Leo Trotzki und der Kampf für Sozialismus im 21. Jahrhundert - David North - E-Book

Leo Trotzki und der Kampf für Sozialismus im 21. Jahrhundert E-Book

David North

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Beschreibung

Leo Trotzki nimmt in der Geschichte des Sozialismus im 20. Jahrhundert eine herausragende Stellung ein. Der Theoretiker der permanenten Revolution hat gemeinsam mit Lenin die Oktoberrevolution von 1917 angeführt. Im Bürgerkrieg von 1918–1921 befehligte er die Rote Armee, die der Sowjetunion das Überleben sicherte. Als unversöhnlicher Gegner der stalinistischen Konterrevolution gründete er 1938 die Vierte Internationale. Trotzki ist jedoch keine rein historische Figur, deren Bedeutung sich auf die Umstände seiner Zeit beschränkt. Sein politisches Vermächtnis bezieht sich direkt auf die sozialen Kämpfe des neuen Jahrhunderts, mögen sich Stalinisten, Imperialisten und unzählige Akademiker noch so sehr abmühen, Trotzki zu diskreditieren. Nach der Auflösung der Sowjetunion, der Restauration des Kapitalismus in China und der Diskreditierung des Stalinismus und seiner maoistischen Variante erweist sich der Trotzkismus als der Marxismus und revolutionäre Sozialismus des 21. Jahrhunderts. „Trotzkis Platz in der Geschichte bleibt bestehen und seine Bedeutung nimmt zu, weil die Grundtendenzen und Merkmale des heutigen Kapitalismus und Imperialismus seiner Analyse der Dynamik der globalen kapitalistischen Krise und der Logik des globalen Klassenkampfs entsprechen“, schreibt David North. „Seine Schriften – unverzichtbar für das Verständnis der heutigen Welt – sind noch genauso frisch wie am Tag ihrer Entstehung.“

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David North

Leo Trotzkiund der Kampf für Sozialismusim 21. Jahrhundert

Mehring Verlag

Vorwort

VorwortVorwort

Die in diesem Band zusammengestellten Texte entstanden über einen Zeitraum von 40 Jahren. Der erste Essay, »Leo Trotzki und die Entwicklung des Marxismus«, wurde erstmals im Spätherbst 1982 veröffentlicht. Die Texte in den letzten beiden Kapiteln – ein Brief an eine neu gegründete Organisation junger Trotzkisten in Russland, der Ukraine und anderen Ländern der ehemaligen UdSSR und ein Aufruf zum 1. Mai – entstanden in den ersten Monaten des Jahres 2023.

Obwohl zwischen dem ersten und dem letzten Dokument viele Jahre liegen, sind sie durch einen zentralen Gedanken miteinander verbunden: dass Leo Trotzki in den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die bedeutendste Figur in der Geschichte des Sozialismus war und sein Vermächtnis bis heute die unverzichtbare theoretische und politische Grundlage des fortdauernden Kampfs für den Sieg des Weltsozialismus bildet. Diese Einschätzung von Trotzkis Platz in der Geschichte und seiner bleibenden politischen Bedeutung wurde durch die Ereignisse der letzten 40 Jahre eindrucksvoll bestätigt.

Beginnen wir mit der Tatsache, dass Trotzkis Verurteilung des Stalinismus als konterrevolutionäre Kraft von der Geschichte bestätigt worden ist. Als der erste Essay in diesem Band geschrieben wurde, gab es noch die Sowjetunion und die mit ihr verbundenen stalinistischen Regime in Osteuropa. Die stalinistischen Parteien, die mit der Kremlbürokratie verbunden waren, brüsteten sich mit ihren Millionen Mitgliedern. Trotzkis Vorhersage, dass die stalinistische Bürokratie den Kapitalismus wiederherstellen und das verrottete Gebälk des Regimes unter dem Druck der nationalen wirtschaftlichen Autarkie, der Inkompetenz und der Lügen zusammenbrechen werde, wurde von den kleinbürgerlich-akademischen Apologeten des »real existierenden Sozialismus« als »trotzkistisches Sektierertum« oder gar als »antisowjetische Propaganda« abgetan.

»Leo Trotzki und die Entwicklung des Marxismus« entstand in den Monaten, in denen der langjährige und zunehmend senile Sowjetführer Leonid Breschnew von seinem Krankenbett in die Nekropole an der Kremlmauer auf dem Roten Platz wechselte. Die stalinistische Bürokratie übertrug ihre Loyalität zunächst auf Juri Andropow, dann auf Konstantin Tschernenko – die innerhalb von etwas mehr als zwei Jahren beide ihrem Vorgänger unter die Erde an der Kremlmauer folgten – und erkor schließlich im März 1985 Michail Gorbatschow zu ihrem Anführer.

Dieser versprach zwar eine neue Offenheit (»Glasnost«) für die sowjetische Geschichtsforschung, doch der Kampf Trotzkis gegen das stalinistische Regime wurde vom Kreml weiterhin als Verrat an der Oktoberrevolution angeprangert.

Noch im November 1987, als das stalinistische Regime auf seinen Zusammenbruch zusteuerte, verteidigte Gorbatschow in seiner Rede zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution Stalin und ritt eine giftige Attacke auf Trotzki. Doch die Gesetze der Geschichte waren, ganz wie Trotzki einst bemerkt hatte, stärker als selbst der mächtigste Generalsekretär.

Die einzige politische Tendenz, die voraussah und davor warnte, dass die Politik Gorbatschows auf die Auflösung der Sowjetunion und die Restauration des Kapitalismus abzielte, war das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI). Bereits im März 1987, inmitten der »Gorbimanie«, der weltweiten Huldigung des neuen sowjetischen Staatschefs, warnte das Internationale Komitee:

Die sogenannte »Reform«-Politik Gorbatschows stellt sowohl für die Arbeiterklasse in der Sowjetunion wie auch für die Arbeiter und unterdrückten Massen international eine unheilvolle Bedrohung dar. Sie gefährdet die historischen Errungenschaften der Oktoberrevolution und ist mit einer Vertiefung der konterrevolutionären Zusammenarbeit der Bürokratie mit dem Imperialismus im Weltmaßstab verbunden.1

Zwei Jahre später, 1989, schrieb ich in einer Analyse der Politik Gorbatschows mit dem Titel »Perestroika gegen Sozialismus«:

In den vergangenen drei Jahren hat Gorbatschow entscheidende Schritte zur Förderung des Privateigentums an den Produktionsmitteln unternommen. Die Bürokratie identifiziert ihre Interessen immer unverhüllter mit der Entwicklung sowjetischer Kooperativen, die völlig nach kapitalistischem Muster aufgebaut werden. In dem Maße, wie die Privilegien der Bürokratie nicht länger an das staatliche Eigentum gebunden sind, sondern in Gegensatz zu ihm geraten, muss sich auch ihr Verhältnis zum Imperialismus ändern. Das Hauptziel der sowjetischen Außenpolitik ist immer weniger die Verteidigung der UdSSR gegen imperialistische Angriffe, eher die Mobilisierung von imperialistischer – politischer und wirtschaftlicher – Unterstützung für die innenpolitischen Ziele der Perestroika, d. h. für die Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse innerhalb der Sowjetunion. Die konterrevolutionäre Logik der stalinistischen Theorie vom Sozialismus in einem Land findet ihren letzten Ausdruck in der Entwicklung einer Außenpolitik, die darauf abzielt, das staatliche sowjetische Eigentum zu untergraben und den Kapitalismus in der UdSSR selbst wieder einzuführen.2

Diese Einschätzung der Politik Gorbatschows, die durch die weitere Entwicklung bestätigt wurde, kann ich mir allerdings nicht als eigenen Verdienst anrechnen. Die Perspektive des Internationalen Komitees basierte auf der Analyse der Widersprüche der sowjetischen Gesellschaft und des konterrevolutionären Kurses des stalinistischen Regimes, die Trotzki ein halbes Jahrhundert zuvor in seinem Werk »Verratene Revolution« dargelegt hatte. Das IKVI konnte den postsowjetischen Prozess der kapitalistischen Restauration besonders gut durchschauen, weil er genau den von Trotzki vorhergesagten Verlauf nahm.

Die Auflösung der Sowjetunion führte nicht zum »Ende der Geschichte«, das Francis Fukuyama von der Rand Corporation als »den Endpunkt der ideologischen Entwicklung der Menschheit und die Universalisierung der westlichen liberalen Demokratie als endgültige Staatsform des Menschen« prophezeite.3 Mit dem Aufstieg Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten hat Fukuyama ganz offenbar nicht gerechnet.

Weder im postsowjetischen Russland noch in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern verlief die weitere Entwicklung nach dem Schema des Weisen aus der Denkfabrik Rand. In Russland wurden alle strahlenden Prognosen, mit denen die Restauration des Kapitalismus gerechtfertigt worden war, durch die Realität widerlegt. Das Verschleudern des Staatseigentums an ehemalige Sowjetbürokraten und andere Kriminelle brachte nicht Wohlstand, sondern Massenarmut und ein schockierendes Maß an sozialer Ungleichheit. Der neue russische Staat brachte nicht die Demokratie zur Blüte, sondern nahm binnen kurzer Zeit die Form eines oligarchischen Regimes an. Und die Annahme, dass Russland nur seine historischen Bande zur Oktoberrevolution kappen müsse, um von seinen neuen »westlichen Partnern« mit zärtlichen Umarmungen empfangen und friedlich in die Bruderschaft der kapitalistischen Nationen aufgenommen zu werden, erwies sich als besonders abstruse und unrealistische Voraussage.

In den großen imperialistischen Ländern haben die Ereignisse seit dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion – die Abfolge wirtschaftlicher, geopolitischer und sozialer Krisen, die die letzten drei Jahrzehnte geprägt haben – die marxistische Analyse der Widersprüche, die den Kapitalismus als Weltsystem in den Untergang treiben, untermauert. Im Gründungsdokument der Vierten Internationale definierte Trotzki die historische Epoche 1938 als »Todeskampf« des Kapitalismus und beschrieb die Lage am Vorabend des Zweiten Weltkriegs mit den Worten:

Die Produktivkräfte der Menschheit haben aufgehört zu wachsen. Neue Erfindungen und technische Neuerungen vermögen bereits nicht mehr zu einer Hebung des materiellen Wohlstands beizutragen. Unter den Bedingungen der sozialen Krise des gesamten kapitalistischen Systems bürden Konjunkturkrisen den Massen immer größere Entbehrungen und Leiden auf. Die wachsende Arbeitslosigkeit vertieft wiederum die staatliche Finanzkrise und unterhöhlt die zerrütteten Währungen …

Unter dem wachsenden Druck des kapitalistischen Niedergangs haben die imperialistischen Gegensätze die Grenze erreicht, jenseits derer die einzelnen Zusammenstöße und blutigen lokalen Unruhen … unausweichlich in einen Weltbrand umschlagen müssen. Die Bourgeoisie ist sich selbstverständlich der tödlichen Gefahr bewusst, die ein neuer Krieg für ihre Herrschaft bedeutet. Aber diese Klasse ist heute noch unendlich weniger imstande, den Krieg abzuwenden, als am Vorabend von 1914.4

Die gegenwärtige Weltlage weist mehr als nur eine beunruhigende Ähnlichkeit mit der Situation auf, die Trotzki vor 85 Jahren so treffend beschrieb. Sein Verständnis der Weltlage ergab sich aus seiner Analyse der Ursachen der Krise des Kapitalismus: 1) dem Gegensatz zwischen gesellschaftlicher Produktion und Privateigentum an den Produktionsmitteln und 2) der Unvereinbarkeit des kapitalistischen Nationalstaatensystems mit der objektiven Entwicklung der Weltwirtschaft. Im Rahmen des Kapitalismus führt die Krise, die sich aus diesen Widersprüchen ergibt, zu den Zwillingskatastrophen der faschistischen Barbarei und des Weltkriegs.

In seiner Analyse der fatalen Dynamik des globalen Kapitalismus hatte Trotzki besonders die Rolle des amerikanischen Imperialismus hervorgehoben. Im Jahr 1928 schrieb er aus dem entlegenen Alma-Ata in Zentralasien (wohin er vom stalinistischen Regime verbannt worden war):

Während der Krise wird sich die Hegemonie der Vereinigten Staaten noch viel vollständiger, offener, schärfer und rücksichtsloser auswirken als während der Aufstiegsperiode. Die Vereinigten Staaten werden versuchen, ihre Schwierigkeiten und Krankheiten auf Kosten Europas zu bekämpfen und zu überwinden, ganz gleich, ob in Asien, Kanada, Südamerika, Australien oder Europa selbst, oder ob auf friedlichem oder kriegerischem Wege. [Hervorhebung im Original]5

1934 beschrieb Trotzki die Entwicklung des amerikanischen Imperialismus mit noch schärferen Worten:

Der US-Kapitalismus steht vor denselben Aufgaben, die Deutschland 1914 zum Krieg getrieben haben. Die Welt ist bereits aufgeteilt? Dann muss man sie eben neu aufteilen! Deutschland ging es darum, Europa zu »organisieren«. Den Vereinigten Staaten fällt es zu, die ganze Welt zu »organisieren«. Die Geschichte treibt die Menschheit einem Vulkanausbruch des amerikanischen Imperialismus entgegen.6

Trotzki spottete über die Neigung der Vereinigten Staaten, ihre räuberische Politik mit humanitären Phrasen zu bemänteln. In einer überaus treffenden Charakterisierung beschrieb er Wilson in dessen Rolle nach dem Ersten Weltkrieg: »[E]in fadenscheiniger Scheinheiliger und Heuchler, ein Tartuffe im Quäkergewand, klappert das blutgetränkte Europa ab, gebärdet sich als höchste moralische Instanz und verkündet die Heilsbotschaft des amerikanischen Dollar. Er hält Strafpredigten, verzeiht und entscheidet über das Schicksal von Nationen.«7 Da Wilsons bösartiger Rassismus mittlerweile bekannt wurde, ist Trotzkis Beschreibung des einst hoch verehrten amerikanischen Präsidenten, der lange als Ikone des demokratischen Liberalismus gepriesen wurde, unter Historikern zum Konsens geworden.

Doch so scharf Trotzki die Heuchelei der USA auch geißelte, er sah in der Politik des amerikanischen Imperialismus oder der seines deutschen Rivalen unter Hitler nicht das Eindringen von Verbrechern in eine ansonsten friedliche Welt. Seine Anklage gegen die Politik dieser und anderer imperialistischen Mächte war historischer und nicht spießerhaft-moralischer Natur. Die Politik der Invasionen, Annexionen und Eroberungen beruht selbst im Falle eines Psychopathen wie Hitler nicht auf dem Wahnsinn eines einzelnen Führers, sondern auf der unumgänglichen Notwendigkeit, die Schranken zu durchbrechen, die dem Zugang zu globalen Ressourcen und zum Weltmarkt durch Staatsgrenzen gesetzt werden. Die unaufhaltsame Zunahme des imperialistischen Militarismus, der unweigerlich zum Weltkrieg führt, kennzeichnet den historischen Bankrott des nationalstaatlichen Systems. Wie Trotzki 1934 in einem ursprünglich in der amerikanischen Zeitschrift »Foreign Affairs« veröffentlichten Artikel voraussah,

wird der Kampf um die auswärtigen Märkte ungeahnte Schärfe annehmen. Die frommen Erwägungen über die Vorteile der Autarkie werden sofort über den Haufen geworfen sein, die klugen Pläne nationaler Harmonie werden unter den Tisch fallen. Das bezieht sich nicht nur auf den deutschen Kapitalismus mit seiner explosiven Dynamik oder auf den verspäteten, ungeduldigen und gierigen Kapitalismus Japans, sondern auch auf den bei all seinen neuen Widersprüchen mächtigen Kapitalismus Amerikas.8

Die Widersprüche, die Trotzki in den späten 1920er und in den 1930er Jahren aufzeigte, befinden sich heute in einem weitaus fortgeschritteneren bzw. Endstadium. Nach der Auflösung der Sowjetunion hat der Drang, die Welt im Interesse der Hegemonie der Vereinigten Staaten zu »organisieren«, die Form eines globalen Amoklaufs angenommen. Der »Vulkanausbruch« des amerikanischen Imperialismus, den Trotzki vor fast 90 Jahren vorausgesagt hat, ist in vollem Gange.

Doch der amerikanische Vulkan ist nicht der einzige Ort militaristischer Eruptionen. Die Militärausgaben sind auf internationaler Ebene massiv gestiegen. Die Götter des Krieges dürsten wieder. Die beiden Hauptverlierer des Zweiten Weltkriegs lassen ihre scheinheilige Pose des Pazifismus fallen. Der Deutsche Bundestag hat die Gelegenheit des Ukrainekriegs genutzt, um eine Verdreifachung des Militärhaushalts zu beschließen. Japan, die zweitgrößte Militärmacht in Asien, hat eine Erhöhung der »Verteidigungs«ausgaben um 26,3 Prozent angekündigt. Diese beiden Mächte sind entschlossen, nach dem dritten Weltkrieg an der Verteilung der Beute teilzuhaben – sofern es dann noch eine Welt gibt, die sich aufteilen lässt.

Dass die Welt auf den Abgrund einer globalen militärischen Katastrophe zusteuert, wird in den kapitalistischen Medien inzwischen weithin konstatiert. Nachdem die russische Invasion in der Ukraine von der Propaganda ein Jahr lang als »unprovozierter Krieg« dargestellt wurde, beginnen bürgerliche Kommentatoren nun, den Krieg in einen realistischeren internationalen Kontext zu stellen. Der Außenpolitikexperte der »Financial Times«, Gideon Rachman, wies kürzlich auf die »historische Parallele« zwischen der gegenwärtigen Situation und »der Zunahme der internationalen Spannungen in den 1930er und 1940er Jahren« hin:

Der Umstand, dass der Präsident Chinas und der Premierminister Japans gleichzeitig und konkurrierend die Hauptstädte Russlands und der Ukraine besuchten, unterstreicht die globale Bedeutung des Ukrainekriegs. Japan und China sind in Ostasien erbitterte Rivalen. Beide Länder sind sich darüber im Klaren, dass ihr Kampf vom Ausgang des Konflikts in Europa tiefgreifend beeinflusst werden wird.

Dieses Schattenboxen zwischen China und Japan wegen der Ukraine ist Teil eines größeren Trends. Die strategischen Rivalitäten in der euroatlantischen und der indopazifischen Region überschneiden sich zusehends. Was sich hier abzeichnet, nimmt mehr und mehr die Gestalt eines einzigen geopolitischen Konflikts an.9

Natürlich ist jede historische Persönlichkeit auch ein Produkt ihrer Zeit. Doch Trotzki ist eine historische Figur, deren aktiver Einfluss auf das Zeitgeschehen weit über seine Lebenszeit hinausreicht. Seine Schriften werden nicht nur wegen ihres Einblicks in die Ereignisse der ersten vier Jahrzehnte des letzten Jahrhunderts studiert, sondern auch als Analysen, die für das Verständnis der heutigen Ereignisse und das Eingreifen darin unerlässlich sind.

In einer gewaltigen, 1124 Seiten umfassenden Studie über den internationalen Trotzkismus, die 1991 kurz vor der Auflösung der UdSSR veröffentlicht wurde, äußerte der mittlerweile verstorbene Robert J. Alexander, antimarxistischer Akademiker und langjähriges Mitglied des US Council on Foreign Relations, die Sorge, dass die Auflösung der UdSSR zu einem Wiederaufleben des Trotzkismus als Massenbewegung führen könnte. Er schrieb:

Stand Ende der 1980er Jahre haben die Trotzkisten in keinem Land je die Macht übernommen. Obwohl der internationale Trotzkismus nicht die Unterstützung eines etablierten Regimes genießt, wie einst die Erben des Stalinismus, ist es in Anbetracht des Fortbestehens dieser Bewegung in einer Vielzahl von Ländern bei gleichzeitiger Instabilität des politischen Lebens der meisten Nationen der Welt nicht völlig ausgeschlossen, dass eine trotzkistische Partei in absehbarer Zeit an die Macht kommen könnte.10

Die herrschenden Eliten nahmen die Warnung von Professor Alexander ernst. Sie reagierten auf die politische Gefahr von links, die der Zusammenbruch der stalinistischen Regime mit sich brachte, indem sie eine Reihe von verleumderischen Pseudobiografien über Trotzki in Auftrag gaben. Die Professoren Ian Thatcher, Geoffrey Swain und Robert Service ernteten für ihre entsprechenden Bücher zwar zunächst begeisterte Kritiken in der kapitalistischen Presse, scheiterten aber dennoch kläglich. Ihre Lügen wurden vom Internationalen Komitee umfassend entlarvt. Die Biografie, die der hochgelobte Professor Service von der Universität Oxford verfasste, geriet für den Verlag Harvard University Press zu einer äußersten Peinlichkeit, nachdem in der Fachzeitschrift »American Historical Review« meine Kritik, es handele sich bei Services Biografie um ein »zusammengeschustertes Machwerk« als zutreffend anerkannt worden war: »Starke Worte, aber völlig berechtigt.«11

Es gibt eine historisch-materialistische Erklärung dafür, dass die internationale trotzkistische Bewegung die gnadenlose Verfolgung durch zahllose Feinde jahrzehntelang überdauert hat und gewachsen ist. Die grundlegenden objektiven ökonomischen und gesellschaftlichen Kräfte, die zu Trotzkis Lebzeiten den Verlauf der politischen Ereignisse grundlegend bestimmten, insbesondere der globale Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, sind von der Geschichte nicht überholt worden. Trotzkis Theorie der permanenten Revolution ist bis heute die wesentliche historisch-strategische Grundlage für den Kampf der internationalen Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus. Er schrieb 1930:

Der Abschluss einer sozialistischen Revolution ist im nationalen Rahmen undenkbar. Eine grundlegende Ursache für die Krisis der bürgerlichen Gesellschaft besteht darin, dass die von dieser Gesellschaft geschaffenen Produktivkräfte sich mit dem Rahmen des nationalen Staates nicht vertragen. Daraus ergeben sich einerseits die imperialistischen Kriege, andererseits die Utopie der bürgerlichen Vereinigten Staaten von Europa. Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden, entwickelt sich international und wird vollendet in der Weltarena. Folglich wird die sozialistische Revolution in einem neuen, breiteren Sinne des Wortes zu einer permanenten Revolution: Sie findet ihren Abschluss nicht vor dem endgültigen Siege der neuen Gesellschaft auf unserem ganzen Planeten.12

Weit davon entfernt, von den Ereignissen überholt zu werden, ist Trotzkis Auffassung der sozialistischen Revolution als verwobener Prozess des internationalen Klassenkampfs durch die gewaltige, weltweit integrierte Entwicklung der Produktivkräfte und das enorme Wachstum der Arbeiterklasse noch stärker untermauert worden. Heute überschneidet sich der Verlauf der Geschichte auf entscheidende Weise mit der strategischen Vision des großen marxistischen Theoretikers und Revolutionärs.

Die gegenwärtige Weltlage ist so beschaffen, dass sie von Trotzki problemlos durchschaut und analysiert werden könnte. Wir leben in der Endphase derselben historischen Epoche des imperialistischen Kriegs und der sozialistischen Revolution. Die historischen Probleme, mit denen sich Trotzki beschäftigte – vor allem in den 16 Jahren zwischen dem Schlaganfall Lenins und dessen Ausscheiden aus der Politik 1923 und Trotzkis Ermordung 1940 –, sind die bis heute ungelösten, existenziellen politischen Fragen, vor denen die Arbeiterklasse steht: der imperialistische Krieg, der Zusammenbruch der Demokratie und das Wiederaufkommen des Faschismus, die steigende Inflation, die Massenarbeitslosigkeit, die Armut, der Verrat der bestehenden Arbeitermassenorganisationen und deren Verschmelzung mit den Strukturen des kapitalistischen Staats.

Dieses Jahr begehen wir den einhundertsten Jahrestag der Gründung der Linken Opposition in der Sowjetunion. Trotzkis erste öffentliche Kritik an der Ausbreitung des Bürokratismus sowohl im Sowjetstaat als auch in der Kommunistischen Partei, die er im Herbst 1923 formulierte, markierte den Beginn der folgenreichsten politischen Auseinandersetzung im 20. Jahrhundert. Die Usurpation der politischen Macht durch die sowjetische Bürokratie unter der Führung Stalins sollte katastrophale Folgen für das Schicksal der internationalen Arbeiterklasse und den Kampf für den Sozialismus nach sich ziehen. Als politische Rechtfertigung für diese Usurpation – die zur Unterordnung der Arbeiterklasse unter die Bürokratie, zur Zerstörung aller Formen der Arbeiterdemokratie und schließlich zur Liquidierung der Marxisten innerhalb der UdSSR führte – diente das stalinistische Dogma des »Sozialismus in einem Land«. Diese Pseudotheorie, die in erster Linie gegen Trotzkis Theorie der permanenten Revolution gerichtet war, sanktionierte die Abkehr von der Perspektive des internationalen Sozialismus, auf die sich die Oktoberrevolution gestützt hatte.

Eine kürzlich veröffentlichte Studie über Trotzkis Kampf gegen den Stalinismus beginnt mit der Behauptung: »In seinen letzten zwanzig Lebensjahren war die politische und theoretische Frage, die Leo Trotzki mehr als jede andere beschäftigte, das Problem der Sowjetbürokratie.«13

Diese Aussage ist grundfalsch. Das Problem der Sowjetbürokratie war für Trotzki völlig zweitrangig gegenüber der Frage des revolutionären Internationalismus. In Wirklichkeit erschloss sich der wahre Charakter der stalinistischen Bürokratie nur aus dem Verhältnis der Sowjetunion zum internationalen Klassenkampf und zum Schicksal des Weltsozialismus. Der Stalinismus entstand als Tendenz innerhalb der Bolschewistischen Partei unter den Bedingungen der Niederlagen, die die Arbeiterklasse in Mittel- und Westeuropa nach der Oktoberrevolution erlitten hatte, und stellte eine nationalistische Reaktion gegen den marxschen Internationalismus dar. Trotzki schrieb dazu nur ein Jahr vor seiner Ermordung: »Man kann sagen, dass der ganze ›Stalinismus‹ in ›theoretischer‹ Hinsicht aus der Kritik der Theorie der permanenten Revolution, so wie sie im Jahre 1905 formuliert worden war, hervorgegangen ist.«14

Der Kampf gegen die bürokratische Diktatur war untrennbar mit dem Programm des sozialistischen Internationalismus verbunden. Für alle politischen Aufgaben in der gegenwärtigen Weltlage gilt dasselbe strategische Prinzip. Es gibt keine nationalen Lösungen für die großen Probleme der heutigen Zeit.

Trotzkis Theorie der permanenten Revolution lieferte eine Analyse der objektiven Dynamik des internationalen Klassenkampfs, auf die sich die Strategie der sozialistischen Weltrevolution stützen muss. Gleichzeitig erklärte Trotzki, dass die Entfaltung der kapitalistischen Widersprüche nicht automatisch zum Sieg des Sozialismus führt. Diese Widersprüche schaffen nur die objektiven Voraussetzungen und Möglichkeiten für die Machteroberung der Arbeiterklasse. Die Realisierung dieses Potenzials hängt von den bewussten Entscheidungen und dem Handeln der revolutionären Partei ab.

Trotzkis Aussage im Gründungsdokument der Vierten Internationale von 1938: »Die geschichtliche Krise der Menschheit läuft auf die Krise der revolutionären Führung hinaus«, war eine Zusammenfassung der zentralen Lehren aus den Niederlagen, die die Arbeiterklasse in den vorangegangenen 15 Jahren infolge des Opportunismus und Verrats der stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften erlitten hatte.

Die Niederlage des Generalstreiks in Großbritannien 1926, die Zerschlagung der Arbeiterklasse in Shanghai durch Chiang Kai-shek 1927, der Sieg der Nazis in Deutschland 1933, die Demoralisierung der französischen Arbeiterklasse nach den Massenstreiks von 1936 durch die Politik der Volksfront, die Niederlage der Spanischen Revolution 1939 und schließlich der Pakt Stalins mit Hitler und der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs lösten in weiten Teilen der linken Intelligenz Pessimismus und Desillusionierung über die Aussichten auf den Sozialismus aus. Hatten diese Niederlagen nicht bewiesen, so fragten sie, dass die Arbeiterklasse nicht in der Lage ist, die Macht zu erobern und zu halten?

Trotzki wies die Demoralisierung, die dieser Fragestellung zugrunde lag, mit Nachdruck zurück. Was dem Sozialismus im Wege stand, war nicht der »nichtrevolutionäre« Charakter der Arbeiterklasse, sondern der verrottete Zustand der bestehenden Massenparteien. Damit stellte sich allerdings eine weitere Frage: War es möglich, eine Partei aufzubauen, deren Führung den Anforderungen der Revolution gewachsen sein würde? Diejenigen, die diese Möglichkeit leugneten, gelangten zu äußerst pessimistischen Schlussfolgerungen: dass das Programm der sozialistischen Revolution eine unrealistische Utopie darstelle und die Lage der Menschheit im Grunde hoffnungslos sei. »Nicht alle unsere Gegner drücken diesen Gedanken klar aus«, schrieb Trotzki im Herbst 1939, »aber allesamt – Ultralinke, Zentristen, Anarchisten, ganz zu schweigen von den Stalinisten und Sozialdemokraten – wälzen die Verantwortung für die Niederlagen von sich selbst auf die Schultern des Proletariats ab. Keiner von ihnen äußert sich dazu, was genau die Bedingungen sind, unter denen das Proletariat in der Lage sein wird, den sozialistischen Umsturz durchzuführen.«15

Trotzki hatte die Ursache für die politische Demoralisierung der linken Intellektuellen aufgedeckt. Die Ablehnung des revolutionären Potenzials der Arbeiterklasse war die wesentliche Prämisse des Antimarxismus der kleinbürgerlichen linken Akademiker nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Frankfurter Schule richtete ihre Argumente gegen die historische Perspektive Trotzkis (auch wenn sie dies nicht offen zugab) und versuchte so, den Marxismus von der Arbeiterklasse zu trennen. Die Postmodernisten erklärten die Zeit der »großen Narrative« für beendet, in denen die Geschichte als objektiver, gesetzmäßiger Prozess aufgefasst und die Arbeiterklasse als die zentrale revolutionäre Kraft in der Gesellschaft ausgemacht wurde. Die unvermeidliche Folge dieses gesellschaftstheoretischen Rückschritts war die völlige Ablehnung des Marxismus und der sozialen Revolution auf der Grundlage der Arbeiterklasse. Zwei führende Vertreter dieser Regression, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, erklärten 1985 unverblümt:

An diesem Punkt sollten wir ganz einfach festhalten, dass wir uns jetzt auf einem post-marxistischen Terrain befinden. Es ist nicht länger möglich, die Subjektivitäts- und Klassenkonzeption, wie sie durch den Marxismus ausgearbeitet worden ist, seine Vorstellung vom historischen Verlauf der kapitalistischen Entwicklung … beizubehalten.16

Die antimarxistischen Theoretiker sind durch die Ereignisse widerlegt worden. Nur die trotzkistische Bewegung hat den weltweiten Aufschwung des Klassenkampfs, der jetzt im Gange ist, vorausgesehen und sich darauf vorbereitet. Gestützt auf die Perspektive der permanenten Revolution erklärte das Internationale Komitee 1988:

Wir gehen davon aus, dass sich das nächste Stadium der proletarischen Kämpfe unter dem gemeinsamen Druck der objektiven ökonomischen Tendenzen und des subjektiven Einflusses der Marxisten unvermeidlich in einer internationalistischen Richtung entwickeln wird. Das Proletariat wird mehr und mehr dahin tendieren, sich selbst in der Praxis als internationale Klasse zu definieren, und die marxistischen Internationalisten, deren Politik der Ausdruck dieser organischen Tendenz ist, werden diesen Prozess fördern und ihm eine bewusste Form geben.17

Die sich beschleunigende kapitalistische Weltkrise und der globale Klassenkampf werden die objektiven Bedingungen für die sozialistische Revolution und den Sturz des Kapitalismus schaffen. »Aber«, wie Trotzkis warnte, »die große historische Aufgabe wird nicht gelöst werden, ehe eine revolutionäre Partei an der Spitze des Proletariats steht.«

Die Frage der Tempi und Zeitabschnitte ist von ungeheurer Bedeutung, aber sie ändert weder die allgemeine historische Perspektive noch die Richtung unserer Politik. Die Schlussfolgerung ist einfach: Die Arbeit der Erziehung und Organisierung der proletarischen Vorhut muss mit verzehnfachter Energie fortgeführt werden. Gerade darin besteht die Aufgabe der Vierten Internationale.18

Die historischen Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts haben alle politischen Bewegungen, Parteien und Tendenzen, die den Anspruch erhoben, den Kampf gegen den Kapitalismus anzuführen, auf die Probe gestellt. Die konterrevolutionäre Rolle der Stalinisten, Sozialdemokraten, Maoisten, bürgerlichen Nationalisten, Anarchisten und Pablisten wurde durch die Umwälzungen des 20. Jahrhunderts offengelegt. Nur die Vierte Internationale unter der Führung des Internationalen Komitees hat der Prüfung durch die Geschichte standgehalten. Die internationale revolutionäre sozialistische Bewegung der Arbeiterklasse auf allen Kontinenten wird sich auf den theoretischen und politischen Fundamenten des Trotzkismus entwickeln, der den Marxismus des 21. Jahrhunderts darstellt.

*****

Dieser Band ist dem Gedenken an Wije Dias (27. August 1941–27. Juli 2022) gewidmet. Genosse Wije war ein führendes Mitglied des Internationalen Komitees der Vierten Internationale und 35 Jahre lang Vorsitzender der Sektion in Sri Lanka. Er starb mitten im Kampf und trat im hohen Alter mit unverminderter Leidenschaft für die Ideale seiner Jugend ein. Sein Vermächtnis – sein Mut, sein Einsatz für trotzkistische Prinzipien und seine Treue zum Sozialismus – wird der Arbeiterklasse in den großen Klassenkämpfen, die über das Schicksal der Menschheit entscheiden werden, als inspirierendes Vorbild dienen.

David North

Detroit

4. April 2023

1 Internationales Komitee der Vierten Internationale, »Was geht in der Sowjetunion vor sich?Gorbatschow und die Krise des Stalinismus«, in: Die Vierte Internationale und die Perspektive der sozialistischen Weltrevolution 1986–1995, Essen 2022, S. 288.

2 David North, Perestroika gegen Sozialismus. Der Stalinismus und die Restauration des Kapitalismus in der UdSSR, Essen 1989, S. 67.

3The National Interest, Nr. 16, Sommer 1989, S. 3.

4 Leo Trotzki, Das Übergangsprogramm, Essen 1997, S. 83, 84.

5 Leo Trotzki, DieDritte Internationale nach Lenin, Essen 1993, S. 29.

6 Leo Trotzki, »Der Krieg und die IV. Internationale«, in: Schriften, Linke Opposition und IV. Internationale 1928–1934, Bd. 3.3, Köln 2001, S. 553.

7 Leo Trotzki, »Ordnung aus dem Chaos«, in: Die Internationale vor Stalin. Die ersten fünf Jahre der Kommunistischen Internationale, Bd. 1, Essen, in Vorbereitung.

8 Leo Trotzki, »Nation und Weltwirtschaft«, in: Porträt des Nationalsozialismus,Essen 2023, S. 380.

9 Gideon Rachman, »China, Japan and the Ukraine War«, in: Financial Times, 27. März 2023.

10 Robert J. Alexander, International Trotskyism 1929–1985: A Documented Analysis of the Movement, Durham und London 1991, S. 32.

11 Besprechung von Bertrand M. Patenaude, in: The American Historical Review, Jg. 116, Nr. 3, Juni 2011, S. 902; auch dokumentiert im Anhang von: David North, Verteidigung Leo Trotzkis, zweite, erweiterte Auflage, Essen 2012, S. 332.

12 Leo Trotzki, Die permanente Revolution, Essen 2021, S. 264–265.

13 Thomas M. Twiss, Trotsky and the Problem of Soviet Bureaucracy, Chicago 2014, S. 1.

14 Leo Trotzki, »Drei Konzeptionen der russischen Revolution« (1939), in: Stalin. Eine Biographie, Essen 2006, S. 471.

15 Leo Trotzki, »Die UdSSR im Krieg«, in: Verteidigung des Marxismus, Essen 2006, S. 14.

16Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 2000, S. 34.

17 »Dreizehnter Kongress der Workers League«, Bericht von David North, in: Vierte Internationale, Jg. 15, Nr. 3–4, Juli–Dezember 1988, S. 42.

18 Leo Trotzki, »Manifest der Vierten Internationale zum imperialistischen Krieg und zur proletarischen Weltrevolution, 1940«, in: Das Übergangsprogramm, Essen 1997, S. 254.

Anmerkung zur deutschen Ausgabe:

Die Zitate aus englischsprachigen Quellen wurden, sofern nichts anderes angegeben ist, für diese Ausgabe ins Deutsche übertragen. Die Zitate aus dem Internet wurden kurz vor dem Erscheinungsdatum abgerufen.

Tom Henehan

1Leo Trotzki und die Entwicklung des Marxismus

Leo Trotzki und die Entwicklung des Marxismus

Ursprünglich erschienen 2021 als Vorwort der türkischen Ausgabe von Leo Trotzki und die Entwicklung des Marxismus.

Vorwort zur türkischen Ausgabe

Vorwort zur türkischen Ausgabe

Die Arbeit an einem Text führt den Autor oftmals auf unvorhergesehene Wege. Dies gilt auch für den Essay »Leo Trotzki und die Entwicklung des Marxismus«, dessen Übersetzung ins Türkische durch die Genossen von Sosyalist Eşitlik ich von ganzem Herzen begrüße.

Ich schrieb diesen Aufsatz im Herbst 1982. Anlass war der fünfte Jahrestag des politisch motivierten Mordes an Tom Henehan, einem führenden Mitglied der Workers League (Vorläuferorganisation der Socialist Equality Party in den Vereinigten Staaten).

Genosse Henehan wurde am 16. Oktober 1977 Opfer eines Anschlags von zwei bewaffneten Männern. Er leitete an diesem Tag eine Freizeitveranstaltung der Young Socialists, der Jugendbewegung der Workers League, in einem Club in New York City. Dem Angriff war keine Auseinandersetzung vorausgegangen. Die beiden Männer waren unvermittelt in den Veranstaltungsort eingedrungen und hatten Unruhe gestiftet. Als Henehan sich dem Eingang des Clubs näherte, um festzustellen, was los war, gab einer der Angreifer fünf Schüsse auf ihn ab. Ein weiteres Mitglied der Workers League, Jacques Vielot, eilte Tom zu Hilfe und wurde von dem anderen Angreifer angeschossen. Anschließend flohen die Täter.

Trotz seiner schweren Verletzungen gelang es Vielot, Henehan, der noch bei Bewusstsein war, in ein nahe gelegenes Krankenhaus zu bringen. Tom wurde in die Notaufnahme eingeliefert, doch die diensthabenden Ärzte versuchten aus bis heute ungeklärten Gründen nicht, seine inneren Blutungen zu stoppen. Tom starb in der Notaufnahme, etwa 90 Minuten nach seiner Ankunft im Krankenhaus. Er war erst 26 Jahre alt.

Der Mord an Tom Henehan war ein politisches Verbrechen, das die amerikanische und internationale Arbeiterklasse eines selbstlosen, engagierten und äußerst fähigen Kämpfers beraubte. Obwohl erst seit viereinhalb Jahren in der Bewegung, genoss Tom bei seinen Genossen in der Workers League und im gesamten Internationalen Komitee der Vierten Internationale hohes Ansehen. Er wurde am 16. März 1951 in Wisconsin geboren und wuchs in Michigan auf. Im Frühjahr 1973 trat er der Workers League bei. Er war damals Student an der Columbia University in New York. Als Tom sich entschied, Mitglied der Workers League zu werden, war die Welle des studentischen Radikalismus bereits abgeebbt und die wohlhabende Mittelschichtjugend, die sich in der Protestpolitik versucht hatte, wandte sich ihrer Karriere und einer selbstsüchtigen Lifestyle- und Identitätspolitik zu.

Tom Henehan dagegen fühlte sich zur Workers League hingezogen, weil sie sich auf die Arbeiterklasse orientierte und ihre Wurzeln bewusst auf die historischen Kämpfe der trotzkistischen Weltbewegung zurückführte, die bis in die 1920er Jahre zurückreichen. Seine Ausbildung zum Marxisten fiel in eine Zeit, in der die Workers League eine kritische Phase ihrer politischen Entwicklung durchlief. Im Jahr 1974 wies Tim Wohlforth, der die Workers League gegründet hatte, indem er den Bruch der Socialist Workers Party mit dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale bekämpfte, die Prinzipien und das Programm zurück, die er zuvor 14 Jahre lang verteidigt hatte, und trat wieder der SWP bei. Wohlforth fand mit seinem Renegatentum keine Unterstützung im Kader der Workers League, denn ihre junge Mitgliedschaft war auf der Grundlage der Opposition rekrutiert und ausgebildet worden, die das Internationale Komitee dem Bruch der amerikanischen Socialist Workers Party mit dem Trotzkismus entgegengesetzt hatte, der in der Wiedervereinigung der SWP mit dem pablistischen Vereinigten Sekretariat 1963 klar zum Ausdruck kam.

Die Workers League reagierte auf Wohlforths Verrat, indem sie sich noch intensiver mit der Geschichte der Vierten Internationale befasste und die theoretischen und politischen Fragen studierte, um die es in dem langwierigen Kampf gegen den pablistischen Revisionismus gegangen war.

Als der fünfte Jahrestag der Ermordung von Genossen Henehan herannahte, hatte ich eigentlich die Absicht, mich auf seine politische Arbeit zu konzentrieren und seinen herausragenden Beitrag zum Aufbau der Workers League zu würdigen. Aber der Rückblick auf Toms Leben warf entscheidende Fragen auf: Wie sollen neue Mitglieder der trotzkistischen Bewegung ausgebildet werden? Auf welchem Wege wird ein marxistisch-trotzkistischer Kader entwickelt? Welche Beziehung besteht zwischen der täglichen Arbeit der revolutionären Partei und der Geschichte der Vierten Internationale?

Diese Fragen stellten sich mit besonderer Dringlichkeit, weil das Internationale Komitee der Vierten Internationale von einer zunehmenden Krise betroffen war. In den Wochen vor der Abfassung des Essays zum Jahrestag von Toms Ermordung hatte ich begonnen, das Abdriften der Workers Revolutionary Party – damals die erfahrenste und führende Sektion des Internationalen Komitees – in Richtung der opportunistischen Politik des Pablismus einer ausführlichen Kritik zu unterziehen.

Die Beziehungen, die die WRP ab Mitte der 1970er Jahre zu einer Reihe von bürgerlich-nationalistischen Bewegungen und Regimen im Nahen Osten und in Afrika aufgebaut hatte, bedeuteten einen grundlegenden Bruch mit der strategischen Ausrichtung, die Trotzki in seiner Theorie der permanenten Revolution definiert hatte. Gleichzeitig nahm die Politik der WRP in Großbritannien einen unverhohlen opportunistischen Charakter an, und im Parteiorgan »News Line« häuften sich kriecherische Rechtfertigungen für den Verrat der Gewerkschaftsbürokratie.

Das Abrücken der Workers Revolutionary Party von der trotzkistischen Strategie, die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse herzustellen – die ihre wichtigsten Führer Gerry Healy, Michael Banda und Cliff Slaughter in den 1950er und 1960er Jahren gegen den Stalinismus und den pablistischen Opportunismus verteidigt hatten –, wurde mit falschen Beschwörungen des dialektischen Materialismus überdeckt. Healy sprach in diesem Zusammenhang von der »Praxis der Erkenntnis«. Dabei handelte es sich um eine eklektische Kombination aus subjektivem Impressionismus und ungezügeltem Pragmatismus, dem er durch einen prätentiösen pseudohegelianischen Jargon den Anschein von Tiefgründigkeit zu verleihen suchte. Darüber hinaus zielten die WRP-Führer mit ihrer Konzentration auf die »philosophische Methode« – die keinerlei Bezug zur politischen Analyse und absolut nichts mit Marxismus zu tun hatte – darauf ab, das Studium der Schriften Trotzkis und der wesentlichen Dokumente, die das Erbe des Internationalen Komitees der Vierten Internationale ausmachten, zu untergraben.

Die theoretischen und politischen Fragen, mit denen ich mich in der anfänglichen Kritik an der WRP beschäftigte, schlugen sich unweigerlich auch in der Hommage an Tom Henehan nieder. Die Würdigung Henehans, fünf Jahre nach seinem Tod, erforderte die Verteidigung der Prinzipien, des Programms und der wahren marxistischen Methode, auf denen seine Ausbildung als revolutionärer Kader beruht hatte. Und so nahm die Ehrung von Toms Leben die Form einer ersten Kritik am Verrat des Trotzkismus durch die Workers Revolutionary Party an. Dabei wurde die Workers Revolutionary Party nicht beim Namen genannt. Aber mit Sicherheit entging Healy, Banda und Slaughter nicht, welche politischen Implikationen meine Würdigung von Tom Henehan hatte und dass sie unverkennbar gegen die von ihnen betriebene opportunistische Verfälschung der marxistischen Theorie gerichtet war. Besonders folgende Bemerkung dürfte ihnen übel aufgestoßen sein:

Revisionisten und politische Scharlatane aller Art gehen bei ihrer Politik stets von den unmittelbaren praktischen Erfordernissen des Tages aus. Wer sich hingegen auf Prinzipien stützt, muss die Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung studieren. Die Kenntnis ihrer Entwicklung als gesetzmäßiger Prozess und die daraus folgende ständige kritische Überarbeitung der objektiven Erfahrungen der Arbeiterbewegung sind Pragmatikern völlig fremd. Ihr Motto in der Politik lautet: »Alles ist erlaubt – wenn nur etwas dabei herauskommt.« Sollten sie Interesse an Geschichte zeigen, dann nur, um ein Zitat aus seinem Kontext zu reißen und für ihre Zwecke zu benutzen, oder um ihren aktuellen Opportunismus hinter zeremoniellen Verweisen auf frühere Errungenschaften der trotzkistischen Bewegung oder, was häufiger vorkommt, auf Trotzkis Errungenschaften als Individuum zu verstecken.

Auch über die folgende Aussage dürften Healy und Slaughter – die beiden Hauptvertreter der Methodenfälschung – nicht glücklich gewesen sein:

Ohne tatsächliche Kenntnis der historischen Entwicklung der trotzkistischen Bewegung sind Hinweise auf den dialektischen Materialismus mehr als nur hohl; in Wirklichkeit öffnen derartige leere Anrufungen Tür und Tor für eine Verzerrung der dialektischen Methode. Die Quelle der Theorie liegt nicht im Denken, sondern in der objektiven Welt. Daher gründet sich die Entwicklung des Trotzkismus auf die neuen Erfahrungen im Klassenkampf, die auf das gesamte historisch abgeleitete Wissen unserer Bewegung treffen.

Meine Kritik richtete sich gegen die Verzerrung und Verfälschung der Dialektik durch die WRP, doch ich war mir durchaus der Gefahr bewusst, dass sie von Gegnern des Internationalen Komitees falsch dargestellt und politisch missbraucht werden könnte, um die Dialektik zu diskreditieren und die philosophischen Grundlagen der marxistischen Politik zu untergraben. Deshalb betonte ich den wesentlichen Zusammenhang zwischen der dialektischen Methode, angewandt im Einklang mit der materialistischen Geschichtsauffassung, und dem Werk Leo Trotzkis:

Wer Trotzkis Schriften ernsthaft und systematisch studiert – und das ist ein wesentlicher Bestandteil der theoretischen Ausbildung jedes Kaders in der Workers League und im Internationalen Komitee –, wird den enormen Reichtum der dialektischen Methode entdecken. Es wäre natürlich falsch, den Inhalt von Trotzkis Kampf gegen den Stalinismus insgesamt mechanisch auf die Frage von Dialektik versus Metaphysik zu reduzieren und dabei die sozialen Kräfte zu übersehen, deren Interessen sich damals wie heute durch diese historischen Kämpfe ausdrückten. Dennoch steht außer Zweifel, dass jedes neue Stadium des Kampfs gegen die stalinistische Bürokratie die Notwendigkeit mit sich brachte, die dialektisch-materialistische Methode gegen die subjektiv-idealistische Metaphysik der Bürokratie zu vertiefen. Philosophie ist parteilich, d. h., die Theorie ist eine Klassenfrage. Stalins Eklektizismus und Idealismus, die ihn zunächst für den Druck der dem Proletariat feindlichen sozialen Kräfte anfällig gemacht hatten, verankerten sich an einem bestimmten Punkt der Entwicklung der Weltkrise in den materiellen Interessen der Sowjetbürokratie und damit des Weltimperialismus.

Des Weiteren bemühte ich mich zu klären, wie sich die materialistische Dialektik zur Arbeit der Bolschewistischen Partei und zur Kommunistischen Internationale verhielt, die nach der Oktoberrevolution 1917 gegründet wurde:

Unter der Führung von Lenin und Trotzki wurde die dialektische Methode, die für Kautsky und die Mehrheit der sozialdemokratischen Führer ein »toter Hund« gewesen war, wiederbelebt, bereichert und auf ihren rechtmäßigen Platz in der Kommunistischen Internationale gehoben – als methodische Grundlage der Wissenschaft der marxistischen Strategie, der politischen Perspektive und des revolutionären Handelns. In einer Epoche der Bürgerkriege, abrupter Veränderungen der politischen Situation »über Nacht«, täglicher Verschiebungen in den internationalen Klassenbeziehungen, plötzlicher Veränderungen auf dem politischen Schlachtfeld von links nach rechts und umgekehrt hat sich allein die dialektische Methode als den historischen Aufgaben des Proletariats angemessen erwiesen. Marx hätte gesagt: Die Dialektik ist keine Lanze für akademische Debatten, sondern eine Waffe im Klassenkampf. Sie ist keine Leidenschaft des Kopfes, sondern der Kopf der revolutionären Leidenschaft. In diesem Geist erzieht das Internationale Komitee der Vierten Internationale heute die Kader der trotzkistischen Weltbewegung.

Die ersten beiden Teile von »Leo Trotzki und die Entwicklung des Marxismus« wurden im »Bulletin«, dem zweimal wöchentlich erscheinenden Organ der Workers League, am 15. und 19. Oktober 1982 veröffentlicht. Am Freitag, den 22. Oktober 1982 informierte ich Healy persönlich darüber, dass ich seine idealistische Verfälschung der marxistischen Methodik ablehnte. Unmittelbar darauf kam es zu einer Reihe explosiver Treffen mit Healy.

Nach meiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten schrieb ich den dritten und vierten Teil, die im »Bulletin« vom 23. November und 14. Dezember 1982 veröffentlicht wurden.Zu diesem Zeitpunkt wurde die theoretische und politische Tragweite des Essays, d. h. seine grundlegende Kritik an der opportunistischen Ablehnung des Erbes der Vierten Internationale durch die WRP, von den WRP-Führern klar erkannt. Bei einem Treffen am 18. Dezember 1982 in London änderte Slaughter, der sich im Oktober noch mit meiner Kritik an Healys »Praxis der Erkenntnis« einverstanden erklärt hatte, abrupt seinen Kurs und bezeichnete mich als amerikanischen Pragmatiker.

Daraufhin zitierte ich mehrere Passagen aus »Leo Trotzki und die Entwicklung des Marxismus«, die der Frage der Methode gewidmet sind, und forderte Slaughter auf, genau zu erklären, inwiefern diese Passagen eine Neigung zum Pragmatismus erkennen ließen. Slaughter nahm die Herausforderung nicht an.

Der Essay wurde nicht in der »News Line« veröffentlicht. Die opportunistische Degeneration der Workers Revolutionary Party beschleunigte sich und gipfelte im Februar 1986 im politischen Zerfall der Organisation und ihrem Bruch mit dem Internationalen Komitee und dem Trotzkismus. Nach der Spaltung wurde der Essay im Internationalen Komitee weit verbreitet und in der Presse aller seiner Sektionen veröffentlicht.

Die ältere Generation der Genossen in der Socialist Equality Party und im Internationalen Komitee, die mit Tom zusammengearbeitet haben und sein Andenken in Ehren halten, teilen sicherlich meine Genugtuung darüber, dass diese Würdigung nun dank einer neuen Generation von Kämpfern für den Sozialismus ihren Weg in die türkische Sprache gefunden hat. Die neue Generation trotzkistischer Revolutionäre in der ganzen Welt wird sich an Tom Henehan ein Beispiel nehmen. Diese neue Ausgabe zeugt von dem wachsenden weltweiten Einfluss der Prinzipien und des Programms des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, für deren Verteidigung Tom sein Leben geopfert hat.

David North

5. Oktober 2021

I. Tom Henehan und die Ausbildung von Revolutionären

Tom Henehan und die Ausbildung von Revolutionären

Tom Henehan, ein Mitglied des Politischen Komitees der Workers League, wurde am 16. Oktober 1977 ermordet. Er überwachte an diesem Tag eine Freizeitveranstaltung der Young Socialists im Ponce Social Club in New York.

Zwei bewaffnete Männer, Angelo Torres und Edwin Sequinot, betraten das Gebäude und provozierten in Zusammenarbeit mit einem Dritten, Angelo Rodriguez, eine Auseinandersetzung am Eingang zum Disco-Saal.

Tom Henehan bemerkte die Unruhe und lief schnell zur Tür. Dort gab Torres fünf Schüsse auf ihn ab. Jacques Vielot, ein weiteres führendes Mitglied der Workers League, wurde von Sequinot angeschossen, als er versuchte Torres zu packen.

Trotz seiner eigenen schweren Bauchverletzungen gelang es Vielot, Tom, der an der Brust und im Genick schwer verwundet war, auf dem schnellsten Wege zum Wyckoff Heights Hospital zu fahren.

Henehan war noch bei Bewusstsein, als er in die Notaufnahme des Krankenhauses eingeliefert wurde. Aber aus bis heute nicht geklärten Gründen versuchte der diensthabende Chirurg entgegen der üblichen Praxis nicht, Toms innere Blutungen durch eine Operation aufzuhalten. Stattdessen ließ man ihn in der Notaufnahme liegen, bis er etwa 90 Minuten nach der Einlieferung in das Krankenhaus an Schock starb.

Mehrere Stunden nach Toms Tod, der kurz vor drei Uhr morgens eingetreten war, ließ der Chirurg Vielot in den Operationssaal bringen, um die lebensbedrohlichen Kugeln aus seinem Körper zu entfernen. Vielot überlebte und trug keine Folgeschäden davon.

Ein politischer Mord

Der Anschlag auf Tom Henehan war politisch motiviert. Zum Zeitpunkt seiner Ermordung führte das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) eine Untersuchung über den Mord an Leo Trotzki durch. Es war bei der Klärung der Umstände, die den Anschlag in Mexiko im August 1940 umgaben, einen entscheidenden Schritt vorangekommen. Das IKVI hatte soeben aufgedeckt, dass Joseph Hansen, der Führer der revisionistischen Socialist Workers Party, in den ersten Wochen nach Trotzkis Ermordung versucht hatte, über das US-Außenministerium geheime Verbindungen zum Geheimdienst Federal Bureau of Investigation (FBI) anzuknüpfen. Nur wenige Monate vor dem Mord an Tom hatte Hansen geschrieben, dass das Internationale Komitee »tödliche Konsequenzen« zu erwarten hätte, wenn es die Untersuchung nicht einstelle.

Nun war Tom Henehan tot. Im Alter von 26 Jahren und 7 Monaten starb er als Märtyrer der trotzkistischen Bewegung. Er hatte sein Leben gegeben, um die Arbeiterklasse von der kapitalistischen Unterdrückung zu befreien. Die kapitalistische Presse berichtete mit keinem Wort über den Mordanschlag. Weder die Socialist Workers Party (SWP) noch die stalinistische Kommunistische Partei widmeten dem Mord an Genossen Tom Henehan auch nur eine einzige Zeile. Die SWP wollte nicht einmal eine Erklärung veröffentlichen, um den Anschlag zu verurteilen. Stattdessen wiederholte sie die offizielle Polizeilüge und erzählte ihren Mitgliedern, die Schüsse auf Tom seien eine »sinnlose Mordtat« gewesen.

Die Polizei in Brooklyn, dem Stadtteil von New York, wo das Verbrechen stattgefunden hatte, behauptete, es habe nur einen bewaffneten Einzeltäter gegeben, Torres, und dieser sei trotz »Großalarm« nicht aufzufinden. Was Sequinot anging, so entließ ihn die Polizei wenige Minuten, nachdem Augenzeugen ihn als Torres’ bewaffneten Komplizen identifiziert hatten, aus der Untersuchungshaft.

In den folgenden drei Jahren führten die Workers League und die Young Socialists eine unermüdliche Kampagne in der Arbeiterbewegung, um den zuständigen Staatsanwalt in Brooklyn zu zwingen, Haftbefehl gegen Torres und Sequinot zu erlassen. Gewerkschaftsführer, die mehrere Millionen Mitglieder vertraten, und Zehntausende Arbeiter und Jugendliche schickten Briefe und Unterschriftensammlungen, in denen die Verhaftung von Torres und Sequinot gefordert wurde – sehr zur Überraschung des zuständigen Polizeikommissars, der der Workers League nur zehn Tage nach dem Mord erklärt hatte: »Henehan war nur ein Commie (Kommunist), für seinen Tod werden sich höchstens noch ein paar Commies interessieren.«

Am 15. Oktober 1980 wurde Torres verhaftet und angeklagt, Tom Henehan ermordet und Jacques Vielot angeschossen zu haben. Aus behördlichen Akten, die sich die Workers League aushändigen ließ, ging hervor, dass Torres schon einmal von der Polizei festgenommen und kurz darauf wieder auf freien Fuß gesetzt worden war, obwohl schlagende Beweise für seinen Mord an Tom vorlagen. Zwei Monate später verhaftete die Polizei nach langem Zögern auch Edwin Sequinot. Beide hatten die ganze Zeit seit dem Mord zu Hause in Brooklyn gelebt und nicht einmal die Wohnung gewechselt.

Im Juli 1981 begann der Prozess gegen Torres und Sequinot. Die Anklage lautete auf Mord an Tom Henehan und Schüsse auf Vielot. Torres wurde des Mordes für schuldig befunden und im August zu lebenslänglicher Haft verurteilt, aus der er bei guter Führung frühestens nach 25 Jahren entlassen werden konnte. Sequinot wurde des Totschlags und des versuchten Mordes für schuldig befunden und wie Torres zu mindestens 25 Jahren Haft verurteilt.

Aber für die Workers League ist die Erforschung der Umstände von Toms Ermordung damit nicht abgeschlossen. Die Mörder sind im Gefängnis, aber diejenigen, die diesen Mord planten und anordneten, müssen noch zur Rechenschaft gezogen werden. Wir sind sehr zuversichtlich, dass wir die Verschwörung zu Toms Ermordung in allen Einzelheiten aufdecken werden, wenn wir uns auf die revolutionäre Stärke der Arbeiterklasse stützen.

Fünf Jahre nach seinem Tod ist die Erinnerung an Tom Henehan in der Workers League und in jeder anderen Sektion des Internationalen Komitees so lebendig wie am ersten Tag. Hunderttausende Arbeiter, Jugendliche und antiimperialistische Freiheitskämpfer wissen von Tom Henehans Kampf und schöpfen Kraft aus seinem Leben.

Tom war erst 26, als er starb, und seine Arbeit in der Workers League umfasste nur viereinhalb Jahre. Aber kein Mitglied unserer Bewegung, das Tom kannte, wird je seine Entschlossenheit, seine Begeisterung und seine völlige Hingabe für die Sache vergessen. Er besaß ein außerordentlich feines Gespür für die Kämpfe der Arbeiterbewegung, und das versetzte ihn in die Lage, sehr enge Beziehungen zu breiten Schichten aus allen Teilen der Arbeiterklasse aufzubauen, von arbeitslosen Jugendlichen und Werftarbeitern in Brooklyn bis hin zu Bergleuten in West Virginia.

Die Ausbildung eines Revolutionärs

Aber wenn wir es dabei bewenden lassen, Toms persönliche Qualitäten zu nennen, können wir sein Leben und seine Rolle in der Workers League nicht verstehen. Auf einer Gedenkveranstaltung, die schon sechs Tage nach Toms Tod in New York stattfand, erklärte Mike Banda, Generalsekretär der britischen Workers Revolutionary Party zu Recht: »Niemand wird als Revolutionär geboren. Revolutionäre werden geschmiedet. Sie werden ausgebildet aufgrund der Erfahrungen unserer Bewegung, durch das Eingreifen ihrer Führung, und aufgrund des gesamten Kampfs der vorangegangenen Generationen.«

Das galt natürlich auch für Tom. Seine politische Entwicklung war verbunden mit den historischen Kämpfen, in denen sich die trotzkistische Bewegung fast sechs Jahrzehnte lang gestählt hatte und aus denen auch die Workers League hervorgegangen war. Der eigentliche Kern der Kaderausbildung besteht darin, dass sich alle, die der Partei beitreten, bewusst den revolutionären Grundsätzen unterordnen, die die historische Kontinuität des Marxismus beinhalten. Mit »historischer Kontinuität« meinen wir die ununterbrochene Kette der politischen und ideologischen Kämpfe, die unsere internationale Bewegung gegen den Stalinismus, die Sozialdemokratie, den Revisionismus und alle anderen Feinde der Arbeiterklasse geführt hat.

Die individuellen Fähigkeiten der einzelnen Kader können kein Ersatz für unsere kollektive Verantwortung sein, die politischen und theoretischen Errungenschaften unserer Bewegung geschichtlich zu erarbeiten und zu begreifen. Lenin, Trotzki, die Bolschewistische Partei und die Linke Opposition sind nicht einfach große Führer und Organisationen der Vergangenheit, über die wir gelegentlich ein Buch lesen und die wir bei besonderen Gelegenheiten ehren. In all seiner theoretischen und praktischen Arbeit, in der Entwicklung der dialektisch-materialistischen Methode, die uns die Erarbeitung wissenschaftlicher revolutionärer Perspektiven ermöglicht, setzt das Internationale Komitee die Arbeit seiner großen Vorläufer fort und bereichert sie.

1916 charakterisierte Lenin unsere Epoche als das Zeitalter des Imperialismus, der das höchste und letzte Stadium des Kapitalismus bildet. 1938 bestätigte Trotzki diese wissenschaftliche Analyse und definierte unsere historische Periode als den Todeskampf des Kapitalismus. All die großen politischen und ökonomischen Veränderungen, die seit Trotzkis Tod auf der ganzen Welt stattgefunden haben, bestätigten immer wieder aufs Neue die historische Gültigkeit dieser Analyse und damit auch die Wissenschaftlichkeit der dialektisch-materialistischen Methode, durch die sie gewonnen wurde.

60 Jahre Kampf

Der politische Kampf, der den Trotzkismus als die Bewegung hervorbringen sollte, die die historische Kontinuität des Marxismus verkörpert, begann vor fast genau 60 Jahren im Politbüro der Kommunistischen Partei Russlands. Ende 1922 erfuhr Lenin zu seinem Entsetzen, dass Stalin und andere bolschewistische Führer während seiner Abwesenheit dafür eingetreten waren, das Außenhandelsmonopol zu lockern, obwohl dieses unverzichtbar war, um die Sowjetunion gegen den Weltimperialismus zu verteidigen. Lenin sah in dieser opportunistischen Entscheidung ein schwerwiegendes Symptom für die politische Degeneration innerhalb der alten bolschewistischen Führung, eine Widerspiegelung der zunehmenden Bürokratisierung des Staatsapparats und der Partei insgesamt. Lenin war bereits schwer krank und hatte sich nur teilweise von einem Schlaganfall erholt, der ihn im Frühjahr 1922 der Sprache beraubt hatte. Er wandte sich an Trotzki, um politische Unterstützung für den Kampf zu erhalten, die Fehlentscheidung zum Außenhandelsmonopol rückgängig zu machen.

Am 15. Dezember 1922, kurz vor seiner Abreise nach Gorki (zu einer nochmaligen Kur), schrieb Lenin an Stalin:

Ich habe jetzt endgültig meine Angelegenheiten erledigt und kann in Ruhe abreisen. Ich habe auch eine Vereinbarung mit Trotzki geschlossen, meine Ansichten über das Außenhandelsmonopol zu vertreten. Es bleibt nur noch ein Umstand, der mich sehr beunruhigt, nämlich die Unmöglichkeit, auf dem Sowjetkongress zu sprechen …

Ich bin entschieden dagegen, die Frage des Außenhandelsmonopols zu vertagen. Sollte irgendein Vorschlag gemacht werden – einschließlich der Überlegung, dass es wünschenswert wäre, dass ich mich an dieser Frage beteilige –, sie bis zum nächsten Plenum zu verschieben, so würde ich mich mit aller Entschiedenheit dagegen aussprechen, denn ich bin sicher, dass Trotzki meine Ansichten nicht schlechter verteidigen wird als ich …[Hervorhebung hinzugefügt]1

Als Stalin und diejenigen, die mit ihm gegen das Außenhandelsmonopol gestimmt hatten, mit der gemeinsamen Opposition von Lenin und Trotzki konfrontiert waren, traten sie den Rückzug an. Am 21. Dezember 1922 schrieb Lenin an Trotzki:

Wie es scheint, ist es uns gelungen, die Stellung ohne einen einzigen Schuss, durch einfaches Manövrieren, zu nehmen. Ich schlage vor, nicht stehenzubleiben, sondern die Offensive fortzusetzen und zu diesem Zweck den Antrag zu stellen, dass auf dem Parteitag die Frage der Stärkung und Verbesserung unseres Außenhandels beraten wird; dies in der Fraktion des Sowjetkongresses bekanntgeben. Ich hoffe, Sie haben keine Einwände und werden es nicht ablehnen, den Bericht vor der Fraktion zu geben.2

Es stellte sich heraus, dass die Auseinandersetzung über das Außenhandelsmonopol nur das Vorspiel zu einem härteren Kampf war, der fast im unmittelbaren Anschluss über die Art und Weise ausbrach, wie Stalin und das Oberhaupt der Tscheka (Geheimpolizei), F. Dserschinski, mit den Fragen der georgischen Nation umsprangen. Am 5. März 1923 schickte Lenin folgende dringliche Notiz an Trotzki:

Ich möchte Sie sehr bitten, die Verteidigung der georgischen Angelegenheit vor dem ZK der Partei zu übernehmen. Diese Sache wird gegenwärtig von Stalin und Dserschinski »verfolgt«, und ich kann mich auf deren Unvoreingenommenheit nicht verlassen. Sogar ganz im Gegenteil. Wenn Sie einverstanden wären, die Verteidigung zu übernehmen, dann könnte ich ruhig sein. Sollten Sie aus irgendeinem Grund nicht einverstanden sein, dann schicken Sie mir das ganze Material zurück. Ich werde das als Zeichen Ihrer Ablehnung betrachten.3

Am selben Tag verfasste Lenin einen weiteren Brief an Stalin, in dem er ihm drohte, alle Beziehungen zu ihm abzubrechen, weil Stalin sich gegenüber Lenins Frau unverschämt verhalten hatte.

Der letzte Brief, den Lenin an diesem Tag schrieb, ging an die Genossen in Georgien, die unter Stalins bürokratischem Machtmissbrauch gelitten hatten:

Von ganzem Herzen verfolge ich Ihre Angelegenheit. Ich bin empört über die Grobheit Ordschonikidses und über die Nachsicht von Stalin und Dserschinski. Ich bereite für Sie Briefe und eine Rede vor.4

Doch bevor dieses Material fertiggestellt war, erlitt Lenin noch am selben Tag einen schweren Schlaganfall, der ihn zum Ausscheiden aus dem politischen Leben zwang. Zehn Monate später, am 21. Januar 1924, verstarb Lenin.

Diese Auseinandersetzung war kein persönlicher Zwist zwischen Lenin und Stalin. Stalin verkörperte einen politischen Degenerationsprozess innerhalb der Bolschewistischen Partei. Diese Degeneration war ein Ergebnis des objektiven materiellen Drucks, den der Weltimperialismus auf den ersten Arbeiterstaat ausübte. Die ökonomische Rückständigkeit der Sowjetunion, die aus dem zaristischen Russland ererbt und durch zehn Jahre imperialistischen Krieg, revolutionäre Aufstände und dann den Kampf gegen konterrevolutionäre Kräfte verschlimmert worden war, die Verzögerung der sozialistischen Revolution in Westeuropa und die imperialistische Umzingelung der UdSSR – das waren die Bedingungen, die innerhalb der Sowjetunion zur Entstehung einer Bürokratie und zur Degeneration der Bolschewistischen Partei führten. Stalin war keineswegs ein teuflisches Genie, das sich vermittels seiner Intelligenz die absolute Macht verschaffte, sondern gerade seine politischen Schwächen machten ihn zum Instrument der bürokratischen Reaktion innerhalb der UdSSR.

Die Gründung der Linken Opposition im Herbst 1923 war die Antwort der politisch weitsichtigsten Bolschewiki, angeführt von Trotzki, auf die wachsende Gefahr einer Degeneration innerhalb der Parteiführung. Trotzkis erste Analyse dieser Gefahr, die er unter dem Titel »Der Neue Kurs« veröffentlichte, rief eine blindwütige Reaktion bei all denjenigen im Parteiapparat und in der Staatsbürokratie hervor, die spürten, dass seine Artikel ihren Konservativismus scharf angriffen und eine Bedrohung für ihre wachsenden materiellen Privilegien mit sich brachten.

Sozialismus in einem Land

Die politische Bedeutung der zunehmenden Polarisierung in der Bolschewistischen Partei wurde klar, als Bucharin und