Leichter lernen - Brigitte Reysen-Kostudis - E-Book

Leichter lernen E-Book

Brigitte Reysen-Kostudis

4,5

  • Herausgeber: mvg
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2007
Beschreibung

Brigitte Reysen-Kostudis stellt nicht nur effiziente Lernmethoden vor, sondern erläutert auch die Funktionsweise des Gehirns und klärt über das Wesen des Lernens auf. Was in Seminaren mit Studenten bereits erfolgreich erprobt wurde, stellt die Autorin nun in einer gelungenen Kombination aus Theorie und praktischen Arbeits- und Lernmethoden einem breiten Publikum vor.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d–nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

2. Auflage 2010

© 2007 by mvg Verlag, ein Imprint der FinanzBuch Verlag GmbH

Nymphenburger Straße 86

D–80636 München

Tel.: 089 651285–0

Fax: 089 652096

Auszug aus Brigitte Chevalier, Effektiver Lernen.

© Eichborn AG, Frankfurt am Main, 1999.

Wir danken dem Verlag für die freundliche Abdruckgenehmigung.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Friederike Waldorf, Bad Naunheim

Umschlaggestaltung: Atelier Seidel, Teising

Umschlagabbildung: © master file/David Muir

Satz: Jürgen Echter, Landsberg am Lech

Druck: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt

Printed in Germany

ebook ISBN: 978-3-86415-227-6

Weitere Infos zum Thema:

www.mvg-verlag.de

Gerne übersenden wir Ihnen unser aktuelles Verlagsprogramm.

EINLEITUNG

„Wissen Sie, ich habe eben nie gelernt zu lernen.“ Dies ist ein Satz, den ich in meiner Beratungspraxis schon oft gehört habe, und der erklären soll, warum es manchmal so schwer fällt, sich auf eine Prüfung vorzubereiten oder eine schriftliche Arbeit fristgemäß abzuliefern. Aber kann man das Lernen eigentlich lernen?

Als Kinder lernen wir ohne besondere Anleitung Laufen und Sprechen. Sicherlich brauchen wir dafür Anregungen und Unterstützung, aber keinen Plan und keine besondere Technik. Getrieben von natürlicher Neugier wollen Kinder alles wissen: Wie die Welt funktioniert, warum es Wolken gibt oder warum es nachts dunkel wird. Lernen wird hier durch die Wahrnehmung der Welt in Gang gesetzt. Etwas Unerklärliches wird gesehen, gehört oder gespürt, das man verstehen möchte. Niemand würde auf die Idee kommen, ein Kind zu lehren, was es sehen, fühlen oder hören soll. Um es zu fördern, steht man ihm allenfalls hilfreich zur Seite, hilft ihm hoch, wenn es hinfällt, bietet ihm Anregungen und Spiele an, bei denen es neue Erfahrungen sammeln und seine Fähigkeiten trainieren kann. Der Rest geschieht dann fast von selbst. Die Anlage zum Lernen tragen wir also alle in uns.

Aber wie geht es weiter? In der Schule lernen wir Lesen, Schreiben und andere mehr oder weniger nützliche Dinge. Dabei machen wir Erfahrungen mit äußeren Anforderungen und Bewertungen. Spätestens jetzt ist es nicht mehr nur eigene Neugier, die uns zum Lernen antreibt, sondern auch die Erwartung von anderen. Nun muss es gelingen, sowohl die persönliche Motivation aufrecht zu halten als auch äußeren Anforderungen gerecht zu werden, und dabei sowohl mit Erfolgen als auch mit Enttäuschungen umzugehen. Und wir dürfen uns nicht auf dem einmal Gelernten ausruhen. Die Welt um uns herum verändert sich ständig. Das alte Wissen muss an die neuen Erkenntnisse angepasst werden. Nach Meinung von Experten verdoppelt sich zurzeit in vielen Branchen das erforderliche Wissen alle drei Jahre – und diese Entwicklung wird sich in der nächsten Zeit noch beschleunigen. Der Prozess des Lernens hört daher niemals auf.

Doch nun zurück zur eingangs gestellten Frage: Kann man das Lernen lernen? Die Antwort lautet: Nein, denn Sie tragen die Anlage zum Lernen bereits in sich. Wenn Sie mit Ihren Lernergebnissen unzufrieden sind, hat das andere, vielfältigere Ursachen: Vielleicht wissen Sie nicht, warum Sie bestimmte Dinge lernen sollen, wie ein erfolgreicher Anfang aussehen kann, oder vielleicht fehlen Ihnen effektive Techniken. Sie brauchen also das Lernen nicht neu zu lernen, Sie sollten allerdings Ihre Einstellungen und Methoden überprüfen.

In diesem Buch lernen Sie Strategien und Techniken kennen, mit denen Sie sich das, was Sie wissen möchten, effizient und dauerhaft aneignen können. Besonders wichtig ist mir dabei die enge Verknüpfung zwischen Theorie und Praxis, das heißt die Verknüpfung zwischen dem Wissen über das Lernen und ganz konkreten Tipps. Sie werden erfahren, dass ein gutes Lernmanagement – also der Einsatz von erfolgreichen Methoden – Entscheidungen erfordert, die aufgrund von Kenntnissen der Funktionsweise des Gehirns (dem Ort, an dem das Lernen stattfindet) und persönlichen Erfahrungen getroffen werden. Im 1. Kapitel gehe ich auf die Besonderheiten des Lernens im Erwachsenenalter ein. Im schulischen Kontext haben sich in den letzten Jahren Modelle durchgesetzt, die nicht nur auf die Vermittlung von Wissen, sondern auch auf die Steigerung allgemeiner Kompetenzen abzielen. An den Universitäten und anderen Orten beruflicher Aus- und Weiterbildung lassen sich ähnliche Tendenzen beobachten. Auch hier wird die Vermittlung von Fachwissen immer weniger isoliert gesehen, sondern in Verbindung mit beruflichen Anforderungen und persönlichem Kompetenzgewinn gesetzt. Um eine Ausbildung in diesem Rahmen erfolgreich abschließen zu können, brauchen Sie eine Strategie, auf die Sie sich bei der Planung und Durchführung von Lernprojekten verlassen können. Im 2. Kapitel stelle ich Ihnen daher zunächst die neuesten Ergebnisse aus der neurobiologischen Forschung vor. Hirnforscher können heute nämlich sehr genau beschreiben, in welchen Regionen des Gehirns das Lernen stattfindet und was diesen Vorgang unterstützt oder hemmt. Zur Entwicklung einer optimalen Lernstrategie werde ich diese Erkenntnisse mit Überlegungen über Grundvoraussetzungen für erfolgreiches Handeln verbinden. Ab dem 3. Kapitel wenden wir uns dann der praktischen Seite zu. In einzelnen Modulen werden spezifische Teilbereiche des Lernens dargestellt und bearbeitet – von der Planung eines Lernprojekts bis hin zur Bewertung des Endergebnisses. Dabei gebe ich Ihnen zu Beginn jedes Moduls eine kurze Einführung ins Thema. Diese theoretische Annäherung wird ergänzt durch Übungen, mit denen Sie Ihr Arbeitsverhalten und Ihre Einstellung reflektieren können. In den anschließenden Arbeitsinseln gehen wir dann ganz konkret auf die Praxis ein. Sie werden eine Vielzahl an Methoden kennen lernen, die sich im Alltag bewährt haben. Zu einem großen Teil sind dies Techniken, die sich an der Arbeitsweise des Gehirns orientieren und das eigenverantwortliche Arbeiten unterstützen. Im abschließenden 4. Kapitel fasse ich die Grundsätze eines effektiven Lernmanagements noch einmal in knapper Form zusammen.

In den Arbeitsinseln des 3. Kapitels werden Sie in Fallbeispielen Anne, Clara und Paul kennen lernen – drei Studierende aus unterschiedlichen Fachrichtungen. Bei der Entwicklung dieser Beispiele, der Schilderung von möglichen Problemen und der Darstellung von Lösungen stütze ich mich auf meine langjährige Erfahrung in der Beratung von Studierenden. Dabei bin ich immer mehr zu der Erkenntnis gelangt, dass es nicht die „ideale“ Methode gibt. Eine Technik allein reicht nicht aus, um das Lernen dauerhaft zu verbessern. So werden Sie erfahren, dass unsere Protagonisten mit ähnlichen Anforderungen ganz unterschiedlich umgehen. Die Auswahl der richtigen Methode ist abhängig von der individuellen Lernsituation und dem persönlichen Lernstil. Ich möchte auch Sie dabei unterstützen, selbst herauszufinden, was zu Ihnen passt. Lassen Sie sich auf das Abenteuer ein, mehr über sich und Ihr Lernen zu erfahren. Seien Sie offen für neue Erfahrungen und Erkenntnisse, machen Sie möglichst viele der vorgeschlagenen Übungen, probieren Sie mehrere Methoden aus und wählen Sie am Ende das aus, was Ihnen am sinnvollsten erscheint. Ich hoffe, es gelingt Ihnen dadurch, Ihr Arbeiten nicht nur effektiver zu gestalten, sondern auch wieder mehr Lust am Lernen zu spüren.

Wir beginnen mit einer Übung zur Einstimmung auf das, was Sie gleich lesen werden.

Übung: Ziel formulieren

Die Frage nach dem Sinn und Zweck der Mühe ist in jeder Arbeitsstufe eine Vorbedingung für effektives Lernen. Auch für das Lesen dieses Buches sollten Sie die Zielsetzung klären.

Schritt: Nehmen Sie sich einen Stift und ein leeres Blatt Papier.Schritt: Überlegen Sie, warum Sie dieses Buch lesen möchten. Welche Erwartungen haben Sie, was interessiert Sie am meisten? Nehmen Sie sich für die Beantwortung dieser Fragen zirka fünf Minuten Zeit.Schritt: Schreiben Sie Ihre Gedanken auf.

Bewahren Sie Ihren Zettel gut auf. Wir werden später noch einmal darauf zurückkommen.

1. GRUNDFORMEN DES LERNENS

Lernen war seit Beginn der Menschheitsgeschichte überlebenswichtig: Nur die Weitergabe von Wissen gewährleistete den Weiterbestand der Art. Auch heute ist das Lernen der ständige Begleiter des Lebens. Alles was wir sehen, hören, spüren oder erfahren, kann zu neuen Erkenntnissen führen. Aber warum nehmen wir manche Informationen auf, während wir andere gleich wieder vergessen? Was passiert eigentlich beim Lernen?

Was ist Lernen?

Folgt man den Definitionen in geläufigen Lexika, findet man recht weitgehende Beschreibungen des Lernbegriffs: So handelt es sich dabei laut dem Brockhaus um „Erwerb von Kenntnissen oder die Änderung von Denken, Einstellungen und Verhaltensweisen“. Als wesentlich wird hier die zeitliche Kontinuität herausgestellt, womit vorübergehende Veränderungen – infolge von Stimmungsschwankungen oder Einnahme von Drogen – ausgegrenzt werden. Solche Definitionen bieten allerdings wenig Aufschluss darüber, was beim Lernen eigentlich passiert.

Um dem Wesen des Lernens näher zu kommen, lassen Sie uns einen kleinen Ausflug in die Sprachgeschichte unternehmen. Im deutschen Wort „Lernen“ haben sich zwei Begriffe vereinigt: das gotische „lais“, was ursprünglich die Bedeutung von „ich habe nachgespürt“ hatte, später aber auch mit „ich weiß“ gleichgesetzt wurde, und das althochdeutsche Substantiv „laisti“, das mit „Fußspur“ übersetzt wird. Diese Herkunft deutet darauf hin, dass Lernen schon seit alters her als ein Prozess gesehen wurde, bei dem man einen Weg zurücklegt, um Wissen zu erlangen. Die Verbindung zu anderen Wörtern wie Leistung (auch hier finden wir das althochdeutsche „laisti“) und Lehren ist nicht verwunderlich, aber noch ein anderes Wort hat enge verwandtschaftliche Beziehungen mit unserem „Lernen“, nämlich die List. In früheren Zeiten galt der als listig, der über spezielle Fähigkeiten verfügte, die sich sowohl auf handwerkliches Geschick als auch auf herausragende Jagd- und Kampftechnik bezogen. Der negative Beigeschmack der Täuschung wurde diesem Begriff erst viel später hinzugefügt.

Werfen wir noch einen Blick in einen anderen Kulturkreis, wo Symbole und Bilder zur Verdeutlichung komplexer Vorgänge dienen: Im Chinesischen stehen zwei Zeichen für den Begriff „Lernen“:

Das erste Zeichen bedeutet „studieren“ und wird durch ein Symbol für „Wissen anhäufen“ dargestellt. Das zweite Zeichen bedeutet „ständiges Üben“ und zeigt einen Vogel, der das Fliegen lernt und bald sein Nest verlassen wird. Auch hier ist Lernen eine Erweiterung des Wissens oder Könnens, das mit Mühe verbunden ist – aber auch mit Leichtigkeit, was durch das Bild des Fliegens zum Ausdruck gebracht wird. Erinnern Sie sich an das positive Gefühl, als Sie nach viel Mühe endlich etwas Schwieriges gelernt oder verstanden haben? Solche so genannten „flow“-Erfahrungen zeigen, dass Lernen nicht nur mit Leistung und Arbeit, sondern auch mit Glücksgefühlen verbunden werden kann. Im asiatischen Verständnis gilt das Lernen als fortlaufender Prozess, in dem nicht nur Wissen angehäuft wird, sondern sich der Lernende auch selbst weiter entwickelt. Lernen wird daher auch als „Kunst der Selbstverbesserung“ definiert.

Lassen Sie uns zusammenfassen: Lernen ist ein Prozess der dauerhaften Aneignung von Wissen oder Können. Es hat einen handlungsbezogen Aspekt, „auf der Spur bleiben, gehen“, aber auch einen kontemplativen Teil, das „Nachspüren oder Sich-Auskennen“, was Einfühlungsvermögen, Klugheit, Lust und vielleicht auch List erfordert.

Abbildung 1: Lernen

Wie lernen wir?

Erste wissenschaftliche Konzepte über den Ablauf eines Lernprozesses bauen auf einfachen Reflexen auf, also auf instinktive Anpassungen an äußere Impulse. Bei einem plötzlich auftretenden Lichteinfall schließen Sie automatisch die Augen und bei einem schrillen Ton halten Sie sich die Ohren zu, ohne dieses Verhalten gelernt zu haben. Alle Reflexe folgen einem einfachen Ablaufschema: Ein äußerer Impuls (Reiz) führt zu einer unmittelbaren Reaktion.

Abbildung 2: Reiz-Reaktion

Um 1900 führte der russische Physiologe Pawlow Experimente über die reflexartige Produktion von Magen- und Speichelsäure bei Hunden durch. Eines Tages stellte er dabei fest, dass seine Versuchstiere bereits Speichel absonderten, wenn der Labordiener mit dem Futter erschien. Schon das Auftauchen dieses Mannes führte offenbar zu der Reaktion, die Pawlow erst beim Anblick des Futters erwartet hatte. Er erforschte dieses Phänomen und ließ jedes Mal vor der Fütterung einen Gong ertönen. Nach wenigen Tagen hatten die Hunde gelernt, dieses Signal mit der Fütterung zu verbinden. Bei jedem Gong sonderten die Tiere nun Speichel ab, auch wenn gar kein Futternapf auf sie wartete. Auf der Basis eines instinktiv ablaufenden Reiz-Reaktions-Schemas (Anblick des Futters führt zu Speichelfluss) löste ein zusätzlicher, neuer Reiz (Anblick des Labordieners/Gong) die Reaktion alleine aus, selbst wenn der ursprüngliche Reiz fehlte. Gelernt wurde also eine neue Reiz-Reaktion-Verbindung. Diese Form des Lernens wurde später klassisches Konditionieren genannt. Beim klassischen Konditionieren muss sich das Individuum nicht darüber bewusst sein, dass es lernt. Seine Motivation, seine Gedanken oder Gefühle spielen hier nur eine untergeordnete Rolle. Beschrieben und erforscht wird bei solchen Versuchsabläufen nur, was außerhalb der Versuchsperson tatsächlich beobachtbar ist. Watson – ebenfalls ein Anhänger des klassischen Konditionierens – prägte den Begriff der Black Box. Hier spielen sich seiner Meinung nach die Verarbeitungsprozesse des Gehirns ab, die ihn aber nicht weiter interessierten. Das Verhalten an sich trägt für ihn und andere Anhänger des klassischen Konditionierens alle Schlüssel zum Verständnis menschlichen Handelns in sich.

Viele Lernvorgänge können mit diesem Modell jedoch nicht erklärt werden. Stellen Sie sich bitte folgende Situationen vor:

Max hat in der Schule einen Aufsatz geschrieben. Bei der Rückgabe lobt die Lehrerin seine Leistung und liest eine Textpassage vor, der die Mitschüler gespannt lauschen.

Tim hat in der Schule einen Aufsatz geschrieben. Die Lehrerin liest eine Textpassage vor, die viele Fehler enthält. Die Mitschüler lachen ihn aus.

Eva möchte surfen lernen. Ein Freund stellt ihr seine Ausrüstung zur Verfügung. Sie steigt auf das Brett und nach einigen Versuchen gelingt es ihr, sich einige Minuten aufrecht zu halten. Sie freut sich am Ende über den kleinen Erfolg.

Marie möchte surfen lernen. Ein Freund stellt ihr seine Ausrüstung zur Verfügung. Schon beim Besteigen des Brettes hat sie große Schwierigkeiten. Obwohl sie sich bemüht, verliert sie jedes Mal sofort das Gleichgewicht, wenn sie sich aufrichtet. Am Ende hat sie zahlreiche blaue Flecken und eine Schürfwunde am Kopf. Sie fühlt sich als Versagerin.

Wer wird Ihrer Meinung nach zukünftig mit mehr Erfolg Aufsätze schreiben? Wahrscheinlich Max! Und wer wird besser Surfen lernen? Wahrscheinlich Eva! Die geschilderten Situationen sind für diese beiden besser ausgegangen. Sie haben sich über den Erfolg gefreut und sehen der nächsten Gelegenheit, in der sie ihr Können zeigen können, mit Zuversicht entgegen.

Die Beobachtung ähnlicher Situationen brachte den amerikanischen Psychologen Skinner in der Mitte des vorherigen Jahrhunderts dazu, seine Theorie des operanten Konditionierens zu entwickeln. Er fand heraus, dass Ratten und Tauben, die für die Ausführung einer bestimmten Handlung belohnt wurden, diese später häufiger zeigten als Tiere, die keine Belohnung erhielten. Dieses Verhalten war mit einfachen Reiz-Reaktions-Schemata nicht mehr zu erklären. Beim Wirkverhalten, auch operantes Verhalten genannt, zeigt der Organismus eine spontane Reaktion, die positive oder negative Konsequenzen auslöst. Je nachdem ob die Konsequenz als angenehm oder unangenehm erlebt wird, steigert oder verringert sich die Bereitschaft, diese Reaktion zu wiederholen. Positive Verstärker sind dabei wirksamer als negative: Zwar verlernen bestrafte Tiere nach einiger Zeit ein nicht mehr gewünschtes Verhalten, aber sie reagieren danach unsicher und ängstlich, während sich die Lernbereitschaft belohnter Tiere steigert. Bezogen auf menschliches Lernen gerät hier die Bedeutung unterschiedlicher Reaktionen der Umwelt in den Blickpunkt des Interesses: Positive Verstärker, zum Beispiel Lob, Anerkennung oder gesteigerte Zuwendung, gelten als optimale Begleiter des Lernens. Wir bemühen uns dann am meisten, wenn wir solch angenehme Gefühle wieder erleben wollen.

Andere Lerntheorien wenden sich noch mehr den inneren Verarbeitungsvorgängen zu. Im Mittelpunkt des Interesses kognitiver Lerntheorien steht das Denken, die Problembewältigung des Individuums. Köhler beschrieb 1917 folgendes Experiment: Ein Schimpanse sitzt alleine und gelangweilt in seinem Käfig. Er lässt seinen Blick schweifen und entdeckt eine Banane, die von der Decke herunterhängt. Er bekommt Appetit, die Lust auf die Frucht wird immer größer, aber sie hängt zu hoch. Wieder schaut er sich im Käfig um. Aber da ist nichts, außer einer Kiste, die in der Ecke steht. Wie kann er zu seiner Banane kommen? Sie haben das Problem wahrscheinlich schon gelöst, und auch der Affe brauchte nicht lange, um auf die richtige Idee zu kommen: Er schob die Kiste direkt unter die Banane, kletterte auf sie und konnte so die begehrte Frucht erreichen. Köhler bezeichnete diese Art der Problembewältigung als Lernen durch Einsicht. Der Affe sah sicheinem Problem gegenüber. Er musste die ganze Situation durchdenken, um zu einer Lösung zu gelangen. Als er die Banane dann erreichte, hatte er etwas gelernt. Noch einmal würde er nicht so lange überlegen müssen, sondern gleich auf die Kiste steigen. Die Überlegung, das Denken war hier die wesentliche Komponente für das Lernen – nicht äußere Reize. Das gelernte Verhalten brauchte auch nicht mehr wiederholt zu werden. Es war eine Art „Aha“-Erlebnis, das – einmal verstanden – sofort in Wissen und Verhalten übernommen wurde. Lernen bedeutet hier die Entwicklung von Fähigkeiten zur Problemlösung. Dies geschieht weder zufällig noch durch negative oder positive Verstärkung durch die Umwelt, sondern es basiert auf Neugier und Einsicht. Kernbegriffe der kognitiven Theorie sind Sinn und Struktur. Neues Wissen wird aufgenommen, wenn es dem Lernenden wichtig und sinnvoll erscheint. Bei der Informationsverarbeitung sammelt er nicht mehr nur Fakten und Erfahrungen an, sondern er setzt sich aktiv mit seiner Umwelt auseinander.

Vertreter konstruktivistischer Theorien gehen noch weiter: Nach ihrer Ansicht bilden wir ständig neue Einordnungssysteme aus, wir „konstruieren“ uns gewissermaßen Bilder von der Welt, die zu unserer Lebenserfahrung und unseren Einstellungen passen. Erinnern Sie noch an Tim, Max, Eva und Marie? Wir hatten die Vorhersage gewagt, dass Max und Eva besser lernen und arbeiten werden als Tim und Marie. Es könnte aber auch ganz anders kommen. Stellen Sie sich vor, dass Tim felsenfest von seinen Qualitäten überzeugt ist. Davon lässt er sich auch durch das Gelächter der Klassenkameraden nicht abbringen. Im Gegenteil: Jetzt will er es allen zeigen! Das Erlebnis hat ihn dazu motiviert, sich auf den nächsten Aufsatz viel besser vorzubereiten. Menschen reagieren auf gleiche Situationen eben ganz unterschiedlich. Wie wir eine Situation bewerten, hängt von unseren ganz individuellen Voraussetzungen ab, unseren Vorstellungen über die Welt und über uns selbst. Definieren kognitive Theorien Lernen als Informationsverarbeitungsprozess, in dem verglichen, bewertet, geordnet und später assimiliert wird, ist Lernen für Konstruktivisten vor allem ein kreativer Akt. Ihrer Meinung nach verändert sich unser Wissen ständig, indem wir es an die konkreten Bedingungen der Lernsituation anpassen. Dabei werden die eingehenden Informationen aus möglichst vielen Richtungen und auf möglichst unterschiedlichen Ebenen betrachtet. Die Ausbildung dieser „Pluralitätskompetenz“ ist die Voraussetzung für eine effektive Bearbeitung von Informationen, die netzwerkartig angelegt ist. Während kognitive Theorien sich eher auf interne Verarbeitungsprozesse konzentrieren, stellen konstruktivistische Ansätze vor allem den Austausch zwischen inneren Bewertungen und äußeren Bedingungen in den Vordergrund. Das Ziel des Lernens ist hier mit erfolgreichem Handeln verknüpft. Wird abstraktes Wissen nicht auf konkrete Situationen bezogen, kann es „träge“ werden. Träges Wissen besteht aus Kenntnissen, die zwar gelernt wurden, aber nicht in den Situationen angewendet werden können, in denen sie von Nutzen wären.

Zusammengefasst hier noch einmal die vorgestellten Lerntheorien im Vergleich:

Abbildung 3: Lerntheorien

Keine dieser Theorien kann für sich allein genommen das Lernen in all seinen Facetten beschreiben oder erklären, sie bieten jedoch Anregungen für bestimmte Lernbereiche. So finden sich beispielsweise in vielen Tipps zum Auswendiglernen Elemente aus dem klassischen Konditionieren. Die Verbindung einer Information mit Assoziationen – beispielsweise die gleichzeitige Darbietung von Vokabeln und Musik – schafft neue Reiz-Reaktions-Muster, die sich tief einprägen können. Auf Erkenntnisse des operanten Konditionierens gehen zahlreiche so genannte Practice-and-Drill-Lernprogramme zurück. Üblich sind hier Frage-Antwort-Systeme, die mit Karteikarten oder auch als Computerprogramm zu bearbeiten sind. Zur „Belohnung“ brauchen hier richtig beantwortete Fragen nicht mehr wiederholt werden. Solche Programme sind besonders beliebt beim Lernen von Vokabeln. Daneben bieten kognitive Theorien Lernmethoden an, die die Strukturierung von Informationen erleichtern, zum Beispiel durch das Einordnen von Daten in hierarchische Systeme von unter- und übergeordneten Beziehungen.

In ihrer Darstellung des Lernens als Aufbau von vernetzten Strukturen kommt die konstruktivistische Theorie der Arbeitsweise des Gehirns am nächsten (vgl. Kapitel 2). Bei der Betonung des Zusammenspiels zwischen Wissen und Handeln gibt es hier auch Berührungspunkte zu Ansätzen, die Lernen als Erwerb von Kompetenzen definieren.

Fürs Leben lernen – Kompetenzen steigern

Ausbildungsziele in der Schule gehen schon lange weit über die bloße Aneignung von Wissen hinaus. So werden im Mathematikunterricht heute nicht mehr nur Grundrechenarten vermittelt, sondern auch logisches Denken und Problemlösungsverhalten trainiert. Schüler lernen im Englischunterricht nicht nur Vokabeln, sondern erwerben darüber hinaus durch die Beschäftigung mit einer anderen Kultur interkulturelle Kompetenzen.

Klippert unterscheidet zwischen Fachkompetenzen, Methodenkompetenzen, sozialen und persönlichen Kompetenzen, die in der Schule gefördert werden sollen. Die Fachkompetenz bezieht sich auf das spezifische Wissen, das vorhanden sein muss, um Klassenziele zu erreichen oder Prüfungen zu bestehen. Damit dies gelingt, muss der Lernende auf eine Vielzahl effektiver Methoden zurückgreifen können (Methodenkompetenz). Bei der Bearbeitung und der Präsentation des Wissens kommt es dann aber auch auf Kompetenzen im zwischenmenschlichen Bereich an: die Fähigkeit zur Teamarbeit oder auch sprachliches Geschick im Austausch mit Mitschülern und Lehrern (soziale Kompetenzen). Die erfolgreiche Bewältigung eines Lernprojekts stärkt am Ende die Selbstsicherheit des Schülers (persönliche Kompetenzen). In der Praxis sind diese unterschiedlichen Kompetenzbereiche nicht getrennt zu sehen, sondern wirken ineinander. Ein gesundes Selbstwertgefühl, also eine hohe persönliche Kompetenz, sollte sich auf ein entsprechendes Fachwissen stürzen, das durch effektive Lernmethoden erworben wurde. Diese Sicherheit auf fachlicher und persönlicher Ebene erleichtert dann auch die Präsentation des eigenen Wissens im Kontakt mit anderen.

In vielen Schulen werden inzwischen Methodenseminare nach Klippert angeboten. Dort lernen Schüler, sich auf unterschiedlichen Ebenen mit einem Thema auseinander zu setzen und dabei sinnvolle Techniken anzuwenden. Klippert hat für diese Art des Lernens den Begriff der Lernspirale geprägt. Dieser verdeutlicht die Richtung des Lernprozesses: Es geht nicht um die schnelle gerade Lösung nach einem Ja-oder-Nein-Schema, sondern um inhaltliche Annäherungen aus mehreren Perspektiven. Dabei zeigt der Lehrer Wege auf, weist beispielsweise darauf hin, wo Informationen zu finden sind und demonstriert Methoden. Die Aufgabe der Schüler ist es, in der Kleingruppe einen Teilbereich des Themas eigenständig zu bearbeiten. Die Ergebnisse aus diesen „Arbeitsinseln“ werden am Ende als Kurzreferat und/oder durch ein Lernplakat in der Großgruppe präsentiert.

Gemäß des von Montessori geprägten Leitsatzes: „Hilf mir, es selber zu tun!“, entsteht eine Lernatmosphäre, in der neues Wissen selbstständig und selbstverantwortlich bearbeitet werden kann. Mit Unterstützung des Lehrers kann sich der Schüler ausprobieren, eigene Wege finden und Lernergebnisse als persönliche Erfolge verbuchen. Der Kompetenzgewinn geht also weit über die Vermittlung von Techniken hinaus. Die im Training gesammelten Erfahrungen können die Schüler dann in den Fachunterricht integrieren. Die Methoden werden damit an die konkreten Bedingungen in der Praxis angepasst. Dies entspricht einer konstruktivistischen Lernauffassung, nach der der Lernende aktiv neue Informationen in bestehende Strukturen integriert, neue Wissensnetze entwirft und Strategien entwickelt, die sein Handeln zum Erfolg führen.

Kompetenztraining an der Hochschule

Der Ausbau von Kompetenzen im außerschulischen Bereich beinhaltet die Orientierung auf die spätere Berufstätigkeit: Ein Kfz-Mechaniker muss wissen, wie ein Motor funktioniert, und dieses Wissen praktisch anwenden können. Er sollte während der Ausbildung jedoch auch auf den Arbeitsmarkt vorbereitet werden. Im Idealfall werden so Theorie und Praxis eng miteinander verknüpft. Im Hochschulbereich geht es ebenfalls nicht allein um die Vermittlung von Fachwissen, sondern um die Entwicklung eines großen Spektrums an Wissen und Können, das für die Ausübung eines Berufes benötigt wird. Ausgangslage solch eines Lernprozesses ist der Wunsch, etwas zu werden, was man noch nicht ist:

Abbildung 4: Lernen für den Beruf

Um Lehrer zu sein, reichen fachspezifische Kenntnisse allein nicht aus. Die spätere Berufstätigkeit verlangt eine ganze Reihe zusätzlicher Kompetenzen, wie die Strukturierung von Unterrichtseinheiten oder die Bewältigung problematischer Situationen im Klassenzimmer. Eine fundierte Ausbildung muss all diese Aspekte berücksichtigen, um optimal auf die Praxis vorzubereiten. Im Falle des Lehramtsstudiums könnte dies zum Beispiel über die Reflexion des eigenen Lernens geschehen: Während des Studiums muss der Studierende den Lernstoff effektiv bearbeiten, sein kommunikatives Geschick in Gesprächen und Prüfungen beweisen und auf der persönlichen Seite über ausreichend Ausdauer und Selbstsicherheit verfügen. In der Rolle des Lernenden erwirbt er dabei Kompetenzen, auf die er sich als Lehrer stützen kann.

Abbildung 5: Kompetenzschema – Beispiel Lehrer

Auch ein Blick auf Bewertungsprofile in der Wirtschaft hebt die Bedeutung außerfachlicher Kompetenzen für Führungspositionen heraus. Fachliches Wissen und Können wird hier meist als selbstverständlich vorausgesetzt. Gefragt sind daneben Fähigkeiten in der Problembewältigung, dem selbstständigen Arbeiten, der persönlichen Souveränität und dem Umgang mit Kollegen – eben jenen methodischen, persönlichen und sozialen Kompetenzen, auf die schon Klippert verwiesen hat. Ein Studium bietet viele Chancen, sich in all diesen Bereichen zu profilieren und vielfältige Kompetenzen zu entwickeln: Lernprojekte müssen eigenverantwortlich organisiert und durchgeführt werden, individuelle Stärken ausgebaut und Misserfolge verarbeitet werden. Studierende lernen dabei, in vielen Bereichen kompetenter und selbstbewusster zu werden.

Übung: Erstellen Sie Ihr Kompetenzprofil

Auch für Ihre Ausbildung ist sicherlich ein breites Spektrum von Kompetenzen gefragt. Was wissen und können Sie schon? Was wollen Sie noch lernen?

Schritt: Unterteilen Sie ein leeres Din-A4-Blatt in drei Spalten: Fachkompetenz – Methodenkompetenz – soziale und persönliche KompetenzSchritt: Überlegen Sie, über welche Kompetenzen, die für Ihr Studium oder den von Ihnen angestrebten Beruf wichtig sind, Sie schon verfügen und tragen Sie diese in die entsprechenden Spalten ein.Schritt: Überlegen Sie danach, welche Kompetenzen, die für Ihr Studium oder den von Ihnen angestrebten Beruf wichtig sind, Sie noch weiter ausbauen oder sich neu aneignen wollen.Schritt: Überlegen Sie, durch welche konkreten Handlungen Sie diese Kompetenzen trainieren können.Schritt: Nehmen Sie sich für die nächste Woche mindestens eine dieser möglichen Handlungen vor.

2. LEICHTER UND EFFIZIENTER LERNEN – ABER WIE?

Effektive Lernstrategien und Arbeitsmethoden sind die Voraussetzung dafür, die Anforderungen des Studiums zu erfüllen und damit die eigenen Kompetenzen zu steigern. Bevor wir auf einzelne Techniken eingehen, lassen Sie uns einen kleinen Abstecher in Ihr Gehirn unternehmen, um herauszufinden, was dort beim Lernen eigentlich geschieht. Zurzeit herrscht hier wahrscheinlich Hochbetrieb: Sie haben das Buch aufgeschlagen und schauen auf die Seite. Über die Sehnerven gelangen die Informationen, in diesem Fall die Wörter, ins Verarbeitungszentrum des Gehirns. Dort werden sie mit dem bereits vorhandenen Wissen verglichen und bewertet. Aus einer Anreihung von Wörtern entsteht so eine Bedeutung – und letztendlich Wissen. Auf diesem Weg werden Sie zahlreiche Einschätzungen vornehmen: Wie gefällt Ihnen das, was Sie gerade lesen, ist es interessant oder eher langweilig? Haben Sie das alles schon lange gewusst, oder handelt es sich um neue Informationen? Hier reagiert Ihr Gehirn nicht mehr auf äußere Reize, sondern kommuniziert sozusagen mit sich selbst. Abgrenzungen und Bewertungen werden vorgenommen, Konstrukte gebildet, die Ihnen am Ende bei der Entscheidung helfen, was Sie in Ihre Wissensnetze aufnehmen und was Sie wieder vergessen werden.

Durch die Ergebnisse der Hirnforschung ist es heute möglich, den Prozess der Aufnahme, Verarbeitung und Abspeicherung von Informationen recht detailliert darzustellen.

Ein Blick ins Gehirn

Unser Gehirn ist hauptsächlich aus zwei Zelltypen aufgebaut: den Nervenzellen (Neuronen) und den Gliazellen, wobei letztere in erster Linie Versorgungs- und Unterstützungsfunktionen für die Nervenzellen erfüllen. Neuronen bestehen aus einem Zellkörper, von dem eine Reihe von Verästelungen abgehen, die Dendriten. Außerdem hat jeder Zellkörper einen langen Fortsatz, das Axon. Mehrere Axone bündeln sich zu Nerven, die sich über den ganzen Körper verteilen, sodass ein weit verzweigtes System zentraler und peripherer Nervenverbände entsteht.

Informationen aus der Umwelt werden zunächst durch Sinneszellen aufgenommen und dann ins Nervensystem weitergeleitet. Hat ein Neuron über den Zellkörper oder die Dendriten den Impuls einer anderen Zelle aufgenommen, bildet es ein Aktionspotenzial, das sich als elektrische Erregung auf das gesamte Axon ausweitet. Dieses besitzt an seinen Enden Verdickungen, die mit anderen Zellkörpern und Dendriten in Verbindung treten können. Das geschieht aber nicht auf unmittelbarem Wege. Vielmehr wird die elektrische Ladung in chemische Reaktionen umgewandelt. An der Verbindungsstelle, der Synapse, werden chemische Botenstoffe, die Neurotransmitter, ausgeschüttet, die auf die benachbarten Nervenzellen einwirken und so den Impuls weitergeben. Der Austausch unter den Neuronen geschieht allerdings nicht nur über die Synapsen. Seit einiger Zeit weiß man auch von kleinen Kanälen zwischen den Nervenzellen, den gap junctions. Über diese Verbindungswege können die Informationen noch schneller und direkter weitergeleitet werden. Neuronen arbeiten nicht isoliert, sondern operieren in Zellverbänden. Die Art der Aktivierung oder Hemmung mehrerer Nervenzellen erzeugt während der Bearbeitung ein neuronales Muster. Werden diese Muster schließlich dauerhaft im Gedächtnis abgespeichert, bezeichnet man sie als Engramme.

Unser Gehirn besteht aus zirka 20 Milliarden Neuronen, die fast alle schon bei der Geburt vorhanden sind. Das Gehirn eines Kindes ist allerdings wesentlich kleiner als das eines Erwachsenen – was ist geschehen? Die Zunahme an Volumen und Gewicht geschieht durch den Ausbau der Nervenverbindungen. Diese sind bei der Geburt noch schwach ausgeprägt, was sich jedoch schon in den ersten Lebensjahren rasch ändert. Kinder lernen jeden Tag und bauen dabei ihre neuronalen Netze aus. Bis zur Pubertät hat jede einzelne Nervenzelle Verbindungen zu anderen Zellen aufgebaut. In manchen Fällen steht eine Zelle mit bis zu 10.000 anderen im Kontakt. Durch fortlaufendes Training werden die Axone immer dicker und leistungsfähiger, bis sie schließlich Informationen 30- bis 40mal schneller weiterleiten können als zum Zeitpunkt der Geburt. Auch das Netz der Dendriten vermehrt sich und bildet neue Verzweigungen. Es kommt jedoch nicht nur zum Ausbau neuronaler Bahnen. Seit einigen Jahren ist bekannt, dass sich Nervenzellen auch bei Bedarf neu bilden. Das Gehirn bleibt also zeitlebens ausbaufähig und kann sich den Anforderungen der Umwelt anpassen – eine Eigenschaft, die als Neuroplastizität bezeichnet wird.

Für die Informationsaufnahme, die Verbindung zwischen Sinneszellen und Neuronen, stehen 2,5 Millionen Nervenfasern bereit; davon sind allein eine Million für jedes Auge zuständig, was die Dominanz der visuellen Wahrnehmung unterstreicht. Spitzer vergleicht die Leistungsfähigkeit des Gehirns mit der eines Computers: Über die Neuronen können wir neue Informationen mit einer Kapazität von 100 Megabyte pro Sekunde aufnehmen. Der Output, die Weiterleitung vom Gehirn zu anderen Zellen, um zum Beispiel eine geplante Bewegung auszuführen, ist mit rund 50 Megabyte pro Sekunde nicht minder beeindruckend. Unser Gehirn arbeitet also informationstechnisch wie ein Mega-Prozessor. Das sind Höchstleistungen, aber es kommt noch besser. Denn nur eine von zehn Millionen Nervenverbindungen hat Kontakt mit der Außenwelt, die restlichen ermöglichen Kommunikationsprozesse der Neuronen untereinander. Dabei kristallisieren sich recht bald individuelle Vorlieben bei der Informationsbearbeitung heraus: Manche Wege werden häufiger genutzt als andere. Während Verbindungen, die nur selten oder nie genutzt werden, allmählich verkümmern, werden andere, oft genutzte Wege weiter ausgebaut und bilden deutliche Spuren im neuronalen Netz. Durch häufiges Nachziehen dieser Spuren, zum Beispiel durch Übung und Wiederholung, verfestigen sich diese Wege. Auf diese Weise wird nicht nur Wissen fest verankert, sondern es kommt auch zum Entstehen von Gewohnheiten.

Hauptaufgabe des Gehirns ist also die interne Informationsverarbeitung. Dabei hat es einen enormen Energiebedarf: Mit einem Anteil von nur zwei Prozent am Körpergewicht verbraucht es zirka 20 Prozent der körpereigenen Energie. Das bedeutet viel Arbeit für eine kleine Nervenzelle! Aber sie bekommt auch Hilfe: Jedes Neuron besitzt zirka zehn der schon oben erwähnten Gliazellen, die es versorgen und unterstützen.

Die interne Informationsverarbeitung spielt sich vor allem in zwei Gehirnregionen ab: der Großhirnrinde (Isocortex) und dem limbischen System. Der Isocortex wird in vier Lappen unterteilt: einen Hinterhauptlappen (lobus occipitalis), einen Schläfenlappen (lobus temporalis), einen Scheitellappen (lobus parientalis) und einen Stirnlappen (lobus frontalis). In den sechs Schichten dieser Cortexbereiche werden all unser Wissen und unsere Erfahrung abgespeichert. Die Entscheidung darüber, welche Informationen behalten und welche verworfen werden, entsteht im Zusammenspiel zwischen abgespeichertem Wissen in der Großhirnrinde, Plänen und Bewertungen aus den präfrontalen Regionen und unserem limbischen System. Hier ist nicht nur der Sitz unserer Emotionen, sondern von hier aus steuert auch der Hippocampus den weiteren Bearbeitungs- und Abspeicherungsprozess. Jede Information wird eingehenden Prüfungen unterzogen: Ist es wirklich das, was gesucht wird? Passt es zu den eigenen Zielvorstellungen und Werten? Und wenn ja – wo kann es am besten untergebracht werden? Beeinflusst werden diese Entscheidungen in sehr hohem Ausmaß von gefühlsmäßigen Bewertungen. Gelingt es, die Informationen mit positiven Emotionen zu verbinden, geht das Bearbeiten schneller und leichter. Aber nicht nur das: Emotional besetzte Inhalte werden auch viel besser erinnert als „neutrale“ Daten. Die Gefühle bergen jedoch auch Gefahren, können zu Fehleinschätzungen führen oder auch – im Falle negativer Emotionen wie Angst oder Stress – Lernprozesse blockieren. Nichtsdestotrotz ist gerade dieser Austauschprozess das Einzigartige an der Informationsverarbeitung des menschlichen Gehirns.

Rechte und linke Gehirnhälfte

Von oben betrachtet besteht das Gehirn aus zwei gleichen Teilen. Beide Hälften sind über ein Bündel von 200 bis 300 Millionen Nervenfasern miteinander verbunden, dem so genannten Balken (Corpus callosum). Bei der Informationsaufnahme und Bearbeitung steht jede Hälfte für unterschiedliche Herangehensweisen. Die rechte Gehirnhälfte, auch rechte Hemisphäre genannt, ist die Heimat der Bilder, Formen und Muster. Sie arbeitet oft sprunghaft und intuitiv, hat das Gesamte im Auge und verliert sich nicht im Detail. Statt der Unterschiede beachtet sie die Gemeinsamkeiten und Verbindungen. Sie steht auch für Kunst, Musik, Kreativität und Phantasie. Die linke Hemisphäre ist der Sitz der Sprache und des logischen Denkens.

Sie sucht nach Ursache-Wirkung-Prinzipien und arbeitet linear, am liebsten Schritt für Schritt. Diese Hälfte steht unter anderem für Naturwissenschaften.

Linke Gehirnhälfte

Rechte Gehirnhälfte

Sprache

Bilder

Detail

Überblick

Logik

Intuition

linear

global

zeitlich

räumlich

schrittweise

gleichzeitig

Abbildung 6: Linke und rechte Gehirnhälfte

Neben diesen schon seit langem geläufigen Zuordnungen wurde in den letzten Jahren ein enger Zusammenhang zwischen der rechten Gehirnhälfte und dem Erkennen von Emotionen festgestellt. Sie gilt außerdem als Sitz unserer Träume. Bei Menschen mit durchtrenntem Balken konnte durch EEG-Messungen in der rechten Hemisphäre aufgrund von REM-Phasen ein Traumgeschehen nachgewiesen werden, an das sich die Versuchspersonen später nicht mehr erinnerten. Da nach Durchtrennung des Balkens keinerlei Austauschprozesse zwischen den Gehirnhälften mehr möglich waren, konnte die Information über den Traum nicht an die linke Seite weitergeleitet und damit nicht bewusst verarbeitet werden. Die Versuchspersonen träumten zwar, wussten es aber nicht. Ergebnisse wie diese haben dazu geführt, die linke Hemisphäre als Sitz des Bewusstseins anzusehen, während die rechte Seite eher mit unbewussten Aufnahme- und Verarbeitungsprozessen in Zusammenhang gebracht wird.

Wie kommt es zur Dominanz einer Gehirnhälfte? Bei Kindern ist bis zum Alter von vier Jahren noch keine Bevorzugung der einen oder anderen Seite festzustellen. Wenn Teile einer Hälfte durch Unfall oder Operation ausfallen, oder eine ganze Gehirnhälfte fehlt, übernimmt die andere Seite deren Funktion. Ab dem vierten Lebensjahr ist der Balken ausreichend ausgebildet, um weitgehende Austauschprozesse zu ermöglichen. Erst ab diesem Zeitpunkt zeigen sich Bevorzugungen einer Seite, die sich bis zum Alter von neun Jahren abschließend manifestieren. Ergebnisse der Zwillingsforschung legen nahe, dass die Dominanzprägung genetisch festgelegt ist. Durch entsprechendes Training kann ein Funktionsbereich zwar ausgebaut werden, eine Neigung zu Natur- oder Geisteswissenschaften, zu Musik oder Mathematik scheint nach dem Stand der heutigen Forschung jedoch angeboren zu sein. Nur in Einzelfällen ist eine solche Neigung so extrem ausgeprägt wie bei den Inselbegabten oder Savants