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Daniel Kupper

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Beschreibung

Leonardo da Vinci hat mehr Forscher beschäftigt als jeder andere Künstler. Dabei erscheint heute seine «Universalität ohne Vollendung» als Versuch, die Grenzen des Wissens seiner Zeit radikal zu erweitern. Auch deshalb sind seine künstlerischen nicht von seinen wissenschaftlichen und diese nicht von seinen technischen Schöpfungen zu trennen.

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Daniel Kupper

Leonardo da Vinci

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Über dieses Buch

Leonardo da Vinci (1452–1519) hat mehr Forscher beschäftigt als jeder andere Künstler. Dabei erscheint heute seine «Universalität ohne Vollendung» als Versuch, die Grenzen des Wissens seiner Zeit radikal zu erweitern. Auch deshalb sind seine künstlerischen nicht von seinen wissenschaftlichen und diese nicht von seinen technischen Schöpfungen zu trennen.

 

Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Über Daniel Kupper

Daniel Kupper, 1956–2011, studierte Kunstgeschichte, Germanistik und Medienwissenschaften; Promotion 1988. Autor der Monographien über Anselm Feuerbach (1993, rm 50499), Michelangelo (2004, rm 50657), Leonardo da Vinci (2007, rm 50689) und Paul Klee (2011, rm 50690). Zahlreiche Veröffentlichungen in Fachzeitschriften zur Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts.

Leonardo da Vinci: ein Phantombild

Leonardo da Vinci ist nicht nur einer der bekanntesten Menschen der europäischen Geschichte, sondern auch einer der berühmtesten Künstler der Welt. Umso größer ist der Wunsch vieler Menschen, Biographen und Wissenschaftler, die Persönlichkeit dieses großen Meisters zu erforschen und seine geistige Botschaft zu entschlüsseln. Kein anderer Künstler jedoch ist immer noch von so vielen Geheimnissen umgeben. Seine Gestalt und sein Charakter haben so viel Phantomatisches, seine Werke bergen noch so viele Rätsel, dass es nicht wundert, wenn sein Name in der fiktiven Welt des Romans im Zusammenhang mit Geheimbünden, verschlüsselten Botschaften und einem «Da Vinci Code» (Dan Brown) in Zusammenhang gebracht wird. Der Sog dieses Genies ist so stark, dass sich Fiktion und Wirklichkeit so sehr vermengen können, dass zum Roman, der es in aller Regel so nicht nötig hätte, sekundäre Sachliteratur entsteht, die sich mit dem Knacken des Codes befasst.

Das Bild, das wir vom Aussehen und Charakter Raffaels oder Michelangelos heute besitzen, ist dagegen viel markanter und schärfer.

Das ist kein Zufall, denn Leonardo hat das Spiel mit Rätseln und die «Schönheit des Verrätselten»[1] geliebt und der Nachwelt vielleicht sogar ganz bewusst seine wahre Gestalt verschleiert hinterlassen. Bis heute ist die Frage seines tatsächlichen Aussehens noch nicht geklärt, und es ist eine eigene Literatur darüber entstanden. Er sei davon überzeugt, so Serge Bramly in seiner 1988 erstmals erschienenen Leonardo-Biographie, dass man bestimmte Menschen nicht begreifen kann, wenn man nicht wisse, wie sie aussehen, mit welchen äußeren Vorzügen und Nachteilen die Natur sie bedacht hat und wie sie damit umgehen.[2] Unsere Vorstellung von den Vorzügen, mit denen die Natur den Mann aus Vinci, wie ihn Bramly vorzugsweise nennt, ausgestattet hat, wurde durch ein einziges Bildnis geprägt. Es ist das berühmte Turiner Selbstporträt, das uns den Philosophen, den ‹uomo universale›, in hohem Alter zeigt, einen «Greis jenseits von Raum und Zeit, der ein so tiefes Wissen besitzt, daß es nicht mehr mitteilbar ist und kein Maß mehr kennt»[3]. Das Bildnis entfaltete im Laufe des 20. Jahrhunderts eine mythische Ausstrahlung, die die «Ikonographie des Künstlers direkt oder indirekt bestimmt»[4] hat und Zweifel an seiner Authentizität undenkbar erscheinen ließ. Dennoch ist in den vergangenen Jahren diese Zeichnung vor allem aufgrund chronologischer Widersprüche als Philosophen-«Maske» dekuvriert worden; mehr noch: Sogar die Eigenhändigkeit wurde trotz der für Leonardo typischen linkshändigen Schraffur (von links oben nach rechts unten) in Frage gestellt und der Name des Fälschers Giuseppe Bossi ins Spiel gebracht.[5] Niemand kann also heute mit absoluter Gewissheit behaupten, er wisse, wie Leonardo da Vinci jemals aussah. Dies wirft unbequeme Fragen auf und verweist so manche schöne Beschreibung ins Reich der Kolportage und Autorenphantasie.[6] Schon Ernst Gombrich hat die Problematik thematisiert und die Literatur referiert, in der die Frage gestellt wurde, wie Leonardo «wirklich aussah». Er kam zu dem Schluss, dass diese Frage vielleicht nie gelöst würde.[7]

Da Leonardo in seinen Zeichnungen fast durchweg den Typus des Feldherrenkopfs oder Nussknackergesichts in den verschiedensten Zusammenhängen variierte und man auch heute noch vielfach annimmt, er könnte diesen Gesichtern seine eigenen Züge verliehen haben, tauchen immer wieder neue Vorschläge für Selbstbildnisse auf, denen allen – bewusst oder unbewusst – gemeinsam ist, dass sie vom Turiner Selbstbildnis her- oder abgeleitet werden. Oder wie Gombrich argumentierte: «Es sollte möglich sein, fast alle männlichen Köpfe Leonardos auf einem Lichtschirm aufzureihen und die allmählichen Übergänge von einem Typus zum nächsten zu beobachten. Das Turiner Selbstporträt würde dabei irgendwo in der Mitte zu stehen kommen.» Dabei ist zu beachten, dass die Feststellung, Leonardo habe jenen Typus variiert, den er für seinen eigenen gehalten habe[8], nur eine These darstellt. Solange also die Authentizität des Turiner Kopfes nicht bewiesen ist, beruhen alle Selbstbildnis-Vorschläge auf einem Zirkelschluss. Denn ebenso gut könnten all die immer wieder auftauchenden Variationen einschließlich des Turiner Bildnisses ihren Ursprung in der Werkstatt Verrocchios haben, nämlich im genannten Feldherrentypus, den dieser in seinem Reiterstandbild des «Colleoni» in Venedig schuf und der in Leonardos Werk paradigmatische Wirkung gehabt haben kann. Es könnte sich um die Ausprägung und Aneignung eines zeichnerischen Moduls handeln, das der Ökonomie des Arbeitens diente. Aus dem Gedächtnis hätte er so einen Typus immer wieder variieren und ihm, je nach Darstellungszweck, unterschiedlichen Haarschopf und Gesichtsausdruck verleihen, ihn als Glatzköpfigen für Proportionsstudien, aber auch als langhaarigen Greis, der in einen Wasserstrudel schaut, darstellen können. Sogar die pathognomischen Studien und exzentrischen Überzeichnungen wären aus einem solchen Typus abzuleiten. Und er hätte ihn nachvollziehbar altern lassen können.[9]

In der künstlerischen Entwicklung Leonardos spielt die Aneignung eines aus dem Gedächtnis abrufbaren figuralen Repertoires durch unablässige Übung eine wesentliche Rolle.[10] Der einzige Ausweg aus diesem Dilemma wäre die Entdeckung eines Bildnisses des Meisters, das nicht von ihm selbst stammt und das dann zum physiognomischen Vergleich herangezogen werden könnte. Carlo Pedretti hält ein solches Bildnis im Fall von Bramantes Doppelporträt «Heraklit und Demokrit» (siehe Seite 3) der Casa Panigarola in Mailand für möglich.[11] Sehen wir also auf dem mittlerweile abgenommenen, heute in der Pinacoteca di Brera aufbewahrten Fresko Leonardo als Heraklit? Hier sind die auffälligsten physiognomischen Merkmale des Gesichts das vorstehende Kinn, schmale Ober-, breite Unterlippe und eine außergewöhnlich stark ausgeprägte Kiefermuskulatur. Besonders dieses Merkmal ist auffällig bei dem jungen Mann am rechten Bildrand der Anbetung der Könige, der in der Forschung verschiedentlich als Selbstbildnis des jungen Leonardo angesehen wird. Aber auch diese Überlegungen sind im Augenblick Vermutungen, die sich nur schwer beweisen lassen werden. Es gibt noch ein weiteres angebliches «Bildnis», und zwar in Raffaels «Schule von Athen» in der Gestalt des Platon. Dort aber wäre Leonardo, wenn wir der Chronologie folgen, gerade einmal 50 Jahre alt, während das Fresko einen Greis zeigt. Umgekehrt könnte auch Leonardo «seine Züge denen von Raffaels Platon angeglichen haben»[12].

Von all den hier genannten Möglichkeiten einmal abgesehen, erscheint es vollkommen ausgeschlossen, die Verschmelzung des Namens «Leonardo da Vinci» mit dem angeblichen Turiner «Selbstbildnis» rückgängig zu machen; so sehr hat es sich geradezu in das Bewusstsein der Menschheit eingeschrieben, dass sie vielleicht lieber die durch das Bild erzeugte Illusion als die Wirklichkeit eines schemenhaften Phantoms in Kauf zu nehmen bereit ist.

Wie steht es nun um das Werk selbst? Was die berühmtesten Gemälde betrifft, so ist besonders Mona Lisa zu einem kaum noch zu steigernden Kultbild geworden, das aber, um eine Formulierung von André Chastel zu benutzen, hinter diesem Kult vom fast ‹völligen Verschwinden› bedroht ist. Wer vermag sie denn wirklich noch unverbrauchten Blicks zu betrachten, ohne sich nicht an ihre Ent- und Verfremdungen der Kunstgeschichte, ihren Verbrauch in Werbung und sonstiger Öffentlichkeit bis hin zum Ulk und zur Verballhornung zu erinnern? Man hat immer vom Rätsel ihres Lächelns gesprochen und es auch besungen, sich gefragt: «Warum lächelt Mona Lisa?», wie der schöne Titel des Buches von Paul Barolsky lautet, der sich mit den «schönen Lügen der Literatur» und den durch Giorgio Vasari verbreiteten Künstlerlegenden befasst. Auch mit der Mona Lisa lädt uns Leonardo offensichtlich zu einem Bilderrätsel ein, zu einem intellektuellen Spiel mit der menschlichen Wahrnehmung.

Auch andere Werke umgibt heute noch die Aura des Rätselhaften. Ist der Vitruvianische Mensch oder auch Vitruvmann wirklich nur eine Proportionsstudie? Warum hat Leonardo nicht zwei getrennte «Vitruvmänner» gezeichnet, sondern stattdessen einen Körper mit Rumpf und Kopf, aber doppelten Gliedmaßen? Warum fehlt in der zweiten Fassung der Felsgrottenmadonna die zeigende Hand des Engels Uriel? Und was hat das Lächeln des Johannes – eines der letzten Werke Leonardos – zu bedeuten?

Obwohl es heute insgesamt nur rund 15 unumstritten Leonardo zugeschriebene Gemälde gibt – früher waren es noch weit weniger und viele Datierungen werden in der Forschung noch umfangreich diskutiert –, sind bis heute viele Fragen ungeklärt und noch nicht alle Bedeutungsmöglichkeiten ausgeschöpft, nicht zuletzt weil Leonardo diese Vieldeutigkeit beabsichtigte. Besonders deutlich wird dies bei seinen Abweichungen von der traditionellen christlichen Ikonographie, die teilweise häretische Züge tragen. Damit war er der erste Künstler der Renaissance, der sich aus dem Handwerk löste und sich die Freiheit nahm, Aufträge nach seinen und nicht nur nach den Bedingungen des Auftraggebers auszuführen. Möglicherweise war dieser Freiheitsdrang einer von mehreren Gründen dafür, dass Leonardo im Gegensatz zu seinen Konkurrenten nie zur Ausführung eines monumentaleren Kirchenauftrags[13] gelangte. Man stelle sich gegen dieses kleine malerische Œuvre das in einem viel größeren Zeitraum geschaffene Riesenwerk Michelangelos vor, das in der Bauleitung St. Peters gipfelte. Aber Leonardo hatte einen universellen Anspruch, universeller als je ein Künstler vor oder nach ihm, und es wird die Frage zu beantworten sein, warum dieser ohne Vollendung blieb. Bereits die Zeitgenossen und späteren Biographen bemängelten an ihm eine gewisse, schon fast sprichwörtliche Saumseligkeit. Er hätte, wie Vasari bemerkt, mehr ausführen und erreichen können, «wäre er nicht derart wechselhaft und unbeständig gewesen» («fatto profitto grande, se egli non fusse stato tanto vario et instabile»)[14].

Generationen von Forschern waren und sind in unermüdlicher Kleinarbeit dabei, das gigantische Puzzle seiner Zeichnungen und Handschriften, die sogenannten Codices, zusammenzusetzen. Nach dem Tod seines treuen Schülers Francesco Melzi, dem er den schriftlichen Nachlass vermachte, wurde dieser auseinandergerissen, vieles verschwand oder wurde Objekt der Spekulation. In vorsichtigen Schätzungen wird davon ausgegangen, dass mindestens ein Drittel seines ursprünglichen schriftlichen Nachlasses untergegangen ist. Heute hat sich durch die kunsthistorische Analyse des verbliebenen Nachlasses das Bild vom großen Universalgenie erheblich gewandelt. Der Blick in die Wissenschaftsgeschichte, in zeitgenössische Traktate und Abhandlungen hat die Auffassung vom großen, teils um Jahrhunderte vorausdenkenden Meister relativiert und ihn wieder auf ein menschliches Maß in die Augenhöhe seiner Zeitgenossen gerückt. Nicht der Fallschirm, nicht der Hubschrauber, nicht das Unterseeboot, nicht der Panzer mit Pferdeantrieb oder sonstige mechanische und technische Kabinettstücke sind ausschließlich seine genuinen Erfindungen oder Schöpfungen. Das wird so manchen enttäuschen, für den Leonardo nicht nur einer der größten Künstler, sondern auch ein Idol als genialster und kreativster wissenschaftlicher Kopf dieser Zeit ist.

Dieser Enttäuschung kann jedoch eine erstaunliche Erkenntnis entgegengesetzt werden, die Leonardo in ganz anderer Weise mit unserer Gegenwart verbindet: Die Geschichte der modernen Wissenschaft, die im Grunde erst nach Leonardos Auftauchen beginnt, ist, vereinfacht gesagt, durch eine lineare Strukturierung des Denkens geprägt. Erst ungefähr ab Mitte des 20. Jahrhunderts verändert sich diese Strukturierung, und es tritt daneben eine Organisation des Denkens in Netzstrukturen auf, in der das Assoziative und Unscharfe einbezogen werden kann, weil es dem tatsächlichen Denken des Menschen gerechter wird. Ohne diese Erweiterung des klassischen Logiksystems (durch die sogenannte Fuzzylogik) wäre beispielsweise die moderne Regelungstechnik nicht möglich. Auch das Internet, dessen Sprache der Hypertext ist, wäre nie erfunden worden. Man kann Leonardos Codices durchaus als einen ersten riesigen Hypertext bezeichnen. Schon André Chastel hat vor dem Zeitalter des Internets auf die netzartige Struktur der Manuskripte Leonardos hingewiesen.[15] Vielleicht ist uns Leonardo gerade deshalb heute immer noch oder wieder so nah, denn in keinem anderen Menschen vor ihm kulminierte die Idee von der explosionsartigen Expansion des Wissens und der Unendlichkeit der Bewegung des menschlichen Geistes eindringlicher.[16]

Gleichzeitig liegt darin einer der Gründe dafür, dass es der Meister aus Vinci nie geschafft hat, auch nur ein Thema aus dem Netzwerk seiner niedergelegten Gedanken, etwa dem Buch über die Malerei oder über die Anatomie, zu systematisieren und zu veröffentlichen. Das Interesse seiner Beobachtung, der Strom seiner Gedanken trieb ihn ständig weiter, zu einem anderen Detail, zu einer anderen Variante, zu einer anderen Beobachtung, zu einem anderen Gedanken, an einen anderen Ort. Es ist viel wahrscheinlicher, dass es, hätte er zwanzig Jahre länger gelebt, zwar mehr Skizzen- und Notizbücher gegeben hätte, aber nicht ein einziges gedrucktes Werk. Aus dieser Struktur seines Denkens resultiert seine lebenslange Beschäftigung mit allen Formen von Bewegungen. In der Malerei ist es die Darstellung der Bewegung der Seele, in der Natur der Flug der Vögel, die Strömung des Wassers, die Bewegung des Menschen und die Bewegung der Umgebung bei Unwetter und Sintflut. Im Laufe seiner Entwicklung muss Leonardo seine Beobachtung derart geschärft haben, dass er dabei Bewegung, wie die des schlagenden Flügels eines Vogels, in einzelne Phasen zu teilen vermochte, sodass seine Zeichnungen zu Bewegungen fast fotografisch und wie die Bilder kleinster Filmsequenzen wirken.

Nicht die Fülle seines Wissens, sondern die besondere Struktur seines enzyklopädischen Universalismus, der die Unendlichkeit von Mikro- und Makrokosmos umspannen wollte und der ihn weit über das Künstlertum seiner Kollegen und den wissenschaftlichen Anspruch seiner Zeitgenossen hinaushob, macht Leonardos Modernität und seine Aktualität aus. Umso spannender wird das Abenteuer sein, sich erneut auf die Spuren dieses einzigartigen Meisters zu begeben, der mit seinem Denken und seinem Werk der Moderne zwar so nah ist, uns aber mit seiner tatsächlichen Persönlichkeit jenseits von Maskierung und Verrätselung immer noch so fern und unerschließbar zu bleiben scheint.

Kindheit, Jugend und Ausbildung in Florenz 1452 bis 1481

Eine der wenigen präzisen biographischen Daten über den rätselhaften Mann aus Vinci entnehmen wir einer erst 1939 von Emil Möller entdeckten Urkunde aus dem Staatsarchiv Florenz. Sie verzeichnet Tag und Stunde seiner Geburt im Jahr 1452: «Am 15. April, Samstag, nachts um 3 Uhr wurde mein Enkel, Sohn des Ser Piero, meines Sohnes, geboren. Er erhielt den Namen Lionardo.»[17] Wir verdanken diese Notiz der Akkuratesse des Großvaters Antonio da Vinci, der wie seine Vorfahren zum Berufsstand der in Florenz arbeitenden Notare gehörte und deren Namen man schon im Zusammenhang der Verbannung Dantes aus Florenz im Jahr 1302 begegnet.[18] Darüber hinaus wissen wir fast nichts über Leonardos Kindheit; nicht einmal, ob der uneheliche Junge im Dorf Anchiano geboren wurde, wo die Touristen heute zur «Casa Natale di Leonardo», zu seinem angeblichen Geburtshaus pilgern, oder im rund drei Kilometer entfernten Vinci. Die wenigen Fakten, die wir kennen, ergeben sich aus den Steuererklärungen seines Großvaters, aus denen zu schließen ist, dass der Junge im Jahr 1457 nicht bei seinem Vater Ser Piero, sondern im Haushalt des Großvaters lebte. Leonardos Mutter Caterina wurde nach ungefähr einem Jahr – wegen der Stillzeit des Jungen oder aus Gründen des Anstands? – mit dem Bauern Antonio Buti[19] verheiratet, zog nach Campo Zeppi in dessen Haus und gebar dort fünf Kinder.

Es bedarf nicht viel Phantasie, sich vorzustellen, welche Wirkung dieser Liebesentzug auf Leonardo gehabt haben muss; am Anfang seines Lebens stand eine große seelische Verletzung, die sein Leben lang aus dem Unterbewusstsein Charakter und sexuelles Verhalten beeinflussen sollte. Letzterem hat sich Sigmund Freud in einer seit Meyer Schapiros ‹Verriss› in Kunsthistorikerkreisen nicht mehr sonderlich geschätzten Studie über «Eine Kindheitserinnerung» Leonardos gewidmet. An der negativen Einschätzung der Freud’schen Studie hat sich auch seit Kurt Eisslers Versuch einer Ehrenrettung nichts geändert. Obwohl Freud durch einen Fehler in der von ihm benutzten Übersetzung von Marie Herzfeld falsche Schlüsse ziehen musste, ist jedoch, wie Daniel Arasse überzeugend ausführt[20], die erotische und auch homoerotische Assoziation des in der Erinnerung genannten Bildes nicht von der Hand zu weisen: Daß ich so genau über die Gabelweihe schreibe, muß mir vom Schicksal bestimmt sein, denn in der ersten Erinnerung aus meiner Kindheit schien es mir, als wäre, während ich in der Wiege lag, eine Gabelweihe [in der Herzfeld’schen Übersetzung heißt es «Geier»][21] zu mir gekommen und hätte mir mit ihrem Schwanz den Mund geöffnet und mich mit diesem Schwanz oftmals innen an die Lippen geschlagen.[22] Der Wert der Freud’schen Studie liegt weniger im intellektuell-analytischen Bereich, sondern im intuitiven Spürsinn des Psychoanalytikers, der die assoziative Kraft des Bildes als Reflexion der Mutter-Sohn-Beziehung interpretierte.[23]

Wie erwähnt war Leonardo ein uneheliches, illegitimes Kind («Leonardo figliuolo di detto ser Piero non legiptimo nato di lui et della Chaterina»)[24], ein «bastardo», dem von vornherein ein gesellschaftlicher Aufstieg, ein angesehener Beruf – wie der des Notars – verwehrt wurde. Daher war er früh für eine kaufmännische oder handwerkliche Berufsausbildung bestimmt, sodass er von einer Art Grundschule, wo Lesen und Schreiben gelernt wurde, in die «scuola d’abbaco» (Rechenschule) wechselte, die man auch als eine allgemeine Berufsschule bezeichnen könnte. Dort wurde er auf die Erfordernisse der Praxis vorbereitet. Leonardo schrieb zeitlebens in der Kaufmannsschrift, die er dort erlernte und die eng mit der Volkssprache verbunden war. Sie unterschied sich deutlich von der der Gelehrtenschrift. Allerdings darf man sich die gesellschaftlichen Unterschiede nicht wie eine vollkommene Ständetrennung vorstellen. Es gehört zu den Mythen der Renaissance, dass es ein ausgesprochenes «Schlachtfeld» gegeben habe, «auf dessen einer Seite die Wissenschaftler, Techniker, religiösen Erneuerer und die Begründer von Politik und Recht kämpften, während auf der Gegenseite die traditionalistischen Theologen, die Metaphysiker, die humanistischen Literaten, die letzten Apologeten des sterbenden Mittelalters sowie die Fanatiker der Antike und der klassischen ‹Rhetorik› ins Feld» gezogen seien.[25]

Leonardo muss Vinci zwischen 1465 und 1469[26] verlassen haben und zu seinem Vater nach Florenz gezogen sein, der mittlerweile zum zweiten Mal verheiratet und ein einflussreicher Notar der Signoria geworden war. In diesem Zeitraum trat der junge Künstler in die Werkstatt Andrea del Verrocchios ein. Die künstlerischen Anfänge Leonardos darf man sich weit prosaischer vorstellen, als es sich beispielsweise in den «Viten» Vasaris liest: Leonardo habe viele Dinge angefangen und wieder aufgegeben, aber niemals habe er das Zeichnen und plastische Arbeiten vernachlässigt («non lasciò mai i disegnare et il fare di rilievo»). Sein Vater Piero habe dieses Talent erkannt und seinem guten Freund Verrocchio Zeichnungen vorgelegt, der «erstaunt» über «die großartigen Anfänge» («grandissimo principio») gewesen sei und ihn in seine Werkstatt aufgenommen habe.[27] Um die Mitte des Quattrocento war jedoch eine Künstlerwerkstatt oder Bottega ein Handwerksbetrieb – der dann in den frühen Biographien Leonardos von Paolo Giovio (1527) und des Anonimo Gaddiano (1545) keinerlei Erwähnung findet. Erst mit Leonardo, Michelangelo und Raffael sollte sich das individualistische Künstlertum entfalten und der Geniebegriff im modernen Sinn entstehen, den Vasari nicht zuletzt mit den Biographien der drei ‹Künstlergiganten› entwickelte. Als seine «Viten» in der 2. Auflage erschienen, waren die drei großen Renaissance-Genies bereits tot – Leonardo fast schon ein halbes Jahrhundert –, und deren Ruhm hatte weit über Italien hinausgestrahlt. Die Wahl, die Leonardos Vater zu treffen hatte, war beschränkt auf Berufe wie Bäcker, Schmied, Steinmetz oder auch Maler. Dem Zwang der eingeschränkten Berufswahl verdanken wir übrigens auch andere große Künstler der Renaissance wie Giotto oder Masaccio.

Der Ablauf der Ausbildung[28] Leonardos ist zwar nicht dokumentiert, aber aus Cennino Cenninis zu Beginn des Quattrocento entstandenem «Libro dell’arte» ist zu erfahren, dass allen Künsten, Malerei, Bildhauerei und Architektur, das Zeichnen und Kolorieren als Grundlage vorangestellt waren. Dies und das Kopieren der besten Meister, von denen es in Florenz etliche gab, bilden den Ausbildungsrahmen des gesamten Jahrhunderts, der entsprechend in den Traktaten der Zeit auftaucht, etwa in Lorenzo Ghibertis «Commentarii» oder Leon Battista Albertis «Della Pittura».

Verrocchio hatte eine Goldschmiedausbildung und war möglicherweise Schüler der Bildhauer Donatello, Antonio Rossellino oder Desiderio da Settignano. Was die Malerei betrifft, so werden als Lehrer Filippo Lippi oder die Brüder Pollaiuolo in Betracht gezogen.[29] Verrocchios Bottega gehörte in der zweiten Hälfte des Quattrocento zu den fortschrittlichsten Werkstätten. Man studierte die Errungenschaften des Nordens, der niederländischen Malerei mit ihrem Wirklichkeitssinn, und machte sie sich zunutze. Das Entscheidende aber ist, dass Verrocchio künstlerische Universalität forderte, die Malerei, Plastik und Bauschmuck, intensives Studium der Anatomie, Mathematik und Optik, die zeichnerische Analyse des menschlichen Körpers sowie die Beherrschung von Licht und Schatten einschloss.

Leonardos Ausbildung in Verrocchios Werkstatt war 1472 abgeschlossen; denn von diesem Zeitpunkt an wurde er als Mitglied der Malergilde geführt, was nicht bedeutet, dass er die Werkstatt sofort verlassen haben muss. Jedenfalls währte die Zusammenarbeit besonders im Bereich der Skulptur weitaus länger und war intensiver als bisher angenommen.[30] So sind erst 1991 von Martin Kemp und 1998 von Pedretti zwei Terrakottaplastiken, der Kopf eines Christusknaben sowie ein Engel in der Kirche San Gennaro, dem jungen Leonardo zugeschrieben worden. Der Kopf befand sich später im Besitz Giovanni Paolo Lomazzos. Auch deutet die Nachhaltigkeit, mit der die Fertigstellung und Montage der Kuppel von Santa Maria del Fiore durch Verrocchio am 27. Mai 1472 auf Leonardo gewirkt hat, darauf hin, dass er dieses technische Kabinettstückchen seines Lehrers nicht nur als Zuschauer, sondern als dessen Assistent erleben durfte.[31]

Die erste erhaltene Zeichnung Leonardos entstand am 5. August 1473; immerhin gilt sie gleichzeitig als erste reine Landschaftsdarstellung der abendländischen Kunst überhaupt. Mit dieser 19 × 28,5 cm kleinen Skizze schuf Leonardo eine neue Malereigattung. Man blickt möglicherweise vom Montalbano auf das Sumpfgebiet von Fucecchio und das Arnotal gen Pisa.[32] Die Zeichnung enthält bereits Themen, die den Künstler ein Leben lang beschäftigen werden: Wasser und Bewegung.[33] Die perspektivische Konstruktion bleibt – vermutlich absichtlich – weit hinter der zu dieser Zeit und auch der in Verrocchios Werkstatt üblichen Praxis zurück. Leonardo geht es um die Darstellung der Bewegung in der Natur, und er verwendet bereits in diesem frühen Stadium seiner Kunst eine Bildformel, die in seinem zeichnerischen Werk fortan immer wieder zu entdecken sein wird. Richten wir den Blick auf die rechte obere Blatthälfte, dann unterscheidet sie sich deutlich von der durchweg skizzenhaften Abstraktion der übrigen Fläche. Zwar ist die graphische Formel für die Darstellung der Bäume nicht neu, aber Leonardo verleiht ihr eine besondere Dynamik – isoliert betrachtet, scheint diese Hügelfläche sogar ungegenständlich.[34] Die Vegetation des Berghügels ist dort in drei Schraffur-Lagen skizziert. Die obere bezeichnet ausschließlich die Baumwipfel mit dynamischen geraden, schrägen Strichen. Die zweite Lage geht in eine leichte Rundung über. Die dritte Lage schließlich besteht aus zwei Einheiten mit angedeuteten Baumstämmen und Laub, das halbkreisförmig ‹gefächert› erscheint. Es entsteht eine Dynamik, die sich nicht nur als Schwingung der Bäume in horizontaler Richtung äußert, sondern auch in umgekehrter Richtung lesbar ist, nämlich als Welle, die sich Richtung Bergkuppe ausbreitet. Man könnte diese Darstellungsweise auch als Bildformel[35] bezeichnen, in der die Bewegung eines Gegenstandes durch drei verschiedene, logisch aufeinanderfolgende Zustände dargestellt wird. Der Betrachter vollzieht im Geist eine Analogie zwischen den in den Medien Luft und Wasser erzeugten Bewegungen. Die Zeichnung steht «im Zeichen integraler Bewegtheit. Sie scheint förmlich daraufhin angelegt, die Veränderungen der Erdoberfläche unter der Wirkung des Wassers und der Winde spürbar zu machen.»[36]

Als Leonardo diese Zeichnung schuf, war er 21 Jahre alt. Erst in den letzten Jahren hat die Forschung etwas mehr Licht in die künstlerischen Entwicklungsstufen der mindestens vier vorangegangenen Jahre bringen können. Besonderes Interesse galt dabei der Zusammenarbeit Verrocchios und Leonardos sowie der schwierigen Frage, welchen Anteil Leonardo sowohl an plastischen als auch malerischen Werken Verrocchios hatte, welcher Anteil anderen, Lorenzo di Credi, den Brüdern Ghirlandaio oder auch Sandro Botticelli zuzuschreiben ist. Hinzu kommt die Klärung der unterschiedlichsten Datierungsprobleme[37], wie sie sich beispielhaft am sogenannten Turiner «Selbstbildnis» dokumentieren ließen.

Neuerdings wird Leonardo wieder die Madonna Dreyfuss durch ihre stilistische Nähe zu Giovanni Bellini zugeschrieben. Dessen Werke sahen Verrocchio und sein Schüler Leonardo, als sie sehr wahrscheinlich gemeinsam 1469 nach Treviso bei Venedig reisten.[38] Eines der wichtigen Merkmale, an denen Leonardos Mitwirkung erkennbar ist, ist die Art seiner Landschaftsauffassung, wie sie etwa in Verrocchios «Madonna mit Kind und Engeln» aus der Londoner National Gallery zu sehen ist. Deutlich ist deren Hintergrund – mit einem solitären Fels und der zeichnerischen Behandlung der Vegetation – mit dem bereits erwähnten Arnotal aus den Uffizien verwandt.