Leid kreativ wandeln - Petra Rechenberg-Winter - E-Book

Leid kreativ wandeln E-Book

Petra Rechenberg-Winter

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Beschreibung

Es ist der persönliche Dialog auf der Zwischenwelt des Papiers, der es ermöglicht, existenziellen Eindrücken und schmerzhaften Erfahrungen eine Sprache zu geben und sich heilsam mit Erlittenem auseinanderzusetzen. Der hier vorgestellte integrative Ansatz stellt den Schreibprozess selbst und weniger das Produkt in den Mittelpunkt und bietet mit seinen spielerischen Zugängen überraschende Formen der Selbstbegegnung. Erlebtes lässt sich autobiografisch in erweiterten Facetten erzählen oder fiktiv distanziert dargestellt bearbeiten. Eingebettet in wissenschaftliche Erkenntnisse und schreibtheoretische Grundlagen bietet das Buch vielfältige Methoden der Expedition in die eigene Schreibwelt, poesieorientierte Übungen für Trauergruppen und modellhaft ein Schreibgruppenangebot für trauernde Menschen. Ergänzend illustrieren Praxiseinblicke, dass und wie Schreiben wirkt.Zu diesem Titel gibt es digitales Zusatzmaterial:

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Die Buchreihe Edition Leidfaden ist Teil des Programmschwerpunkts »Trauerbegleitung« bei Vandenhoeck & Ruprecht, in dessen Zentrum seit 2012 die Zeitschrift »Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer« steht. Die Edition bietet Grundlagen zu wichtigen Einzelthemen und Fragestellungen im (semi-)professionellen Umgang mit Trauernden.

Petra Rechenberg-Winter

Leid kreativ wandeln

Biografisches Schreiben in Krisenzeiten

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 5 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-647-99737-7

Umschlagabbildung: Christiane Knoop, Feder im Sand

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlichgeschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällenbedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.Produced in Germany.

Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Einladung

Teil 1: Die Wirkkraft poesieorientierter und bibliotherapeutischer Zugänge – Wendepunkte, Wendezeiten

Schreiben wirkt

Biografisches und kreatives Schreiben

Leben neu erzählen

Erfahrungen fiktiv erforschen – eine Erzählung schreiben

Begegnungen im Lesen – bibliotherapeutische Zugänge nutzen

Teil 2: Methodische Werkstatteinblicke

Biografisches Schreiben in der Qualifizierung von Begleitern trauernder Menschen

Klassische Schreibmethoden mit Praxisbeispielen

Schreibkommunikation

Verluste ändern das gesamte Leben

Generationale Trauer

Teil 3: Schreibwelten in der Trauerbegleitung eröffnen

Expedition in die eigene Schreibwelt

Schreiben in Trauertreffen

Schreibgruppe für trauernde Menschen

Ausklang

Literatur

Code für Downloadmaterial

»Jeder Mensch ist eine einzigartige Erzählung, die sich unaufhörlich, unbewusst (…) durch seine Wahrnehmungen, seine Gefühle, seine Gedanken und seine Handlungen weiterentwickelt (…)

Der Mensch braucht eine solche Erzählung (…) um seine Identität, ein Selbst zu bewahren.

Wenn wir also einen Menschen wirklich kennenlernen wollen, so fragen wir nach seiner Geschichte. Biologisch und physiologisch unterscheiden wir uns nicht sehr voneinander, historisch jedoch, als gelebte Erzählung, ist jeder von uns einzigartig.

Um wir selbst zu sein, müssen wir uns selbst haben; wir müssen unsere Lebensgeschichte besitzen oder sie, wenn nötig, wieder in Besitz nehmen. Wir müssen uns erinnern an unsere innere Geschichte, an uns selbst. Der Mensch braucht eine solche fortlaufende innere Geschichte, um seine Identität, sein Selbst zu bewahren.«

Oliver Sacks, Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte(1991, Kap. 12)

Einladung

»Denn, um es endlich einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« Schillers Wort (1795) ist oft zitiert und nach wie vor aktuell. Als bedeutsamer Aspekt alltäglicher Lebenskunst führt uns spielerische Auseinandersetzung in die Räume der Kreativität, in denen wir nicht lösbar erscheinende Zumutungen des Lebens ein wenig anders betrachten können. Hier müssen wir nicht gleich Stellung beziehen, vielmehr ist vielfältiges Probehandeln möglich, so lange, bis ein neuer Weg erscheint und sich bisher nicht gekannte Handlungsmöglichkeiten eröffnen.

Spiel ist in diesem Sinn die ernsthafte künstlerische Auseinandersetzung mit Widrigkeiten, um einige von den in ihnen verborgenen Schätzen zu bergen und etwas von der dem Leben inneliegenden Weisheiten zu erspüren.

Im Kontrast zur Welt der Arbeit, der Pflicht, der notwendigen und entstehenden Erfordernissen des Lebens eröffnet sich in der Kunst ein eigener und anderer Raum: eine autonome Welt des zwanglosen, freien Spiels. Sie lädt ein, uns zumindest partiell vom Druck der Ereignisse entlastet zu erleben und hier Bruchstücke unserer Existenz neu zu ordnen und eventuell zu einem harmonischen Ganzen zu verbinden. Spiel führt in eine Gegenwelt der Kunst, doch nicht, um mich aus dem Alltag herauszuschleichen, sondern vielmehr, um mich zeitweise zurückzuziehen. Hier kann ich mich mir selbst zuzuwenden, mich sammeln, zu mir finden und ganz allmählich nächste machbare Schritte erkennen.

Kreatives biografisches Schreiben versteht sich als ein solch künstlerisches Feld des kraftvollen Spiels und einer Form der Selbstbegegnung, in der ich mich schreibend selbst überrasche. Indem ich Kapitel meiner Erfahrung nochmals und wieder neu erzähle, setze ich mich aktiv mit ihnen auseinander. Ich fühle mich nicht länger als Opfer der Verhältnisse, vielmehr gestalte ich in dem mir möglichen Rahmen meine Biografie, wie beispielsweise Portia Nelson in ihrer

»Autobiografie in fünf Kapiteln

Kapitel EinsIch gehe die Straße entlang.Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.Ich falle hinein.Ich bin verloren … Ich bin ohne Hoffnung.Das ist nicht meine Schuld.Es dauert endlos, wieder herauszukommen.

Kapitel ZweiIch gehe dieselbe Straße entlang.Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.Ich tue so, als sähe ich es nicht.Ich falle wieder hinein.Ich kann nicht glauben, schon wieder am gleichen Ort zu sein.Aber es ist nicht meine Schuld.Immer noch dauert es sehr lange, herauszukommen.

Kapitel DreiIch gehe dieselbe Straße entlang.Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.Ich sehe es.Ich falle immer noch hinein … aus Gewohnheit.Meine Augen sind offen.Ich weiß, wo ich bin.Es ist meine eigene Schuld.Ich komme sofort heraus.

Kapitel VierIch gehe dieselbe Straße entlang.Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.Ich gehe darum herum.

Kapitel FünfIch gehe eine andere Straße.«Portia Nelson (1993)

Biografisches Schreiben verlangt Selbstachtsamkeit und befördert diese gleichermaßen. Es geht dabei keinesfalls um Leistungen, wie wir sie aus unserer Schulzeit erinnern. Kein Rotstift ist in der Nähe, und auch strenge Mienen und miese Zensuren haben hier nichts zu suchen, sondern bleiben in der Vergangenheit. Jetzt geht es allein um spielerisches Schreiben, nicht um ein gefordertes Ergebnis. Der persönliche künstlerische Prozess einer Begegnung mit sich selbst steht im Mittelpunkt. Was uns beeindruckt, verlangt nach Ausdruck. Und Schreiben bietet diesen Zugang achtsamer Selbstzuwendung, aufmerksamer Selbstbegegnung und freundlicher Selbstbetrachtung.

Damit erweist sich biografisches Schreiben auch als wirkungsvolles Instrumentarium für Menschen in existenziellen Krisen, für Trauernde, denen Lebensbedeutsames entrissen wurde, und für die vor Leid Sprachlosen. Wenn nichts mehr ist, wie es war, und das Leben in seinen Grundfesten erschüttert ist, meine Lebensentwürfe mich nur noch als Scherben umgeben und ich keinen Schritt mehr weiter weiß, bietet Schreiben eine Möglichkeit, mich meiner selbst und der Welt auf kreative Weise zu nähern, mich auszudrücken und in eine zerstörte, verstörende Welt (zurück) zu finden.

Die Heilkraft von Sprache und Schrift ist seit langem bekannt. Als magische Formeln und Zusprüche, Psalmen und Gebete, Prophezeiungen, Segnungen oder Bekenntnisse verdichten sie Menschheitserfahrungen und bieten sich einer individuellen Durcharbeitung an. Aussprechen, was quält, und die Gefahr beim Namen nennen, rettete schon die Königin, als im Märchen das Rumpelstilzchen sie in ihrem Lebensnerv bedrohte und nach ihrem Kind trachtete.

Sich mit Worten den Gefahren stellen, entfaltet gestaltende Kraft. Schreiben schafft Bedeutung und damit Wirklichkeit, »eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen«, sagt Wittgenstein in seinen »Philosophischen Untersuchungen« (zitiert nach Schärf, 2012, S. 147). So ist Schreiben immer schon als Entwurf einer Lebensform zu verstehen, wie beispielsweise im Tagebuch aufgezeichnet und protokolliert. Bereits hier realisiert sich das Welt erzeugende Prinzip aller künstlerischen Handlungen. Sprache ist dann nicht nur ein Werkzeug, sondern nicht selten sind wir schreibend das ihre.

An dieser Stelle möchte ich Sie einladen, diesem Schreiben als einem work in progress konkret nachzuspüren und sich Ihrem eigenen Schreibprozess zuwenden.

Schreibimpuls zu DunkelLicht

Wenn Sie das Wort DunkelLicht lesen, welche Bilder tauchen bei Ihnen auf? Welche Erinnerungen an Zeiten, in denen dieser eigenwillige Begriff passen könnte? Vielleicht meldet sich auch ein für Sie passenderes Wort, dann nehmen Sie bitte dies für die folgenden Schreibschritte auf:

  Wo erkenne ich zarte Lichter oder kräftiges Licht in meinem Dunkel?Erstellen Sie eine spontane Liste dunkler Erfahrungen und wählen Sie daraus eine Situation, die aktuell bedeutsam ist. Aber vielleicht möchten Sie sich auch erst einmal langsam ans Schreiben annähern und sich mit einer länger zurückliegenden Erfahrung befassen oder einer, die Ihnen weniger wichtig erscheint? Beginnen Sie mit dem, was Ihnen am Leichtesten fällt.

  Was verdunkelt(e) in dieser ausgewählten Situation mein Leben?Schreiben Sie, was Ihnen in sieben Minuten assoziativ einfällt. Dann lesen Sie Ihre Notizen und ergänzen, was Ihnen jetzt noch einfällt.

  Was hat es mir erleichtert? Wer hat mir geholfen?Beschreiben Sie kurz und stichwortartig, woran Sie erkennen, dass Ihnen etwas hilfreich ist (war). Im nächsten Absatz notieren Sie Gegebenheiten und Menschen, die Sie unterstütz(t)en.

  Wie genau sieht (sah) diese Hilfe aus?Beschreiben Sie diese so detailliert wie möglich.

  Was verbessert(e) sich dadurch?Etwas hat(te) sich nun verändert. Vielleicht waren es Kleinigkeiten, die erst auf den zweiten, dritten oder vierten Blick zu erkennen sind? Alles, was Ihnen einfällt, ist bedeutsam. Erzählen Sie schreibend und versuchen Sie sich dabei im Freewriting, bei dem Sie ohne Unterbrechung all das schreiben, was sich in Ihnen meldet. Sollten Sie ins Stocken geraten: kein Problem. Sie beginnen mit dem ersten Satz nochmals, bis er sich von selbst weiterschreibt.

Wie geht (ging) es danach weiter bzw. wie sollte es weitergehen? Was entwickelt(e) sich daraus? Und wenn es sich um eine aktuelle Situation handelt, wie wünschen Sie sich, dass sie sich fortsetzt, was möchten Sie darüber in einem Jahr schreiben?

Nach diesen einzelnen Schritten schreiben Sie nun Ihre eigene Entwicklungsgeschichte in einem Brief an sich selbst. Bewahren Sie ihn an einem geschützten Ort auf, wo nur Sie Zugang haben, um ihn später wieder lesen zu können. Gibt es einen bestimmten Zeitpunkt, an dem Sie sich daran erinnern möchten? Dann notieren Sie sich an diesem Datum in Ihrem Kalender einen entsprechenden Hinweis: Brief lesen!

In diesem Buch geht es also um Aspekte der Kunst als ein Überlebensmittel, mit dem wir schreibend unsere seelischen Widerstandskräfte stärken, und um das Gestaltschaffende des biografischen Schreibens, indem wir uns Erlebtes erzählerisch zur Selbstaufklärung vorlegen.

Dieses Buch verbindet wissenschaftliche Erkenntnisse mit methodischen Umsetzungen und vielfältigen Schreibimpulsen. Praxisbeispiele illustrieren mögliche Einsatzfelder, ausgewählte literarische Texte ergänzen die Materialsammlung, die sich beim biografischen Schreiben mit trauernden Menschen bewährt haben. Gleichzeitig sprechen sie natürlich auch meine Schreibeinladung an Sie als Lesende aus.

Teil 1: Die Wirkkraft poesieorientierterund bibliotherapeutischer Zugänge –Wendepunkte, Wendezeiten

Wenn sich das Leben entscheidend wendet, es uns den Boden unter den Füßen wegzieht und wir in tiefe Nöte stürzen, empfinden wir das als existenzielle Krise. Wir erleben ein belastendes Ungleichgewicht zwischen der immensen persönlichen Bedeutung des Problems und den vergleichsweise unzureichenden Bewältigungsmöglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen. Wir wissen uns nicht zu helfen, fühlen uns dieser unbeherrschbar erscheinenden Situation in keiner Weise gewachsen und erleben uns inkompetent, sie zu meistern. Wir fühlen uns in unserem eigenen Leben nicht mehr sicher und in unserer Identität bedroht. Bisherige Erfahrungen, Orientierungen, Ziele und Werte sind in Frage gestellt, sie tragen nicht mehr. Doch an was sich dann halten?

Verena Kast sieht in dieser zugespitzten Situation auch die darin verborgenen Chancen (Kast, 2009). In Krisen müssen wir uns neu ausrichten, wir haben gar keine Wahl. Neue Fähigkeiten müssen entdeckt oder alte wiederbelebt werden. Künstlerische Arbeiten sind ein Beispiel dafür, diese tiefgreifenden Eindrücke in Ausdruck zu verwandeln. In seinem Song »Mensch« singt Herbert Grönemeyer vom Tod seiner Frau, Eric Clapton in »Tears in Heaven« vom Verlust seines Sohnes. Salvador Dalí bearbeitet in seinem »Bildnis meines toten Bruders« dessen Verlust, der ihn von Geburt an begleitete, denn sein Bruder Salvador starb neun Monate vor seiner Geburt.

Auch der Tanz transportiert Gefühle und macht Trauer, Schmerz, Verzweiflung, Wut und Hoffnung sichtbar. Tanzend bewegen wir, was uns bewegt, und schaffen Verbindungen in andere Erfahrungsräume und bisher unerschlossene Ebenen. Die Tänzerin Anna Helprin verarbeitet in ihrer Choreografie »Intensive Care. Reflections on Death and Dying« ihre persönlichen Erfahrungen mit Krankheit und bevorstehendem Tod auf einer Intensivstation (Wittmann, Scham und Land, 2013, Bildtafel XVIII). Als Schriftstellerin greift Marie-Luise Kaschnitz auf die Lyrik zurück:

»Kein Zauberspruch. Ad Infinitum

Alle, die fortgehendurch die Glastür aufs Rollfeld,durch die Bahnhofssperre,die sich umdrehen, winkenderen Blicke zu Boden sinken,deren Gestaltenlangsam undeutlich werden,alle sind DU.Du stehst bei mir,wendest dich ab, gehst fort,wirst kleiner und kleiner.Seit wann?Seit dein Tod mir am Hals hing,mir die Kehle zudrückte,stehst du immer wieder bei mir,wendest dich ab, gehst fort,den Bahnsteig entlang,rollfeldüber,wirst kleiner und kleiner,stehst da,wendest dich ab.«Marie-Luise Kaschnitz (zitiert nach Kutter, 2010, S. 196)

Schreiben wirkt

Als Menschen unseres Kulturkreises und einer hochkomplexen Gesellschaft sind wir beständig aufgefordert, uns in diversen Spannungsfeldern zu verhalten. Im Bemühen um eine persönlich sinnstiftende Balance schauen wir uns inmitten vielfältigster Möglichkeiten nach Orientierungspunkten um. Wir begegnen dabei allerlei Widersprüchen, pendelnd zwischen den Polaritäten von Veränderung und Beständigkeit, Geschwindigkeit und Verlangsamung, Entäußerung und Zentrierung, Anspannung und Entspannung. Wie das jeweils zu leisten ist, hat jeder Mensch für sich individuell herauszufinden. Unsere individuumszentrierte Orientierung verlangt dem einzelnen Menschen ab, was gruppenorientierte Gemeinschaften kollektiv regeln.

In Krisenzeiten spüren wir diese Herausforderungen besonders deutlich, erleben uns schmerzhaft auf uns selbst zurückgeworfen, möglicherweise ohne verlässliche Perspektiven, an denen wir uns ausrichten könnten. Wir erleben uns als auf uns allein gestellt, was meist noch das subjektiv gefühlte Leid vergrößert.

Begrenzung erweitern

Eine Krise (griech. krisis, Entscheidung) ist eine problematische Lebenssituation, in der das bisherige Verhaltensrepertoire nicht mehr ausreicht, um sie zu lösen. Es handelt sich um einen Wendepunkt oder besser eine Wendezeit, in der sich mitunter das gesamte Leben wendet bzw. von uns gewendet und neu ausgerichtet werden muss. Eine Krise ist ergebnisoffen und endet nicht zwangsläufig in einer Katastrophe. Nicht die Krise per se ist schlimm, sondern die befürchtete, drohende, erwartete Katastrophe, also der negative Verlauf einer Krise.

Gefühlt lassen sich Krise und Katastrophe nicht so ohne weiteres unterscheiden. In der Krise die in ihr verborgene Entwicklungschance zu erkennen, wird von den meisten Menschen in ihrer akuten Situation als unzumutbares Gedankenspiel erlebt. Oftmals ist es erst zu einem viel späteren Zeitpunkt möglich, retrospektiv die Weichenstellung aus einer überstandenen Krisensituation zu erkennen und die darin enthaltenen Erfahrungen als Lerngeschenke zu würdigen. Erst einmal ist ein solcher Wendepunkt ein überraschendes und überforderndes Geschehen. Schmerzhafte Gefühle, Sinnfragen, Ängste und Hoffnungen, Sehnsucht und radikale Realität bestimmen den chaotisch erlebten Alltag.

Reichen die eigenen Möglichkeiten hier nicht mehr aus, suchen wir Menschen nach einem unterstützenden Du, einem Gegenüber, das unserer verhängnisvollen Situation standhält und uns darin achtsam begleitet, unsere persönlichen Kräfte zu beleben, Fähigkeiten zu bergen und die neuen Einstellungen und Verhaltensweisen zu entwickeln, die uns die Krise abverlangt. Nicht ohnmächtig ausgeliefert, sondern aktiv unser Leben mit zu gestalten, mit dem Wendepunkt gemeinsam das zu wenden, was nicht mehr trägt.

Damit sind Fähigkeiten gefragt, die unseren Blick über seine bisherige Begrenzung hinaus erweitern, die uns andere Zusammenhänge als bisher erkennen lassen und uns mit Lösungsideen beschäftigen, an die wir bisher gar nicht zu denken vermochten. Um solche Perspektiverweiterungen zu erlangen, sind wir Menschen anthropologisch mit der Kreativität ausgestattet. Sie ist unsere ureigene Quelle hilfreicher Visionen, neuer Betrachtung und potenzieller Lösungsansätze.

Künstlerische Zugänge bieten entsprechende Konzepte. Sie eröffnen geschützte Räume kreativer Auseinandersetzung und stellen dafür gezielte methodische Verfahren zur Verfügung. Dabei kann es sich um musische, gestalterische, bewegungsaktivierende oder sprachliche Ausdrucksformen handeln oder um intermediale Kombinationen, die mehrere Ansätze in einem künstlerischen Schaffensprozess verbinden.

Sollte sich bei Ihnen an dieser Stelle ein innerer Kritiker melden, der Sie daran erinnert, dass Sie bereits in der Schule erkennen mussten, das Ihr künstlerisches Talent bestenfalls mittelmäßig ist, dann widersprechen Sie ihm bitte jetzt. »Jeder Mensch ist ein Künstler«, erklärte Joseph Beuys (in: Richter, o. J.) und machte darauf aufmerksam, dass in jedem von uns die vielfältigsten kreativen Potenziale stecken, den Lebensherausforderungen zu begegnen. Kunst ist für ihn eine anthropologische Konstante, der Punkt, aus dem heraus etwas in die Welt kommt, weil der Mensch seine körperlichen oder geistigen Fähigkeiten einsetzt. Die kreativen Kräfte des Irrationalen, des Poesievollen transzendieren das unmittelbar Sichtbare. Sie stimulieren uns, verhärtete Strukturen aufzuweichen. Sie verpflichten zur Utopie als die Möglichkeit, etwas vorwärtszubewegen.

Expressive Arts

Künstlerische Zugänge fördern die Produktivität im Menschen und bringen Fähigkeiten zum Ausbruch und Ausdruck, die andere Dimensionen eröffnen. »Make the secret productive«, appelliert Beuys (in: Richter, o. J.), mach das Geheime produktiv, lebe das Paradox der realen Utopie!

Kunstorientierte Konzepte entwickelten sich in den USA seit den 1970er Jahren unter dem Begriff expressive art therapy (Eberhart und Knill, 2009). Dieses umfassende Verständnis bezieht alle künstlerischen Zugänge wie Tanz, Schauspiel, Musik, Bildende Kunst und Poesie ein, dienen doch alle mit ihrem jeweiligen gestalterischen Experimentieren der individuellen Spielraumerweiterung. Spielerisch-künstlerisch bieten sie eine andere Wirklichkeit, die, von einer andersartigen Logik geleitet, ein Handeln erlaubt, das weniger durchs Reflektieren als durch Gestaltung die tiefen Zusammenhänge erkennen lässt. Damit ist jedes Werk in sich eine einmalige Lösung, aus dem Nichtwissen heraus entstanden im aktiven Tätigsein. Es ist ein Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit (Heidegger, 1960 S. 74). Und damit wird es zum Erarbeiten einer tragfähigen eigenen Wirklichkeit.

Im Gebiet der Sorge, dem Zustand der Notenge (Eberhart und Knill, 2009, S. 41) erleben wir uns in die Enge getrieben, steckengeblieben oder ausweglos in eine Sackgasse getrieben. Wir fühlen uns nicht mehr im Vollbesitz unserer Fähigkeiten, meinen uns von unseren potenziellen Möglichkeiten abgeschnitten, spüren uns persönlich unfähig und unerträglich klein. Wir schauen uns nach hilfreichen Geistern um, wünschen uns starke Retter herbei und suchen unsere Umgebung nach tatkräftigen Helfern ab. Dabei soll ja der Schlüssel beim Hilfesuchenden selbst liegen. Angefragte professionelle Berater wissen das und bieten begegnungsmutig eine andere Sprache und neue Betrachtungszugänge an, sie kennen kreative Formen gegen den Spielraummangel. Sie unterstützen mittels künstlerischen Handelns eine Art Brückenbau zwischen den Wirklichkeiten von Außenwelt und inneren Potenzialen – eine Brücke, die aus Notengen herausführt.

Poesietherapeutische Forschungsergebnisse

In diesem Buch geht es um die schreibenden Zugänge, das Spiel mit Worten und das Ringen um Sprache angesichts des Unaussprechlichen. Biografisches und kreatives Schreiben als prozessbetontes Verfahren, bei dem weniger das Ergebnis als viel mehr der erweiternde Gestaltungsprozess an sich im Mittelpunkt steht, versucht als kreativer Weg, den subjektiv erlebten Zustand eines Menschen zu bessern und seine schöpferischen Potenziale zu fördern. Es umfasst verschiedenste Schreibformen, wie das (auto-)biografische Schreiben, das expressive, intuitive, kreative, therapeutische und assoziative, die in der neueren Fachliteratur meist unter dem Sammelbegriff kreatives Schreiben zusammengefasst sind.

Internationale poesietherapeutische Forschungen belegen deren Wirksamkeit in den Fachbereichen Psychiatrie, Psycho therapie, Psychosomatik, Gerontologie und Sozialer Arbeit. Auch in diversen Grenzsituationen des Lebens hat sich Schreiben als hilfreich für die persönliche Neuorientierung erwiesen. Besonders das biografische Schreiben erwies sich als förderlich (Heimes, 2012). Ob in der Einzelarbeit oder im Gruppensetting, ambulant oder stationär, die poesietherapeutischen Verfahren trugen signifikant zur Verbesserung der empfundenen Lebenssituation der Probanden bei. Besonders unsichere und zurückhaltende Menschen profitierten, ebenso diejenigen, denen es schwerfiel, ihre Gefühle zu erkennen, zu benennen und zu regulieren. Menschen mit festen Denkmustern gelang es, schreibend neue Perspektiven zu erproben und ihren mit Gedanken- und Gefühlsunterdrückung einhergehenden Stress zu vermindern.

Untersuchungen zur Schreibfrequenz konnten nachweisen, dass bereits zweiminütiges Schreiben eine Katalysatorwirkung haben kann, dass jedoch die positiven Wirkungen des Schreibens umso größer waren, je öfter und länger geschrieben wurde. Doch auch Stimmungsverschlechterungen und zunehmende körperliche Beschwerden zeigten sich im unmittelbaren Anschluss an die Schreibinterventionen, die wenige Stunden später jedoch wieder abklangen.

So ist wie bei allen Interventionen auch beim Einsatz kreativer Schreibimpulse immer wieder bei den Schreibenden nachzufragen, wie deren Erleben ist, ob sie sich eher in eine sorgenvolle Situation hineinschreiben oder positive Wirksamkeitsunterschiede bei sich wahrnehmen. Es gilt, aufmerksam zu klären, ob das Schreiben als persönlich hilfreich wahrgenommen wird, Sprache als Spiel mit Ahnungen und Möglichkeiten genutzt werden kann und probeweises Pläneschmieden ermöglicht. Wirkt sich hingegen Schreiben belastend, erschwerend oder sogar retraumatisierend aus, ist dieser Zugang für diesen Menschen und zumindest zu diesem Zeitpunkt ungeeignet.

Schreibimpuls zu dem Gedanken Leben bedeutet, eine eigene Geschichte hervorzubringen (Stölzel, 2014, S. 71)

  Sammeln Sie persönliche Ereignisse und Erlebnisse, die Ihnen spontan einfallen.

  Ordnen Sie diese anschließend nach Ihrer heutigen Bewertung in Glücksgeschichten und Unglückserfahrungen.

  Wählen Sie eine aus, die Sie nun nacheinander aus unterschiedlichen Perspektiven notieren:

•  als Ich-Erzählerin1,

•  als allwissende Beobachterin,

•  als eine andere Beteiligte oder als ein anwesender Gegenstand.