Lernen S' Geschichte, Herr Reporter! - Ulrich Brunner - E-Book

Lernen S' Geschichte, Herr Reporter! E-Book

Ulrich Brunner

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Beschreibung

Dem Mythos Bruno Kreisky auf der Spur Wie war es als Journalist, einen Politiker mit Ecken und Kanten wie Bruno Kreisky aus nächster Nähe zu erleben? Ulrich Brunner, der einst von Kreisky mit dem legendären Zitat »Lernen S' Geschichte!« angegangen wurde, erzählt von seinen Begegnungen mit dem Staatsmann und lässt uns hinter die Kulissen blicken. Wie unterschieden sich Privatmann und öffentliche Person? Woher kamen seine politischen Ambitionen? Wie hat er die Politik Österreichs nachhaltig geprägt? - Porträt eines herausragenden SPÖ-Politikers: Wie Kreiskys Biografie mit der Entwicklung der Zweiten Republik verschränkt ist - Packend geschrieben, mit Insiderwissen, über das nur wenige verfügen: Ulrich Brunners Erinnerungen an den Jahrhundertkanzler - Willy Brandt, Olof Palme, Otto Bauer, Dr. Karl Renner: Welche Persönlichkeiten beeinflussten Kreiskys politisches Selbstverständnis? - Der Sozialdemokratie verpflichtet: Wie die Unterdrückung durch den Austrofaschismus Kreisky prägte Lieber Staatsschulden und dafür Vollbeschäftigung: Die Prioritäten des Staatsmannes Kreisky Arbeitslose hätten ihm mehr schlaflose Nächte bereitet als weniger Geld in der Staatskasse: Durch solche und andere Zitate, oft aus dem berühmten Pressefoyer entnommen, ist Kreisky auch heute noch im politischen Gedächtnis präsent. Ulrich Brunner, selbst jahrzehntelang Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Österreichs, begann seine Karriere bei der Arbeiterzeitung und war schließlich beim ORF beschäftigt. In diesem Sachbuch kommentiert er die Ära Kreisky ebenso kenntnis- wie anekdotenreich aus der Perspektive des Journalisten und Wegbegleiters. Dadurch ist ihm eine Biografie gelungen, die den Mythos Kreisky durchaus kritisch hinterfragt und die Geschichte der SPÖ nachzeichnet – eine genauso unterhaltsame wie informative Reise durch die Nachkriegsgeschichte Österreichs!

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Ulrich Brunner

Lernen S’Geschichte,Herr Reporter!

Bruno Kreisky

Episoden einer Ära

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Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage

© 2020 Ecowin Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gesetzt aus der Palatino, Centennial LT Std, DIN Medium

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Umschlagmotiv: © ullstein bild - Imagno

ISBN 978-3-7110-0263-1

eISBN 978-3-7110-5288-9

Für Marina und Julian

INHALT

Vorwort

Prolog

Ein Brief von Bruno Kreisky

Mein Weg zum Journalismus

Bei den sozialistischen Studenten

Der Niedergang der Arbeiter-Zeitung

Kreiskys Weg ins Kanzleramt

Kreisky im Gefängnis

Schwierige Rückkehr nach Österreich

Der Parteitag 1967

Zwischen Otto Bauer und Karl Renner

Kreisky auf Renner-Kurs

Der Einzelkämpfer

Die Traumata Kreiskys und Brandts

Kreisky und die »kleinen Leute«

Die Arbeiter und die Republik

Kreisky und die Journalisten

Erstes Telefonat mit Kreisky

Die Quadratur des Kreisky

Wie Kreisky Journalisten »einkochte«

Das Pressefoyer

Der Meister der präzisen Unschärfe

Die Generalvollmacht

Wie ich die Gunst Kreiskys verlor

»Lernen S’ Geschichte, Herr Reporter!«

Der Nimbus des Unbesiegbaren

Der unbeherrschte Kreisky

Der rastlose Politiker

Der Fall Schranz als Medienereignis

Kreisky und Bacher

Kreisky und die Macht

Politik als Kunst des Möglichen

Broda und Androsch als Zugpferde

Kreisky und Androsch

Ex-Nazis in Kreiskys Regierung

Der charismatische Kreisky

Kreisky und die Fristenlösung

Kreisky und die Frauenbewegung

Kein Leben ohne Politik

Kreisky und die Schulden

Kreisky und das Judentum

Die Juden in der Sozialdemokratie

Die Angst vor dem Antisemitismus

Die Wiesenthal-Affäre

Parallelen zwischen Kreisky und Rathenau

Kreiskys Humor

Kreiskys jüdische Identität

Das Ende der Ära Kreisky

Das Mallorca-Paket

Der schwerkranke Kreisky

Kreisky im Alter

Der Narzisst

Das Leiden von Politikerkindern

Das Ende

Epilog

Mein Abschied von der SPÖ

Postskriptum

Bibliografie

Personenregister

Zeittafel

Bildnachweis

VORWORT

2020 ist es 50 Jahre her, dass Bruno Kreisky die erste SPÖ-Alleinregierung der Zweiten Republik gebildet hat, vor 30 Jahren ist er in einem Staatsakt zu Grabe getragen worden. Er war gemeinsam mit Willy Brandt und Olof Palme eine der großen Gestalten der Sozialdemokratie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese Parteiführer stehen für das goldene Zeitalter der Sozialdemokratie, die im Positiven wirkmächtigste politische Bewegung des 20. Jahrhunderts. Ein Blick zurück lässt den Niedergang der Sozialdemokratie umso deutlicher hervortreten.

Die Sozialdemokratie droht heute an einer Gemengelage zu scheitern, die nicht leicht aufzulösen ist. Hauptursache ist wohl die Globalisierung, also der freie Warenverkehr, dem in den letzten Jahren auch ein ziemlich unkontrollierter Menschenverkehr durch Migration und Asyl folgte. Der freie Warenverkehr hat schon länger zu einem schleichenden Wohlstandstransfer von den entwickelten Ländern in Entwicklungs- und Schwellenländer geführt. Das begann schon ab 1960, als die Textilindustrie nach Asien übersiedelte, dann folgte die Fotoindustrie, wofür in Österreich beispielhaft der Niedergang des Radio- und Kameraherstellers Eumig steht. Mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Imperiums 1990 hatten westliche Konzerne plötzlich gut ausgebildete Industriearbeiter vor der Haustür, die billiger waren als einheimische Fachkräfte. Also wanderten wieder ganze Branchen ab. Eigentlich hätte die Abwanderung ganzer Industriezweige zu einem geringeren Einkommen der arbeitenden Menschen in den westlichen Industrieländern führen müssen. Das wurde aber durch neue Staatsverschuldung abgemildert.

Von ihrem programmatischen Anspruch her hätte die Sozialdemokratie Verständnis dafür zeigen müssen, dass auch Menschen in anderen Ländern Wohlstand haben wollen – und dass dies zum Teil auf Kosten der westlichen Welt gehen wird. Es wäre nicht einfach gewesen, das den Wählern zu erklären. Es ist erst gar nicht versucht worden. Noch schwieriger ist es, den eigenen Wählern zu vermitteln, dass Menschen als Migranten oder Flüchtlinge hierherkommen, weil in ihren Heimatländern der Aufbau eines demokratischen Wohlfahrtstaates gescheitert ist – durch Religion, Tradition und übergroßes Bevölkerungswachstum.

Diese Menschen kommen mit Wertvorstellungen, die in ihren Heimatländern genau zu jenen Zuständen geführt haben, vor denen sie emigriert oder geflüchtet sind. Sie legen diese Wertvorstellungen aber mit dem Erreichen Europas nicht ab. Dies führt zu Konflikten im Zusammenleben mit Einheimischen, die die sozialdemokratischen Parteien gröblich unterschätzt haben. Das Entstehen von Parallelgesellschaften, die Probleme in den Schulen, vor allem mit Kindern aus moslemischen Familien – das alles wurde weitgehend ignoriert. Die SPÖ stellte sich zum Migrationsthema zu lange tot. Dass die SPÖ keine klare Haltung in der Migrationsfrage entwickelt hat, hängt wohl mit der Angst vor einer Spaltung der Partei zusammen. Eine linke Minderheit steht für Verklärung von Multikulturalität, die Mehrheit findet den Anteil der Ausländer zu hoch, plädiert für geschlossene Grenzen. Die einen sehen Zuwanderung aus anderen Kulturen als Bereicherung, vor allem Unterschichten empfinden die Einwanderer als Konkurrenten am Arbeitsmarkt und um Sozialleistungen. Da sich die SPÖ nicht entscheiden kann, rinnt sie nach allen Seiten aus: die Multikulti-Fans zu den Grünen, die Migrationskritiker zur Kurz-ÖVP, zur FPÖ. Ein ähnliches Bild zeigt sich in der Klima-Debatte, wo die SPÖ viel zu spät reagiert hat.

Die SPÖ steht heute vor einer völlig neuen Situation. Früher bestand die Gesellschaft aus Klassen. Die SPÖ wurde grosso modo von den Arbeitern gewählt, die ÖVP von Bauern, Unternehmern und Beamten. Ex-Nazis aus allen Schichten wählten VdU, dann FPÖ. Kreisky war der erste SPÖ-Vorsitzende, der dies durchbrochen hat, indem er der SPÖ fernstehende Wähler einlud, »ein Stück des Weges mit der Sozialdemokratie zu gehen«. Die alte Klassengesellschaft gibt es heute nicht mehr. Heute definieren sich die Menschen nach ihrer Lebenswelt. Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung hat in einer großen Untersuchung festgestellt, dass die Gesellschaft in viele Milieus zerfällt: sozial Engagierte, verdrossene Kleinbürger, leistungsorientierte Liberale, politikferne Einzelkämpfer, antimoderne Konservative, Hedonisten, desillusionierte Abgehängte usw. Alle diese Gruppen sind von einer Partei allein nicht mehr ansprechbar – jedenfalls nicht von einer linken. Rechte Populisten haben es da leichter.

Selbst wenn man in alten Klassenkategorien denkt, hat die Sozialdemokratie schlechte Karten. Die Zahl der Arbeiter ist durch Computerisierung und Digitalisierung drastisch gesunken. Dazu kommt, dass viele hier in Österreich tätige Arbeiter nicht wählen dürfen, weil sie ausländische Staatsbürger sind. Die Wandlung der Arbeitswelt hat außerdem zu vielen neuen Berufsbildern geführt, die nicht eindeutig einzuordnen sind. Für jene, die als Ein-Personen-Firmen arbeiten, fühlt sich die Sozialdemokratie nicht wirklich zuständig.

Viele, die ihren Aufstieg den von der Sozialdemokratie geschaffenen Möglichkeiten verdanken, sind zu anderen Parteien abgewandert. Manche sind in der SPÖ geblieben und irritieren mit ihren Porsches und Rolex-Uhren die Arbeiterschaft. Didier Eribon hat mit seinem Bericht Rückkehr nach Reims geschildert, wie das in Frankreich abläuft. Der linke Bohemien kehrt nach Jahren in Paris zu seiner Familie in Reims zurück und muss feststellen, dass alle Verwandten, die früher kommunistisch gewählt haben, jetzt ins rechte Lager übergelaufen sind. Arbeitslos und am Arbeitsmarkt in Konkurrenz mit nordafrikanischen Einwanderern, leben sie ohne Hoffnung auf Aufstieg dahin und wählen Le Pen. Es handelt sich um das abgehängte Prekariat. In Deutschland wählt es AfD, in Österreich FPÖ.

Die Sozialdemokratie hat mit ihren Forderungen über ein Jahrhundert lang mitgeholfen, das kapitalistische Wirtschaftssystem erträglich zu gestalten. Mit dem Erreichen ihrer wichtigsten Ziele hat sie ihre Kraft verloren. Bruno Kreisky zitierte gern das Gedicht von Gustave Leroy aus dem Jahr 1848 als Quintessenz sozialdemokratischer Politik:

Was wir ersehnen von der Zukunft Fernen:

Dass Arbeit uns und Brot gerüstet stehen;

Dass unsere Kinder in der Schule lernen

Und unsere Alten nicht mehr betteln gehen.

Nimmt man diesen Vierzeiler wörtlich, hat die Sozialdemokratie in der Tat ihre wichtigsten Ziele erreicht. Man könnte sagen: Mission accomplished! Es bleiben natürlich Ungerechtigkeiten. Diese kommen allerdings nicht an das himmelschreiende Elend der Arbeiter heran, das Victor Adler und später den jungen Bruno Kreisky zu ihrem Engagement in der Sozialdemokratie bewegt hat. Es wäre für die Sozialdemokratie trotzdem noch einige Jahre gut gegangen, wenn nicht nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein weltweiter Turbokapitalismus Platz gegriffen hätte. Die Einkommensschere zwischen oben und unten vergrößerte sich dadurch dramatisch. Dieser globalen Entwicklung war mit nationaler Politik kaum beizukommen.

Eine kraftvolle Führungspersönlichkeit könnte die Schwäche der SPÖ vielleicht mildern, aber nicht verhindern. Die Situation ist schließlich eine ganz andere als 1970. Damit sind wir beim eigentlichen Gegenstand dieses Buches: bei Bruno Kreisky. Er hat die SPÖ von 1967 bis 1983 geführt. Mit Autorität, mit Kompromissen, wohl auch trickreich, hat er die Gegensätze in seiner Partei ausgeglichen. So eine Figur ist heute aktuell aber nicht in Sicht. Hin und wieder gibt es ein Signal aus dieser Zeit: Hannes Androsch, Finanzminister unter Kreisky, schreibt unermüdlich Bücher und Kommentare, in denen er für mehr Bildung eintritt, weil Österreich nur so gegen internationale Konkurrenz im Wirtschaftsleben bestehen könne. So weit ist Androsch da nicht von Kreisky entfernt. Dieser gewann seine erste Wahl mit dem Slogan »Leistung, Aufstieg, Sicherheit!« Das Wort Leistung hat die SPÖ mittlerweile gestrichen und wirbt mit Slogans wie: »Hol dir, was dir zusteht!« Damit kann eine karitative NGO werben, aber nicht eine Partei, von der die Wähler erwarten, dass sie außer für Sozialzuwendungen auch noch für anderes zuständig ist.

Warum bringt die Sozialdemokratie heute keine herausragenden Politiker vom Schlage eines Kreisky, Brandt, Palme, Mitterrand oder González hervor? Das liegt wohl am ehesten daran, dass nur eine katastrophale Zeit heroische Figuren hervorbringt. Das war schon in der Anfangszeit der Sozialdemokratie so: Die Namen August Bebel, Victor Adler oder Jean Jaurès stehen dafür. Das gilt natürlich auch für bürgerliche Politiker, etwa für Winston Churchill, der durch die große Herausforderung der hitlerschen Barbarei zum unumschränkten Führer Großbritanniens wurde. Kreisky und Brandt mussten durch ein Stahlbad von politischer Verfolgung, Gefängnis und Emigration gehen, bevor sie an die Spitze ihrer Parteien treten konnten. Wohlstandsgesellschaften bringen in der Regel keine herausragenden Führer hervor. Die SPD hat nach Willy Brandt zwölf Parteivorsitzende verbraucht, die SPÖ nach Kreisky auch schon sieben.

In einigen europäischen Ländern sind die Sozialdemokraten von einst mächtigen Regierungsparteien zu Kleinparteien geworden. In Abwandlung eines Wortes von T. S. Elliot kann man sagen, die sozialdemokratischen Parteien sind in diesen Ländern nicht mit einem Knall zugrunde gegangen, sondern mit einem leisen Wimmern. Sie sind mit jeder Wahl schwächer geworden, in einigen Ländern ganz verschwunden. Der Zerfall der Klassen in Lebensmilieus wird dazu führen, dass mehrere Klein- und Mittelparteien die Volksparteien ablösen. Es ist nicht damit zu rechnen, dass sich die Volkspartei SPÖ diesem allgemeinen Trend entziehen kann. Selbst wenn sich die Sozialdemokratie in einigen Jahren wieder erholen sollte, wird sie im 21. Jahrhundert keine derart bestimmende, faszinierende Kraft wie im vorigen Jahrhundert werden. Umso eher lohnt ein Blick zurück zu Bruno Kreisky und dem sozialdemokratischen Reformwerk dieser Jahre.

Kreiskys Leben war durch viele Brüche und Kränkungen gekennzeichnet. Das soll in diesem Buch nachgezeichnet werden. Es gibt meine ganz persönlichen Erfahrungen wieder, die ich als Journalist mit Bruno Kreisky gemacht habe. Neben den persönlichen Begegnungen mit Kreisky stützen sich meine Aufzeichnungen auch auf Aussagen von Gefährten aus Kreiskys Kampfzeit der österreichischen Sozialdemokratie. Ein Seitenblick auf Willy Brandt darf nicht fehlen, wenn man sich mit Kreisky beschäftigt. Es schmälert nicht die Verdienste des bedeutendsten Regierungschefs der Zweiten Republik, wenn man auch an den jähzornigen, ungerechten Kreisky erinnert. Als zeitweiliges Objekt seiner Aggression habe ich mir, so hoffe ich jedenfalls, trotzdem den nüchternen Blick auf die Lebensleistung Kreiskys bewahrt.

Ausgespart in diesem Buch ist der Außenpolitiker Kreisky. Auf diesem Feld hat er geradezu seherische Fähigkeiten bewiesen. Er war der erste westliche Politiker, der erkannte und thematisierte, dass das ungelöste Palästinenserproblem ein ewiger Unruheherd bleiben würde. Die wachsende Kluft zwischen der Ersten und Dritten Welt hat Kreisky gemeinsam mit Willy Brandt und Olof Palme mit dem sogenannten Nord-Süd-Dialog zu überwinden versucht.

Wie bei allen politischen Führern gibt es auch bei Kreisky Licht und Schatten. Für ihn gilt daher Friedrich Schillers Satz aus dem Prolog zu Wallenstein: »Von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte!« Wenn heute, nach Jahrzehnten seines Wirkens, Kreisky noch immer Gegenstand des öffentlichen Interesses ist, kann man das vielleicht mit einem Satz von Stefan Zweig erklären: »Unsere Zeit will und liebt heute heroische Biografien, denn aus der eigenen Armut an politisch schöpferischen Führungsgestalten sucht sie sich höhere Beispiele aus den Vergangenheiten!« Das schrieb Zweig 1929, gilt aber heute mehr denn je.

Prolog

EIN BRIEF VON BRUNO KREISKY

Es war am 23. Juni 1985. Ich war zu dieser Zeit Chefredakteur beim ORF-Hörfunk und sortierte meine Post. Unter den Briefen fand sich auch einer mit dem Absender Bruno Kreisky. Das war etwas ungewöhnlich, hatte ich doch mit Kreisky seit seinem Rücktritt als Kanzler im Jahr 1983 keinen Kontakt mehr. Der Inhalt des Briefes war so, dass ich zunächst an eine Fälschung dachte. »Sehr geehrter Herr Redakteur!« stand da. »Sehr geehrter« war allerdings mit Kugelschreiber durchgestrichen. Dann hieß es weiter: »Ich lese soeben den vollen Wortlaut Ihres Gespräches mit Finanzminister Vranitzky und bin über die Niederträchtigkeit Ihrer Fragen entsetzt. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass ich mit Ihnen in Zukunft nichts mehr zu tun haben will. Das wird Ihnen sicher beim Generalintendanten sehr nützen, bei allen anständigen Menschen schaden. Eine Fotokopie meines Briefes geht mit gleicher Post an die sozialistischen Mitglieder der Bundesregierung.«

Die Vorgeschichte: Ich hatte am vorhergehenden Samstag Finanzminister Franz Vranitzky für die Sendereihe »Im Journal zu Gast« interviewt. Anlass war die kurz nach seiner Bestellung zum Finanzminister erfolgte Ankündigung Vranitzkys, dass man beim Schuldenmachen im Budget nicht mehr so weitermachen könne wie bisher. Das wurde allgemein als Abkehr von der bis dahin von Kreisky forcierten Politik des deficit spending bewertet. (Dass Vranitzky als Finanzminister und später auch als Bundeskanzler diese Ankündigung nicht einhalten konnte oder wollte, steht auf einem anderen Blatt). Ich stellte in meinem Interview mit Vranitzky die naheliegende Frage, ob man nicht schon früher beim Budget hätte sparen müssen. Vranitzky hütete sich allerdings, Kreisky in den Rücken zu fallen, meinte nur, das gelte für die Zukunft.

Ich fragte einige Male nach und das Interview ging auf Sendung. Es wäre wahrscheinlich der Vergessenheit anheimgefallen, hätte nicht Kurier-Kolumnist Sebastian Leitner eine giftige Glosse Richtung Kreisky geschrieben: »Unser neuer Finanzminister Vranitzky hat im ›Journal zu Gast‹ bewiesen: Er weiß, dass zwei mal zwei vier ist. Kreisky hat das bekanntlich nie gewusst.« Kreisky las die Glosse, bekam einen Wutanfall, verlangte vom Büro Vranitzky eine Abschrift des Interviews und diktierte dann den zitierten Brief. Bevor ich diese Hintergrundgeschehnisse in Erfahrung gebracht hatte, war ich ziemlich unsicher, ob sich da nicht jemand einen Scherz erlaubt hatte, ob der Brief also echt war. Die Diktion schien mir doch etwas ausgefallen.

An einem der nächsten Tage traf ich im Parlament den mir gut bekannten Verkehrsminister Ferdinand Lacina, der einige Jahre Bürochef von Kreisky gewesen war. Lacina warf einen Blick auf den Brief und bestätigte: »Der Brief ist echt. Der ist auf der Schreibmaschine von Kahane geschrieben. [Der Unternehmer Karl Kahane war ein Freund Kreiskys, dessen Büro dieser nach seinem Ausscheiden aus der Politik benützen konnte.] Solche Briefe hat er früher öfter diktiert. Aber da hat er noch ein funktionierendes Büro gehabt. Die haben wir nicht abgeschickt.« Einige Tage später, wenn Kreiskys erste Wut verraucht war, wurde dann ein etwas sanfterer Brief abgeschickt. Ähnliches berichten auch andere Mitarbeiter aus dem Umfeld Kreiskys. Die Wut Kreiskys hatte natürlich nur vordergründig mit meinen Interview-Fragen zu tun. Kreisky war erbost, dass Bundeskanzler Fred Sinowatz den von ihm eingesetzten Finanzminister Herbert Salcher durch Franz Vranitzky ersetzt hatte. Die Ankündigung Vranitzkys, die Schuldenaufnahme zurückzufahren, konnte Kreisky nur als Kritik an seiner Politik verstehen. Statt Vranitzky bekam allerdings ich die Hiebe.

Der erboste Brief war der letzte Kontakt des Alt-Bundeskanzlers zu mir. Vorher hatte ich Kreiskys politische Tätigkeit von seiner Wahl zum Parteivorsitzenden 1967 bis zu seinem Ausscheiden aus der Politik 1983 als Journalist begleitet – mit vielen Gesprächen und Interviews für Zeitungen und für das ORF-Fernsehen. Der Beruf des Journalisten war mir allerdings nicht in die Wiege gelegt worden, es war vielmehr ein steiniger Weg dorthin.

MEIN WEG ZUM JOURNALISMUS

Ich wuchs im niederösterreichischen Weinviertel in einer sozialdemokratischen Familie auf. Trotz sehr guten Lernerfolgs in der Volksschule konnten mir meine Eltern nicht den Besuch eines Gymnasiums ermöglichen. Zu dieser Zeit gab es nicht einmal in der Bezirkshauptstadt eine Höhere Schule. Da war es noch ein Glück, dass ich nach der Hauptschule den Beruf des Schriftsetzers erlernen konnte. Damit hatte man einen Bezug zur Schrift, die mir später den Einstieg in den Beruf des Journalisten erleichterte. Nach der Schriftsetzerlehre in einer kleinen Druckerei wechselte ich 1956 in den im Eigentum der SPÖ stehenden Vorwärts-Verlag. Das Gebäude mit der markanten Außenfront war eine wichtige Station in meinem beruflichen Werdegang. Später sollte ich erfahren, dass Bruno Kreisky dazu einen ganz anderen Bezug hatte, einen politischemotionalen, der in seine Jugend führt.

Für Sozialdemokraten war dieses Gebäude ein symbolträchtiger Ort. Bis 1934, als das Dollfuß-Regime die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) verbot und deren Besitztümer enteignete, war in diesem Gebäude im 5. Wiener Gemeindebezirk außer der Druckerei auch die Parteizentrale der SDAP untergebracht. Bei den ersten allgemeinen Wahlen für Männer im cisleithanischen Teil der Monarchie im Jahr 1907 (Frauen durften erst 1919 wählen) waren die Sozialdemokraten als zweitstärkste Kraft hervorgegangen. Dieser Erfolg veranlasste die Parteileitung, ein eigenes Redaktions- und Verlagsgebäude für die Arbeiter-Zeitung zu errichten und sie erwarb ein Zinshaus in der damaligen Wienstraße 89a, die 1911 in Rechte Wienzeile umbenannt wurde. Schüler des Stararchitekten Otto Wagner adaptierten das Zinshaus zum Sitz der Parteizentrale und als Redaktionsgebäude. Eine damals hochmoderne Druckerei wurde im Innenhof neu errichtet. Die heute noch erhaltene Außenfassade erhielt eine imposante Uhr am Giebel des Gebäudes, die von zwei Steinfiguren des Bildhauers Anton Hanak umrahmt wird. 1910 bezogen das Parteisekretariat, das Frauenzentral-Komitee, die Gewerschaftskommission und 200 Angestellte der Verlags- und Druckereianstalt Vorwärts das Gebäude.

Der Vorwärts-Verlag, jahrzehntelang »Herz und Hirn« der SPÖ, war für Bruno Kreisky ein fast mythischer Ort. Für den Autor dieses Buches begann hier seine Karriere als Journalist.

Mit dem Aufstieg der SDAP – bei den Wiener Gemeinderatswahlen 1927 wählten 60,3 Prozent sozialdemokratisch – wuchs auch der Platzbedarf. Die Partei kaufte Nachbarhäuser zu, sodass ein zusammenhängender Gebäudekomplex mit rund 3000 Quadratmeter entstand. Fast alle Teilorganisationen der Partei waren nun im »Vorwärts« vereint. Auch der Republikanische Schutzbund, die bewaffnete Wehrformation der Partei, hatte seinen Sitz in der Rechten Wienzeile. In der Druckerei wurden nicht nur die Arbeiter-Zeitung, sondern auch andere illustrierte Massenblätter hergestellt, wie Das Kleine Blatt, Der Kuckuck, die Wochenzeitung Die Frau und die Arbeiter-Illustrierten-Zeitung. Auch die diversen Nebenorganisationen der Partei ließen ihre Mitteilungsblätter dort drucken. Der »Vorwärts« war in dieser Zeit Herz und Hirn der Partei. In den 1930er-Jahren waren schon einige Hundert Menschen im »Vorwärts« beschäftigt.

Das Dollfuß-Regime konfiszierte nach den Februarkämpfen 1934 den »Vorwärts«, löste ihn aber nicht auf, sondern funktionierte ihn um. Von da an wurden dort Plakate und Zeitschriften des Ständestaates gedruckt. Ein Drittel der Belegschaft wurde gekündigt, die anderen waren als Fachkräfte bei der Weiterführung der Druckerei unverzichtbar. Sie fügten sich, denn Arbeitslosigkeit war damals gleichbedeutend mit Elend. Das Arbeitslosengeld war niedrig und wurde nur für ein halbes Jahr gewährt, danach war man ausgesteuert, es gab keinerlei Unterstützung mehr. Die Ausgesteuerten waren dann auf Almosen und Sozialmaßnahmen der Gemeinden angewiesen. »Die Arbeitslosen von Marienthal« – diese berühmt gewordene Studie von Maria Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel aus dem Jahr 1933 hat die dramatischen sozialen Folgen lang andauernder Arbeitslosigkeit festgehalten. Neben dem täglichen Kampf, genug zu essen zu finden, waren vor allem die sozialen Folgen verheerend. Nach Meinung der frühen linken Theoretiker führt Arbeitslosigkeit zu Aufstand und Rebellion. Die auf Anregung von Otto Bauer zustande gekommene Studie bewies das Gegenteil: Arbeitslosigkeit führt zu Apathie, Verlust der Selbstachtung, Hoffnungslosigkeit und Depression. Am Ende stand oft Alkoholismus. Es war nicht zuletzt diese Studie, die dazu führte, dass Kreisky später als Regierungschef Arbeitslosigkeit um jeden Preis vermeiden wollte.

Nach dem Putsch im März 1933 regierte Dollfuß diktatorisch. Die Publikationen der SDAP wurden unter Vorzensur gestellt. Die Polizei durchsuchte den »Vorwärts« sehr oft auf der Suche nach Waffen, weil hier auch die Zentrale des Schutzbundes war. Nach den Februarkämpfen 1934 wurden alle Organisationen der Partei aufgelöst.

Angesichts der Angst, zu den Ausgesteuerten zu zählen, werkten die sozialdemokratischen Fachkräfte des »Vorwärts« also ab 1934 bei der Herstellung jener Produkte, die den Ständestaat als einzig wahre Gesellschaftsordnung priesen. Einige traten auch der Vaterländischen Front bei, einer Sammelbewegung des Ständestaates, die durch Unterorganisationen den politischen Willen der Bevölkerung formte. Das schadete schließlich nicht bei Beförderungen. Das Gros der Arbeiter aber ging in die innere Emigration. Es fehlte auch nicht an Demütigungen: Engelbert Dollfuß war am 25. Juli 1934 bei einem Naziputsch ermordet worden. Zum Jahrestag ein Jahr darauf mussten sich die Mitarbeiter des »Vorwärts« im Innenhof zu einer Trauerkundgebung versammeln: »Trauer für den Arbeitermörder Dollfuß, das war für uns eine schlimme Demütigung«, erinnerten sich einige Teilnehmer noch Jahre später.

Für Bruno Kreisky war der »Vorwärts« ein geradezu mythischer Ort. Im ersten Band seiner Memoiren berichtet er, wie enttäuscht er war, als er am 12. Februar 1934, als die bewaffneten Auseinandersetzungen begannen, zum »Vorwärts« marschierte und dort die Tore geschlossen fand. Die Schutzbündler hatten die Parteizentrale geräumt. Wie viel dieses Gebäude Bruno Kreisky bedeutete, erhellt eine Episode aus dem Jahr 1967. Nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden der SPÖ fuhr Kreisky von der Stadthalle nicht in die Löwelstraße, wo die Parteizentrale seit 1945 untergebracht war, sondern in den »Vorwärts«. Er steuerte auf das Zimmer zu, in dem früher das Idol seiner Jugend, der intellektuelle Führer der österreichischen Sozialdemokratie Otto Bauer, gesessen war. AZ-Chefredakteur Franz Kreuzer arbeitete dort nach seinem Leitartikel noch an einer Glosse. Kreisky grüßte und trat schnurstracks an Kreuzer vorbei in den kleinen Nebenraum, in dem einst Otto Bauer gesessen war, wenn er seine Artikel geschrieben hatte. Zur Erinnerung hing dort ein großes Bild von Otto Bauer in einem dunklen Silberrahmen. Kreisky blieb allein im Raum, stand etwa fünf Minuten vor dem Bild seines Vorbilds. Franz Kreuzer hat diesen Besuch Kreiskys so interpretiert: »Er, der immer Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung und Parteiführer werden wollte, fühlte sich als Weiterführer von Otto Bauers Werk und erwies ihm seine Referenz«.

Zwei Trauerkundgebungen im Innenhof des »Vorwärts«, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Das obere Bild zeigt die Trauerfeier für den langjährigen Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung Oscar Pollak und dessen Frau Marianne Anfang September 1963. Das untere Bild zeigt die Trauerkundgebung anlässlich des ersten Jahrestages der Ermordung von Engelbert Dollfuß am 25. Juli 1935, zu der die Belegschaft genötigt wurde.

Als ich 1956 im »Vorwärts« meine Arbeit begann, erzählten die älteren Setzer hin und wieder von den historischen Ereignissen. Die jüngere Generation war gar nicht so politikbewusst, wie man es in diesem ehrwürdigen Haus erwarten konnte. Natürlich waren alle Mitglieder der SPÖ. Aber große politische Diskussionen fanden nicht statt – außer, wenn es um den Februar 1934 ging. Da hatten auch die Jüngeren von ihren Eltern einiges mitbekommen.

Mein Wechsel von der kleinen Druckerei im nördlichen Weinviertel in den Vorwärts-Verlag in Wien war wie der Umstieg von einem kleinen Ruderboot in einen Ozeandampfer. Die Belegschaft in meinem Lehrbetrieb bestand aus dem Druckereibesitzer, einem Gehilfen und mir. Der »Vorwärts« hatte damals mehr als 700 Beschäftigte und war neben Waldheim-Eberle, wo die Tageszeitungen Kurier und Neues Österreich gedruckt wurden, die größte Druckerei Österreichs. Neben der täglichen Arbeiter-Zeitung wurden noch zahlreiche Wochenzeitungen hergestellt: Die niederösterreichischen Bezirks-Wochenblätter, Welt am Montag, die im Tiefdruck hergestellten Illustrierten Bilderwoche sowie Funk und Film und Das Kleine Blatt mit einer Auflage von mehreren Hunderttausend Exemplaren. Dazu kamen zahlreiche Publikationen der verschiedenen Teilorganisationen der SPÖ.

Die damals übliche Herstellung erfolgte im Bleisatz. Die in Blei gegossenen Zeilen und Buchstaben wurden in der Setzerei zu Seiten zusammengefügt, von einem sogenannten Metteur, wie diese Setzer genannt wurden. Das machte die Anwesenheit eines Redakteurs beim Umbruch, wie das Zusammenstellen der Seiten genannt wurde, notwendig. Die Bleilettern waren natürlich in Spiegelschrift, sodass der Redakteur erst nach einem Probeabzug Korrektur lesen konnte. Das geschah meist an Ort und Stelle, also in der Setzerei. So lernte man als Setzer die Redakteure näher kennen. Ich wurde als Metteur der Wochenzeitung Heute zugeteilt, deren Chefredakteur war Heinz Brantl, der danach Wahlkampfmanager der SPÖ wurde. Mitarbeiter bei Heute waren unter anderem Günther Nenning, künftiger langjähriger Vorsitzender der Journalistengewerkschaft, der spätere Geschäftsführer des Institutes für Empirische Sozialforschung (IFES) Ernst Gehmacher, Siegfried Kogelfranz, später Ressortleiter Außenpolitik beim Spiegel, und Kurt Kahl, einige Jahre später Kulturchef bei der Tageszeitung Kurier. Der junge Erich Sokol steuerte seine ersten Karikaturen bei.

Auch nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden besuchte Kreisky oft den »Vorwärts« wie hier 1968, als er sich von Metteuren die Herstellung der Arbeiter-Zeitung im damals üblichen Bleisatz erklären ließ.

Gleich neben meinem Arbeitsplatz redigierte der aufstrebende Jungstar der SPÖ Peter Strasser die Abzüge, Peter Schieder werkte beim Umbruch von Trotzdem, der Zeitung der Sozialistischen Jugend. Auf der anderen Seite kümmerten sich Marianne Pollak und Anneliese Albrecht, später Staatssekretärin, um die Wochenzeitung Die Frau, die damals eine hohe Auflage hatte. Schräg gegenüber war das Reich des »Alten«, wie der Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung Oscar Pollak von den Metteuren ehrfurchtsvoll genannt wurde. Er las die Zeitung vor dem Druck von der ersten bis zur letzten Seite.

Oscar Pollak war in seinem ganzen Auftreten ein Herr. Kein Setzer erlaubte sich ihm gegenüber das übliche Genossen-Du. Er war der »Herr Doktor«, wenn überhaupt jemand ihn als Genosse ansprach, dann per Sie. Pollak leistete sich einmal in der Setzerei einen Eingriff, der in die Annalen der österreichischen Zeitungsgeschichte einging. Er entdeckte beim Umbruch auf der Seite ein Inserat des gewerkschaftseigenen Nahversorgers Konsum, in dem für ein alkoholisches Getränk geworben wurde. Pollak zum Metteur: »Das stellen Sie hinaus!«. Der Metteur ungläubig: »Wirklich, Herr Doktor?« Pollak bestimmt: »Das stellen Sie hinaus!« Am nächsten Tag revoltierte die Anzeigenabteilung. Die Arbeiter-Zeitung war schließlich nicht mit Inseraten gesegnet. Schließlich gab Pollak nach, das Inserat erschien am nächsten Tag, aber Pollak schrieb dazu einen Kommentar und riet mit dem Hinweis auf das Inserat von Alkoholkonsum ab, indem er an ein Wort von Victor Adler erinnerte: »Der denkende Arbeiter trinkt nicht, der trinkende Arbeiter denkt nicht!«

Von dieser Aktion Pollaks wurde noch lange im »Vorwärts« erzählt, jedenfalls mehr als über seine Leitartikel. Die Arbeiter-Zeitung kam mit ihrem intellektuellen Zuschnitt immer weniger an die Arbeiter heran. Pollak war ein konservativer Zeitungsmacher, für den Bilder in einer Zeitung überflüssig waren. Die von ihm verächtlich genannte »Bilderlpresse« in Form der Kronen-Zeitung fand bei SPÖ-Mitgliedern allerdings immer mehr Zuspruch. Es hatte schon in den 1950er-Jahren die Idee gegeben, die gut gehende SPÖ-Wochenzeitung Das Kleine Blatt täglich herauszugeben. Das Kleine Blatt war schon in der Zwischenkriegszeit als Tageszeitung erschienen, verbreitete sozialdemokratische Politik volksnäher als die Arbeiter-Zeitung und hatte eine Auflage von 160 000 Exemplaren. Oscar Pollak war gegen ein Wiederaufleben des kleinformatigen Blattes als Tageszeitung, weil er fürchtete, dass die Arbeiter-Zeitung damit Leser verlieren würde. Pollaks Einfluss in der Partei war sehr viel größer, als man bei einem Chefredakteur des Parteiorgans vermuten würde. Er war schon vor 1933 Chefredakteur gewesen und hatte dann in der Emigration eine herausragende Rolle gespielt, als er gemeinsam mit Karl Czernetz in London eine Gruppe von österreichischen Exil-Sozialisten leitete.

Ich glaube nicht, dass Das Kleine Blatt als kleinformatige Tageszeitung gegen die anderen Boulevard-Zeitungen am Markt hätte lange bestehen können. Meine persönlichen Erfahrungen sprechen dagegen. Als sich die Kronen-Zeitung immer häufiger auf die Wiener Stadtregierung einschoss und vor allem Vizebürgermeister Felix Slavik als Zielscheibe auswählte, gründete die Wiener SPÖ 1967 die kleinformatige Neue Zeitung, was mir den Wechsel vom Korrektorenjob im »Vorwärts« in die Redaktion dieser Zeitung ermöglichte. Felix Slavik formulierte als einziges Ziel der Neugründung: »Ihr sollt der Kronen-Zeitung schaden!« Die junge Redaktion versuchte, die Kronen-Zeitung mit reißerischen Kriminalgeschichten zu überbieten. Daraufhin beschwerten sich einige Funktionäre der Wiener SPÖ, weil ihnen das zu weit ging. Da uns auch der Kampagnen-Journalismus, wie er von Krone-Chef Hans Dichand forciert wurde, nicht zu Gebote stand, blieb der Schaden für die Kronen-Zeitung begrenzt. Die Auflage der Neuen Zeitung erreichte nie nennenswerte Höhen und wurde 1971 eingestellt. Die Lehre aus dieser Geschichte: Eine Partei, die anständig bleiben will, kann keine Boulevard-Zeitung herstellen, die mit Appellen an die niedrigen Instinkte der Menschen ihre Mitbewerber am Boulevard übertrumpfen will.

Als Oscar Pollak 1963 einem Herzinfarkt erlag, verübte seine Frau zwei Tage später Selbstmord, weil sie ohne ihren Mann nicht mehr leben wollte. Das Ehepaar Pollak bekam ein sozialdemokratisches »Staatsbegräbnis«. Die Särge der beiden Toten wurden im Hof des »Vorwärts« aufgebahrt. Die gesamte Belegschaft versammelte sich im Hof, außer der Parteiprominenz war auch Bundespräsident Adolf Schärf gekommen. Die Trauerrede hielt SPÖ-Zentralsekretär Otto Probst. Später sagte mir ein Kollege: »Das war ein Gemeinschaftsgefühl, wie ich es zuletzt vor 1933 erlebt habe!« Der alte Parteigenosse spielte damit auf jene Zeit an, als die Sozialdemokratie in Österreich für alle Lebensbereiche eigene Vereine geschaffen hatte – in bewusstem Gegensatz zu bürgerlichen Organisationen, auch weil letztere oft durch hohe Mitgliedsbeiträge Arbeiter fernhielten. Konsum, ASKÖ, ARBÖ, Arbeiter-Sängerbund, ja selbst für Briefmarkensammler und Fischer gab es eigene Vereine. Als Gegenstück zum Alpenverein, der deutschnational ausgerichtet war und außerdem einen Arierparagrafen in seinen Statuten hatte, gab es die Naturfreunde. All das wurde der Arbeiterschaft durch das Dollfuß-Regime geraubt, die Arbeiter verloren damit ein Stück Heimatgefühl.

Der »Vorwärts« war ein sehr sozialer Betrieb. Die Arbeitszeit war kürzer als in anderen Betrieben. Die Arbeiter-Zeitung ging schließlich nicht nur am Leserschwund zugrunde, sondern auch an der viel zu teuren Herstellung. Ein Maschinensetzer musste in der Stunde 90 Zeilen setzen, also in acht Stunden 720 Zeilen. Ein guter Setzer schaffte aber 200 Zeilen in der Stunde. Nach vier Stunden war damit die Arbeit getan und er konnte nach Hause gehen. Auch an den Rotationsmaschinen stand lange viel zu viel Personal. Die damaligen Druckmaschinen schafften in einer Nacht nicht mehr als 100 000 Zeitungen. Da die Arbeiter-Zeitung aber in ihrer Blütezeit nach 1945 bis zu 200 000 Zeitungen verkaufte, mussten zwei Rotationsmaschinen in Betrieb genommen werden. Diese wurden noch jahrelang in Betrieb gehalten, obwohl die Arbeiter-Zeitung nur noch 80 000 Zeitungen verkaufte. Erst nach langen Verhandlungen mit dem Betriebsrat wurde eine Maschine stillgelegt und damit ein Dutzend Arbeitsplätze eingespart.

In den 1970er-Jahren wurde auch Parteifunktionären klar: Der »Vorwärts« produzierte zu teuer. Eine Reihe von SPÖ-Organisationen wechselte mit ihren Publikationen zu privaten Druckereien, die billigere Angebote machten. Die AZ, wie die Arbeiter-Zeitung seit einigen Jahren in der Kurzformel hieß, wurde bis 1985 im »Vorwärts« gedruckt, dann 1989 verkauft, womit sie auch den Status als Zentralorgan der SPÖ verlor. Das war aber zu spät, um eine linke Tageszeitung, die nicht unter Kuratel der Parteiführung stand, am Markt etablieren zu können. 1991 wurde die AZ schließlich eingestellt. Die stark verschuldete SPÖ musste schließlich den großen Gebäudekomplex des »Vorwärts« verkaufen. Der sozialistisch geführte Betrieb konnte sich in einem kapitalistischen Umfeld nicht behaupten. Vom »Vorwärts«, einst Zentrum der österreichischen Sozialdemokratie, blieb nur noch die Fassade. Sie wurde unter Denkmalschutz gestellt. Dahinter blieben noch einige Räume erhalten, die den Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung und das Kreisky-Archiv beherbergen. So blieb wenigstens die Dokumentation des Wirkens von Bruno Kreisky an jenem Ort, der ihm so viel bedeutet hatte.

BEI DEN SOZIALISTISCHEN STUDENTEN

1965 legte ich nach vier Jahren Abendstudium am Gymnasium für Berufstätige die Maturaprüfung ab. Anschließend entschied ich mich, Rechtswissenschaften zu studieren – nicht aus Neigung, sondern weil dies das einzige Studium war, das man nebenberuflich einigermaßen bewältigen konnte. Dass ich der Studentenvereinigung der SPÖ beitrat, war für mich selbstverständlich. Als ich 1965 beim VSStÖ auftauchte, war gerade ein Machtwechsel von den Rechten zu den Linken im Gange. Es ging dabei um den Führungsanspruch zwischen jenen, die sich als traditionelle Sozialdemokraten sahen, und jenen, die von einer mehr oder weniger radikalen sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft träumten.

Ich war bereits 27 Jahre alt, als ich zu den Studenten stieß, hatte einschließlich Lehrlingszeit 13 Jahre Berufserfahrung und ein hartes Abendstudium hinter mir. Ich empfand vieles, was da an marxistischen Theorien diskutiert wurde, als weltfremd, ließ mich aber von der Stimmung hinreißen und gab den Linken meine Stimme. Als Obmann der Linken wurde mit meiner Stimme Peter Kreisky zum Obmann des Wiener VSStÖ gewählt. Als eloquente Debattenredner für die Linken sind mir in Erinnerung: Norbert Rozsenich, später Präsident von Forschung Austria, Peter Kowalski, Sektionschef im Sozialministerium, sowie der langjährige Abgeordnete im National- und Bundesrat Albrecht K. Konecny. Verbandssekretär der SPÖ-Studenten war Erich Schmidt, später Landwirtschaftsminister. Auch der spätere Nationalbankgouverneur Ewald Nowotny engagierte sich für die Linken. Alle Genannten haben in ihren späteren Funktionen gute Arbeit geleistet, den revolutionären Elan der Studentenzeit konnten sie aber kaum in ihre Funktionen hinüberretten. Für alle gilt mehr oder weniger, was der einst linke Grünpolitiker und spätere deutsche Außenminister Joschka Fischer sagte: »Die Verwandlung des Amtes durch den Menschen dauert etwas länger als die Verwandlung des Menschen durch das Amt.«

Damals träumten die Wortführer im VSStÖ von der revolutionären Einheit zwischen Arbeitern und Studenten. Schon der erste Versuch, diese Einheit herzustellen, schlug fehl. Die Raxwerke in Wiener Neustadt standen vor der Schließung beziehungsweise Teilprivatisierung, und die dortigen Arbeiter drohten mit Streik. Im Büro der SPÖ-Studenten wurden Flugzettel hergestellt, in denen für eine Arbeiterselbstverwaltung der Raxwerke plädiert wurde. Eine gemeinsame Delegation von VSStÖ und Sozialistischen Mittelschülern machte sich auf den Weg nach Wiener Neustadt. Schon vor dem Fabriktor wurde diese von den Arbeitern abgewiesen. Die wollten von den revolutionären Phrasen nichts wissen. Die zurückgekehrten Studenten empörten sich: »Die Arbeiter haben überhaupt kein Klassenbewusstsein!« Die Arbeiter im »Vorwärts«, obwohl alle Mitglieder der SPÖ, waren auf die Studenten auch nicht gut zu sprechen. Im Vordergrund stand für diese die nächste Lohnerhöhung und nicht eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft.

Herbert Marcuse, der damals von den Studenten verehrte deutsch-amerikanische Soziologe, hatte es vorhergesehen. Mit der revolutionären Potenz der Industriearbeiterschaft sei nicht zu rechnen, weil sie von »repressiver Toleranz« umnebelt seien, wie er in seinem Buch Der eindimensionale Mensch erklärte. Den Studenten komme daher die Führungsrolle innerhalb der revolutionären Intelligenz zu. Man las viel in dieser Zeit, von Marx bis Gramsci, von Sartre bis Adorno. Letzterer kam dann auch auf Einladung des VSStÖ im April 1967 nach Wien, um an der Universität einen Vortrag über neue Aspekte des Rechtsradikalismus zu halten. Anlass waren die erstaunlichen Wahlerfolge der NPD, die in Deutschland in mehrere Landesparlamente einzog. Einiges von Adornos Analyse trifft auch auf das heutige Erstarken der Rechten zu.

Absolutes Feindbild war für die linken Studenten Karl Popper. Besonders ein Werk hatte es ihnen angetan: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Popper wendet sich darin gegen geschlossene Systeme und Ideologiekonstruktionen. Als positives Gegenbild zu diesen »geschlossenen Gesellschaften« entwirft Popper eine »offene Gesellschaft«, die nicht am Reißbrett geplant ist, sondern sich pluralistisch in einem fortwährenden Prozess von Verbesserungsversuchen und Irrtumskorrekturen evolutionär fortentwickelt. Bruno Kreisky hat das genauso gemacht. Die Demokratisierung der Gesellschaft hat er als permanenten Prozess gesehen. Es war dies ein evolutionäres Konzept im Gegensatz zum revolutionären Entwurf der linken Studenten. Kreisky gelang mit seinem Ansatz das, was den Studenten verwehrt blieb: eine Einheit von Intellektuellen und Arbeitern, zumindest in der Wahlkabine. Nie wieder nachher hat die SPÖ diese beiden Gruppen so hinter sich versammeln können wie unter Kreiskys Parteivorsitz.