man. Einige Kollegen konnten sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen.

„Laut Wetterbericht war das kein Regen, mehr ein Witz, dauerte zudem nicht einmal zehn Minuten und der Tatort wurde durch die Baumkronen geschützt. Um alles zu verwischen, hätte es einen langen und wirklich ordentlichen Guss geben müssen. Weiter vorn sah das anders aus. Selbst dort gab es nur einige unbedeutende flache Pfützen. Fast alle schon wieder weg. Heiß genug ist es schließlich.“

Erneutes Nicken in der Runde.

„Wo ist das, ähm, das Dingens da, ich meine, das von da unten geblieben?“, meldete sich Blondkopf Jens zu Wort, „hatten wir noch nie so einen Fall. Tiere sind ausgeschlossen. Unsere Jungs haben jede Kacke von Vögeln und Karnickeln gefunden, jedoch nicht eine Spur von Hunden, Füchsen oder so. Nicht mal Wildschweine gibt es in der Gegend. Bekanntlich sind die Mistviecher sonst überall, fast in jedem Garten und zur Freude der Bauern auch auf allen Feldern!“

„Bleibt nur übrig, dass es der Täter hat mitgehen lassen“, keiner widersprach dem Chef, abermals nickte die Runde. „Fragt sich nur, warum?“, grübelte dieser halblaut.

„Egal Leute, ab, ab an die Arbeit. Ich will bis 15 Uhr alles von dem Kunzmann wissen. Und mit alles, meine ich auch alles. Ich schaue mir noch einmal die Lage durch und telefoniere ein bisschen. Halt“, dem Chef war etwas eingefallen. „Jörg?“

Der Angesprochene schoss hoch, blickte erwartungsvoll nach vorn.

„Wie allgemein bekannt, bist du der schrägste Vogel hier in der Abteilung“, alles lachte laut. „Meine ich mal positiv“, ergänzte Bernhard, mahnte erfolglos Ruhe an.

„Jörgi mit den Scherenhänden“, johlte einer aus der hinteren Reihe, alle klatschten.

„Ruhe! Genug jetzt, genau das ist an dieser Stelle gefragt“, rügte Bernhard, „Jörg, du schläfst nicht nur mit Computern, kennst jeden Dreh, du suhlst dich geradezu in solchen ekligen Blutfilmen, wie heißen die doch gleich noch mal …?“

„Splatterfilme, Knochen–Knatter–Knacker“, tönte es erneut von ganz hinten.

„Ja, genau die“, Bernhard schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn, „Jörg, du wühlst dich mal durch, ob es da so eine ähnliche Scheiße gibt. Gib mir dann Bescheid und besorge mir im Idealfall den Film oder die betreffenden Szenen daraus.“

„Klar, brauche aber etwas Zeit“, bekam er zur Antwort.

„Hast du, oder habe ich etwa gedrängelt?“, feixte Bernhard, „rate dir nur, schnell zu machen. Finde ich vor dir etwas, bedenke das, lieber Kollege, ich habe auch einen Computer mit ‚Tetris‘ drauf, gibt es eine fette Gehaltskürzung!“

Alle in der Runde lachten und Jörg verschwand wie der Blitz an seinen Arbeitsplatz.

„Albrecht, der Förster, erwähnte noch einen Waldgänger und Pilzsammler aus Busdorf. Nennt sich Herbert Böckel. Überprüfen!“

Schnell verlief sich die Runde und Punkt 15 Uhr kamen die nächsten Informationen herein. Herbert Böckel ergab nichts. Unauffällig der Mann und zu dem Zeitpunkt mit Sicherheit auch nicht im Wald gewesen. Dafür gab es mehrere Zeugen. Frustrierend, nichts, überhaupt nichts, ließ darauf schließen, dass das Opfer Dreck am Stecken hatte.

Bernhard erschien er zu sauber, nicht einmal, dass falsches Parken bekannt war. Im Ort, mit kaum 5000 Einwohnern, kannte ihn jeder und auch in den umliegenden Dörfern war Kunzmann bekannt wie ein bunter Hund. Mustergültige Ehe, sonntags ging er in die Kirche, spendete für alles Mögliche, die Firma schien bestens aufgestellt. Fehlte nur noch ein Heiligenkranz und Weihrauchduft um den Unternehmer. Einziges Laster, wenn man es als solche bezeichnen konnte, war, dass er sich jeden Donnerstag in der Dorfkneipe mit einigen Leuten zum Kartenspiel traf.

„Oha“, stellte Bernhard misstrauisch fest, „ein Ansatzpunkt. Dieter?“

„Kein Thema, Spieler kümmere ich mich. Wirt durchleuchte ich heute Abend“, versprach der Angesprochene. „Doch wie ich die Sache einschätze, werden wir da wohl auch kaum etwas finden. Glaube ich jedenfalls. Die Kneipe hat einen guten Ruf, ist Ausflugsziel.“

„Glauben, kannst in der Kirche“, warf Bernhard sarkastisch ein, „spätestens 19 Uhr bin ich von Doktor Oberschenkel zurück, weiß dann schon einmal mehr. Abflug Leute, wir sehen uns morgen früh in alter Frische hier wieder! Ran an die Arbeit!“, er klatschte in die Hände, erklärte die Versammlung damit für beendet.

„Leute ausquetschen über Nacht?“, murrte Michael leise, „kann ich meiner neuen Flamme absagen. Eigentlich wollten wir zusammen ins Kino.“

„Wenn du fertig bis, schaust mit der Bett–Kino“, flachste Dieter und die Männer lachte sich halb schlapp.

Stühle rückten geräuschvoll, die Runde zerstreute sich rasch in alle Richtungen, man wusste, was man zu tun hatte. Kriminalhauptkommissar Bernhard eilte überall der in der Ober– und Unterwelt der Ruf voraus, jeden Fall zu lösen, sich mit jedem anzulegen und keinerlei Rücksicht auf Klüngel, Ämter und Posten zu nehmen. Schreckte nicht einmal vor der Mafia zurück, hat bislang jeden „harten Jung“ zur Stecke gebracht. „Cold Case“, wie heute dämlich eingedenglischt zumindest vorerst ungelöste Fälle genannt werden, gab es nicht bei ihm. Verzögerungen ja, doch keine davon dauerte länger als ein Jahr und damit stand er fast einmalig in der Statistik da. Bernhard schreckte, jedenfalls wo es möglich war, nicht einmal davor zurück, höchstpersönlich als verdeckter Ermittler einzuspringen, scheute keine Gefahr.

Andernfalls arbeitete er mit legalen, wie auch nicht ganz so legalen, Mitteln, steckte Rüffel weg, wie andere sich eine Zigarette an. Verfügte über weitreichende Beziehungen, nutzte dieses bis zum Äußersten aus, um ans Ziel zu kommen. Seine Verbissenheit bescherte ihm eine gescheiterte Ehe, denn die erste Frau konnte sich nicht mit den unregelmäßigen Diensten und der ständigen Gefahr abfinden. Lumpige drei Jahre hielt der „Bund fürs Leben“, dann wurde die Ehe geschieden. Mit der zweiten Frau war er 21 Jahre verheiratet, die Ehe blieb ebenfalls kinderlos, seine Frau starb an Krebs.

Bernhard versprach sich nicht viel Neues von der Pathologie. Mit „Doktor Oberschenkel“, wie der Pathologe scherzhaft genannt wird, ist er seit 20 Jahren bekannt. Dieser kam damals aus Berlin, gilt als überaus korrekt und umgänglich. Bereits dessen berufliche Laufbahn war beeindruckend. Geboren und aufgewachsen in Bad Freienwalde, begann er dort seine medizinische Karriere, wurde Arzt, bis er sich später in Berlin der Pathologie verschrieb und mit seiner Frau vom Land in die Stadt umzog.